01.01 00 HEFT #5 - Schauspiel Hannover
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»Das Monster ist der Mensch selbst«<br />
Nach dem stationentheater »komA« in der tellkampfschule bringt der Regisseur Mirko Borscht im Januar 2011 »Kristus<br />
– Monster of Münster« nach einem roman von Robert Schneider über die wiedertäuferbewegung in münster auf die Bühne<br />
des Ballhof Eins. Erinnerungen und Gedanken über Gewalt und Moral, Religion und Revolution<br />
Interview: Volker Bürger<br />
»Das Scheitern an nicht erreichbaren Moralansprüchen bestimmt<br />
wesentlich meine heutige Arbeit.«<br />
Seit 1536 hängen oben an der Lambertikirche zu<br />
Münster die Käfige der exekutierten Wiedertäufer.<br />
Der Turm wurde längst erneuert, die Käfige blieben.<br />
Sie stehen bis heute am Pranger. Was brachte<br />
Jan van Leyden, den Anführer der Wiedertäufer,<br />
und seine Anhänger dorthin? __ Mirko Borscht<br />
Infolge der Abspaltung der Protestanten von der katholischen<br />
Kirche entstand um 1524 die Wiedertäuferbewegung.<br />
Ihnen ging Luthers Reformation nicht weit<br />
genug, sie forderten die Erwachsenentaufe und ein<br />
christliches Miteinander, wie es in der Urkirche der<br />
Apostel gelebt wurde. Gleichzeitig interpretierten sie<br />
die Wirren der Zeit als endzeitliche Symbole, wie sie in<br />
der Johannesoffenbarung beschrieben wurden. Sie bereiteten<br />
sich auf das Ende der Welt vor. In Münster bekamen<br />
die Täufer, aufgrund unklarer Machtverhältnisse,<br />
plötzlich die Oberhand im Stadtrat. Sie riegelten die<br />
Stadt ab und zwangen alle, die sich ihnen nicht anschließen<br />
wollten, Münster zu verlassen. Die Gütergemeinschaft<br />
wurde eingeführt, es gab kein Arm und<br />
Reich mehr, alles gehörte allen. Das kann man das Himmelreich<br />
auf Erden nennen oder auch gelebte kommunistische<br />
Utopie. Interessant war auch die Einführung<br />
der Polygynie (Vielweiberei), die sich an den alttestamentarischen<br />
Patriarchen orientierte und vermutlich<br />
eine Reaktion auf den massiven Frauenüberschuss in<br />
Münster war. Dieses radikale Vorgehen konnten die<br />
weltlich-christlichen Machthaber natürlich nicht durchgehen<br />
lassen. Die Stadt wurde eineinhalb Jahre belagert,<br />
bis sie im Sommer 1535 durch Verrat eingenommen<br />
werden konnte. Denn auch innerhalb der Mauern<br />
hatte sich das Himmelreich in eine Hölle verwandelt.<br />
Jan van Leyden hatte sich inzwischen zum wiedergekehrten<br />
Christus erklärt, zum König der Könige, der versuchte,<br />
durch immer härtere Gesetze der Hungersnot<br />
und Verzweiflung der Bevölkerung Herr zu werden. Jedes<br />
Zuwiderhandeln gegen die neuen Gesetze wurde<br />
mit dem Tode bestraft. Gott hatte die »Auserwählten«<br />
nicht erlöst, sondern in ihrer eigenen Selbstüberschätzung<br />
verrotten lassen. Jan van Leyden und zwei seiner<br />
Getreuen wurden öffentlich zu Tode gequält und in Käfigen<br />
an die Lambertikirche gehängt. Zur Abschreckung<br />
und Mahnung für die einen und als Zeichen einer Sehnsucht<br />
nach Gleichheit und Gerechtigkeit für die anderen.<br />
Und diese Sehnsucht ist bis heute nicht gestillt.<br />
Und daher weiterhin gefährlich. Gott sei dank.<br />
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Du nennst deine Fassung, die den Roman von Robert<br />
Schneider adaptiert, »Kristus – Monster of<br />
Münster«. Wer oder was ist das Monster? __<br />
Borscht Das Monster ist der Mensch selbst. Er hat es<br />
bis heute nicht geschafft, eine gerechte Welt zu errichten.<br />
Noch immer leben wenige Fette auf Kosten einer<br />
unterdrückten, ausgemergelten Mehrheit. Global gesehen,<br />
verhält sich eine Demokratie da nicht anders als<br />
eine Diktatur. Eine Demokratie kann nur eine Demokratie<br />
sein, weil irgendwo anders die Sklaven dafür schuften.<br />
So haben wir guten Christenmenschen die Idee ja<br />
von den alten Griechen übernommen. Und in diesem<br />
Zusammenhang erscheint das Münsteraner Experiment<br />
der Errichtung eines Gottesstaates als moralisch ernstzunehmender,<br />
ehrlicher Versuch, eine gerechtere Gesellschaftsordnung<br />
zu schaffen. Gescheitert sind sie<br />
aber nicht nur, weil sie von außen bedroht und angegriffen<br />
wurden, sondern weil sie es nicht geschafft haben,<br />
ihr eigenes Ideal zu leben. Die ewige Unzulänglichkeit<br />
des Menschen, die bisher alle Versuche einer<br />
gelebten Utopie hat scheitern lassen. Und obwohl wir<br />
wissen, dass bisher jede Revolution ihre Kinder fraß<br />
und Macht korrumpiert, als wäre es ein Naturgesetz, ist<br />
der Traum einer gerechten Welt allgegenwärtig. Wer ist<br />
im Falle von »Kristus« das größere Monster? Der äußere<br />
oder der innere Feind? Oder ist es egal, weil der Mensch<br />
gar nicht in der Lage ist, wahrhaftig und gut zu sein?<br />
Weil er sonst Gott selbst wäre? Das sind die Fragen, denen<br />
wir uns in der Arbeit stellen müssen. Die Meinungen<br />
werden auseinander gehen. Also lasst uns streiten.<br />
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Du bist in Cottbus aufgewachsen. Dort warst du<br />
Messdiener und gleichzeitig Punk – scheinbar unvereinbare<br />
Dinge. Irgendwie ist Jan van Leyden so<br />
etwas wie ein fundamentalchristlicher Punk, oder?<br />
__ Borscht (lacht): Das kommt darauf an, wie heilig<br />
man Punk empfindet. Aus meiner damaligen pubertären<br />
Perspektive würde ich das ganz klar mit ja beantworten.<br />
Das hat aber auch damit zu tun, dass die logische<br />
Konsequenz meiner katholische Erziehung – oder vielmehr<br />
des damit verbundenen moralischen Menschenbildes<br />
– mich eigentlich erst zum Punk gemacht hat. Ich<br />
wollte an etwas glauben und war bereit, fast jede Konsequenz<br />
zu ziehen, mich auszuliefern, einer größeren<br />
Sache zu opfern. Das ging so weit, dass ich als etwa<br />
Zehnjähriger nach einem Fernsehfilm über den heiligen<br />
Franz von Assisi, der die Wundmale Christi bekam,<br />
plötzlich auch starke Schmerzen hatte und mir sofort<br />
der Blinddarm rausgenommen werden musste. Wäre ich<br />
in Jan van Leydens Zeit aufgewachsen, wäre das todsicher<br />
ein Zeichen Gottes gewesen. So blieb es bei einem<br />
Zufall. Dennoch konnte ich als Jugendlicher die Doppelmoral<br />
der erwachsenen Gemeindemitglieder schlichtweg<br />
nicht ertragen. Ich habe sie zutiefst verachtet, ihr<br />
Leben als Verrat am Glauben empfunden, mich mehr<br />
und mehr distanziert. Unsere Kirche war damals in Form<br />
einer riesigen stilisierten Dornenkrone angelegt, und<br />
während der Messe habe ich mich bald nur noch außerhalb<br />
der Krone bewegt, weil ich nicht mit diesen katholischen<br />
Heuchlern in einem Raum sein wollte. Kurze<br />
Zeit später trug ich in einer so genannten Jugendmesse<br />
als Ministrant die Hostien nach vorn. Der Bischhof, der<br />
zufällig an diesem Tag die Messe hielt, nahm sie mir mit<br />
entsetztem Gesicht ab. Ich hatte einen roten Iro, und<br />
das hat dem Herrn wohl gar nicht gefallen. Das Ergebnis:<br />
ein Ministrierverbot in der gesamten Diozöse. Meine<br />
prompte Reaktion war die Verweigerung der Firmerneuerung,<br />
was wiederum meinen Eltern gar nicht gefiel.<br />
Aber da ich wegen »Gewissenskonflikten« die Jugendweihe<br />
und den Eintritt in die FDJ verweigert hatte,<br />
mussten sie den gleichen Grund nun auch ihrem Glauben<br />
gegenüber akzeptieren. Ich stand plötzlich zwischen<br />
allen Stühlen, die Pickel sprossen, und auf meiner<br />
Lederjacke stand neben dem Anarchiezeichen bald<br />
auch »We‘re already dead«. Na, wenn das kein Endzeitszenario<br />
ist. Aber leider ist aus mir kein Jan geworden.<br />
Schade eigentlich...<br />
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Jan van Leyden will Christus werden. Er schreibt<br />
seinem Lehrer den Berufswunsch auf einen Zettel:<br />
»Kristus«, mit K. Damals blasphemisch, eine Todsünde.<br />
Jan lässt trotzdem nicht ab, er stellt sich gegen<br />
die Welt mit seinem sündhaften Wunsch. Später<br />
schreien die Wiedertäufer »Buße, Buße, Buße!«<br />
durch die Gassen Münsters. Kannst du etwas mit<br />
den zentralen christlichen Kategorien des<br />
(ur)sündhaften Menschen und der Reinigung durch<br />
Buße anfangen? __ Borscht Und ob. Wenn man sich<br />
als Zwölfjähriger stundenlang nicht in den Beichtstuhl<br />
traut, weil man dem Priester gestehen muss, dass man<br />
unter der Bettdecke onaniert hat und neulich da was<br />
raus kam, und dass man jetzt Angst hat, krank zu sein<br />
und natürlich bei der Beichte kein Wort über die Lippen<br />
bringt, weiß man plötzlich, was Verzweiflung ist und<br />
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»Schule und Lehre.« Fabienne (28), Opernsängerin