»Ohne die Kommunalen Kinos hätte es Fassbinder und Schlingensief nicht gegeben« Sigurd Hermes, Leiter des kommunalen Kinos im Künstlerhaus, über ein Leben für den Film, die Geschichte des KoKi in <strong>Hannover</strong> und die Eigenheiten der Filmsprache gastbeitrag »Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater.« An meinem sechsten Geburtstag durfte ich das erste Mal allein ins Kino gehen. Meine Großmutter hat mir drei Groschen geschenkt, und dann bin ich zum Haus der Jugend gegangen, wo es für zwei Groschen einen Film für Kinder gab: »Das Wunder von Mailand« von de Sica. Ein Märchen eigentlich, aber ich war so berührt – erst einmal vom Inhalt, und dann habe ich natürlich mit meinem kindlichen Bewusstsein reflektiert, dass ich so etwas zum ersten Mal gesehen habe. Fernsehen gabs nicht bei uns in der Familie. Ich fand das faszinierend und wollte immer mehr davon haben. ---------------- Damals haben Kinder- und Jugendzentren Kinovorführungen für Kinder organisiert, aber auch in den gewerblichen Kinos gab es Veranstaltungen nur für Kinder. Ich habe alles gesehen, was ich mir mit meinen paar Groschen leisten konnte: »Zorro«, »Fuzzy«, Karl May. Aber ich fing damals schon an zu differenzieren. Ich konnte darüber streiten und sagen: »Diesen Film finde ich miserabel, und zwar deshalb...«, oder: »Diesen Film finde ich gut, und zwar deshalb...« -------------------------- Ich habe von 1967 bis 1974 in Kassel Grafikdesign und Kunst studiert, mit den Hauptfächern Film, Fotografie und Malerei. Kassel ist meine Geburtsstadt, und noch als Student habe ich dort an der Hochschule für bildende Künste einen Filmclub gegründet, das »Andere Kino«. Hier war es das erste Mal möglich, zunächst einmal für die Kommilitonen, aber auch für die Leute in der Stadt, europäische Filmkunst der klassischen Moderne kennenzulernen, einen Fellini zu sehen, einen Pasolini, einen Godard, einen Truffaut, darüber hinaus natürlich auch Beispiele der internationalen Filmgeschichte: Eisenstein, Bergmann.----------------------------------- Kassel ist ja die Documenta-Stadt. Und ich bin noch als Student zu Harald Szeemann gegangen und habe ihm gesagt, dass er ja jetzt die V. Documenta ausrichtet und diese ja eigentlich die wichtigste Kunstausstellung der Welt sei, die sich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Ich würde jetzt aber schon vier Documenten lang die wichtigste Kunst des Jahrhunderts – wie Lenin sie übrigens schon nannte – vermissen. Harald Szeemann hat sich zurückgelehnt und so in der Art, wie es die Berner tun, lange überlegt, und dann hat er gesagt: »Sie haben Recht, machen Sie. Sie kriegen einen Arbeitsvertrag. Machen Sie eine Sektion Film!« Eine Kunstausstellung ist auch Kino, und gutes Kino ist auch immer eine Kunstausstellung. In diesem Fall haben wir entsprechend der konzeptionellen Fragestellung unter anderem die Avantgarde des New American Cinema sowie die opulenten Opernfilme aus China zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Deutsche Filmkünstler waren mit Werner Nekes, Dore O. und Werner Schröter vertreten. 1968, während der Documenta IV, bin ich erstmals Joseph Beuys begegnet. Ich war als Hilfskraft bei Christo beschäftigt und hatte die Aufgabe, nachts sein riesiges, penisartiges Objekt zu bewachen. Eines Tages in der Morgendämmerung versuchte ein etwas merkwürdig wirkender Mann mit Hut und Anglerweste, die Absperrungen zu überklettern. Unter Androhung von Gewalt hielt ich ihn davon ab. Erst später wurde ich aufgeklärt, dass ich mich mit dem wohl bedeutendsten deutschen Künstler angelegt hatte. Er hat es mir aber verziehen.--------------------------------------------- 1974 bewarb ich mich aufgrund einer Zeitungsausschreibung in <strong>Hannover</strong>, das Kommunale Kino zu leiten. Und bin genommen worden. Damals habe ich damit begonnen, was ich jetzt seit 36 Jahren mit großer Leidenschaft und Liebe tue. Das Kommunale Kino, das in <strong>Hannover</strong> gegründet wurde, hatte als einziges der deutschen Kollegenkinos kein eigenes Haus. Wir tingelten zwar nicht von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wie in den Anfängen des Kinos, aber wir zogen von einem Freizeitheim dieser Stadt zum anderen, bis wir 1979 in den Raschplatzkinos als Untermieter eine Bleibe fanden. Dort machten wir erstmals ein volles Wochenprogramm.------------- Diese Kinos waren die erste und einzige Möglichkeit für viele Filmschaffende, ihr erstes Publikum zu finden, die erste Auseinandersetzung mit dem Publikum. Später waren sie etabliert, also in dem Sinne, dass ihre Arbeit auch gewerblich umsetzbar war. Aber die ersten Schritte all dieser Künstler fanden in den Kommunalen Kinos statt, und das kann man auch auf den Dokumentarfilm beziehen. Es hätte nie einen Fassbinder gegeben oder einen Wim Wenders oder einen Werner Herzog oder auch einen Christoph Schlingensief, wenn nicht diese Kinos gewesen wären.-------------------------------- Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater. Darüber hinaus ist es natürlich sehr wichtig, die Augen offen zu halten: Was passiert Neues in diesem Medium? Wo sind neue formale Ansätze, wie werden neue Inhalte umgesetzt? Werden neue Formen für neue Inhalte gefunden? Da ist dieses Kino immer Avantgarde gewesen, und zwar von Anfang an. Ein Auge für die Avantgarde zu haben, heißt natürlich auch, über die Landesgrenzen hinauszugucken: Was passiert in Europa, was passiert ansonsten in der Welt, vor allem auf den Kontinenten, die filmarchäologisch schwer zugänglich waren? Afrika oder Lateinamerika sind ja noch relativ unbekannte Filmländer. Darüber hinaus ist es natürlich auch wichtig, sich den Genres zu widmen, die im kommerziellen Kino gar keine Chance haben: dem Dokumentarfilm, dem Kurzfilm, dem ganzen Bereich des Experimentalfilms bis hin zu den Anfängen der Videokunst. Das sind Bereiche, um die sich die kommerziellen Kinos nicht kümmern können, einfach, weil das merkantile Risiko für sie zu groß ist. Das Kino im Künstlerhaus in <strong>Hannover</strong> hat wahrscheinlich deutschlandweit den höchsten Anteil an Dokumentarfilmen. Deshalb ist es eine Einrichtung, die subventioniert werden muss, so wie andere Kultureinrichtungen auch. Film ist Kultur, Kultur ist ein Lebensmittel, und Lebensmittel müssen zur Verfügung stehen, und zwar so, dass jeder sie sich leisten kann. Indem es Filmgeschichte erfahrbar macht, wird so ein Kino auch zur Bildungseinrichtung, und zwar für alle Generationsstufen, angefangen bei der Kinderfilmarbeit, bis zu den Gruppen der silver surfer, also der Senioren, die zu uns kommen. --------------------------------------------- Stichwort Bildung: Der Film hat seine eigenständige Sprache. Sie besteht eben nicht aus linguistischen Zeichen, sondern es ist die Filmsprache. Sie hat ihre eigene Grammatik, und die muss man lernen. Und man kann sie nur in Einrichtungen wie unserer lernen. Das ist die Voraussetzung, um mit Film umgehen und letztlich unterscheiden zu können, was hohe Qualität hat oder irgendein Mist ist.--------------------------------------- Für die Zukunft wünsche ich mir auch weiterhin so ein großartiges Publikum, das dieses einmalige Programmangebot wertzuschätzen weiß. Das die »Schule des Sehens« als Werkstatt der Träume nutzt und immer wieder neu erfindet. ------------------------------------------ Ich wünsche mir weiterhin die Unterstützung von Kulturverwaltung und Politik, dass diese wertvolle und einzigartige Einrichtung, die nicht mehr aus dem kulturellen Leben der Stadt wegzudenken ist, weitergeführt wird. Die Pflege des globalen filmkulturellen Erbes und dessen Vermittlung ist auch in Zukunft der tragende kulturpolitische Auftrag – ein Bildungsauftrag. ------------------------------------------------------- ---------------------------------------------------------- Protokoll: Friederike Trudzinski------------------------ --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Kirche.« Stefan (47), Angestellter
30.31 Foto: Jaika Harms Sigurd Hermes FilmTheater – Theatermacher zu Gast im Künstlerhaus Regisseure, <strong>Schauspiel</strong>er, Autoren und Bühnenbildner, die am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong> arbeiten, stellen in der gleichnamigen Veranstaltungsreihe ihre Lieblingsfilme, Juwelen des unkommerziellen Kinos, aber auch eigene Werke vor – und damit sich selbst. Sie geben Einblick in ihre Sicht der Dinge, ihre Leidenschaft, ihr Interesse, ihre gegenwärtige Arbeit. Denn viele Theatermacher sind offenkundige oder versteckte Cineasten. Ihre Kinoerlebnisse prägen nicht selten ihre Bühnenästhetik, und immer mehr von ihnen pendeln ohnehin zwischen diesen beiden Welten. So waren in der letzten Spielzeit unter anderem der Film- und Theaterregisseur Mirko Borscht mit seinem Film »Kombat Sechzehn«, der Bühnenbildner Mihal Galinski mit Robert Thalheims preisgekröntem Film »Am Ende kommen Touristen«, der Autor Kolja Mensing mit dem interaktiven Videoprojekt »13ter Shop«, die <strong>Schauspiel</strong>erin Sandra Hüller mit Helene Hegemanns Debüt »Torpedo« und der Performer Jürgen Kuttner mit einer Perle des japanischen Independentfilms zu Gast. Nach Kornél Mundruczó (»Delta«), Florian Fiedler (»Palindrome von Todd Solondz«) und Albrecht Hirche (»Blow up« von Michelangelo Antonioni) stellt sich als Nächster am 30. Januar um 17:30 Uhr der Dokumentartheaterspezialist Hans-Werner Kroesinger mit »The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz« und »Opening Night« vor. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Jeden letzten Sonntag im Monat um 17:30 Uhr im Kino Künstlerhaus --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Dass man uns vielleicht doch etwas über die Moral beibringen will.« Georg (53), Bankkaufmann