01.01 00 HEFT #5 - Schauspiel Hannover
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»Theater ist ein Rastplatz<br />
der Reflexion«<br />
<strong>Schauspiel</strong>intendant Lars-Ole Walburg im Gespräch mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt<br />
»Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und<br />
Verteidiger und Richter in unserem Inneren.«<br />
Lars-Ole Walburg Sie haben Schillers Text »Die Schaubühne<br />
als moralische Anstalt betrachtet« erst jüngst<br />
wieder zur Hand genommen. Wie empfinden Sie diesen<br />
über 2<strong>00</strong> Jahre alten Text, wenn Sie ihn heute lesen?<br />
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Oskar Negt Er ist sehr lehrreich und modern, weil er<br />
die kulturell-gesellschaftliche Funktion des Theaters reflektiert:<br />
Was kann auf der Bühne gemacht werden?<br />
Und natürlich ist diese Aussage über die moralische Anstalt<br />
bezogen auf die Emanzipationsmöglichkeiten des<br />
Menschen. Die Bühne hat aufgrund der Unbegrenztheit<br />
von Fantasie die Funktion, den Vorgriff zu riskieren, einen<br />
Zustand zu kennzeichnen und dramatisch zu entwickeln,<br />
den es in der Realität so nicht gibt. Da drin<br />
steckt eben die utopische Funktion: das Freisetzen von<br />
Fantasie und menschlichen Eigenschaften, bis hin zum<br />
abgründig Bösen und Hässlichen. Es ist ja ein sehr kurzer<br />
Text, den man eigentlich auch im Zusammenhang<br />
mit den »Ästhetischen Briefen« lesen muss, weil sehr<br />
viel Kant darin aufgenommen ist: das Weltbürgertum<br />
und die Weltbegriffe, die eigentlich das betreffen, was<br />
alle angeht. Ja, ich finde den Text nach wie vor lesens-<br />
wert.--------------------------------------------------<br />
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Walburg Schiller hat ihn ja vor der Kurfürstlichen Deutschen<br />
Gesellschaft als Vortrag gehalten. Man hat ein<br />
bisschen das Gefühl, der Autor möchte sich hier seiner<br />
eigenen Bedeutung rückversichern. Und gleichzeitig<br />
blitzt da auch ein Anspruch von Fürstenerziehung auf,<br />
also ein Appell an die Mächtigen im Umgang mit der<br />
Bühnenkunst.-----------------------------------------<br />
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Negt Ja, ich bin absolut sicher, dass dieser Appell an<br />
seinen Fürsten, an den Herzog, gerichtet ist. Ich meine,<br />
Schiller ist nicht besonders gut behandelt worden,<br />
wenn Goethe nicht dauernd gemahnt hätte, die Gelder<br />
etwas zu erhöhen, wäre er vom Hof gar nicht wahrgenommen<br />
worden. Aber der Appell ist 1784 erschienen,<br />
es ist ein vorrevolutionärer Text. Und Schillers vorrevolutionäre<br />
Texte haben alle die Tendenz von Ermahnungen:<br />
Wenn ihr euch nicht ändert, dann wird es eine<br />
Revolution geben. Jedenfalls habe ich den Schiller dieser<br />
Zeit immer so gelesen. Es ist schon der Appell an die<br />
bestehenden Herrschaftsstrukturen, sich zu reformieren,<br />
und die Bühne hat eine große Bedeutung für diesen<br />
menschlichen Emanzipationsprozess.------------------<br />
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Walburg Schiller schreibt: »Wenn wir unsere Laster<br />
auch vielleicht nicht bessern können, so werden wir<br />
zumindest darüber aufgeklärt.« Man ist beim Lesen nicht<br />
ganz sicher: Ist er tatsächlich überzeugt, dass das Theater<br />
in der Lage ist, den Menschen moralisch zu erheben,<br />
also wirklich besser zu machen? Aber er schreibt<br />
hier zumindest, dass unsere Fehler und Makel eben<br />
über das Theater emotional erfahrbar werden. Was<br />
denken Sie über das Theater als moralische Anstalt?--<br />
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Negt Naja, das Brecht‘sche Theater will ja auf der einen<br />
Seite immer die Verhältnisse richtigstellen, also die Verkehrtheit<br />
der Welt zurechtrücken, auf der anderen Seite<br />
ist es natürlich auch in einem sehr penetranten Sinn<br />
Lehrtheater. Wie aber kann eine moralische Anstalt<br />
heute aussehen? Sie kann nicht mehr belehrend wirken<br />
im Sinne der Moralisierung der Menschen. Das Theater<br />
muss die Differenziertheit dieser Welt, auch in moralischer<br />
Hinsicht, sichtbar machen. Wie es bei Kant heißt:<br />
Die Menschen werden nicht besser, die Moralisierung<br />
ist nicht unter den Begriff des Fortschritts zu bringen.<br />
Aber die objektive Vorkehrung, dass die Menschen weniger<br />
Zwistigkeiten haben, dass sie rechtlicher denken,<br />
also in den äußeren Handlungen besser werden – davon<br />
geht Kant aus, und davon geht auch Schiller aus. Es<br />
ist den Menschen möglich, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
zu verändern, bis hin zu dem, was er<br />
einen ästhetischen Staat nennt, in dem Lebensnot und<br />
Spiel in einem versöhnenden Maßverhältnis zueinander<br />
stehen; aber die Möglichkeit, aus einem charakterlich<br />
niederträchtigen Menschen einen guten zu machen, das<br />
hat, glaube ich, auch Schiller skeptisch betrachtet.----<br />
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Walburg Er beschreibt ja auch die Negativbeispiele, aus<br />
denen wir viel eher bereit sind zu lernen als aus den<br />
positiven, der Unterhaltungswert eines Verbrechens ist<br />
natürlich höher, als der einer guten Tat. Das bringt mich<br />
auf Ihr neues Buch, in dem Sie eine emotionale Bereitschaft<br />
beschreiben, überhaupt wieder politisch denken<br />
zu wollen. Das Emotionale in diesem Bereich muss<br />
überhaupt erst wieder ausgeprägt werden. Damit hat<br />
die Bildung des Herzens und des Geistes bei Schiller ja<br />
auch zu tun.-------------------------------------------<br />
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Negt Ja, das ist ganz richtig. Und deshalb ist es mir<br />
auch nie in den Sinn gekommen, in einem Buch mit<br />
dem Titel: »Der politische Mensch« einfach Prädikate<br />
des Menschen aufzuzählen, dem das Etikett »politisch«<br />
angeheftet wird. Das ist ja nicht so einfach. Wie entsteht<br />
er, wie entwickelt er sich, welche Elemente von<br />
Urteilskraft müssen mitbeteiligt sein, damit die Menschen<br />
aufmerken, was mit ihnen geschieht, in welcher<br />
Welt sie leben? Ich versuche eben, diesen Strang der<br />
Aufklärung weiterzuverfolgen. Es geht darum, die emotionalen<br />
Seiten, das Pathos, das Ethos und die Bestandteile<br />
der alten Rhetorik wiederzugewinnen, und das<br />
wäre natürlich auch etwas für das Theater. Nirgendwo<br />
sonst dürfen sich Emotionen so unverstellt ausdrücken.<br />
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Walburg Sie beschreiben so etwas wie eine kulturelle<br />
Öffentlichkeit, die innerhalb der Gesellschaft notwendig<br />
ist, um einen Dialog überhaupt in Gang zu setzen. Mir<br />
fällt dabei auf, dass Sie zwar sehr viel über Bildung<br />
schreiben, Theater aber gar nicht vorkommt. Welche<br />
Rolle spielt denn Theater in diesem Kontext für Sie?---<br />
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Negt Naja, das Theater gehört eigentlich auch in dieses<br />
Kapitel Fünf: »Öffentliche Erfahrungsräume, kollektive<br />
Erlebniszeiten – unverkäufliche Güter der Demokratie«.<br />
Das Buch wurde ja gekürzt von über 1.1<strong>00</strong> Seiten im<br />
Ursprungsmanuskript auf 6<strong>00</strong> Seiten, da ist das Theaterkapitel<br />
weggefallen. Unter dem Titel »Was wir vom<br />
Theater lernen können« habe ich für das <strong>Schauspiel</strong>haus<br />
vor einigen Jahren einen Text verfasst, den ich<br />
Ihnen in erweiterter Fassung zuschicken werde. Die ästhetische<br />
Fantasie hat in meiner Sicht der Dinge eine<br />
prägende Bedeutung für das Lebensgefühl der Menschen<br />
und für Ihre emotionalen Bindungen. Vaclav Havel,<br />
der spätere tschechische Präsident, hat 1962 auf<br />
dem Schriftstellerkongress gesagt: »Wenn ich die Fassaden<br />
Prags sehe, dann bin ich sicher, dass diese Lebensform<br />
des Sozialismus nicht haltbar ist.« Also, wer die<br />
Umwelt ästhetisch ruiniert, die Dingwahrnehmung so<br />
verkommen lässt, dass die Menschen sich darin nicht<br />
wiedererkennen, dessen Ordnung muss zusammenbrechen.<br />
Und natürlich gehört die Freiheit des Theaters in<br />
der Fantasieproduktion, in der Grenzüberschreitung<br />
auch zu diesen Zusammenhängen, in denen die Menschen<br />
die Möglichkeit haben müssen, sich in dem, was<br />
dargestellt ist oder wahrgenommen wird, wiederzuerkennen.<br />
Ein Element des Nichtentfremdeten gerade im<br />
Bestätigen der Wahrnehmung des Fremden, des Ent-<br />
fremdeten.--------------------------------------------<br />
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»Eine Institution, die sich um Werte wie Moral kümmert? Ich finde, die braucht es nicht, weil jeder selbst eine solche<br />
Institution ist.« Klaus (59), Betriebswirt