01.01 00 HEFT #5 - Schauspiel Hannover
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22.23<br />
Leiden. Wir haben euch was mitgebracht: Angst! Angst!<br />
Angst! Es gibt nur zwei Möglichkeiten, da rauszukommen:<br />
Heuchler werden oder sich radikalisieren. Diese<br />
lustigen Kindheitsprobleme haben mein ganzes weitere<br />
Leben bestimmt. Das Scheitern an nicht erreichbaren<br />
Moralansprüchen bestimmt wesentlich meine heutige<br />
Arbeit. Und diese Nichterreichbarkeit führt jeden Gottesfürchtigen<br />
immer wieder in seinen Glauben zurück.<br />
Ein perfektes System. Wie dankbar muss ich Bischof<br />
Huhn für sein engstirniges Verhalten sein, er hat mich<br />
sozusagen frei gelassen, sonst wäre ich vermutlich immer<br />
noch in der Katholikenmühle gefangen. Die Zweifel<br />
und das regelmäßige Scheitern an meinen eigenen moralischen<br />
Grundsätzen allerdings werden mir wohl erhalten<br />
bleiben, ein Leben lang. Amen.<br />
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Gott übt Gewalt aus – zumindest der Gott in den<br />
Köpfen der apokalyptisch denkenden Wiedertäufer,<br />
die der Meinung waren, dass der Jüngste Tag unmittelbar<br />
bevorsteht. Auch die Wiedertäufer selbst<br />
geraten irgendwann in den Sog von Gewalt. Um die<br />
Regeln der Gemeinschaft oder die Macht zu erhalten,<br />
wird ein erster Mensch hingerichtet – in deiner<br />
Fassung der Schmied, ein abtrünniger Mitstreiter<br />
der ersten Stunde. Ist Gewaltanwendung für dich<br />
mit moralischem Handeln vereinbar? __ Borscht<br />
Auf jeden Fall. Ich bin kein Pazifist. Und natürlich wäre<br />
es richtig gewesen, Hitler oder Stalin zu eliminieren, um<br />
zumindest vorübergehend das Sterben zu stoppen. Leider<br />
wird immer jemand nachwachsen, der das Grauen<br />
weiterführt. Man muss nur ein bisschen warten. Ich<br />
glaube nicht daran, dass man Gewalt überwinden kann,<br />
aber man kann sie verteilen, im besten Fall vorübergehend<br />
aussetzen. Meist mit Gegengewalt. Die aktuellen<br />
Beispiele zum Thema Atomkraft oder Stuttgart 21 sprechen<br />
da eine deutliche Sprache, auch wenn das in unserem<br />
Zusammenhang vielleicht zynisch klingt. Gewalt<br />
ist die instiktivste und einfachste Antwort der Konfliktbewältigung.<br />
Zivilisierte Menschen üben sie in der Regel<br />
psychisch aus. Aber wir lösen die meisten unsere<br />
Konflikte dennoch mit Gewalt. Im Falle der Münsteraner<br />
Täufer war die erste Hinrichtung auch der erste sichtbare<br />
Beweis ihres Scheiterns. Alle haben es gesehen.<br />
Alle haben es gewusst. Ihr Moralbegriff muss nun abgewandelt,<br />
gedehnt werden. Das Ideal muss der Realität<br />
angepasst werden. Der Betrug beginnt. Und an die Stelle<br />
des utopischen Gedankens rückt die Angst. Der Anfang<br />
vom Ende. Um mit den Worten Gerrit Tom Kloisters,<br />
einem »Mentor« Jan van Leydens im Stück, zu sprechen:<br />
»Aus dem nichtlebbaren Ideal aber« wächst »alles Missverständnis<br />
und Leid, unter dem Menschen je gelitten<br />
haben, denn das Ideal bleibt fern der Wirklichkeit, fern<br />
des Chaos, fern von Gott«.<br />
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Viele deiner Arbeiten kreisen um Gewaltfragen –<br />
»komA« etwa, dein letztjähriges Projekt in <strong>Hannover</strong><br />
mit Schülern in der Tellkampfschule, um das<br />
Thema Amoklauf. Auch deine Filme. Was fasziniert<br />
dich an Gewalt? __ Borscht Mich interessieren<br />
Grauzonen, Orte, die im Schatten liegen, das Zwielicht,<br />
schwarze Löcher, weil sie zwar täuschen können, aber<br />
nicht lügen oder betrügen. Ich vertraue dem Intellekt<br />
nicht, weil er von Distanz lebt und Emotionen ausblendet.<br />
Er ist vielleicht objektiver, aber er ist nicht ehrlicher.<br />
Ich vertraue der Sprache nicht, ich bin misstrauisch<br />
gegenüber der Diplomatie von Worten, deshalb<br />
suche ich nach der Wahrhaftigkeit und Authentizität in<br />
Zuständen und Grenzsituationen, in Momenten, wo der<br />
Mensch sich selbst nicht kontrollieren und zensieren<br />
kann. Und dabei ist Gewalt oft ein wesentlicher Bestandteil,<br />
gegen andere oder gegen sich selbst. Ein anderer<br />
wesentlicher Punkt ist Gewalt als mediales Kommunikationsmittel,<br />
als Ausdrucksform im künstlerischen<br />
Sinne. Gewalt, auf die ich in Kino oder Fernsehen reagiere,<br />
gibt mir die Möglichkeit, die Situation extrem<br />
subjektiv wahrzunehmen, weil ich mich fürchte, mich<br />
ekle oder auch angezogen werde. Ich verliere die analytische,<br />
distanzierte Betrachtungsweise und werde<br />
plötzlich Teil des Geschehens. Ich glaube auch an die<br />
Authentizität und Unmittelbarkeit des Spiels, wie sie<br />
nur im Theater erfahren werden kann. Ich glaube an<br />
echte Gefühle in einem künstlichen Raum. Und Gewalt<br />
ist dabei ein sehr geeignetes Mittel der Stimulanz, wenn<br />
man sie als Mittel ernst nimmt.<br />
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Moral ließe sich beschreiben als Handlungsprinzip<br />
einer bestimmten Gesellschaft. Wenn nun eine neue<br />
Gesellschaft gegründet wird, wie bei den Wiedertäufern<br />
in Münster, muss man auch Moral und<br />
Handlungsprinzipien neu erfinden. Wie sollen die<br />
entstehen, wie kann Moral neu erfunden werden?<br />
__ Borscht Wohl nur, indem man sich selbst neu erfindet.<br />
Wenn man es schaffen könnte, seine eigenen<br />
Prägungen und anerzogenen Wertesysteme nach ihrer<br />
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»Irrenhaus!« Emil (28), Sozialarbeiter