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"Utharion Winterbruch" (Kurzgeschichte von Michi)

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Zwischen Ende und Anfang<br />

Gratenfels, den 13. Efferd 1004 BF / 11 Hal<br />

Person: Aurelian, Priester des Raben – Wanderpriester mit kalten Füssen<br />

Am Anfang ist Dunkelheit.<br />

Man konnte kaum die Hand vor den Augen erahnen und dennoch musste es noch helllichter<br />

Tag sein. Der schwere Duft <strong>von</strong> Weihrauch lag in der Luft des kleinen kärglich eingerichteten<br />

Tempelzimmers, in dem sich die zwei ungleichen Boron-Priester befanden. Bruder Aurelian,<br />

ließ seinen Körper erschöpft auf einen kleinen Holzschemel nieder, der die einzige<br />

Sitzmöglichkeit des Raumes bot. Sein kahlgeschorenes Haupt wog schwer in diesen Tagen<br />

und man mochte ihm diese Unhöflichkeit verzeihen, denn er kam als Bittsteller und hatte die<br />

heiligen Hallen nur als Gast betreten. Als Wanderpriester war er es gewohnt zum Volke zu<br />

gehen und nicht, dass es zu ihm kam, wenn der Segen der Götter benötigt wurde. Dies hatte<br />

dazu geführt, dass auch seine Haut schon seit vielen Götterläufen nicht mehr die kühle Blässe<br />

inne hatte, denn nie weilte er lange in den dunklen Mauern eines Tempel seines<br />

schweigsamen Herrn.<br />

Ganz anders als sein vor ihm aufragendes Gegenüber, mit dem schlohweißen Haaren, der<br />

keinerlei Anstalten unternahm ihn ob des Belegens des einzigen Stuhls zu tadeln oder auch<br />

nur eine Miene zu verziehen.<br />

Aurelians Blick zog suchend durch den dunklen Raum ... und erhob sich weit empor zu dem<br />

in einer Aura der Ernsthaftigkeit versunkenen Tempelvorsteher, den er in seiner Not<br />

aufgesucht hatte. Wie unterschiedlich er doch <strong>von</strong> dem hochgewachsenen Geweihten vor sich<br />

war, ging es ihm durch den Kopf ... er selbst war nur ein Wanderpriester, sein Gegenüber gar<br />

als „Hüter des Raben“ ein Tempelvorsteher – und doch unterschieden sich ihre kargen<br />

schmucklosen Roben, die sie beide als Boronis auswies, kaum <strong>von</strong> einander.<br />

Aurelian war nie groß gewachsen, hatte in den über Fünfzig Götterläufen seines Lebens<br />

niemals über die imposante Kraft der Ruhe verfügt oder gar die andächtige Ausstrahlung<br />

verströmt, die der Priesterschaft des Stillen so eigen war und nicht grundlos nachgesagt<br />

wurde. Seine gar fürchterlich schmerzenden Füße hatten ihn hierher getragen – allein in der<br />

Hoffnung, den Worten Luft machen zu können. Nun war es an der Zeit dafür ...<br />

„Gelon Prahle, Tempelvorsteher des Boron zu Gratenfels – als gutherziger Mann seid Ihr<br />

bekannt – aber auch als kluger Priester. Gebt acht auf die Worte Eures Bruders, der sein Sein,<br />

so wie auch Ihr, unserem Herrn Boron, dem Wächter des Todes, dem Erlöser der Kranken,<br />

dem Schenker des Vergessens, geweiht hat. Behütet was ich Euch überantworte und in Eure<br />

fürsorgliche Obhut überstellen will. Behaltet meine Worte gut in Erinnerung, denn – so will<br />

ich es geloben - es werden meine letzten sein.“ Der kahle Priester fühlte die Augen des<br />

unnahbaren Geweihten, mit dem schlohweißen Haar, auf sich lasten und senkte bekümmert<br />

seinen Blick ...<br />

„So will ich Euch erzählen, was mir am 11. Efferd wiederfuhr ...<br />

Dies war sein Monat und Efferd meinte es wahrlich gut mit den Bauern, denn es hatte schon<br />

seit Stunden geregnet. Meine Robe war triefend nass – doch ich wusste, dass ich in Kürze auf<br />

das Städtchen Kefberg hätte stossen müssen, in dessen Obhut ich Unterschlupf erhofft hatte.<br />

Tief in mir grollte ich dem Herrn Phex, dass er ausgerechnet diesen Abend für den Diener<br />

seines Bruders Boron nicht mit strahlenden Sternen erhellte – so dass ich weiterhin die Füsse<br />

unsicheren Schritts in jede dunkle Pfütze steuerte. Die Kapuze meiner Robe schmiegte sich<br />

vollkommen klitschnass auf mein haarloses Haupt und bot schon seit einigen Stunden keinen<br />

Schutz mehr vor dem Wetter. Während sich in meinem Kopf ein Wunschbild <strong>von</strong> einem


warmen Herdfeuer bildete, wurde ich unaufhörlich <strong>von</strong> oben und unten gleichmäßig<br />

durchnässt. Mit unzähligen Gedanken vertrieb ich mir die Zeit des Gehens ... vielleicht wäre<br />

es wesentlich angenehmer mich in meinem erfahrenen Alter <strong>von</strong> über 50 Götterläufen<br />

dauerhaft in einem Tempel niederzulassen? Wandelte ich nicht schon zu lange als<br />

Wanderpriester durch die Dörfer des Reichs? Eingesperrt in starren Tempelwänden ... das<br />

wäre kein Dasein für deinen treuen und äußerst tropfnassen Priester, mein Herr. Deinen<br />

Glauben will ich leben – doch ein stetes Leben in deinen Tempeln würde mich <strong>von</strong> Deiner<br />

Ruhe entfernen, o Boron – Allmächtiger Gebieter des Todes. Spüre ich dein Sein doch<br />

nirgends mehr als in den Menschen dieses Landes, die meiner Hilfe bedürfen. Doch diesmal<br />

hatte ich mich weit <strong>von</strong> Ferdoks Ebenen, die ich normalerweise durchstreifte, entfernt ...<br />

eigentlich zu weit ohne zu wissen, wohin mich meine Schritte tragen würden und ohne<br />

Rücksicht auf meine Knochen, denen meine Reisen immer schwerer zu fallen scheinen. Das<br />

Wetter efferdwärts der Koschberge hatte ich auch gehörig unterschätzt, als mich meine Beine<br />

hierher gebracht hatten. Der Regen nahm mir die Sicht und doch erahnte ich vor mir den<br />

Anger meines Herrn. Nur ein schmaler Bretterzaun trennte den Boronsanger, auf dem die<br />

Toten bestattet liegen <strong>von</strong> dem aufgeweichten Weg, über den mich meine Beine trugen.<br />

Kefberg konnte nicht mehr weit sein! Wäre die Strasse entlang des Flusses Tommel auch<br />

nicht so Abschüssig zur Flussseite hin verlaufen, wäre meine Wanderschaft auch mit weniger<br />

Anstrengung verbunden gewesen. „Du wirst alt, Aurelian“ ... ich sprach um etwas Wärme<br />

aus dem vertrauten Ton meiner Stimme zu schöpfen – doch der laut auf meiner Kapuze<br />

aufprallende Regen verschluckte jedes Wort. „Alt – Alt! – Alt!!“ sprach ich trotzig in den<br />

nassen Wind – jedes Wort glitt mir lauter <strong>von</strong> den Lippen um endlich mein eigenes Gehör zu<br />

finden. Für eine Sekunde schien die Zeit still zu stehen - der Regen stoppte und meine Stimme<br />

rief laut durch die Nacht! Wie angewurzelt blieb ich stehen, hatten mich nun doch meine<br />

eigenen Töne geschreckt! Nur wenige Schritt vor mir war der Eingang des Boronsangers –<br />

das Tor in Form einer Rabenschwinge stand weit geöffnet.“<br />

Kaum war mein Ruf ertönt, huschte eine Bewegung durch die Dunkelheit, eine Gestalt kam<br />

aus dem Tor herausgerannt – den Kopf hektisch in meine Richtung gedreht! Mehr konnte ich<br />

jedoch nicht erkennen, war der Abend doch wolkenverhangen und Borons Schleier kam<br />

näher. Drohend hob ich meinen Wanderstab über meinen Kopf – welch Frevel, so schien mir!<br />

Wen hatte ich da aufgescheucht, und was hatte die Gestalt auf dem Boden des Herrn Boron zu<br />

suchen gehabt! Trotz meiner Beine, die bereits signalisierten nicht nur im Matsch sondern<br />

auch in Schmerzen zu schwimmen, wollte ich diese Tat nicht ungesühnt lassen und das<br />

flüchtende Wesen hinfort vertreiben! Meine Verfolgung war vorüber noch ehe sie begonnen<br />

hatte, denn kaum hatte ich einen schnellen Schritt vorwärts gesetzt, glitt ich auch schon auf<br />

dem nassen Boden aus ... schlug klatschend in dem dreckigen Matsch auf ... und rollte auf der<br />

abschüssigen Strasse einen Schritt in Richtung des Flusses. Kein Zwinkern später<br />

durchschnitten Hufe den Boden, wo ich noch einen Augenblick zuvor meinen Wanderstab<br />

mutig geschwungen hatte. Das Geräusch <strong>von</strong> brechendem Geäst ...<br />

Laut drang der Ritt eines Pferdes an mein Ohr – ein Reiter mit gezogenem Schwert gab<br />

seinem Vieh die Hacken und trieb es in die Dunkelheit dem flüchtenden Schatten hinterher!<br />

Hatte er in den Büschen gelauert an denen ich soeben vorbeigegangen war? Was ging hier<br />

vor? Ein gellend, angsterfüllter Schrei schnitt durch die Nacht – ausgestoßen <strong>von</strong> der<br />

rennenden Gestalt – und ... ausgestoßen <strong>von</strong> einer Frau! Für den Bruchteil einer Sekunde<br />

öffneten die Wolken ihre Pforten und das Madamal leuchtete auf eine erschreckende Szenerie<br />

herab. Der Reiter trug einen wallenden schwarzen Umhang am Körper, auf dem ein<br />

Weidenkorb mit einem Bündel gebunden war und das zum Hieb erhobene Schwert balancierte<br />

über einem schweren Metallhelm, aus dem zu linker und rechter Hand drei gebogene Zacken


herausragten. Das Bündel schaukelte gefährlich im Korb, drohte es doch ob des<br />

galoppierenden Pferdes hinauszufallen.<br />

Die Frau war durch ihren Verfolger verdeckt, doch rannte sie zweifelsohne auf den Fluss zu<br />

... doch erneut schoben sich dunkle Regenwolken vor die helle Scheibe am Himmel und<br />

tauchten die Umgebung in ein tiefes Schwarz. Der Schrei der Verfolgten riss ab im<br />

Geplätscher des Regens, der noch stärker auf mich hinabprasselte. Es hatte nur wenige<br />

Augenblicke gedauert – und mit einem Schlag herrschte nur noch borongefällige Ruhe um<br />

mich herum. Mein Atem raste, während ich meinen Körper aus dem Schmutz erhob und<br />

geschwind an die Stelle rannte an der ich die beiden zuletzt gesehen hatte...<br />

Von einem kleinen Hügel sah ich hinab auf eine mehrere Schritt breite Felsnase, die über den<br />

Tommel ragte. Der aufgeschwemmte Boden zeigte Fuss- und Pferdespuren, die unmittelbar<br />

auf den Sims führten – doch auf dem glitschigen Felsen war nichts mehr zu entdecken .. nur<br />

ein kleines Bündel lag auf einem Strauch am Rande des Hügels. Vorsichtig schritt ich zum<br />

Ende des Felsens und spähte hinab in die reißenden Wassermaßen des Tommels, dessen<br />

weisse Gischt den Anschein machten als wollten sie zu mir hinaufgreifen. Doch nichts sah ich<br />

– waren sie hier hinabgestürzt? Von diesem Felssims gab es keinen Ausweg, wenn die Frau<br />

hierhin gelaufen sein sollte ... hätte der Reiter sein Pferd noch stoppen können ohne auf dem<br />

nassen Untergrund ebenfalls in den Fluss zu stürzen? So kniete ich vorsichtig nieder und<br />

sprach „Boron möge euren Seelen gnädig sein ... Herr Efferd führe ihre Leiber in die Arme<br />

der Priesterschaft deines Bruders – auf das ihnen ewige Ruhe geschenkt werden kann.<br />

Heiliger Golgari ...“ weiter sollte ich nicht kommen, denn ein Rascheln hinter meinem<br />

Rücken schreckte mich auf. Woher stammte das Geräusch? Mein Blick fiel auf das im Strauch<br />

hängende Bündel – und da: es hatte sich bewegt! Mit überlegten Schritten trat ich näher<br />

heran ... bei den Zwölfen! Aus unschuldigen Augen blickte mich ein Kind an – es mag wohl<br />

zwei Monde alt sein – eingewickelt in ein weisses Tuch aus Leinen.<br />

Ohne zu schreien sah es mich einfach nur an ... gütige Marbo – hab Dank – es ist unverletzt!<br />

Kein Haar seines blonden Schopfes war ihm gekrümmt worden ... war es aus dem Korb des<br />

Reiters gefallen? Oder hatte es die Unglückliche eng bei sich getragen? „Komm, mein Kind –<br />

Bruder Aurelian wird auf dich Acht geben.“ Seine Augen funkelten mich an, als ich es in den<br />

Arm nahm und mich <strong>von</strong> dem Felssims abwende um zurück zur Strasse zu gehen. „Marbo<br />

behütet dich, mein Kind – die Götter haben befunden, dass deine Zeit noch nicht gekommen<br />

ist“. Was mag hier nur geschehen sein? Die arme Mutter des Kindes musste in die reissenden<br />

Fluten gestürzt sein .. du armer Wurm – halte ich eine Waise in meinem Arm? Welchen<br />

Namen mag deine Mutter dir gegeben haben? Wer war die Frau gewesen und was hatte sie<br />

auf dem Boronanger getan? Hatte sie Schutz auf dem Boden des Herrn Boron gesucht? Oder<br />

gar Schlimmes im Sinne gehabt? Vorsichtig näherte ich mich der geöffneten Pforte, nachdem<br />

mein Blick über die im Finsteren liegende Strasse glitt ... es war niemand zu erkennen – die<br />

Stille plötzlich allgegenwärtig. Der Regen musste unbemerkt gänzlich verklungen sein und die<br />

Sterne strahlten auf uns hinab ... erleuchteten mir den Weg. Bedächtigen Schrittes betrat ich<br />

den Hof meines Herrn, während mein Blick über zahlreiche Gräber glitt. Langsam wandelte<br />

ich zwischen den Steinen hindurch, pries schweigend den Herrn, der Wache hält über den<br />

Toten, die in seinen Gefilden schlafen – ewiglich beschützt. Meine Beine hielten inne mitten<br />

im Schritt ... ich senkte mein lädiertes Knie in die feuchte Erde hinein und glitt nieder auf den<br />

Boden. Den Blick starrend gebannt auf den Grabstein, der vor mir aufragte. Das Ende des<br />

Steins wurde geziert <strong>von</strong> einem eingemeißelten Helm ... aus dem zu linker und rechter Hand<br />

jeweils drei leicht gebogene Zacken herausragten - der Helm des Reiters! War dies ein<br />

Zufall? Unter einem gewaltigen Boronsrad prangte der Name „Winterbruch“ – und fein<br />

gemeisselt der 11. Rondra diesen Jahres. Es war auf den Tag genau einen Mond her, dass<br />

dieser Mann das Leben verlassen hatte. Kindsgeschrei drang an mein Ohr – doch es war


nicht der Knabe auf meinem Arm, der zornig brüllte. „Bei Boron und seinen Elf<br />

Geschwistern! Was geht hier vor?“ Ein weiterer Säugling – doch in ein braunes Tuch gehüllt<br />

lag versteckt hinter dem verzierten Grabstein. Sein Haar war Rabenschwarz und es musste<br />

jünger sein als der Blondschopf. Etwa einen Mond alt? Er zitterte vor Kälte ... so nahm ich<br />

auch ihn in den Arm und eilte mich, fort <strong>von</strong> hier zu kommen ... mein Blick tastete die<br />

Umgebung ab – doch Boron sei Dank, keine weiteren Wesen waren zu sehen. Ich musste nach<br />

Kefberg – nicht nur ich sondern auch die beiden Kinder auf meinem Arm benötigten der<br />

Herrin Travias warmes Herdfeuer, waren wir doch <strong>von</strong> den großzügigen Gaben des Himmels,<br />

derer ich so gar nicht bedarft hatte, allzu durchnässt.<br />

Die Akoluthin des Tempels warf mir entgeisterte Blicke zu als ich, bis zu meiner Kapuze<br />

verdreckt, des Nachts an die Pforte klopfte. Viel mehr hämmerte ich mit meinem Knie gegen<br />

das Holz – schien es mir doch unangebracht als Priester des Schweigsamen mitten in der<br />

Nacht mit lauten Rufen auf mich Aufmerksam zu machen. Meine Arme waren mit den beiden<br />

Knaben belegt und somit nicht zu weitreichenden Taten in der Lage. Und doch ließ sie uns ein<br />

– ungeachtet der Wasserlache, welche sich im Raum des Herdfeuers um meine Füße bildete.<br />

So wie noch kurze Zeit zuvor der Regen auf mich hinabgeplätschert hatte – plätscherten nun<br />

die Fragen Travianes, der Akoluthin des Tempels, auf mich ein ...<br />

Die Knaben labten sich des Nachts noch am gewaltigen Busen der gut genährten Akoluthin,<br />

welche auch ein eigenes Kind zu Versorgen, aber noch ausreichend Milch für alle drei, hatte.<br />

Am nächsten Morgen versuchte ich zuerst zu erfahren, wer der Reiter und die unbekannte<br />

Frau gewesen sein konnten – meine Fragen blieben jedoch ohne Antwort. Einzig <strong>von</strong> einer<br />

Seltsamkeit erzählte man mir. Am 11. Rondra sei ein Reiter aufgefunden worden, der in<br />

schwarzer Rüstung und einem seltsamen Helm mit drei gebogenen Zacken gewandet gewesen<br />

sei. Seine Haar rabenschwarz, seine Augen grün, wie der Pfad Tsas, den er bereits verlassen<br />

hatte. Man munkelte ein Blitz hätte ihn des Nachts erschlagen, doch hatte man keine Wunden<br />

entdeckt, nur seine Rüstung sei in finsterem Schwarz gehalten gewesen. Allerdings habe man<br />

den Leichnam auch nicht weiter untersucht ... war doch sein Geldbeutel prall gefüllt gewesen<br />

– und die ehrlichen, armen Bauern hatten einen Teil seines Goldes in die Bearbeitung des<br />

wirklich aufwendigen Grabstein gesteckt. Der Name „Winterbruch“ sei auf seinem Schwert<br />

eingraviert gewesen, und da der Stein nicht namenlos gelassen werden wollte – entschied<br />

man sich dafür, dass dieser Name der Seinige gewesen sein müsste. Mehr konnte selbst<br />

Traviane nicht in Erfahrung bringen.<br />

Danach habe ich mich auf direktem Wege zu Euch gemacht ...<br />

Behütet die Buben, zeigt ihnen den rechten Weg, mein Bruder – und nachdem wir die Namen<br />

nicht kennen, die ihre Mütter ihnen gaben – so will ich den Geburtssegen über den<br />

Blondschopf sprechen und seinen Namen auf Marbonian bestimmen, denn Marbo hielt ihre<br />

Hand schützend über ihn in der Stunde seiner Not. Seine Augen sind voller Stärke und nicht<br />

einmal in der Stunde, als er Boron näher gewesen war als Tsa, hatte er gewimmert oder gar<br />

geweint. Der zweite Jüngling schrie um meine Aufmerksamkeit zu erregen und dies mag ihm<br />

wohl das Leben gerettet haben, hinter dem Grabstein des unbekannten Ritters, der so wie er<br />

rabenschwarzes Haar und grüne Augen gehabt haben soll. Mag er gar am Grabe seines<br />

Vaters gebettet worden sein? Ich konnte es nicht in Erfahrung bringen ... und nun will ich es<br />

auch nicht mehr. Seit diesem Tag sehe ich sie jede Nacht im Traume – und wenn ich erwache<br />

versuchen meine Augen ihre Konturen zu erblicken, bevor sie in der Dunkelheit verschwindet.<br />

Ob mir Bishdariel zürnt, dass er mir die fliehende Frau in meine Träume geschickt hat?<br />

Was auch immer in dieser Nacht geschehen ist, Bruder Gelon Prahle – so hat mir unser Herr<br />

Boron gezeigt, dass ich nicht hätte dort sein sollen. Dass ich nicht hätte meine Stimme<br />

erheben sollen, sondern meine Sicherheit im Schweigen finden, wie es eines seiner Priester


Pflicht gewesen wäre. Waren es doch meine Laute, die die Unglückliche hervorlockten. Vom<br />

heutigen Tage an soll die Ruhe mich begleiten – das Jammern und jeden Laut will ich<br />

ersetzen. Mein Weg soll mich nun zurück in den Osten führen, wo mir das Wetter gemäßigter<br />

erscheint.„<br />

Die wenigen Worte, welche der in tiefer Ernsthaftigkeit versunkene Tempelvorsteher zu Ihm<br />

sprach, jagten ihm einen Schauer über den Rücken. Die Stimme hatte besonders kühl<br />

geklungen und ließ keinen Zweifel daran, dass es nun Zeit war den Weg fortzusetzen.<br />

Verunsichert und zögerlich erhob sich Aurelian. „Habt Dank und .... Boron zum Gruße,<br />

Bruder.“<br />

Aurelian hatte sich geeilt den Tempel zu Gratenfels hinter sich zu lassen. Er würde noch viele<br />

Meilen darüber zu sinnen haben, ob er die Worte des so unergründlichen Hüter des Raben<br />

richtig verstanden hatte. „Was Ihr nicht wisst – muss Euch nicht vergessen gemacht werden.“<br />

Zweifelsohne ... auch der bedrohliche Unterton der in diesen Worten mitgeschwungen hatte,<br />

war nicht zu überhören gewesen.<br />

Eine einsame Träne schob sich langsam über Aurelians Augenlid und kullerte über die dralle<br />

Wange hinab. Hatte er die Knaben nicht beschützen wollen? Was ging hier bloß vor? Er<br />

wurde das Gefühlt nicht los mit den Worten, welche seine letzten sein sollten, erneut Unheil<br />

angerichtet zu haben ...<br />

Der geweihte Tempelvorsteher Gelon Prahle stand noch lange still im Raum – selbst als die<br />

Schritte des Wanderpriesters bereits längst verklungen waren.<br />

16 Götterläufe später<br />

Gratenfels, 27 Hal<br />

Person: Gebbert Katorz, Fuhrmann, der noch nie erhalten hatte was ihm zusteht<br />

Mit lautem Knall prostete der Fuhrmann Gebbert Katorz, den alle nur den „gärenden<br />

Gebbert“ nannten, seinem wortkargen Gefährten, dem Kutscher Alrik, zu. Er selbst pflegte zu<br />

sagen, dass sein Karren schnell und zuverlässig jedes Ziel der Umgebung erreiche – und<br />

vergas dabei nie zu erwähnen, dass er mit den Waren schneller ankäme als der Kunde einen<br />

lauten Katorz aus seinen Darm entlassen könne! In Gratenfels war Gebbert jedoch schon seit<br />

vielen Jahren bekannt – und man hatte eines Tages angefangen ihn nach seiner Liebe zum<br />

üppigen Alkoholgenuss, der schon so manches Mal ein pünktliches Abreisen verhindert hatte<br />

und gar zu oft eine Einkehr beim nächsten Gasthof des Weges erforderlich machte, zu<br />

benennen. Seine aufbrausende, unbeherrschte Art machte es jedoch erforderlich ihn zumeist<br />

nur in seiner Abwesenheit den „gärenden Gebbert“ zu nennen, wenn man es nicht vorzog<br />

blaue-rote Verzierungen oder eine blutige Nase da<strong>von</strong> zu tragen. Obwohl er mehr als 50<br />

Götterläufe zählte war sein Haar kaum lichter geworden – doch Satinavs Spuren waren nicht<br />

gänzlich an ihm vorübergegangen. Die Täler zwischen seinen Muskeln hatten schon vor<br />

vielen Jahren angefangen sich mit weichem Gewebe zu füllen. Der aufgequollene wuchtige<br />

Körper war das Überbleibsel eines einst stolzen Mannes, der es einst gewohnt war hart<br />

anzupacken. Denn nicht nur die Zeit war vergangen – nein, auch der Fleiß war der Bitterkeit<br />

gewichen. Der stämmige Fuhrmann, welcher oftmals laut fluchend mit seinem Karren voller<br />

Gratenfelser Äpfel auf den Strassen der Grafschaft angetroffen werden konnte, stand nun am<br />

Tresen des Gasthauses „zum Wilden Einhorn“ und hatte sich bereits ausgiebig bei seinem<br />

Kollegen Alrik über den wässrigen Geschmack des Gratenfelser Gabelbiers ausgelassen.<br />

Dieser hatte es nun vorgezogen sich an den Nachbartisch zurück zu ziehen um sich mit ein<br />

paar Holzfällern beim Kartenspiel zu messen. Alrik war kein großer Redner – aber zumindest<br />

ein geduldiger Zuhörer gewesen, wenn auch seine Augen etwas anderes vermuten ließen.


Missmutig blickte Gebbert sich nun im halbleeren Schankraum um, da er noch lange nicht<br />

damit fertig sein wollte seine praiosstrenge Meinung kund zu tun. Am anderen Ende des<br />

Raumes hatten sich drei Söldlinge eingenistet – und mit zusammengesteckten Köpfen leise<br />

vor sich hin tuschelten. Auch nicht interessant genug um sich die Zeit damit zu vertreiben,<br />

seufzte Gebbert, der selbsternannte Freund des Gerstensaftes.<br />

Ein paar Münzen hatte er ja noch in seinem Beutel – und er war trotz des dritten ... vierten ...<br />

soeben geleerten Krugs noch immer durstig. „He da! Lutger! Mein Krug vertrocknet!“ Der<br />

fette, gelangweilt vor sich hin starrende Wirt Lutger Stein sah erst gar nicht zu seinem<br />

vernebelten Gast hinüber – sondern machte sich schwerfällig daran Nachschub durch den<br />

Schankraum zu schleppen. Mit tiefem Ausatmen ließ er den vollen Krug hart auf den Tisch<br />

niedersausen und verschüttete dabei einiges des schwach schäumenden Biers auf das bereits<br />

glitschige Holz. Gebbert warf einen kritischen Blick auf den Inhalt und wollte gerade<br />

lautstark beginnen den Wirt wegen seiner verschwenderischen Handhabung des wertvollen<br />

Guts zu rügen – besann sich aber schnell darauf, dass das Gasthaus „zum Wilden Einhorn“<br />

eines der letzten war, in denen er überhaupt noch gesehen werden durfte und verkniff sich mit<br />

ärgerlichem Gesicht jeden Kommentar. Nur langsam griff seine Hand zu seinem Gürtel, an<br />

dem er den kleinen Beutel mit den wenigen verbliebenen Münzen befestigt hatte. Der fette<br />

Wirt warf einen kurzen Blick durch den Raum, doch weder hatten neue Gäste das Wirtshaus<br />

betreten – noch bedurfte jemand anders seiner Aufmerksamkeit mit einer neuen Bestellung.<br />

Als Lutger erneut auf den immer noch herumkramenden Gebbert schaute, der immer noch in<br />

seinem mickrigen Beutel wühlte, ließ er seinen schwerfälligen fetten Körper auf den leeren<br />

Stuhl plumpsen, der bereits ein gutes Stück vom Tisch entfernt stand. Kaum hatte er sich<br />

fallen lassen als er sich auch schon der Aufmerksamkeit des gärenden Gebbert bewusste<br />

wurde.<br />

„Früher war alles besser, Lutger!“ platzte es aus dem Fuhrmann heraus als er einen tiefen<br />

Schluck aus dem frisch gefüllten Krug nahm. „Da waren die Beutel noch gut gefüllt!“<br />

Demonstrativ wackelte Gebbert mit seinem Geldbeutel – hatte jedoch die Anstrengung<br />

aufgegeben die Bezahlung aus selbigem herauszusuchen, sondern schwatzte drauf los. „Weißt<br />

du, ich verstehe nicht warum wir die einzigen sein sollen, die knapp an Münzen sind, Lutger!<br />

Wann haben wir unsere Schuld endlich bezahlt? Wohin kommen denn die Taler, die ich nur<br />

zu oft entrichtet habe? Heißt es nicht immer, die Kassen wären leer? Versteh mich nicht<br />

falsch – die Zwölfe seien gepriesen! Aber benötigt Gratenfels wirklich so viele Priester des<br />

Boron? Wer kann sich denn hier noch das Sterben leisten? Ich weiss wo<strong>von</strong> ich spreche,<br />

Lutger! Wo stecken denn meine Taler? Ich hab noch unter dem alten Greifax gedient, als<br />

dieser noch das Sagen hatte! Hab meinen Sold mit der Waffe verdient! Jeden Silbertaler muss<br />

man jetzt fünfmal umdrehen, bevor man ihn ausgibt! So weit hat das der verfluchte Baldur<br />

Greifax getrieben! Kein Wunder, dass sich sogar der Auflader Irian vor einigen Monden<br />

Helmfrieds Haufen angeschlossen hat! Für mich währe das heutzutage nichts mehr“ raunte er<br />

leise und mit einem abschätzenden Blick in Richtung der drei Söldner am anderen Ende des<br />

Schrankraums. „Aber wozu? Natürlich bekommt man <strong>von</strong> der dauernden Schlepperei einen<br />

krummen Rücken! Aber gleich zum Wanstschlitzer zu werden? Denen muss der Verstand<br />

vernebelt worden sein, wenn die meinen man kann um Gratenfels noch aus Wanderern die<br />

Kreuzer rauspressen! Den Helmfried hat wohl ein wilder Hund gebissen – ja, damals als der<br />

noch großer Hauptmann war – da hat der bestimmt kräftig abgesahnt! Aber kaum, dass der<br />

alte Greifax sich aus dem Staub gemacht .. wurde – war eben einfach fünfmal zuviel<br />

Kriegsvolk in der Stadt! Was hat er sich dabei gedacht wer den Haufen zahlen soll? Ist doch<br />

klar, dass die Söldner zuerst rausgeschmissen werden! Und wie kann man Gratenfels nicht<br />

gern haben, wenn man schon so lange hier ist? Und das obwohl es schon eines riesigen<br />

Wunders des Herrn Phex bedarf um überhaupt aus den Schulden rauszukommen.“ Erneut<br />

nahm Gebbert einen tiefen Schluck aus dem vollen Krug und setzte ihn demonstrativ hart


zurück auf das feuchte Holz. „Den Helmfried muss ebenfalls der Wahn befallen haben, sonst<br />

würde er endlich aus den Wäldern herauskommen und aufhören harmlosen, ehrvollen<br />

Fuhrknechten noch den letzten Heller zu rauben! Das hätte es früher nicht gegeben, Lutger!<br />

Ja! Früher konnte man noch stolz darauf sein aus Gratenfels zu kommen! Aber dann doch<br />

gegen Wengenholm den kürzeren ziehen? Von da an ging es wirklich bergab mit dieser<br />

schönen Stadt!“<br />

Ein eiskalter Hauch erfasste Gebberts Rücken, als die Tür der Wirtsstube im kalten<br />

Winterwind aufschwang – zwei in schwarze Wollroben verhüllte Gestalten hereinwehte. Das<br />

emotionslose Treiben des Gasthauses schien sich da<strong>von</strong> nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.<br />

Einzig der Mann, den sie den gärenden Gebbert nannten, wollte einen Blick auf den<br />

kältebringenden Eindringling werfen, fand jedoch weder Motivation noch Leidenschaft seinen<br />

Körper in eine geeignete Haltung zu bringen, die ihm gute Sicht auf die Eingangstür gegeben<br />

hätte. Und als unverschämt neugierig wollte selbst der Fuhrmann nicht gelten. Als er seinen<br />

Kopf erneut in Richtung des schwerfälligen Wirts wandte, sah er sich zwei wartenden Augen<br />

gegenüber. Das dies umgehend als Aufforderung zur Fortsetzung seines Gesprächs zu werten<br />

war, ist eine Selbstverständlichkeit, der Gebbert auch ohne Verzögerung nachkommen wollte.<br />

„Weißt du was ich meine?“ purzelten weitere Worte aus ihm heraus. „Schau – deine<br />

Geschäfte könnten wohl auch besser laufen, Lutger! Es ist Firun – und trotzdem verirrt sich<br />

kaum jemand zur Wärme in dein Traviagefälliges Gasthaus! Das ist doch Kuhdung, Lutger!“<br />

„Stimmt, Gebbert – das ist Kuhdung“ entgegnete der gelangweilt blickende Lutger.<br />

„Wie kannst du da noch ruhig schlafen? Wacht der Heilige Kupperus über dich? Laufen deine<br />

Geschäfte denn so gut? Mit hochgezogener Braue musterte Gebbert nach seinen Worten den<br />

fülligen Wirt. Als dieser jedoch keine Anstalten machte auf die Frage zu antworten und sich<br />

wohl in einem Wettstreit um sparsame Worte mit Alrik befinden musste, begann Gebbert<br />

erneut in seinem Geldbeutel zwischen den schnell zählbaren Scheiben zu kramen und warf<br />

einige Münzen auf den Tisch. Unvermutbar flink griff der runde Wirt über das glitschige<br />

Holz, schloss seine dicken Wurstfinger um die Bezahlung – und sprang im selben Atemzug<br />

noch auf die Füße.<br />

Gebberts Augen folgten ihm zum Tresen, wo er auch schon die Schuldigen erkannte, die dem<br />

kalten Wind Zugang zu seinem Rücken gewährt hatten, als die Tür kurz zuvor geöffnet<br />

worden war. Zwei in schwarze Wollroben gehüllte Gestalten standen mit abgewendeten<br />

Köpfen dort und schienen zu warten. Der eine hatte soeben seine Kapuze zurückgeschlagen<br />

und offenbarte langes schimmerndes Haar, welches gleichermaßen <strong>von</strong> asch- und<br />

weißblonden Strähnen durchzogen war. Sein Gesicht war kantig, sein Blick glitt furchtlos<br />

durch den Schankraum. In seinen Augen war das Licht des schweren Leuchters, der unter der<br />

Decke hing, zu sehen - das geworfene Feuer spiegelte sich darin. Keine einzelner Funken –<br />

nein! Hoch wie die Gipfel des Götterfirst loderten die Flammen stolz in seinen Augen. Mit<br />

seiner imposanten Größe <strong>von</strong> über 1,80 Schritt überragte er seinen Begleiter ein gutes Stück<br />

... trotzdem ließ sich nicht verleugnen, dass er noch im Heranwachsen war und in etwa 16<br />

Sommer zählen mochte. Der zweite Ankömmling war ein kurzes Stück hinter dem<br />

Gelbschopf stehen geblieben und hielt sein Gesicht weiterhin unter der Kapuze bedeckt. Seine<br />

Arme lagen verschränkt, die Hände tief vergraben in den gegenüberliegenden Ärmeln seiner<br />

langen schmucklosen Robe. Gebbert Katorz hatte nur selten in den letzten Jahren einen<br />

Tempel betreten – und auf die Idee einen Heiligen Ort des Boron zu besuchen war er schon<br />

gar nicht gekommen. Und doch erkannte er in den beiden Jünglingen, die Novizen des<br />

hiesigen Boron-Tempels – die stets gemeinsam das Stadttor verließen um sich der<br />

Gräberpflege des außerhalb liegenden Boronsangers zu widmen. Lutger Stein umrundete<br />

schwerfällig den langen Tresen, während der blonde Novize ihm freundlich zunickte.<br />

„Hesindeverlassender Baldur – wenn man vom Elfen spricht ...“ murmelte Gebbert


verdrossen in sich hinein, als er abgelenkt durch lautes Auflachen am Nebentisch seinen Kopf<br />

zur Seite wendete. Einige Münzen aus Alriks Geldbeutel mussten soeben den Besitzer<br />

wechseln und verschwanden laut klimpernd im Sack eines Holzfällers. Die Spieler waren<br />

weiterhin in ihr Kartenspiel mit dem mürrischen Kutscher Alrik vertieft und missachteten zur<br />

Gänze das Geschehen am Tresen. Gelangweilt gleitete Gebberts nach Unterhaltung suchendes<br />

Gesicht zurück zu dem blonden Boroni, der ein kurz angebundenes Gespräch mit dem dicken<br />

Wirt aufgenommen hatte und soeben einen Korb in Empfang nahm.<br />

Die Hand des gärenden Gebbert wanderte zielsicher nach seinem Krug suchend über den<br />

Tisch als ihm zum dritten Male an diesem Abend Aufmerksamkeit wiederfuhr. Denn der<br />

zweite Novize stand weiterhin einen Schritt entfernt aber hatte begonnen Gebbert aus zwei<br />

eiskalten grünen Augen zu mustern, welche unter seiner Kapuze herausblitzten. Hatte er ihn<br />

gar gehört? Der angetrunkene Fuhrmann fühlte sich ertappt ob seines neugierigen Starrens<br />

und wendete seinen Blick nieder auf den leeren Stuhl neben sich ...<br />

„IRIAN?!“ keuchte Gebbert Katorz in seinen Krug als er gerade zum tiefen Schluck ansetzen<br />

wollte und den jungen Bekannten entdeckte, der sich unbemerkt an dessen Seite auf den<br />

leeren Stuhl gesetzt hatte. „Was tust du denn hier? War wohl nichts mit Helmfrieds Haufen?<br />

Hat sich nicht gelohnt, was?“ Bei näherer Beschau des Aufladers Irian kam er zu dem<br />

Schluss, dass er endlich jemand gefunden hatte, dem es merklich noch schlechter gehen<br />

musste als ihm. Der Mittdreißiger mit den braunen zerzausten Haaren war wirklich in<br />

erbärmlichen Zustand. Das eingefallene Gesicht hatte er tief gesenkt gehalten – den Versuch<br />

eines direkten Blickkontaktes gar nicht erst unternommen. Ganz im Gegenteil: Irian starrte<br />

mit traurigen Augen an der Holzplatte des Tisches vorbei – genau an eine Stelle, wo Gebbert<br />

dessen Stiefel vermutete, die er ob des Elends gar nicht erst zu nah ans Gesicht bekommen<br />

wollte. „Mensch Junge! – gut, dass du wieder da bist. Ich glaube kaum, dass du dich bei dem<br />

wilden Haufen vom alten Helmfried wohl gefühlt hast! In diesen Monden ist´s besonders kalt<br />

draußen im Koschgebirge! Da holt man sich peraineweiss welche Sieche. Und lohnen tut sich<br />

das wohl auch nicht“ – wiederholte Gebbert mit einem süffisanten Blick auf Irians dünnes<br />

Hemd, dass er am Körper trug. „Erzähl schon, mein Freund – wie ist es dir ergangen?“ endete<br />

der benebelte Fuhrmann, während er voller Genugtuung einen weiteren tiefen Schluck des<br />

herrlichen Biers nahm, das seit dem letzten Zug deutlich an Geschmack zu gewonnen haben<br />

schien. Das Gesicht niedergeschlagen weiterhin gesenkt haltend, öffneten sich die Lippen und<br />

gaben nur ein einziges Wort frei: „... Goldklamm“. „Goldklamm?“ fragte Gebbert. „War das<br />

nicht das kleine Dorf im Koschgebirge – ein wenig abseits des Greifenpasses, dass vor knapp<br />

20 Götterläufen durch ein Erdbeben völlig zerstört wurde?“ Gebbert lehnte sich<br />

gedankenverloren zurück.<br />

„Ich bin nie zuvor dort gewesen, obwohl ich sogar wenige der Goldklämmer gekannt habe.<br />

Ein verschrobenes Völkchen war das! Traviagefällige Leute waren sie nicht gerade – haben<br />

sie doch niemand erzählt wie man genau zu ihrem Heim gelangen kann. Sie hatten wohl<br />

Angst, dass man ihnen das Gold klaut, dass sie aber nie entdeckt hatten – die wenigen<br />

Mondsilber-funde rechtfertigten wohl kaum den ganzen Trara. Ich war nach dem großen<br />

Beben damals mit im Gebirge, wollte mir ein paar Taler mitverdienen um mitzuhelfen den<br />

Pass freizuschaufeln, bevor wir kapierten, dass dies viele Götterläufe dauernd würde. Ein<br />

Krambold, dem wir begegnet waren und uns versicherte den beschwerlichen Weg zu kennen,<br />

hätte uns nach Goldklamm führen sollen um dort nach dem Rechten zu sehen. Es hätte<br />

versteckte rote Malereien an einigen Felsen gegeben, die es den Besuchern, die um das<br />

geheime Dorf wussten, einfacher mache es zu finden. Und obwohl keiner <strong>von</strong> uns auch nur<br />

eine einzige dieser Markierungen zu Gesicht bekam – fand der seltsame Krambold den Weg<br />

zu dem Punkt, der uns nach Goldklamm führen sollte. Es erstaunte uns auch nicht, dass der<br />

Stollen, der uns den Eingang zum Dorf hätte offen legen müssen, eingestürzt war – das


Erdbeben war zu gewaltig gewesen. An ein Durchkommen war hier nicht mehr zu denken,<br />

denn der ganze Fels war heruntergekommen. Doch das Seltsamste war, dass der unterste<br />

Felsen, der uns den Weg versperrte ein langes Stück Stoff eingeklemmt hatte ... die graue<br />

Farbe war gezeichnet <strong>von</strong> roten Färbungen ... als hätte man versucht damit rote Farbe<br />

abzuwischen.“ Mit lautem Ausatmen beendete Gebbert seine Geschichte – seufzte schwer als<br />

er sich an den erinnerte, der er einst war. Bis ... ja – bis es in seinen Augen aufblitzte.<br />

„So erzähl doch, Irian! Was ist mit Goldklamm?“<br />

„Kalt .. so schrecklich kalt ...„ hauchte es <strong>von</strong> Irians blauen Lippen. „Gold .... das ganze Gold<br />

....“ „Gold?“ – Gebbert schreckte auf, drehte seinen Kopf mit einem Ruck zu seinem<br />

Tischnachbarn. „Wo? Wieviel Gold? Hat Helmfrieds Haufen die Mine gefunden? Warst du<br />

dort?“. Irians Blick erhob sich langsam vom Boden ... den Kopf nur seitlich dem angeblichen<br />

Freund zugewandt. Gebbert klopfte das Herz bis zum Hals – was verheimlichte ihm der<br />

Tropf? „Nun sprich schon! Was ist mit dem Gold? SAG SCHON! WARST DU DORT?“.<br />

Sein rechter Arm schnellte hinter Irians Stuhl, sein bedrohlich verzogenes Gesicht, hinterher.<br />

Und Gebbert schrie ...<br />

Denn dort wo Irians Füße in Stiefeln stecken sollten – steckte nichts. Nicht seine Beine hatte<br />

Irian angestarrt, sondern das wo sie einst gewesen sein mussten. Sein Oberkörper endete in<br />

zwei Stümpfen, die ihr getrocknetes Blut in schmutzige Lumpen ergossen hatten. Irians<br />

eiskalte Hände ergriffen Gebberts Hals, sein ganzer misshandelter Körper schien sich über<br />

den Fuhrmann stürzen zu wollen. Gebberts Augen weiteten sich vor Angst, mit einem Ruck<br />

war der Tischnachbar über ihn gekommen – sein fauligtrockener Atem wehte ihm ums<br />

Gesicht. Die schwarzen klauenähnlichen Finger wühlten an ihm, zerkratzten ihm das Gesicht.<br />

„ICH BIN NOCH DOOORT!“ ergoss sich ein endloser Schrei des einstigen Bekannten zornig<br />

über Gebbert, der angsterfüllt wild mit den Armen rudernd mitsamt seines Stuhles nach hinten<br />

kippte – hinfort! Weg!<br />

Als der gärende Gebbert die Augen aufschlug, war der blonde Boroni über ihn gebeugt. Alrik<br />

war hinzugeeilt und beäugte ihn mit fragendem Blick. Der Stuhl neben seinem war leer ...<br />

Seine schnell gestammelten Erklärungen trafen auf Unverständnis. Niemand hatte seinen<br />

angeblichen Tischnachbarn den Schankraum betreten oder verlassen sehen – man warf sich<br />

vielsagende Blicke zu und vergas nicht zu erwähnen, dass es heute wohl ein Krug zuviel<br />

gewesen sein musste, den der rotnasige Fuhrmann geleert hatte. Und doch blieb nicht<br />

unbemerkt, dass über Gebberts Wangen rote Kratzspuren verliefen ... die noch einen Moment<br />

zuvor nicht dort gewesen waren.<br />

Der Mann, den sie den gärenden Gebbert nannten, war kein Schwätzer.<br />

Der Mann, den sie den gärenden Gebbert genannt hatten, hatte stets um den Wert der Dinge<br />

gewusst, die er besaß. An diesem Tage wusste er wohl, dass so manche Geschichten gutes<br />

Gold einbringen konnten – Geschichten in denen es um Gold ging fanden stets ein großes<br />

Publikum, wenn auch die Zuhörer Wert darauf legten, dass diese leise erzählt wurden.<br />

Er hatte nie viele Freunde gehabt – und trotzdem mag sich in Zukunft so mancher gefragt<br />

haben, wo er heutzutage wohl stecken würde .. aber keiner erinnerte sich daran wann er zum<br />

letzten mal seinen Wagen aus Gratenfels gesteuert hatte – und niemals zurückgekehrt war.<br />

Tags drauf sollten mehrere Gruppierungen ganz unterschiedlicher Natur zum Greifenpass<br />

losstarten. In einer <strong>von</strong> ihnen waren zwei junge Boron-Novizen, deren Ziel die Bergung der<br />

vermuteten unbestatteten Leichname Goldklamms war. Das Motiv vieler Anderen war<br />

wesentlich offensichtlicher und ausschließlich auf Gold ausgerichtet. Und doch war jemand<br />

unter ihnen, der vorgab etwas zu sein, was er nicht war.


1 Götterlauf später<br />

Gratenfels, den 1021 BF / 28 Hal<br />

Person: <strong>Utharion</strong> Winterbruch, Novize des Raben, der die Heimat begleitet<br />

Solange ich zurückdenke habe ich die schwarze Wollrobe getragen, die mich als Novizen des<br />

Schweigsamen ausweist. Ich trage sie nicht voller Stolz – ich trage sie voller Glauben und<br />

Ehrfurcht vor dem Dunklen Gott.<br />

Die junge Vorsteherin Mutter Borontrud Prahle vom Tempel des Stillen zu Gratenfels weiß zu<br />

Schweigen - und so liegt meine Herkunft tief im Dunklen. Bruder Marbonian war ein<br />

Findelkind und ich denke, dass meine Herkunft der meines Freundes entspricht, denn keiner<br />

<strong>von</strong> uns kann sich daran erinnern jemals etwas anderes als die schwarze Wollrobe getragen zu<br />

haben.<br />

Ein Ritter vom Orden des Heiligen Golgari weilte kürzlich in unserem Tempel - er sah uns<br />

lange und durchdringend an, bevor er Richtung Osten ritt. Marbonian als auch ich wussten<br />

warum er hier weilte, der junge Orden der Golgariten schien auf Knappen-suche zu sein.<br />

Seine Präsenz in unserem Tempel hatte Erfolg gehabt. Es schien beabsichtigt zu sein die<br />

Lehre des Unbeugsamen mit jungen, kräftigen Dienern des Raben unter die Ordensritter zu<br />

bringen. Marbonians Augen hatten wundersam geglänzt und sein Blick war dem Reiter noch<br />

lange gefolgt.<br />

Unsere gemeinsame Reise nach Punin, wo wir unsere Weihe zum „Diener des Raben“<br />

berufen werden sollten, stand bevor.<br />

Die kargen Bündel für die Reise waren geschnürt – keinen Reichtum, kein Schatz war dort zu<br />

finden. Was wir besaßen trugen wir tief in uns ... unvergänglicher Glaube leitete uns den<br />

Weg. So schwer der Unbeugsame in uns thronte, so federleicht war unser Gepäck.<br />

Die Weihe zum „Diener des Raben“ stand bevor und unsere Reise nach Punin sollte<br />

Bereits wenige Tage nachdem Marbonian und ich zum "Diener des Raben" berufen wurden,<br />

machten wir uns auf den Weg zum Kloster am Heiligen Rabenfelsen zu Garrensand. Unsere<br />

Ausbildung zum Priester des Ewigen war vorüber, die nächste Stufe die der Unergründliche<br />

für uns vorsah, stand bevor.<br />

Bruder Marbonian ging mit grossem Schritt voran - er war schon immer der Zielstrebigere<br />

<strong>von</strong> uns beiden gewesen. Vielleicht folgte ich ihm aus diesem Grund zum Orden des Heiligen<br />

Golgari?<br />

War ich dem gewachsen? Selbst unter den Novizen des Rabens war ich stets <strong>von</strong> Melancholie<br />

gezeichnet gewesen – nicht <strong>von</strong> stummem Stolz, denn <strong>von</strong> schwarzgrauer Ruhe.<br />

Leise war Mutter Borontrud auf den Tempelhof getreten und kaum waren wir an ihr<br />

vorübergegangen, drehte sie uns bereits den Rücken zu - doch ihre zwei Abschiedsworte<br />

blieben nicht ungehört.<br />

Als "<strong>Utharion</strong> Winterbruch" lenkte ich meine Schritte durch das Albenhuser Tor und kehrte<br />

den wuchtigen Mauern <strong>von</strong> Gratenfels den Rücken, doch anders als Marbonian warf ich einen<br />

Blick zurück auf den Ort, der mir teure Heimat gewesen war.<br />

wenige Monde später ...<br />

Kloster am Heiligen Rabenfelsen zu Garrensand, den 1021 BF / 28 Hal<br />

Person: <strong>Utharion</strong> Winterbruch, Diener des Raben und Knappe vom Orden des Heiligen<br />

Golgari.<br />

Und wieder lag ich im Staub ... das Grau meines Wappenrocks verfärbte sich kaum merklich<br />

in ein gesprenkeltes Schmutziggrau. Der täglichen Wäsche würde ich wohl auch heute kaum<br />

entgehen.


Dabei war ich nur einen Moment abgelenkt gewesen, als ich Schwester Sianna am Klostertor<br />

erblickt hatte ... sie war endlich zurück. Ich hoffte inständig, dass die Staubwolke die ich beim<br />

Aufprallen erzeugt hatte ihr die Sicht auf mich und mein jämmerliches Tun nahm. „Träumst<br />

du, <strong>Utharion</strong>? – steh gefälligst auf!“<br />

Über mir vernehme ich das Lachen Ritter Gilean <strong>von</strong> Kwents, während ich mit schmerzenden<br />

Gliedern versuche wieder eine halbwegs anständige Kampfgrundstellung einzunehmen.<br />

„<strong>Utharion</strong> – deinen Gegner sollst du bekämpfen – nicht den Burghof kehren! Lasse den Feind<br />

nie aus den Augen! Kümmere dich nicht darum ob du auch elegant stehst!“ Und erneut raubt<br />

er mir mit einem geschickten Fußfeger den Boden unter den Füssen ...<br />

Manchmal wünschte ich mir wirklich, ich hätte einen schweigsameren Lehrmeister<br />

zugewiesen bekommen.<br />

Ritter <strong>von</strong> Kwent kam aus Albernia – und sein Körperbau entsprach dem Ruf, den Albernier<br />

haben. Sie waren nicht zu übersehen und dies lag wahrlich nicht nur am an seiner mächtigen<br />

Statur, sondern auch an der lauten Stimme, die sich nur schwer im Zaum halten konnte und<br />

wohl des öfteren bis vor die Klostermauern zu hören sein musste. Er entspricht wohl nicht<br />

unbedingt dem Bilde, dass Aussenstehende vom Orden des Heiligen Golgari haben, doch<br />

seine Treue zum Orden und zu unserem Herrn sind wahrlich ohne Zweifel.<br />

Erneut nehme ich meine Kräfte zusammen – fixiere ihn für einen sekundenbruchteil – und<br />

stürze mich mit lautem Schrei auf ihn. Ein eiskalter Blick bringt mich zum Schweigen – ein<br />

zeitgleich zielsicher ausgeführter Tritt, der mir die Luft aus den Lungen treibt, wirft mich hart<br />

zurück. „Beherrsche deinen Zorn, Knappe - sonst beherrscht er dich!“<br />

Mein Brustkorb dröhnt vor Schmerz, während ich mich erneut erhebe – den Blick in tiefer<br />

Scham gesenkt.<br />

„Es ist an der Zeit, <strong>Utharion</strong> – die Lichtmesse wartet.“. Mit dem traditionellen Wort<br />

„Rabenkrähen!„ beendete Ritter Gilean <strong>von</strong> Kwent seine Unterweisung und steht mir das<br />

Recht zu mich zu äussern.<br />

„Habt Dank, Euer Ehren und ... verzeiht mein Benehmen, mein Lehrmeister“ – eine<br />

erkennbare Annahme meiner Entschuldigung zeigte er mir jedoch nicht, und da Ritter Gilean<br />

bekanntlich nicht der größte Verfechter des borongefälligen Schweigens war, bemerkte ich,<br />

dass ich ihn nicht nur verärgert, sondern auch enttäuscht hatte. Er hatte mich nicht in die<br />

Kammer geschickt, wo ich bei diesem Vergehen durchaus hingehört hätte .. die Wahl der<br />

Strafe hatte er unausgesprochen an mich übertragen. Wenigstens hierbei würde ich ihn nicht<br />

enttäuschen und freiwillig mehrere Stunden in der Abgeschiedenheit und Dunkelheit der<br />

Kammer an meinem weissen Mantel arbeiten, dessen Fertigstellung noch in weiter Zukunft<br />

lag. Es war an mir dem Herrn für meinen Lehrmeister Gilean zu danken, nicht auszudenken<br />

wäre ich Justiziar Baranoir zugewiesen worden, der unter uns Knappen nur „Rabenvater“<br />

genannt wird. Gilean <strong>von</strong> Kwent schloss manchmal die Augen, wenn er Schwester Sianna und<br />

mich beim gemeinsam Übungskampf sah – und doch sehr wohl dabei erkannte, dass meine<br />

Hiebe absichtlich nicht so erpicht darauf waren zu treffen, wie es bei meinen Übungskämpfen<br />

mit Marbonian, der Fall war. Wo steckte der eigentlich? Mir würde erneut eine Rüge<br />

wiederfahren, wenn er <strong>von</strong> meiner Tat gehört hatte. Und dabei gab ich mir solche Mühe ihm<br />

in seiner Disziplin und seiner Zielstrebigkeit nachzueifern. Sein Potential versprach ihm<br />

höhere Ziele als es meine je sein würden.<br />

Drei Götterläufe später<br />

Ort: unbekannt, 1024 BF /31 Hal<br />

Person: <strong>Utharion</strong> Winterbruch, Diener des Raben und Ritter vom Orden des Heiligen<br />

Golgari, ...


-Wach-<br />

Glühende Nadeln im Rücken ... mein Schädel brüllt mich an vor taubem Schmerz.<br />

Ich lebe ... noch? Ich bin hier – wo? Ich kann nichts sehen ...<br />

Hitze. Unbeschreibliche Hitze. Dieser fürchterliche Schwefelgestank - und der Geruch <strong>von</strong><br />

verbranntem Fleisch dringt tief in meine Lungen als ich Luft holen will ...<br />

Ich hatte die Schwingen Golgaris nicht kommen sehen und dennoch gefühlt, dass sie meinen<br />

Leib striffen.<br />

Das Feuer hatte nur einen Augenblick geherrscht ... das Glühen schien Ewigkeiten zu dauern.<br />

Ritter Gileans Ring des Rabens an meinem Finger brannte auf meiner Haut - fühlte sich an,<br />

wie soeben erst dem Feuer der Schmiede entnommen ... Schmerz – Hitze – Schmerz –<br />

Gestank.<br />

Ich lebe. Erinnere dich ... wie lange liegst du schon hier? Will die Lider öffnen ... doch nichts<br />

geschieht. Ein Meer aus Flammen tanzt alles verschlingend vor mir – und doch bin ich zu<br />

schwach um zu sehen.<br />

Das Inferno hatte sich eingebrannt in meine Augen - und es kokelte noch immer<br />

unheilverheissend vor sich hin. Leises Knistern dringt an mein Ohr ... los .. bewege dich! ...<br />

eine Last auf meinem Körper verweigert meinen Beinen den Dienst. Sammle deine Ruhe ..<br />

gewinne Kraft daraus ... mit gesammelter Anstrengung schiebe ich die Blockade <strong>von</strong> mir –<br />

höre Metall, daß auf den Steinboden der Ruine fällt. War es ein Körper? Einen zweiten<br />

stemme ich <strong>von</strong> meinen Beinen hoch und höre erneut ein lautes Klappern. Blinde Hände<br />

suchen meinen Rabenschnabel - wollen ihn gezückt vor meinen Kopf halten .. doch der letzte<br />

Funken Kraft weicht aus meinen Armen, während ich zur Seite sacke. Was ist geschehen?<br />

Dieser gottlose Gestank ... muss vorwärts ... darf hier nicht liegen bleiben ... Gefahr ... mein<br />

Dolch. Meine Augen öffnen sich ... und doch vermag ich nur Umrisse zu erkennen .. kurz vor<br />

mir liegt etwas ..<br />

Meine blinden Hände greifen über den kalten Steinboden, haken sich in eine Spalte und<br />

ziehen mich langsam vorwärts. Muss weiter ... kann nicht ... bin zu schwach ... vorwärts! Ich<br />

fühle Metall ... warmes Metall .. versuche näher heran zu rutschen ... eine Plattenrüstung?<br />

Unerträglicher Gestank ... verbranntes Fleisch ... Dunkelheit ... darf nicht hinein sinken ...<br />

muss weiter. Mit einem letzten Ruck ziehe ich meinen Körper nah an die Umrisse heran –<br />

mein Gesicht nur wenige Spann entfernt. BEI BORON!<br />

Der Hinterkopf zerkocht ... Blasen platzen vor meinen Augen auf .. Eiter fließt über<br />

angebranntes Fleisch, dass noch vor Augenblicken ein Mensch gewesen sein musste ... und<br />

doch spüre ich noch Leben in diesen Resten vor mir. Mein linker Arm schiebt sich unter das<br />

ekelerregend verfärbte Haupt – doch die Hand fordert weitere Gewissheit und wendet das<br />

verschmorte Gesicht in Hauchesweite an das meinige. Bei den Göttern! Wie könnt ihr das<br />

zulassen ... nur kaum merklich ist zu erkennen was einst Vorderseitig gewesen ... und wo in<br />

jedem Winkel ehrwürdiger Stolz gelegen hatte. Und doch funkelt noch Leben in diesem<br />

gezeichneten Leib ... eine Pupille zuckt hilfesuchend in meine Richtung .. daneben nur eine<br />

ausgekochte Augenhöhle - die rechte Hälfte des Gesichts bis zur Unkenntlichkeit vernichtet.<br />

Eine Pupille zeichnet den letzten Rest Menschlichkeit – den letzten Rest des starken Lebens,<br />

dass nun geschlagen vor mir liegt. Unter dem Dolch in meiner ausgestreckten Hand fühle ich<br />

seinen Brustkorb, der sich schwach erhebt .. und senkt. „Marbonian .. wir .. wir müssen hier<br />

weg ...“ Sein verbliebenes Auge bleibt weiterhin zielsicher auf mich gerichtet. Anders als<br />

meine Gedanken, die vor Furcht rasen – scheint die Zeit für einen Moment still zu stehen.<br />

Erkennen spiegelt sich zwischen unseren geschundenen Körpern und inmitten der dunklen<br />

Unklarheit flackert die Wahrheit auf – kann nicht mehr übersehen werden, will nicht zur Lüge<br />

verkommen. Sein Blick bringt mich zur Ruhe und ich erkenne das Wissen darin, dass er<br />

diesen Ort vor mir verlassen muss ... und Marbonian gibt mir die Kraft, wie es schon seit jeher<br />

gewesen war. Noch immer bäuchlings am Boden liegend, streichle ich über sein Gesicht ..<br />

meine linke Hand verbleibt über seinem übrigen Auge – spürt das Zucken <strong>von</strong> platzenden


Blasen und krustigem Fleisch unter sich. Die Ellbogen in den kalten Boden gestemmt,<br />

überwinde ich den letzten Rest Distanz ...<br />

Meine Lippen senken sich auf die zerkochten Wangen nieder, während ich meinen Dolch mit<br />

zittriger Hand über den Rest seiner Kehle ziehe ... und dem Freund die Erlösung schenke. Als<br />

Marbonian das letzte Leben aushaucht, sacke ich kraftlos über seinem Leib zusammen ...<br />

spüre Bishdariel, der nach mir greift ...<br />

Schweigend stand ich über dem, was <strong>von</strong> meinen Brüdern und Schwestern übrig geblieben<br />

war. Zorn meines Versagens wegen erfasste mich wie niederstürzendes Geröll, Trauer um die<br />

Gefährten pochte hinter meiner Stirn – schlug gegen mich wie eine Welle.<br />

„Beherrschung ... übe Beherrschung ...“ so hörte ich Gileans Stimme noch in meinen Ohren<br />

klingen. SCHWEIGT! Was hat es Euch genützt, <strong>von</strong> Kwent? WAS HAT ES EUCH<br />

GENÜTZT, RITTER! Zornig spie ich die Gedanken zu Boden ... ballte die Hände zu Fäusten.<br />

Und doch bewahrte ich das heilige Schweigen, wagte nicht die Stille zu brechen und gar die<br />

Ruhe der Toten zu stören ...<br />

Rüstungen hatten sich tief eingebrannt in deren Träger - <strong>von</strong> Haaren, Haut und Wappenrock<br />

war nichts mehr zu erkennen. Gileans Visir des Rabenhelms war geöffnet - ein<br />

schreckgeweiteter Mund war der Rest seines Gesichts. Nicht der Ansatz einer Lippe war übrig<br />

geblieben, die Augen nur mehr ausgebrannte Löcher.<br />

Es hat Euch verbrannt, wie ein Schwein ...<br />

Und doch: keinen Schrei, keinen Ton hatte er <strong>von</strong> sich gegeben als das Feuer ihn erfasste.<br />

Kalte Grabesstille hatte geherrscht als uns das Inferno entgegenschlug. Letzte Worte hatte es<br />

nicht gegeben.<br />

Die Reste des jungen Knappen Boromar waren noch geringer - mutig und tatkräftig war er<br />

uns vorangegangen durch die Ruinen der geschliffenen Burg Koschwacht. Der Schweigende<br />

hatte alle zu sich gerufen - und der Seelenrabe Golgari hatte sie geholt.<br />

Oh Nein! - niemals würde ich sie hier zurücklassen ...<br />

Ich sah nicht die Gefahr und ich bemerkte nicht die Kraft, die ich hatte um die Reste meiner<br />

Gefährten fort <strong>von</strong> diesem unheiligen Ort zu bringen. Ich zählte nicht die Zeit, die ich<br />

brauchte um über jeden meiner Begleiter das Boronsrad zu schlagen und sie zur letzten Ruhe<br />

zu geleiten. Viermal wiederholte ich die Worte "Dein Rad ist gebrochen, dein Leben als Ritter<br />

auf Dere vorbei ..."<br />

Als letztes nahm ich Abschied <strong>von</strong> Marbonian, bevor ich mich auf den Rückweg zur Burg<br />

Twergentrutz schleppte. Das Feuer, dass unsere Feder verbrannt hatte, begleitete mich.<br />

... wir betraten die Ruine der Burg Koschwacht - die letzten Stunden waren wir dem Gestank<br />

bis hierher gefolgt. Ritter Gilean, der noch vor kurzem mein Lehrmeister war und mich<br />

unzählige Male in den Staub geschickt hatte, geht mir voran. Ein wahrer Hüne mit einem<br />

Rücken breit wie ein Boronsrad. Sein Ring des Rabens, einst ein Geschenk seines Bruders<br />

Boronian, war stets zu eng für seine wuchtigen Hände gewesen und aus Sorge vor Verlust<br />

verwahrte ich ihn an meinem Finger. Unsere Rucksäcke hatten wir bei den Pferden<br />

zurückgelassen – nichts da<strong>von</strong> sollte ich jemals wiedersehen.<br />

Plötzlich zerreißt gleißendes Licht die Finsternis - zeichnet Gileans Konturen gegen den<br />

schwarzen Nachthimmel bevor es sie schnell dünner werden lässt. Die Dunkelheit<br />

zurückgedrängt in nur einem Augenblick. Geblendet durch Flammen. Hitze, wie ein<br />

Schmelztiegel. Ein Inferno bricht los. Der Pesthauch in der Luft verwandelt sich innerhalb<br />

eines Augenblicks in den Geruch verbrannten Fleisches.<br />

Ich zwinge mich die Augen offen zu halten, doch ein hell lodernder Körper trifft auf mich -<br />

ein weiterer reißt mich <strong>von</strong> den Beinen - mein Kopf schlägt hart gegen die Mauer.<br />

Noch während ich zusammensacke fällt mein letzter Blick auf Ritter Gilean <strong>von</strong> Kwent.<br />

Doch diesmal verliere ich nicht das Bewusstsein .. nein - diesmal schickt mir Bishdariel


keinen traumlosen Schlaf. Und obwohl er schwer auf mir liegt sehe ich den Dampf aus<br />

Gileans Visir aufsteigen. Beobachte den Kettenkragen, der schon nach einem Wimpernschlag<br />

in seine Plattenrüstung eingeschmolzen ist.<br />

MARBONIAN!!!??<br />

Schweißgebadet schrecke ich hoch und blicke unvermittelt in die Augen Schwingenführerin<br />

Alissas. Habe ich geschrieen? Während der heiligen Stunden des Schweigen? Dies war nicht<br />

das erste mal gewesen ...<br />

Der Ruf nach Marbonian erstickt in meinem Hals als sich Alissa wortlos zum Gehen wendet.<br />

Hatte ich Mitleid ... oder gar Verachtung in ihren Augen gesehen?<br />

Wenige Zeit später<br />

Burg Twergentrutz, Koschgebirge - 1024 BF /31 Hal<br />

Person: <strong>Utharion</strong> Winterbruch, Diener des Raben und Ritter vom Orden des Heiligen<br />

Golgari?<br />

Ohne mich umzudrehen verließ ich wenige Tage später die sichere Burg der Golgariten.<br />

Ich fühlte Yanns Augen, als er mir – und seinem Seesack, den er mir zum Abschied geschenkt<br />

hatte, hinterher blickte. Ob die Trauer den Gefährten oder seinen Pferden galt, ohne deren<br />

Begleitung ich in erbärmlichen Zustand <strong>von</strong> Burg Koschwacht zurückgekehrt war, vermochte<br />

ich nicht zu sagen. Borons süße Gnade des Vergessens hatte ich abgelehnt – ist doch meine<br />

Erinnerung alles was mir blieb und ich behüte es wie einen Schatz. So entschied die<br />

Schwingenführerin über mich ...<br />

So hatte der Orden mich entsendet meine Berufung zu finden. Besinnung möge mich leiten<br />

auf dem Weg die göttliche Ruhe zu finden und nur den Schmerz zu vergessen - dem Dunklen<br />

Gott in Schlaf und Stille wieder gefasst begegnen zu können, war meine Hoffnung. Doch<br />

zuvor galt es zurückzugeben, was mir nicht gehörte.<br />

Gileans Bruder, Boronian <strong>von</strong> Kwent war ein Diener des Rabens im Tempel zu Gareth.<br />

So zog ich hinaus und die weite Kapuze meines Umhangs tief ins Gesicht.<br />

Es hatte geregnet und die Praiosscheibe sollte nicht mehr lange am Himmel stehen.<br />

Kein guter Zeitpunkt um das Kloster zu verlassen ... hatte ich eine Wahl gehabt?<br />

Das Abendbrot hatte ich noch schweigend im Einklang mit den wenigen verbliebenen<br />

Brüdern und Schwestern der Schwinge „Rabentreu“ eingenommen, aber der Geruch <strong>von</strong><br />

verbranntem Fleisch wollte nicht aus meinen Sinnen weichen – und so hatte ich Brot und<br />

Käse lediglich an seiner Gestalt erkannt. Ja – es war an der Zeit gewesen zu gehen.<br />

Der Weg bis zur Siedlung Paßweiser sollte nicht mehr weit sein – dort würde man mir gewiss<br />

in Travias Namen bis zum nächsten morgen Unterschlupf gewähren. Die Kapuze war nass<br />

vom Regen und mir tief ins Gesicht gerutscht – der Weg voller Nebel.<br />

Stille. Mein Leben in stummer Verbundenheit zu dem Herrn. War es wirklich an der Zeit<br />

gewesen Golgari auszusenden um zu holen, was mir lieb und teuer gewesen?<br />

Herr – ich zweifle nicht an dir.<br />

Dein Sein nicht zu hinterfragen ist meine Profession. Dein Handeln zu akzeptieren mein<br />

Leben, meine ganze Existenz auf Dere. Und doch kann mich das Vergessen nicht ereilen ...<br />

Aus dem tristen Grau des Nebels dringt Gelächter an mein Ohr ... wenige Augenblicke später<br />

rollten mehrere Kastenwägen vorsichtig über den breiten Pass. Meine Augen empfingen sie,<br />

hatte ich sie doch erst spät bemerkt. Der Kutscher beachtete mich kaum – nicht jedoch der<br />

blonde Krieger, der neben ihm saß.<br />

Sein Kopf war blitzschnell in meine Richtung gezuckt als er mich wahrnahm, seine laute<br />

Stimme noch an seinen Nachbarn gerichtet, der die Zügel schwingt – des Kriegers Hand noch<br />

fest um einen Krug geschlungen.


„Wohin des Weges?“ rief er mir zu – stumm deutete ich in die Richtung, der auch die<br />

Wagenkolonne folgte.<br />

„Wollt Ihr Euch die Füße wund laufen?“ bemerkte er mit einem grinsenden Blick auf meine<br />

Stiefel, um die sich bereits eine kleine Wasserlache gebildet hatte.<br />

„Nun springt schon auf – Alrik ist sowieso gerade der Gesprächsstoff ausgegangen!“ lachte er<br />

laut und blickte schief auf den Kutscher, der dies mit einem säuerlichen Nicken und<br />

vorsichtigem Blick auf meine Gestalt quittierte. „Boron zum Gruße und Travia zum Dank“<br />

sagte ich, während ich hinten auf den Wagen sprang.<br />

Im Laufe des Gesprächs, dass der Krieger mehr mit mir - als ich mit ihm führte, stellte er sich<br />

als Gerion <strong>von</strong> Hopfenstein zu Ferdok, vor. Er hatte die Kriegerakademie zu Elenvina besucht<br />

und seine Ausbildung erst vor wenigen Monden abgeschlossen – nun galt es für ihn die<br />

starren Mauern hinter sich zu lassen und zu testen, ob das Bier im Osten besser schmecken<br />

würde als in seiner Heimat im Kosch, was er sich aber eigentlich nicht vorstellen könne. Dass<br />

er wusste wo<strong>von</strong> er sprach konnte ich in seinen Augen lesen, als er mir <strong>von</strong> der Brauereikunst<br />

seiner Familie erzählte. Nun wollte Gerion nach Gareth und mal so richtig den Koschkeiler<br />

rauslassen!<br />

„Die Zwölfe haben uns denselben Weg gewiesen, Krieger <strong>von</strong> Hopfenstein zu Ferdok“ sprach<br />

ich mit fester Stimme. „Ach, auch nach Gareth unterwegs? Die Fuhrleute haben mächtig<br />

Angst vor Orks und Gaunern – da kann eine Waffe mehr nicht schaden! Und die Nachtwache<br />

können wir aufteilen!“<br />

Während der Kutscher beim Anblick meines Wappenrocks in betretenes Schweigen verfallen<br />

war, genoß ich die Unbekümmertheit und das laute Lachen Gerions bis das letzte Licht der<br />

Praiosscheibe erstarb.<br />

Garetien - 1024 BF /31 Hal<br />

Person: <strong>Utharion</strong> Winterbruch, Diener des Raben und Ritter vom Orden des Heiligen<br />

Golgari<br />

Einige Monde waren vergangen, seit ich meine Gefährten Gerion <strong>von</strong> Hopfenstein zu Ferdok,<br />

Yasmina <strong>von</strong> Ehrwald und Saria Berlind in Gareth verlassen hatte. Krieger <strong>von</strong> Hopfenstein´s<br />

Gelächter, Adepta <strong>von</strong> Ehrwald´s kritische aber dennoch freundliche Miene hatte ich zu<br />

schätzen gelernt – auch, wenn sie aufgegeben hatte das Gespräch mit mir zu suchen. Selbst<br />

Saria, die mit Sicherheit geistlichen Beistands bedarf, damit ihre Seele nicht eines Tages vor<br />

Rethon als zu leicht befunden würde, war mir zu einer treuen Gefährtin geworden. Und doch<br />

hatte es mich zum Aufbruch gedrängt. Zu weit entfernt hatte ich mich <strong>von</strong> der Gefolgschaft<br />

des Stillen. Zu oft hatte ich Schweigen müssen um nicht der Lüge zu erliegen. Meine Ziele<br />

waren höhere ...<br />

Mit einer Waffe den Tod zum Körper zu bringen war ich gelehrt worden – nun war es an der<br />

Zeit gewesen zu lernen, den Körper zum Tod zu geleiten, wenn die Götter in Ihrer<br />

unendlichen Weisheit befanden, dass der rechte Augenblick gekommen sei. Den<br />

Rabenschnabel hatte ich seit meinem Abschied aus Gareth nicht mehr gezückt.<br />

Vor einigen Stunden hatte ich in der Ferne Kriegsvolk gesehen – sie waren gen Osten<br />

geritten. Irgendetwas musste vor sich gehen, dass hatte man selbst in den kleinen Dörfern der<br />

Umgebung gemunkelt – und man war sich sicher, dass es nichts gutes mit sich brachte.<br />

Die Praiosscheibe stand bereits am Himmel, als ich den Grabsegen über Aurelians tief<br />

eingebetteten Körper sprach – zu lange hatte es gedauert in dem kalten Boden seine letzte<br />

Ruhestatt auszuheben.<br />

Bruder Aurelian war nicht vor seiner Zeit gegangen – sein Leben als Wanderpriester war stets<br />

göttergefällig verlaufen und unzählbare Menschen hatte er zu Grabe getragen, doch auch


seelischen Beistand den Lebenden gewährt. Als ich mich seiner Mission vor einigen Monden<br />

anschloss, hatte ich bereits in seinem Blick lesen können, dass er sein baldiges Ende geahnt<br />

hatte. Vor vielen Jahren hatte Bruder Aurelian ein Schweigegelübde zu Ehren des dunklen<br />

Herren abgelegt, doch in seinen Augen konnte ich mehr lesen als seine Stimme mir jemals<br />

hätte sagen können.<br />

Er hatte mich den „Ruf in Borons Arme“ gelehrt, wie er ihn sooft zum Gefallen unseres Herrn<br />

angewendet hatte, doch meinen Beistand abgelehnt als er die Augen zum letzten Traum<br />

schloss. Dieselben Augen, welche noch vor wenigen Stunden einen ärgerlichen Blick zum<br />

Himmel gesendet hatten, als dieser sich anschickte eine Regenwolke über unsere Häupter zu<br />

zaubern. In seinem ewigen Schlafgemach wird es keine Wolken geben.<br />

„Bruder Aurelian – dein Rad ist zerbrochen. Boron, Herr des Todes, meinen Bruder will ich<br />

dir anempfehlen, sein Wirken auf unserer Welt als dein Diener ist beendet – er verließ Dere,<br />

wie er es als Deuter des Heiligen Bishdariel erhofft hatte, im Schlaf. Möge sein letzter Traum<br />

der erfüllendste gewesen sein – möge seine Seele in deinem Schlafgemach Einzug halten und<br />

sich zur Ruhe betten. Gütiger Golgari – geleite meinen Bruder Aurelian sicher über das<br />

Nirgendmeer, so bitte ich dich. Was zu dir gehört, Herr, darf nicht länger auf Dere gehalten<br />

werden. Schenke ihm den ewigen Frieden.“<br />

<strong>Utharion</strong>s Blick fällt auf Aurelians Grab .. gleitet hinab zu seinen eigenen Stiefeln .. und<br />

verharrt einen Augenblick auf dem schwarzen Rabenschnabel an seiner Seite, bevor er sich<br />

sicheren Schritts nach Osten, Richtung Gareth wendet. Dies ist keine Zeit der Toten.<br />

Gareth - 1024 BF /31 Hal<br />

Person: Boronian (<strong>von</strong> Kwent), Diener des Raben im Tempel zu Gareth<br />

Der Rest ist Schweigen – Schweigen der Rest<br />

Er hatte seinen weissen Waffenrock nicht getragen, seine Plattenrüstung war verbeult<br />

gewesen und selbst das heilige Wappen Golgaris war achtlos herausgefeilt worden – gänzlich<br />

bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt. Der Schild hatte seine Bespannung eingebüßt und an seinen<br />

Armkleidern konnte man sehen, dass hier einst militärische Einheitsinsignien geprankt haben<br />

mussten. Sogar der überzeugte Blick war gewichen ... seine Augen sprachen <strong>von</strong> Rastlosigkeit<br />

– und dahinter: <strong>von</strong> Angst. Seine Hand lag schwer auf dem Rabenschnabel, den er an seiner<br />

Seite trug, als müsse er sich an etwas festhalten, den kläglichen Rest den man ihm noch nicht<br />

genommen hatte. Er war seit seiner Rückkehr nur selten in den Tempel zu Gareth gekommen<br />

– fast hätte ich ihn nicht erkannt. Doch erst die zahlreichen Worte, die aus ihm<br />

heraussprudelten, sollten ihn wirklich offenbaren ...<br />

„Ich bin gekommen um die Ruhe zu finden, Bruder.“ sprach er mit gesenktem Blick. „Meine<br />

Gebete, dass unser Herr mir meinen Weg zeigen möge, wurden nicht erhört. Und doch fühle<br />

ich die schützende Hand des Unbeugsamen über mir, wie ich es niemals zuvor tat. Jedoch<br />

seine Führung erreicht mich nicht – weist mir nicht die Richtung meiner wahren Bestimmung.<br />

Möge der Bote des Todes mir verzeihen für den Frevel, den ich begehen werde. Den Pfad<br />

meines tiefen Glaubens muss ich verlassen, meinen heiligen Orden und mit ihm meine<br />

Profession verheimlichen, mein Bruder ... – auch, wenn es für die Zwölfe – für das Reich<br />

geschieht. Doch wie kann mich mein Glauben erfüllen, wenn ich ihn verleumde? Wie kann<br />

ich siegreich zurückkehren zum Stolze des Ordens, wenn mich die Ideale nicht stützen<br />

können? Wie aufsteigen in den inneren Kreis, wenn mich Golgari im dunklen Osten nicht zu<br />

finden vermag? Wie könnte er auch ... trage ich doch die Gewandung eines Ungläubigen! Ich<br />

übergebe Euch meinen Waffenrock, den weißen Ordensmantel und meine Werkzeuge des<br />

Glaubens. Schließt mich in Eure Gebete ein, Bruder – und so der Herr über mich wacht,


werde ich zurückkehren. Sollte ich nicht binnen eines Götterlaufs zu Euch zurückgefunden<br />

haben, Vater Boronian – lasst mein Hab und Gut der Ordensburg Twergentrutz zukommen.“<br />

Als ich meinen Blick erhob, hatte <strong>Utharion</strong> Winterbruch den Tempel bereits verlassen.<br />

Die Sonne verblasst - so unnahbar grau der Himmel. Die Welt versinkt in einem Schleier aus<br />

Schlaf. Bin ich alleine hier? Diese Freiheit zu atmen – und doch nicht gierig nach Luft zu<br />

schnappen. Wo sind all die Menschen hin? Eilt euch! Oder bleibt zurück. Hört ihr die<br />

Schwingen? Fühlt ihr sie? Folgt mir – es wird euch nichts geschehen. Herr, erhöre mich.<br />

Es wird kälter. Wie fern du doch bist – nicht einmal deine Stimme klingt mehr in meinen<br />

Ohren. Ist es wirklich schon so lange her, dass ich sie vernahm? Übrig bleibt der Wunsch<br />

dich zu sehen. Und doch habe ich dich in einer anderen Zeit zurückgelassen. Ja ... die Zeit der<br />

Fragen ist jetzt vorbei. Meine Ziele sind höhere – meine Existenz hadert dem Los, doch trotzt<br />

nicht dem Schicksal. Ich bin so schrecklich einsam ohne dich. An dieser Stelle will ich warten.<br />

Und keine Angst empfinden, vor dem was kommen mag. Und doch weiß ich, dass dies nicht<br />

das Ende ist.<br />

Denn am Ende ist Dunkelheit.

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