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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die<br />

ästhetischen Menschen, die Artisten! Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein<br />

tiefes, gründliches, selbst schreckliches Hineinleben und Hinabsteigen in mittelalterliche<br />

Seelen-Contraste, ein feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht des Geistes,<br />

eine Art intellektueller Perversität (wenn man mir das Wort nachsehen will) ebensowenig<br />

erspart als einem schwangeren Weibe die Wi<strong>der</strong>lichkeiten und Wun<strong>der</strong>lichkeiten <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft: als welche man, wie gesagt, vergessen muss, um sich des Kindes zu<br />

erfreuen. Man soll sich vor <strong>der</strong> Verwechselung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht<br />

selbst geräth, aus psychologischer contiguity, mit den Englän<strong>der</strong>n zu reden: wie als ob er<br />

selber das wäre, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. Thatsächlich steht es so, dass,<br />

wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde;<br />

ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill<br />

und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle<br />

Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt; andrerseits versteht man es, wie er<br />

an dieser ewigen „Unrealität“ und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis zur<br />

Verzweiflung müde werden kann, – und dass er dann wohl den Versuch macht, einmal in das<br />

gerade ihm Verbotenste, in's Wirkliche überzugreifen, wirklich zu sein. Mit welchem<br />

Erfolge? Man wird es errathen... Es ist das die typische Velleität des Künstlers: dieselbe<br />

Velleität, welcher auch <strong>der</strong> altgewordne Wagner verfiel und die er so theuer, so<br />

verhängnissvoll hat büssen müssen (– er verlor durch sie den werthvollen Theil seiner<br />

Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt<br />

wünschen, um Wagner's selber willen, dass er an<strong>der</strong>s von uns und seiner Kunst Abschied<br />

genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, son<strong>der</strong>n siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer,<br />

– weniger irreführend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger<br />

Schopenhauerisch, weniger nihilistisch?...<br />

5.<br />

– Was bedeuten also asketische Ideale? Im Falle eines Künstlers, wir begreifen es nachgerade:<br />

gar Nichts!... O<strong>der</strong> so Vielerlei, dass es so gut ist wie gar Nichts!... Eliminiren wir zunächst<br />

die Künstler: dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in <strong>der</strong> Welt und gegen die Welt,<br />

als dass ihre Werthschätzungen und <strong>der</strong>en Wandel an sich Theilnahme verdiente! Sie waren<br />

zu allen Zeiten Kammerdiener einer <strong>Moral</strong> o<strong>der</strong> Philosophie o<strong>der</strong> Religion; ganz abgesehn<br />

noch davon, dass sie lei<strong>der</strong> oft genug die allzugeschmeidigen Höflinge ihrer Anhänger- und<br />

Gönnerschaft und spürnasige Schmeichler vor alten o<strong>der</strong> eben neu heraufkommenden<br />

Gewalten gewesen sind. Zum Mindesten brauchen sie immer eine Schutzwehr, einen<br />

Rückhalt, eine bereits begründete Autorität: die Künstler stehen nie für sich, das Alleinstehn<br />

geht wi<strong>der</strong> ihre tiefsten Instinkte. So nahm zum Beispiel Richard Wagner den Philosophen<br />

Schopenhauer, als „die Zeit gekommen war“, zu seinem Vor<strong>der</strong>mann, zu seiner Schutzwehr:<br />

– wer möchte es auch nur für denkbar halten, dass er den Muth zu einem asketischen Ideal<br />

gehabt hätte, ohne den Rückhalt, den ihm die Philosophie Schopenhauer's bot, ohne die in den<br />

siebziger Jahren in Europa zum Übergewicht gelangende Autorität Schopenhauer's? (dabei<br />

noch nicht in Anschlag gebracht, ob im neuen Deutschland ein Künstler ohne die Milch<br />

frommer, reichsfrommer Denkungsart überhaupt möglich gewesen wäre). – Und damit sind<br />

wir bei <strong>der</strong> ernsthafteren Frage angelangt: was bedeutet es, wenn ein wirklicher Philosoph<br />

dem asketischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter Geist wie Schopenhauer, ein<br />

Mann und Ritter mit erzenem Blick, <strong>der</strong> den Muth zu sich selber hat, <strong>der</strong> allein zu stehn weiss<br />

und nicht erst auf Vor<strong>der</strong>männer und höhere Winke wartet? – Erwägen wir hier sofort die<br />

merkwürdige und für manche Art Mensch selbst fascinirende Stellung Schopenhauer's zur<br />

Kunst: denn sie ist es ersichtlich gewesen, um <strong>der</strong>entwillen zunächst Richard Wagner zu

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