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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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57<br />

Krankhaftigkeit? Denn <strong>der</strong> Mensch ist kränker, unsicherer, wechseln<strong>der</strong>, unfestgestellter als<br />

irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist das kranke Thier: woher kommt das?<br />

Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefor<strong>der</strong>t als alle<br />

übrigen Thiere zusammen genommen: er, <strong>der</strong> grosse Experimentator mit sich, <strong>der</strong><br />

Unbefriedigte, Ungesättigte, <strong>der</strong> um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, –<br />

er, <strong>der</strong> immer noch Unbezwungne, <strong>der</strong> ewig-Zukünftige, <strong>der</strong> vor seiner eignen drängenden<br />

Kraft keine Ruhe mehr findet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im<br />

Fleische je<strong>der</strong> Gegenwart wühlt: – wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht<br />

auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken<br />

Thieren sein?... Der Mensch hat es satt, oft genug, es giebt ganze Epidemien dieses<br />

Satthabens (– so um 1348 herum, zur Zeit des Todtentanzes): aber selbst noch dieser Ekel,<br />

diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst – Alles tritt an ihm so mächtig heraus, dass es<br />

sofort wie<strong>der</strong> zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie<br />

durch einen Zauber eine Fülle zarterer Ja's an's Licht; ja wenn er sich verwundet, dieser<br />

Meister <strong>der</strong> Zerstörung, Selbstzerstörung, – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn<br />

zwingt, zu leben...<br />

14.<br />

Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in<br />

Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle <strong>der</strong> seelisch-leiblichen Mächtigkeit,<br />

die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgerathenen vor <strong>der</strong><br />

schlechtesten Luft, <strong>der</strong> Kranken-Luft behüten. Thut man das?... Die Kranken sind die grösste<br />

Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, son<strong>der</strong>n<br />

von den Schwächsten. Weiss man das?... In's Grosse gerechnet, ist es durchaus nicht die<br />

Furcht vor dem Menschen, <strong>der</strong>en Vermin<strong>der</strong>ung man wünschen dürfte: denn diese Furcht<br />

zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein, – sie hält den<br />

wohlgerathenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnissvoll wirkt wie<br />

kein andres Verhängniss, das wäre nicht die grosse Furcht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> grosse Ekel vor dem<br />

Menschen; insgleichen das grosse Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, dass diese beiden<br />

eines Tages sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur<br />

Welt kommen, <strong>der</strong> „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, <strong>der</strong> Nihilismus. Und<br />

in <strong>der</strong> That: hierzu ist Viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, son<strong>der</strong>n<br />

auch seine Augen und Ohren, <strong>der</strong> spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie<br />

Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, – ich rede, wie billig, von den Culturgebieten des<br />

Menschen, von je<strong>der</strong> Art „Europa“, das es nachgerade auf Erden giebt. Die Krankhaften sind<br />

des Menschen grosse Gefahr: nicht die Bösen, nicht die „Raubthiere“. Die von vornherein<br />

Verunglückten, Nie<strong>der</strong>geworfnen, Zerbrochnen – sie sind es, die Schwächsten sind es, welche<br />

am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben,<br />

zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entgienge man<br />

ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem<br />

zurückgewendeten Blick des Missgebornen von Anbeginn, <strong>der</strong> es verräth, wie ein solcher<br />

Mensch zu sich selber spricht, – jenem Blick, <strong>der</strong> ein Seufzer ist. „Möchte ich irgend Jemand<br />

An<strong>der</strong>es sein! so seufzt dieser Blick: aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, <strong>der</strong> ich bin: wie<br />

käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!“... Auf solchem Boden <strong>der</strong><br />

Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs,<br />

und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die Würmer <strong>der</strong><br />

Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten;<br />

hier spinnt sich beständig das Netz <strong>der</strong> bösartigsten Verschwörung, – <strong>der</strong> Verschwörung <strong>der</strong><br />

Leidenden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen, hier wird <strong>der</strong> Aspekt des Siegreichen

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