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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Cambodja das Vorrecht <strong>der</strong> Priester,<br />

dieser Bewahrer „alter guter Sitten“). Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen<br />

Gefühle – nachgerade so hoch im Werthe, dass sie fast „die Werthe an sich“ sind – hatten die<br />

längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich <strong>der</strong> Milde, wie man<br />

sich heute <strong>der</strong> Härte schämt (vergl. „Jenseits von Gut und Böse“ S. 232). Die Unterwerfung<br />

unter das Recht: – oh mit was für Gewissens-Wi<strong>der</strong>stande haben die vornehmen Geschlechter<br />

überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt<br />

eingeräumt! Das „Recht“ war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt<br />

auf, als Gewalt, <strong>der</strong> man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Je<strong>der</strong> kleinste Schritt auf<br />

<strong>der</strong> Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: dieser ganze<br />

Gesichtspunkt, „dass nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein! das Schreiten, die Bewegung, die<br />

Verän<strong>der</strong>ung ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat“, klingt gerade heute uns so fremd, –<br />

ich habe ihn in <strong>der</strong> „Morgenröthe“ S. 17 ff. an's Licht gestellt. „Nichts ist theurer erkauft,<br />

heisst es daselbst S. 19, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle <strong>der</strong><br />

Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt<br />

fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken <strong>der</strong> „Sittlichkeit <strong>der</strong> Sitte“ zu<br />

empfinden, welche <strong>der</strong> „Weltgeschichte“ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende<br />

Hauptgeschichte, welche den Charakter <strong>der</strong> Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als<br />

Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die<br />

Verleugnung <strong>der</strong> Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die<br />

Wissbegierde als Gefahr, <strong>der</strong> Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das<br />

Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, <strong>der</strong> Wahnsinn als Göttlichkeit, die<br />

Verän<strong>der</strong>ung als das Unsittliche und Ver<strong>der</strong>benschwangere an sich überall in Geltung war!“ –<br />

10.<br />

In demselben Buche S. 39 ist auseinan<strong>der</strong>gesetzt, in welcher Schätzung, unter welchem Druck<br />

von Schätzung das älteste Geschlecht contemplativer Menschen zu leben hatte, – genau so<br />

weit verachtet als es nicht gefürchtet wurde! Die Contemplation ist in vermummter Gestalt, in<br />

einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe<br />

zuerst auf <strong>der</strong> Erde erschienen: daran ist kein Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische<br />

in den Instinkten contemplativer Menschen legte lange ein tiefes Misstrauen um sie herum:<br />

dagegen gab es kein an<strong>der</strong>es Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf<br />

haben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen wussten<br />

ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu geben, auf den hin<br />

man sie fürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch fundamentaleren Bedürfnisse<br />

heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich<br />

alle Werthurtheile gegen sich gekehrt, sie hatten gegen „den Philosophen in sich“ jede Art<br />

Verdacht und Wi<strong>der</strong>stand nie<strong>der</strong>zukämpfen. Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer<br />

Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die erfin<strong>der</strong>ische<br />

Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-<br />

Neuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu<br />

vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung glauben zu können. Ich erinnere an die berühmte<br />

Geschichte des Königs Viçvamitra, <strong>der</strong> aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches<br />

Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu<br />

bauen: das unheimliche Symbol <strong>der</strong> ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden,<br />

– Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> irgendwann einmal einen „neuen Himmel“ gebaut hat, fand die Macht dazu erst<br />

in <strong>der</strong> eignen Hölle... Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zusammen: <strong>der</strong><br />

philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des<br />

contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer,

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