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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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gehasst. Und welche Verlogenheit, um diesen Hass nicht als Hass einzugestehn! Welcher<br />

Aufwand an grossen Worten und Attitüden, welche Kunst <strong>der</strong> „rechtschaffnen“<br />

Verleumdung! Diese Missrathenen: welche edle Beredsamkeit entströmt ihren Lippen! Wie<br />

viel zuckrige, schleimige, demüthige Ergebung schwimmt in ihren Augen! Was wollen sie<br />

eigentlich? Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens<br />

darstellen – das ist <strong>der</strong> Ehrgeiz dieser „Untersten“, dieser Kranken! Und wie geschickt macht<br />

ein solcher Ehrgeiz! Man bewun<strong>der</strong>e namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit <strong>der</strong><br />

hier das Gepräge <strong>der</strong> Tugend, selbst <strong>der</strong> Klingklang, <strong>der</strong> Goldklang <strong>der</strong> Tugend nachgemacht<br />

wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, diese Schwachen<br />

und Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel: „wir allein sind die Guten, die Gerechten, so<br />

sprechen sie, wir allein sind die homines bonae voluntatis.“ Sie wandeln unter uns herum als<br />

leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns, – wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit,<br />

Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büssen,<br />

bitter büssen müsse: oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büssen zu machen, wie sie<br />

darnach dürsten, Henker zu sein! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten<br />

Rachsüchtigen, welche beständig das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen giftigen Speichel im<br />

Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht<br />

unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene<br />

ekelhafteste Species <strong>der</strong> Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf aus sind,<br />

„schöne Seelen“ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und an<strong>der</strong>e<br />

Windeln gewickelt, als „Reinheit des Herzens“ auf den Markt bringen: die Species <strong>der</strong><br />

moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger“. Der Wille <strong>der</strong> Kranken, irgend eine Form <strong>der</strong><br />

Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die<br />

Gesunden führen, – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade <strong>der</strong> Schwächsten zur Macht!<br />

Das kranke Weib in Son<strong>der</strong>heit: Niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu<br />

drücken, zu tyrannisiren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Todtes, es<br />

gräbt die begrabensten Dinge wie<strong>der</strong> auf (die Bogos sagen: „das Weib ist eine Hyäne“). Man<br />

blicke in die Hintergründe je<strong>der</strong> Familie, je<strong>der</strong> Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall <strong>der</strong><br />

Kampf <strong>der</strong> Kranken gegen die Gesunden, – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern,<br />

mit Nadelstichen, mit tückischem Dul<strong>der</strong>-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem<br />

Kranken-Pharisäismus <strong>der</strong> lauten Gebärde, <strong>der</strong> am liebsten „die edle Entrüstung“ spielt. Bis in<br />

die geweihten Räume <strong>der</strong> Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere<br />

Entrüstungsgebell <strong>der</strong> krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wuth solcher „edlen“<br />

Pharisäer (– ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel<br />

Eugen Dühring, <strong>der</strong> im heutigen Deutschland den unanständigsten und wi<strong>der</strong>lichsten<br />

Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste <strong>Moral</strong>-Grossmaul, das es jetzt<br />

giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des<br />

Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes<br />

Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die<br />

Glücklichen und ebenso in Maskeraden <strong>der</strong> Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden<br />

sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph <strong>der</strong> Rache kommen? Dann<br />

unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den<br />

Glücklichen in's Gewissen zu schieben: so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu<br />

schämen bekönnen und vielleicht unter einan<strong>der</strong> sich sagten: „es ist eine Schande, glücklich<br />

zu sein! es giebt zu viel Elend!“... Aber es könnte gar kein grösseres und verhängnissvolleres<br />

Missverständniss geben, als wenn <strong>der</strong>gestalt die Glücklichen, die Wohlgerathenen, die<br />

Mächtigen an Leib und Seele anfiengen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln. Fort mit<br />

dieser „verkehrten Welt“! Fort mit dieser schändlichen Verweichlichung des Gefühls! Dass<br />

die Kranken nicht die Gesunden krank machen – und dies wäre eine solche Verweichlichung

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