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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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(über <strong>der</strong>en Werth man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu<br />

Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen darf, dass sie die Augen<br />

gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen „wahr“ und „falsch“ bei sich selber zu<br />

unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt allein die unehrliche Lüge; Alles, was sich heute als<br />

„guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache an<strong>der</strong>s zu stehn als<br />

unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen,<br />

blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese „guten Menschen“, – sie sind allesammt jetzt<br />

in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und<br />

verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit „über den Menschen“<br />

aus!... O<strong>der</strong>, greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine wahre Biographie!... Ein paar<br />

Anzeichen: Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas<br />

Moore war „zu gut“ dafür: er verbrannte die Papiere seines Freundes. Dasselbe soll Dr.<br />

Gwinner gethan haben, <strong>der</strong> Testaments-Vollstrecker Schopenhauer's: denn auch<br />

Schopenhauer hatte Einiges über sich und vielleicht auch gegen sich („ eiV aauton“)<br />

aufgezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, <strong>der</strong> Biograph Beethoven's, hat mit Einem<br />

Male in seiner Arbeit Halt gemacht: an irgend einem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven<br />

Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus ... <strong>Moral</strong>: welcher kluge Mann schriebe<br />

heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müsste denn schon zum Orden <strong>der</strong> heiligen<br />

Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagner's: wer<br />

zweifelt daran, dass es eine kluge Selbstbiographie sein wird?... Gedenken wir noch des<br />

komischen Entsetzens, welches <strong>der</strong> katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe<br />

viereckig und harmlos gerathenen Bilde <strong>der</strong> deutschen Reformations-Bewegung in<br />

Deutschland erregt hat; was würde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese Bewegung<br />

einmal an<strong>der</strong>s erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther<br />

erzählte, nicht mehr mit <strong>der</strong> moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit <strong>der</strong><br />

süsslichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, son<strong>der</strong>n etwa mit<br />

einer Taine'schen Unerschrockenheit, aus einer Stärke <strong>der</strong> Seele heraus und nicht aus einer<br />

klugen Indulgenz gegen die Stärke?... (Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen<br />

Typus <strong>der</strong> letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht, – sie dürfen ihn sich schon<br />

zurechnen, zu Gute rechnen: nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen<br />

advocatus je<strong>der</strong> causa fortior, diesem klügsten aller klugen „Thatsächlichen“.)<br />

20.<br />

Aber man wird mich schon verstanden haben: – Grund genug, nicht wahr, Alles in Allem,<br />

dass wir Psychologen heutzutage einiges Misstrauen gegen uns selbst nicht los werden?...<br />

Wahrscheinlich sind auch wir noch „zu gut“ für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch<br />

wir noch die Opfer, die Beute, die Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr<br />

wir uns auch als dessen Verächter fühlen, – wahrscheinlich inficirt er auch noch uns. Wovor<br />

warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete? „Misstrauen wir vor Allem,<br />

meine Herrn, unsren ersten Regungen! sagte er, sie sind fast immer gut“... So sollte auch je<strong>der</strong><br />

Psycholog heute zu seines Gleichen reden... Und damit kommen wir zu unserm Problem<br />

zurück, das in <strong>der</strong> That von uns einige Strenge verlangt, einiges Misstrauen in Son<strong>der</strong>heit<br />

gegen die „ersten Regungen“. Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Gefühls-<br />

Ausschweifung: – wer sich <strong>der</strong> vorigen Abhandlung erinnert, wird den in diese neun Worte<br />

gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im Wesentlichen schon vorwegnehmen. Die<br />

menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Gluthen<br />

und Entzückungen <strong>der</strong>artig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen <strong>der</strong><br />

Unlust, <strong>der</strong> Dumpfheit, <strong>der</strong> Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt: welche<br />

Wege führen zu diesem Ziele? Und welche von ihnen am sichersten?... Im Grunde haben alle

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