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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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von Hypnotisirungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich los: weshalb ihre Methodik zu den<br />

allgemeinsten ethnologischen Thatsachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubniss dazu, um<br />

schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung <strong>der</strong> Leiblichkeit und <strong>der</strong> Begierde unter<br />

die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden<br />

„Freigeistern“ und Junker Christophen zu thun beliebt). Um so sicherer ist es, dass sie den<br />

Weg zu allerhand geistigen Störungen abgiebt, abgeben kann, zu „inneren Lichtern“ zum<br />

Beispiel, wie bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Hallucinationen,<br />

zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen <strong>der</strong> Sinnlichkeit (Geschichte <strong>der</strong> heiligen<br />

Therese). Die Auslegung, welche <strong>der</strong>artigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben<br />

wird, ist immer so schwärmerisch-falsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von selbst:<br />

nur überhöre man den Ton überzeugtester Dankbarkeit nicht, <strong>der</strong> eben schon im Willen zu<br />

einer solchen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der höchste Zustand, die Erlösung<br />

selbst, jene endlich erreichte Gesammt-Hypnotisirung und Stille, gilt ihnen immer als das<br />

Geheimniss an sich, zu dessen Ausdruck auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als<br />

Ein- und Heimkehr in den Grund <strong>der</strong> Dinge, als Freiwerden von allem Wahne, als „Wissen“,<br />

als „Wahrheit“, als „Sein“, als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem Thun,<br />

als ein Jenseits auch von Gut und Böse. „Gutes und Böses, sagt <strong>der</strong> Buddhist, – Beides sind<br />

Fesseln: über Beides wurde <strong>der</strong> Vollendete Herr“; „Gethanes und Ungethanes, sagt <strong>der</strong><br />

Gläubige des Vedânta, schafft ihm keinen Schmerz; das Gute und das Böse schüttelt er als ein<br />

Weiser von sich; sein Reich leidet durch keine That mehr; über Gutes und Böses, über Beides<br />

gieng er hinaus“: – eine gesammt-indische Auffassung also, ebenso brahmanistisch als<br />

buddhistisch. (We<strong>der</strong> in <strong>der</strong> indischen, noch in <strong>der</strong> christlichen Denkweise gilt jene<br />

„Erlösung“ als erreichbar durch Tugend, durch moralische Besserung, so hoch <strong>der</strong><br />

Hypnotisirungs-Werth <strong>der</strong> Tugend auch von ihnen angesetzt wird: dies halte man fest, – es<br />

entspricht dies übrigens einfach dem Thatbestande. Hierin wahr geblieben zu sein, darf<br />

vielleicht als das beste Stück Realismus in den drei grössten, sonst so gründlich<br />

vermoralisirten Religionen betrachtet werden. „Für den Wissenden giebt es keine Pflicht“...<br />

„Durch Zulegung von Tugenden kommt Erlösung nicht zu Stande: denn sie besteht im<br />

Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman; und ebenso wenig<br />

in <strong>der</strong> Ablegung von Fehlern: denn das Brahman, mit dem Eins zu sein Das ist, was Erlösung<br />

ausmacht, ist ewig rein“ – diese Stellen aus dem Commentare des Çankara, citirt von dem<br />

ersten wirklichen Kenner <strong>der</strong> indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul<br />

Deussen.) Die „Erlösung“ in den grossen Religionen wollen wir also in Ehren halten; dagegen<br />

wird es uns ein wenig schwer, bei <strong>der</strong> Schätzung, welche schon <strong>der</strong> tiefe Schlaf durch diese<br />

selbst für das Träumen zu müd gewordnen Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben, – <strong>der</strong><br />

tiefe Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman, als erreichte unio mystica mit Gott.<br />

„Wenn er dann eingeschlafen ist ganz und gar – heisst es darüber in <strong>der</strong> ältesten<br />

ehrwürdigsten „Schrift“ – und völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumbild mehr<br />

schaut, alsdann ist er, oh Theurer, vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst ist er<br />

eingegangen, – von dem erkenntnissartigen Selbste umschlungen hat er kein Bewusstsein<br />

mehr von dem, was aussen o<strong>der</strong> innen ist. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht,<br />

nicht das Alter, nicht <strong>der</strong> Tod, nicht das Leiden, nicht gutes Werk, noch böses Werk.“ „Im<br />

tiefen Schlafe, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten <strong>der</strong> drei grossen Religionen,<br />

hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch<br />

hervor in eigener Gestalt: da ist sie <strong>der</strong> höchste Geist selbst, <strong>der</strong> herumwandelt, indem er<br />

scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern o<strong>der</strong> mit Wagen o<strong>der</strong> mit Freunden, da<br />

denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches <strong>der</strong> prâna (<strong>der</strong><br />

Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugthier an den Karren.“ Trotzdem wollen wir auch hier,<br />

wie im Falle <strong>der</strong> „Erlösung“, uns gegenwärtig halten, dass damit im Grunde, wie sehr auch

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