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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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„despectio sui“ des Geulinx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus<br />

einem Verlangen nach Abschüttelung <strong>der</strong> dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach<br />

einer Heerden-Organisation: <strong>der</strong> asketische Priester erräth diesen Instinkt und för<strong>der</strong>t ihn; wo<br />

es Heerden giebt, ist es <strong>der</strong> Schwäche-Instinkt, <strong>der</strong> die Heerde gewollt hat, und die Priester-<br />

Klugheit, die sie organisirt hat. Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso<br />

naturnothwendig aus einan<strong>der</strong>, als die Schwachen zu einan<strong>der</strong>; wenn erstere sich verbinden,<br />

so geschieht es nur in <strong>der</strong> Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-<br />

Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Wi<strong>der</strong>stande des Einzel-Gewissens; letztere<br />

dagegen ordnen sich zusammen, mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung, – ihr Instinkt<br />

ist dabei ebenso befriedigt, wie <strong>der</strong> Instinkt <strong>der</strong> geborenen „Herren“ (das heisst <strong>der</strong> solitären<br />

Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter<br />

je<strong>der</strong> Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das tyrannische Gelüst<br />

versteckt; jede Oligarchie zittert beständig von <strong>der</strong> Spannung her, welche je<strong>der</strong> Einzelne in ihr<br />

nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel griechisch: Plato<br />

bezeugt es an hun<strong>der</strong>t Stellen, Plato, <strong>der</strong> seines Gleichen kannte – und sich selbst...)<br />

19.<br />

Die Mittel des asketischen Priesters, welche wir bisher kennen lernten – die Gesammt-<br />

Dämpfung des Lebengefühls, die machinale Thätigkeit, die kleine Freude, vor Allem die <strong>der</strong><br />

„Nächstenliebe“, die Heerden-Organisation, die Erweckung des Gemeinde-Machtgefühls,<br />

demzufolge <strong>der</strong> Verdruss des Einzelnen an sich durch seine Lust am Gedeihen <strong>der</strong> Gemeinde<br />

übertäubt wird – das sind, nach mo<strong>der</strong>nem Maasse gemessen, seine unschuldigen Mittel im<br />

Kampfe mit <strong>der</strong> Unlust: wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den „schuldigen“. Bei<br />

ihnen allen handelt es sich um Eins: um irgend eine Ausschweifung des Gefühls, – diese<br />

gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftigkeit als wirksamstes Mittel <strong>der</strong> Betäubung<br />

benutzt; weshalb die priesterliche Erfindsamkeit im Ausdenken dieser Einen Frage geradezu<br />

unerschöpflich gewesen ist: „ wodurch erzielt man eine Ausschweifung des Gefühls?“... Das<br />

klingt hart: es liegt auf <strong>der</strong> Hand, dass es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren<br />

gienge, wenn ich etwa sagte „<strong>der</strong> asketische Priester hat sich je<strong>der</strong>zeit die Begeisterung zu<br />

Nutze gemacht, die in allen starken Affekten liegt“. Aber wozu die verweichlichten Ohren<br />

unsrer mo<strong>der</strong>nen Zärtlinge noch streicheln? Wozu unsrerseits ihrer Tartüfferie <strong>der</strong> Worte auch<br />

nur einen Schritt breit nachgeben? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüfferie <strong>der</strong><br />

That; abgesehen davon, dass es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute<br />

darin, wenn irgend worin, seinen guten Geschmack (– Andre mögen sagen: seine<br />

Rechtschaffenheit), dass er <strong>der</strong> schändlich vermoralisirten Sprechweise wi<strong>der</strong>strebt, mit <strong>der</strong><br />

nachgerade alles mo<strong>der</strong>ne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist. Denn man<br />

täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merkmal mo<strong>der</strong>ner Seelen, mo<strong>der</strong>ner<br />

Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, son<strong>der</strong>n die eingefleischte Unschuld in <strong>der</strong><br />

moralistischen Verlogenheit. Diese „Unschuld“ überall wie<strong>der</strong> entdecken müssen – das macht<br />

vielleicht unser wi<strong>der</strong>lichstes Stück Arbeit aus, an all <strong>der</strong> an sich nicht unbedenklichen Arbeit,<br />

<strong>der</strong>en sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat; es ist ein Stück unsrer grossen Gefahr, – es<br />

ist ein Weg, <strong>der</strong> vielleicht gerade uns zum grossen Ekel führt... Ich zweifle nicht daran, wozu<br />

allein mo<strong>der</strong>ne Bücher (gesetzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und<br />

ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nachwelt mit strengerem härteren gesün<strong>der</strong>en<br />

Geschmack giebt) – wozu alles Mo<strong>der</strong>ne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen<br />

könnte: zu Brechmitteln, – und das vermöge seiner moralischen Versüsslichung und<br />

Falschheit, seines innerlichsten Feminismus, <strong>der</strong> sich gern „Idealismus“ nennt und jedenfalls<br />

Idealismus glaubt. Unsre Gebildeten von Heute, unsre „Guten“ lügen nicht – das ist wahr;<br />

aber es gereicht ihnen nicht zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die ächte resolute „ehrliche“ Lüge

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