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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde –<br />

darauf vor Allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubthier-Bändiger, in dessen<br />

Umkreis alles Gesunde nothwendig krank und alles Kranke nothwendig zahm wird. Er<br />

vertheidigt in <strong>der</strong> That gut genug seine kranke Heerde, dieser seltsame Hirt, – er vertheidigt<br />

sie auch gegen sich, gegen die in <strong>der</strong> Heerde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke,<br />

Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken unter einan<strong>der</strong> zu eigen ist, er<br />

kämpft klug, hart und heimlich mit <strong>der</strong> Anarchie und <strong>der</strong> je<strong>der</strong>zeit beginnenden<br />

Selbstauflösung innerhalb <strong>der</strong> Heerde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und<br />

Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu<br />

entladen, dass er nicht die Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches<br />

Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Werth <strong>der</strong> priesterlichen<br />

Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: <strong>der</strong> Priester ist <strong>der</strong><br />

Richtungs-Verän<strong>der</strong>er des Ressentiment. Je<strong>der</strong> Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem<br />

Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid<br />

empfänglichen schuldigen Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte<br />

thätlich o<strong>der</strong> in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-<br />

Entladung ist <strong>der</strong> grösste Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein<br />

unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner<br />

Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, <strong>der</strong> Rache<br />

und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz<br />

durch Affekt: – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem<br />

Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel <strong>der</strong> Reaktion, einer<br />

„Reflexbewegung“ im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von <strong>der</strong><br />

Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber<br />

die Verschiedenheit ist fundamental: im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden<br />

hin<strong>der</strong>n, im an<strong>der</strong>en Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden<br />

Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art betäuben und für den Augenblick<br />

wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst<br />

wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. „Irgend Jemand muss<br />

schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde“ – diese Art zu schliessen ist allen<br />

Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befindens,<br />

die physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des nervus<br />

sympathicus liegen o<strong>der</strong> in einer übermässigen Gallen-Abson<strong>der</strong>ung, o<strong>der</strong> an einer Armuth<br />

des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali o<strong>der</strong> in Druckzuständen des Unterleibes,<br />

welche den Blutumlauf stauen, o<strong>der</strong> in Entartung <strong>der</strong> Eierstöcke und <strong>der</strong>gleichen). Die<br />

Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in<br />

Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln<br />

über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide<br />

ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen<br />

freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte <strong>der</strong> Bosheit sich<br />

zu berauschen – sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten<br />

Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten<br />

steht. „Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein“ – also denkt jedes krankhafte Schaf.<br />

Aber sein Hirt, <strong>der</strong> asketische Priester, sagt zu ihm: „Recht so, mein Schaf! irgend wer muss<br />

daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, –<br />

du selbst bist an dir allein schuld!“... Das ist kühn genug, falsch genug: aber Eins ist damit<br />

wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verän<strong>der</strong>t.<br />

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