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Friedrich W. Nietzsche Genealogie der Moral

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– so nahm sich <strong>der</strong> Mensch aus, „<strong>der</strong> Sün<strong>der</strong>“, <strong>der</strong> in diese Mysterien eingeweiht war. Dieser<br />

alte grosse Zauberer im Kampf mit <strong>der</strong> Unlust, <strong>der</strong> asketische Priester – er hatte ersichtlich<br />

gesiegt, sein Reich war gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den Schmerz, man<br />

lechzte nach dem Schmerz; „ mehr Schmerz! mehr Schmerz!“ so schrie das Verlangen seiner<br />

Jünger und Eingeweihten Jahrhun<strong>der</strong>te lang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehe that,<br />

Alles was zerbrach, umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte, das Geheimniss <strong>der</strong><br />

Folterstätten, die Erfindsamkeit <strong>der</strong> Hölle selbst – Alles war nunmehr entdeckt, errathen,<br />

ausgenützt, Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles diente für<strong>der</strong>hin dem Siege seines<br />

Ideals, des asketischen Ideals... „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ – redete er nach wie<br />

vor: hatte er wirklich das Recht noch, so zu reden?... Goethe hat behauptet, es gäbe nur sechs<br />

und dreissig tragische Situationen: man erräth daraus, wenn man's sonst nicht wüsste, dass<br />

Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt mehr...<br />

21.<br />

In Hinsicht auf diese ganze Art <strong>der</strong> priesterlichen Medikation, die „schuldige“ Art, ist jedes<br />

Wort Kritik zu viel. Dass eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle <strong>der</strong><br />

asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich<br />

von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von <strong>der</strong> Heiligkeit seines Zwecks), irgend<br />

einem Kranken wirklich genützt habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung <strong>der</strong> Art aufrecht<br />

zu halten? Zum Mindesten sollte man sich über das Wort „nützen“ verstehn. Will man damit<br />

ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen verbessert, so<br />

wi<strong>der</strong>spreche ich nicht: nur dass ich hinzufüge, was bei mir „verbessert“ heisst – ebenso viel<br />

wie „gezähmt“, „geschwächt“, „entmuthigt“, „raffinirt“, „verzärtlicht“, „entmannt“ (also<br />

beinahe so viel als geschädigt...) Wenn es sich aber in <strong>der</strong> Hauptsache um Kranke,<br />

Verstimmte, Deprimirte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst,<br />

dass es ihn „besser“ machte, unter allen Umständen kränker; man frage nur die Irrenärzte, was<br />

eine methodische Anwendung von Buss-Quälereien, Zerknirschungen und<br />

Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte: überall,<br />

wo <strong>der</strong> asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedes Mal die<br />

Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer <strong>der</strong><br />

„Erfolg“? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war; und das<br />

im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des<br />

Buss- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die grössten, von denen die<br />

Geschichte weiss, wie die <strong>der</strong> St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters; wir finden als<br />

andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen<br />

unter Umständen das Temperament eines Volkes o<strong>der</strong> einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle<br />

Mal in sein Gegentheil umschlägt; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem<br />

Somnambulismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche <strong>der</strong>selben allein zwischen<br />

1564 und 1605) –; wir finden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-<br />

Delirien, <strong>der</strong>en entsetzlicher Schrei „evviva la morte“ über ganz Europa weg gehört wurde,<br />

unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien: wie <strong>der</strong><br />

gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen und Umsprüngen auch heute noch<br />

überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wie<strong>der</strong> einmal zu<br />

einem grossen Erfolge bringt (die religiöse Neurose erscheint als eine Form des „bösen<br />

Wesens“: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quaeritur.) In's Grosse gerechnet, so hat sich<br />

das asketische Ideal und sein sublim-moralischer Cultus, diese geistreichste, unbedenklichste<br />

und gefährlichste Systematisirung aller Mittel <strong>der</strong> Gefühls-Ausschweifung unter dem Schutz<br />

heiliger Absichten auf eine furchtbare und unvergessliche Weise in die ganze Geschichte des<br />

Menschen eingeschrieben; und lei<strong>der</strong> nicht nur in seine Geschichte... Ich wüsste kaum noch

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