10 Jahre BM - Bundesverband Mediation eV
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Schulmediation<br />
merke, dass auf der vordergründigen Ebene kein Fortschritt zu<br />
erzielen ist. Ich muss also auf die Beziehungsebene wechseln,<br />
um weiterzukommen (“Jede Kommunikation hat eine Inhalts- und<br />
eine Beziehungsebene”, Watzlawick 1987).<br />
Auf solche Momente bin ich inzwischen vorbereitet: Ich gebe<br />
ihnen je den Deckel eines Schuhkartons und je eine blaue, eine<br />
rote und sechs schwarze Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren: “Die<br />
blaue Figur soll für Burhan stehen und die rote für Alexander.<br />
Die sechs schwarzen Figuren stehen für eure Klasse. Jeder hat<br />
also einen blauen Burhan, einen roten Alexander und sechs<br />
Schwarze, die die Klasse darstellen sollen.<br />
Ich möchte, dass ihr einmal eure Klasse und euch selbst darin<br />
aufstellt. Der Karton soll das Klassenzimmer sein. In dem Klassenzimmer<br />
sollen die Kinder der Klasse stehen. Der rote Alexander<br />
und der blaue Burhan zeigen den Moment, wo Ihr beiden<br />
euch “Kartoffel” und “Scheißtürke” nennt!”<br />
Als sie ihre Ergebnisse vergleichen, müssen sie lächeln. Beide<br />
haben die schwarzen Figuren in die Mitte und sich selbst jeweils<br />
gegenüber aufgestellt.<br />
“Wenn ihr euch beschimpft, steht ihr weit auseinander und seid<br />
Gegner. Stimmt das so, wie ich das sage?”<br />
“Ja, aber meistens sind wir Freunde!” sagt Burhan und Alkan<br />
bestätigt das.<br />
“Dann stellt doch die Figuren einmal so auf, wie es ,meistens‘<br />
ist!“<br />
Sie sind sich einig. Ohne zu sehen, was der andere tut, stellen sie<br />
sich als zusammen gehörend in den Klassenverband auf.<br />
“Ihr seid also Freunde und beschimpft euch gleichzeitig auf<br />
schlimme Weise?” sage ich etwas ratlos.<br />
Sie klären mich auf:<br />
“Ja, nein, wir spielen ja immer gleich wieder Fußball miteinander<br />
in der Pause, wir sind nie richtig sauer auf uns oder so, ehrlich.”<br />
“Ich sehe schon”, spiegele ich, “ihr seid Freunde, die sich mit<br />
hässlichen Wörtern beschimpfen, ohne sich zu beschimpfen.”<br />
“Ja!”<br />
“Eure deutschen Kartoffeln und Scheißtürken haben, wenn ich<br />
das jetzt richtig verstehe, offensichtlich nur für andere Personen<br />
eine schlimme Bedeutung, aber nicht für euch selbst?”<br />
Sie schauen sich an, und wir müssen alle lachen. “Ja!”<br />
Damit habe ich nicht gerechnet. Es muss eine Art Spiel sein, in<br />
dem sie eine unbewusste stillschweigende Übereinstimmung haben.<br />
Denn meist gehen die Schüler unserer Schule bei derartigen<br />
Beschimpfungen aufeinander los. Diese Wörter sind offensichtlich<br />
verschlüsselte Botschaften, und wer allein auf die<br />
Beleidigungsebene hört und reagiert, kann bei diesen beiden Jungs<br />
nicht landen. Deswegen waren alle Interventionen erfolglos. Nach<br />
Schulz v. Thun sind das implizite Botschaften. Das heißt, es wird<br />
mehr mitgeteilt, als gesagt wird. Sender und Empfänger verfügen<br />
über denselben Deutungsschlüssel.<br />
Die Erhellungsphase muss ein erweitertes Verständnis für die<br />
Dynamik auslösen.<br />
Ich sage: “Ich möchte, dass ihr das bemerkt: Eure Beleidigungen<br />
bedeuten etwas anderes. Ihr wollt euch nicht beleidigen, aber ihr<br />
wollt euch etwas Ernsthaftes sagen, was euch nicht gefällt. In<br />
eurem ersten Bild steht ihr euch schließlich gegenüber und nicht<br />
nebeneinander. Es muss also etwas anderes sein, was ihr euch<br />
sagen wollt.” Sie verstehen, was ich sage. Sie richten sich auf,<br />
legen die Ellenbogen auf die Tischplatte und schauen sich an.<br />
Es ist spannend geworden.<br />
Es scheint mir eine wichtige Information für die Jungen zu sein,<br />
dass sie verschlüsselt senden.<br />
Was aber ist die Botschaft? (Wie gut, dass wir genug Zeit haben,<br />
denke ich.)<br />
Ihre Begegnungen finden auf einem akzeptierenden Hintergrund<br />
statt, gleichzeitig gibt es eine Notwendigkeit, sich zu bekämpfen.<br />
Aber welche Not muss (ab)gewendet werden?<br />
Ich werde konkret und frage Burhan: “Wann hast du zuletzt ,deutsche<br />
Kartoffel´ gesagt?”<br />
Etwas verschämt gibt er zu: “Heute.”<br />
“Wann genau?”<br />
“Beim Vorlesen der Hausaufgaben. Aber Alexander hat gleich<br />
Scheißtürke gesagt!”<br />
Ich lasse mich nicht beirren: “Wie war das genau, beim Vorlesen<br />
der Hausaufgaben?”<br />
“Ich wollte vorlesen und Alexander wollte vorlesen, aber Alexander<br />
ist drangekommen.”<br />
“Da hast du ,deutsche Kartoffel´ gesagt, und Alexander hat es<br />
dir mit ,Scheißtürke´ zurückgegeben?”<br />
“Ja!”<br />
“Kommt es manchmal vor, dass Alexander zuerst Scheißtürke<br />
sagt und Burhan mit deutsche Kartoffel antwortet?”<br />
“Ja!” bestätigen sie.<br />
Ich finde heraus, dass beide gute Schüler sind. Sie gönnen dem<br />
anderen nicht den Erfolg.<br />
Ich lasse mir weitere Situationen schildern, und sie registrieren<br />
jetzt, dass die Ausdrücke immer dann fallen, wenn der eine den<br />
Eindruck gewinnt, dass der andere ihm etwas voraus haben könnte:<br />
Vorlesen, Kopfrechnen, Mannschaften wählen. Beiläufig erwähnen<br />
sie, dass sie die besten der Klasse sind, sogar in Sport! Das<br />
verbindet sie, und es bringt sie manchmal durch die Konkurrenz<br />
in “Not”. Es ist ein Konkurrenz- Spiel, bei dem sich zwei Ebenbürtige<br />
in einer symmetrischen Beziehung befinden. Gleichgestellte<br />
mit gleicher Kompetenz im gleichen Feld steigern ihre<br />
Konkurrenz, indem sie sie in stetigen kleinen Schritten eskalieren<br />
(Hagedorn 2000). Hier ist die Eskalationsstufe noch niedrig,<br />
wie aus der Akzeptanz der gleichwertigen Beleidigungsform ersichtlich<br />
ist. Ihre Gefühle sind Enttäuschung und Neid. Das Ziel<br />
ist jeweils, den Erfolg des anderen zu mindern, um dadurch die<br />
eigene empfundene Benachteiligung erträglich zu machen.<br />
Behutsam biete ich eine Zusammenfassung an: “ ,Kartoffel und<br />
Scheißtürke´ heißt eigentlich: Ich weiß es auch, freue mich schon<br />
darüber und ärgere mich dann, dass der andere es sagen darf.<br />
Denn dadurch merken die Lehrerin und die Mitschüler nicht, dass<br />
ich genau so gut bin.<br />
Am liebsten würde ich ihm das verbieten, ihn zum Schweigen<br />
bringen oder ihn zur Seite schubsen. Weil das aber nicht geht,<br />
soll er zumindest merken, dass ich da bin. Wenn ich es schon<br />
nicht selbst sagen darf, will ich ihm wenigstens eine Beule reinmachen,<br />
in das was er sagt! Dann sage ich Deutsche Kartoffel<br />
bzw. Scheißtürke!”<br />
Sie haben sehr aufmerksam zugehört. Sie lachen sich an und klat-<br />
INFOBLATT MEDIATION / HERBST 2001 21