ZESO 03/13
ZESO 03/13: Ausgewählte Artikel
ZESO 03/13: Ausgewählte Artikel
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ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
<strong>03</strong>/<strong>13</strong><br />
Private Sozialhilfe die facettenreiche Tätigkeit nicht-staatlicher<br />
sozialhilfe-organisationen kulturvermittler Martin Heller im zeso-interview<br />
sozialhilfedebatte sach- und praxisbezogene Diskussionen sind erwünscht
SCHWERPUNKT16–27<br />
private sozialhilfe<br />
Die Rolle der privaten Sozialhilfe wird gemeinhin<br />
als ergänzend zur staatlichen Sozialhilfe verstanden.<br />
Der Blick auf die diversen Tätigkeitsgebiete<br />
der nicht-staatlichen Sozialhilfe ergibt ein spannendes<br />
und facettenreiches Bild. Und er zeigt,<br />
dass die private Sozialhilfe nicht bloss eine ergänzende,<br />
sondern auch eine die öffentliche Sozialhilfe<br />
unterstützende und situativ substituierende<br />
Funktion hat.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. <strong>03</strong>1 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren in<br />
dieser Ausgabe Herbert Ammann, Yann Bochsler, Pascal Engler,<br />
Sébastien Giovannoni, Dorothee Guggisberg, Manuela Honegger,<br />
Martina Huber, Esther Jost, Cathérine Merz, Daniel Röthlisberger,<br />
Walter Schmid, Barbara Spycher, Bernadette von Deschwanden,<br />
Martin Waser Titelbild Rudolf Steiner layout mbdesign Zürich,<br />
Marco Bernet Korrektorat Peter Brand Druck und Aboverwaltung<br />
Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />
Tel. <strong>03</strong>1 740 97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.–<br />
(für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />
Bild: Rudolf Steiner<br />
Erscheinungsdatum: 9. September 20<strong>13</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember 20<strong>13</strong>.<br />
2 ZeSo 3/<strong>13</strong> inhalt
INHALT<br />
5 Der Sozialstaat nützt allen. Kommentar<br />
von Martin Waser, Vorsteher<br />
Sozialdepartement Stadt Zürich<br />
6 <strong>13</strong> Fragen an Cathérine Merz<br />
8 Sozialhilfe-Debatte: Die SKOS bietet<br />
eine gute Plattform für Diskussionen<br />
10 Praxis: Wie sind freiwillige<br />
Zuwendungen Dritter im Budget zu<br />
berücksichtigen?<br />
11 Bedarfsleistungen: Die Kantone<br />
müssen einheitliche Bemessungsgrundlagen<br />
schaffen<br />
12 «Kultur ermöglicht neue Sinnesentwürfe<br />
für die Gesellschaft»:<br />
Interview mit Martin Heller<br />
16 SCHWERPUNKT:<br />
private sozailhilfe<br />
18 Die private Sozialhilfe spielt bei der<br />
Armutsbekämpfung eine wichtige<br />
Rolle<br />
20 Dazu beitragen, Voraussetzungen für<br />
eine Unterstützung zu erfüllen<br />
22 Mit einem öffentlichen Auftrag im<br />
Rücken lässt sich langfristig planen<br />
24 «Wenn wir Daten austauschen, dann<br />
ist es zum Wohl des Klienten»<br />
27 Armut muss mit einer integralen<br />
Strategie bekämpft werden<br />
DIE stehauffrau<br />
Der kulturvermittler<br />
geordnete tagesStrukturen<br />
Cathérine Merz hat als Mitbegründerin<br />
des Strassenmagazins Surprise schon viel<br />
erlebt. Heute arbeitet sie in der integrativen<br />
Beratung der Kontaktstelle für Arbeitslose<br />
in Basel.<br />
6<br />
Er entwickelt die Inhalte für das neue<br />
Humboldt-Forum in Berlin, war Intendant<br />
von Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas<br />
und künstlerischer Direktor der Expo.02.<br />
Im <strong>ZESO</strong>-Interview äussert sich Martin<br />
Heller zu kultur- und sozialpolitischen<br />
Herausforderungen und Zusammenhängen<br />
sowie über den Einfluss der neuen Medien<br />
auf das Kulturverständnis.<br />
12<br />
Zu Beginn des Projekts hatten die Kunden<br />
noch Bedenken, ihre Einkäufe Arbeitslosen<br />
anzuvertrauen. Heute ermöglicht die<br />
Stiftung Intact vielen Langzeitarbeitslosen<br />
eine kundenorientierte Beschäftigung.<br />
28 Wenn das Workfare-Prinzip<br />
Unfairness bewirkt<br />
30 Reportage: Pedalen für die Kunden,<br />
die Umwelt und das eigene Glück<br />
32 Plattform: Das Gastronomie-Label<br />
Fourchette verte<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Die Punktesammlerin: Porträt von<br />
Debora Buess, Initiantin der Solikarte<br />
glanzidee an der migroskasse<br />
30<br />
Die Gutscheine für die Cumulus-Punkte aus<br />
dem Projekt Solikarte bekommt Debora<br />
Buess unterdessen in einem kleinen Paket,<br />
in einem Couvert hätten sie nicht mehr<br />
Platz, so viele sind es. Die Bons werden<br />
an Organisationen verschickt, die sich<br />
für Sans-Papiers und Nothilfe-Bezüger<br />
einsetzen.<br />
36<br />
inhalt 3/<strong>13</strong> ZeSo<br />
3
Die SKOS bietet eine<br />
gute Plattform für Diskussionen<br />
Die Gemeinden spielen bei der Entwicklung der Sozialhilfe eine wichtige Rolle und tragen die SKOS<br />
als Fachverband wesentlich mit. Es ist richtig, dass sie Probleme in der Sozialhilfe thematisieren. Für<br />
praxisbezogene Diskussionen stellt die SKOS verschiedene Gremien zur Verfügung.<br />
Ein junger Mann bezieht Sozialhilfe, verweigert<br />
aber die Zusammenarbeit mit den<br />
Behörden. Daraus resultiert eine juristische<br />
Auseinandersetzung über mehrere Instanzen.<br />
Das Bundesgericht bestätigt die<br />
Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensabläufe.<br />
Dieser Sachverhalt löste im Frühling<br />
eine breite mediale Auseinandersetzung<br />
über die Sozialhilfe und die SKOS aus.<br />
Denn die SKOS hat den Entscheid des<br />
Bundesgerichts insofern begrüsst, als dass<br />
er Klarheit schafft, unter welchen Voraussetzungen<br />
Leistungskürzungen und Leistungseinstellungen<br />
möglich sind. Vier Gemeinden<br />
sind in der Folge aus der SKOS<br />
ausgetreten. In mehreren Gemeinden und<br />
Kantonen folgten Anträge zum Austritt aus<br />
dem Verband. Gleichzeitig wurden an verschiedenen<br />
Orten parlamentarische Vorstösse<br />
zur generellen Kürzung der Sozialhilfeleistungen<br />
eingereicht.<br />
Ein knapper Kommentar zu einem Entscheid<br />
zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit<br />
durch das höchste Schweizer Gericht kann<br />
kaum die alleinige Ursache für die fundamentale<br />
Debatte über die Sozialhilfe und<br />
die SKOS sein, die der «Fall Berikon» auslöste.<br />
Sowohl die Sozialhilfe als auch die<br />
SKOS als Fachverband sind zwar immer<br />
wieder Ziel von heftigen Auseinandersetzungen.<br />
Neu waren dieses Mal aber die<br />
Austritte und die zahlreichen politischen<br />
Interventionen – die weitreichende Auswirkungen<br />
haben könnten.<br />
Die SKOS bedauert, dass die Debatte<br />
mit den unzufriedenen Gemeinden nicht<br />
innerhalb des Verbands, sondern vorab<br />
über mediale Kanäle stattgefunden hat.<br />
Die ausgetretenen Kommunen sind im<br />
Vorfeld nie mit der SKOS in Kontakt getreten.<br />
Die in der Debatte aufgeworfenen<br />
Fragen, beispielsweise der Umgang mit<br />
unkooperativen Menschen, sind allerdings<br />
ernst zu nehmen. Es ist richtig, dass darüber<br />
diskutiert wird. Es ist aber auch richtig,<br />
dass diese Fragen mit der nötigen Sorgfalt<br />
und Differenziertheit diskutiert werden.<br />
Die Faktenlage<br />
Die Sozialhilfe funktioniert gut. Sie nimmt<br />
im Schweizer Sozialsystem eine zentrale<br />
Breit abgestützt und im nationalen Konsens entwickelt: Die Sozialhilfe baut auf ihre Träger.<br />
Bild: Keystone<br />
8 ZeSo 3/<strong>13</strong> aktuell
Position ein und sie ist ein wichtiges Glied<br />
zur Sicherung des sozialen Friedens und<br />
damit des Wohlstands in der Schweiz. Die<br />
SKOS-Richtlinien sind für die Umsetzung<br />
der Sozialhilfe ein unentbehrliches und<br />
taugliches Instrument. Die Kantone und<br />
Gemeinden erbringen auf der Basis der<br />
Richtlinien für über 235 000 Menschen<br />
in der Schweiz wichtige Dienstleistungen.<br />
Sie tun dies in vielen Fällen unter schwierigen<br />
Voraussetzungen: Wer in der Sozialhilfe<br />
ist, hat sich oft über Jahre Verhaltensweisen<br />
angeeignet, die von den Mitarbeitenden<br />
der Sozialen Dienste besondere Fähigkeiten<br />
verlangen. Die Subsidiarität der<br />
Sozialhilfe erfordert zudem genauste Abklärungen<br />
und ausgewiesenes Fachwissen.<br />
Und der öffentliche Druck ist hoch, die<br />
Ressourcen knapp.<br />
Die Rolle des Verbands und der<br />
Gemeinden<br />
Dass ein Fachverband Normen herausgibt,<br />
die durch die Expertise seiner Mitglieder<br />
aus der Praxis und der Verwaltung erarbeitet<br />
und verabschiedet werden, ist nichts<br />
Aussergewöhnliches. Die Mitglieder der<br />
SKOS sind zum grössten Teil die öffentliche<br />
Hand, insbesondere die Kantone und<br />
viele Gemeinden. Dass sie durch die Vereinheitlichung<br />
der Sozialhilfe versuchen,<br />
sowohl einen schweizweiten wie auch einen<br />
innerkommunalen Rahmen zu setzen, wirkt<br />
sich positiv aus. Es wird Rechtsgleichheit<br />
geschaffen und «Sozialtourismus» verhindert.<br />
Das breite Netz des Verbands gewährleistet<br />
eine umfassende Debatte über die<br />
Ausgestaltung der Sozialhilfe. Hier leisten<br />
auch kritische Stimmen einen wichtigen Input.<br />
Dafür stehen im Verband verschiedene<br />
Gremien und Gefässe zur Verfügung.<br />
Die Gemeinden spielen bei der Entwicklung<br />
der Sozialhilfe also eine wichtige<br />
Rolle und sie tragen die SKOS als Verband<br />
wesentlich mit. Diese Stärke wird durch<br />
Austritte geschwächt. Wer austritt, verzichtet<br />
gleichzeitig auf die Möglichkeit der<br />
direkten Mitsprache und auf die fachliche<br />
Unterstützung, die der Verband seinen<br />
Mitgliedern bei der Wahrnehmung ihrer<br />
anspruchsvollen Aufgabe anbietet.<br />
Die SKOS ist offen für eine sachliche<br />
Debatte<br />
Die SKOS hat sich verschiedentlich zur<br />
aktuellen öffentlichen Diskussion geäussert<br />
und sie ist auch auf der politischen<br />
Ebene aktiv geworden. Sie hat die aufgeworfenen<br />
Fragen mit dem Schweizerischen<br />
Gemeindeverband diskutiert und sie<br />
ist im Gespräch mit den kantonalen Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren sowie<br />
mit der Städteinitiative Sozialpolitik.<br />
Dass die Schweiz eine wirkungsvolle,<br />
faire Sozialhilfe und zu deren Ausgestaltung<br />
ein Instrument wie die SKOS-Richtlinien<br />
braucht, haben derweil namhafte Politikerinnen<br />
und Politiker bestätigt: SODK-Präsident<br />
Peter Gomm, Regierungsrat Kanton<br />
Solothurn, und Mario Fehr, Regierungsrat<br />
Kanton Zürich (an der letzten SKOS-Mitgliederversammlung),<br />
drei weitere kantonale<br />
Sozialdirektorinnen (in der <strong>ZESO</strong> mit<br />
Themenschwerpunkt SKOS-Richtlinien)<br />
sowie auch der Präsident der Städteinitiative<br />
und Vorsteher des Sozialdepartements<br />
der Stadt Zürich Martin Waser (s. Kommentar<br />
Seite 5).<br />
Viele der aufgeworfenen Themen wurden<br />
bereits vor der jüngsten Medienkontroverse<br />
vom Verband aufgenommen und<br />
diskutiert. So etwa Fragen zu den situationsbedingten<br />
Leistungen oder Fragen<br />
zur Wirksamkeit des 2005 eingeführten<br />
Anreizsystems. Eine empirische Untersuchung<br />
zu diesem Thema wäre, wie das<br />
unter anderem gefordert wurde, durchaus<br />
begrüssenswert.<br />
Bei der aktuellen Debatte geht es nicht<br />
allein um die SKOS und ihre Richtlinien.<br />
Es geht um die Sozialhilfe als funktionsfähiges<br />
und breit abgestütztes Instrument<br />
der Sozialpolitik. Und dieses darf nicht<br />
aufs Spiel gesetzt werden. Zu viele Menschen<br />
sind auf Sozialhilfe angewiesen und<br />
die Gesellschaft als Ganzes profitiert von<br />
ihr. Die SKOS setzt sich mit allen Mitteln<br />
dafür ein, dass die Bedeutung, die Stärken<br />
und der Nutzen der Sozialhilfe der Öffentlichkeit<br />
deutlich gemacht werden. •<br />
Dorothee Guggisberg<br />
Geschäftsführerin SKOS<br />
Die Gemeinden leisten<br />
gute Arbeit<br />
Mit Getöse sind<br />
im Frühjahr vier<br />
Gemeinden aus der<br />
SKOS ausgetreten.<br />
Der mediale Wirbel<br />
war ungewöhnlich<br />
gross. Auslöser war<br />
mein Kommentar<br />
zu einem Bundesgerichtsentscheid,<br />
der den Eindruck erwecken konnte, ich<br />
würde mich auf die Seite unkooperativer und<br />
provokativer Sozialhilfeempfänger schlagen.<br />
Das war nicht meine Absicht. Vielmehr hatte<br />
ich es begrüsst, dass das oberste Gericht die<br />
rechtlichen Voraussetzungen für die Einstellung<br />
von Leistungen geklärt hat. Das schafft<br />
für alle Beteiligten, auch für die Gemeinden,<br />
Rechtssicherheit.<br />
Der Unmut in einzelnen Gemeinden weist<br />
allerdings auf ein paar grundlegendere<br />
Probleme hin, denen die Sozialhilfe ausgesetzt<br />
ist. Zunächst bleiben schwierige und<br />
wenig kooperationsbereite Personen für<br />
die Sozialhilfe eine harte Herausforderung.<br />
Wie soll mit ihnen umgangen werden? Wo<br />
liegen die Grenzen des Zumutbaren? Wann<br />
können Leistungen eingestellt werden? Jede<br />
Gemeinde kennt solche Fälle, die an den<br />
Nerven zehren. Ich habe grossen Respekt vor<br />
Sozialdiensten und Behörden, die im Alltag<br />
versuchen, auch diesen Menschen gerecht<br />
zu werden. Zudem fühlen sich gerade kleinere<br />
Gemeinden in solchen Fragen oft allein<br />
gelassen. Offenbar auch von der SKOS. Darauf<br />
werden wir als Fachverband ein besonderes<br />
Augenmerk richten müssen.<br />
Schliesslich bleibt die Sozialhilfe im Fadenkreuz<br />
politischer Auseinandersetzungen. Die<br />
verschiedenen, ähnlich lautenden Vorstösse,<br />
die in den letzten Monaten in Parlamenten<br />
eingereicht wurden, richten sich vordergründig<br />
gegen die SKOS und ihre Richtlinien. Sie<br />
haben aber vor allem die Sozialhilfe als Pfeiler<br />
der sozialen Sicherheit zum Gegenstand.<br />
Während die SKOS ihre Richtlinien immer<br />
wieder den veränderten gesellschaftlichen<br />
Gegebenheiten angepasst hat, darf der Schutz<br />
der armutsbetroffenen Bevölkerung in der<br />
Schweiz nicht zur Disposition gestellt werden.<br />
Walter Schmid<br />
Präsident SKOS<br />
aktuell 3/<strong>13</strong> ZeSo<br />
9
Wie sind freiwillige Zuwendungen<br />
Dritter zu berücksichtigen?<br />
Eine 19-jährige Sozialhilfebezügerin bezahlt mit einem Zuschuss ihres Grossvaters einen Mietzins,<br />
der über den Richtlinien der Gemeinde liegt. Grundsätzlich müssen regelmässige freiwillige<br />
Leistungen Dritter im Unterstützungsbudget als Einnahme berücksichtigt werden.<br />
Andrea Bucher ist 19-jährig und absolviert<br />
eine Lehre. Weil die Eltern keine Unterhaltszahlungen<br />
leisten können, wird sie ergänzend<br />
zu Lehrlingslohn und Stipendium<br />
mit Sozialhilfe unterstützt. Sie kann nicht<br />
bei den Eltern und aus psychischen Gründen<br />
auch nicht in einer Wohngemeinschaft<br />
wohnen. Sie hat einen neuen Mietvertrag für<br />
eine 2,5-Zimmer-Wohnung abgeschlossen.<br />
Der Mietzins von <strong>13</strong>23 Franken liegt erheblich<br />
über den Richtlinien der Gemeinde<br />
für einen Ein-Personen-Haushalt. Andrea<br />
erklärt, ihr Grossvater habe ihr einen Betrag<br />
an die Miete zugesichert. Damit könne sie<br />
die Differenz zwischen dem von der Gemeinde<br />
anerkannten und dem tatsächlichen<br />
Mietzins ausgleichen.<br />
Frage<br />
Wie ist mit Zuschüssen Dritter umzugehen,<br />
mithilfe derer sich unterstützte Personen<br />
eine Wohnung leisten können, die wesentlich<br />
teurer ist als es die kommunalen<br />
Richtlinien vorgeben?<br />
Grundlagen<br />
Nach dem Grundsatz der Subsidiarität<br />
und entsprechend den SKOS-Richtlinien<br />
sind freiwillige Leistungen Dritter unabhängig<br />
von deren Höhe im Budget grundsätzlich<br />
als Einnahmen zu berücksichtigen,<br />
wenn sie zur freien Verfügung stehen<br />
(SKOS-Richtlinien, A.4 und E.1.1).<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Das web-basierte Beratungsangebot<br />
für SKOS-Mitglieder ist über das Intranet<br />
zugänglich: www.skos.ch Intranet (einloggen)<br />
SKOS-Line.<br />
Gemäss Lehre und Praxis werden freiwillige<br />
Leistungen Dritter dann nicht angerechnet,<br />
wenn sie von bescheidenem<br />
Umfang sind, ausdrücklich zusätzlich zu<br />
den Sozialhilfeleistungen (oft mit Zweckbestimmung)<br />
erbracht werden und bei<br />
einer Anrechnung entfallen würden. Von<br />
einer Anrechnung ist aber nicht abzusehen,<br />
wenn mit den Zuwendungen Dritter<br />
ungedeckte, überhöhte Miet- oder Lebenshaltungskosten<br />
oder Luxusausgaben finanziert<br />
werden (vgl. C. Hänzi, Leistungen<br />
der Sozialhilfe in den Kantonen, in: Das<br />
Schweizerische Sozialhilferecht, Luzern<br />
2008, S. 141).<br />
Ob die Zuschüsse bei Anrechnung entfallen<br />
würden, spielt in der Praxis kaum<br />
eine Rolle. Bei vorgängiger Kenntnis<br />
entscheidet die Sozialbehörde anhand<br />
anderer Kriterien über die Anrechnung<br />
und muss allenfalls das Risiko eingehen,<br />
dass die Leistung entfällt. Wenn die Sozialbehörde<br />
erst im Nachhinein von einer<br />
freiwilligen Zuwendung erfährt, kann die<br />
Leistung gar nicht mehr entfallen. Auswirkungen<br />
hat der Wegfall der Zuwendung<br />
einzig auf das Budget der unterstützten<br />
Person, die nicht mehr über zusätzliche<br />
Mittel verfügen kann. Es ist aber nicht<br />
Aufgabe der Sozialhilfe, das Budget der<br />
betroffenen Person über das Sozialhilfeniveau<br />
zu heben.<br />
Allerdings hat eine unterstützte Person<br />
das Recht, übliche Gelegenheitsgeschenke<br />
zu empfangen, ohne dass dies zu einer Reduktion<br />
der Sozialhilfe führt. Deshalb ist<br />
auf die Anrechnung von (Geld-) Geschenken<br />
zu Weihnachten, zum Geburtstag oder<br />
ähnlichen Anlässen zu verzichten, auch<br />
wenn das Geld der beschenkten Person zur<br />
freien Verfügung steht. In diesen Fällen<br />
kommt eine Anrechnung nur in Betracht,<br />
wenn die Nichtanrechnung wegen des<br />
Umfangs der Zuwendung unbillig wäre.<br />
Weiter muss berücksichtigt werden, ob<br />
eine zweckgerichtete Zuwendung für eine<br />
Ausgabenposition erbracht wird, die im<br />
Unterstützungsbudget enthalten ist. Hingegen<br />
ist es unerheblich, ob es sich um<br />
eine Geld- oder Naturalleistung handelt.<br />
Es muss also zwischen folgenden freiwilligen<br />
Zuwendungen Dritter unterschiedenen<br />
werden.<br />
1. Regelmässig erbrachte freiwillige Leistungen<br />
sind anzurechnen, wenn sie<br />
tatsächlich zur freien Verfügung stehen,<br />
für eine im Unterstützungsbudget enthaltene<br />
Ausgabenposition ausgerichtet<br />
werden oder der Finanzierung von Luxus<br />
dienen.<br />
2. Einmalige, nicht zweckgebundene<br />
Leistungen sind anzurechnen. Ausgenommen<br />
sind übliche Gelegenheitsgeschenke<br />
oder Leistungen von bescheidenem<br />
Umfang.<br />
3. Einmalige, zweckgebundene Leistungen,<br />
die nicht für eine im Unterstützungsbudget<br />
enthaltene Ausgabenposition<br />
ausgerichtet werden, sind in der<br />
Regel nicht anzurechnen. Eine Anrechnung<br />
kommt nur in Betracht, wenn<br />
eine sehr hohe Zuwendung zur Finanzierung<br />
von Luxus geleistet wird und<br />
eine Nichtanrechnung stossend wäre.<br />
Antwort<br />
Beim freiwilligen Mietzinszuschuss des<br />
Grossvaters von Andrea Bucher handelt es<br />
sich um eine regelmässig erbrachte freiwillige<br />
Leistung. Sie wird für die Wohnkosten<br />
und damit für eine Ausgabenposition erbracht,<br />
die im Unterstützungsbudget enthalten<br />
ist. Dass der im Budget angerechnete<br />
Mietzins nicht mit dem effektiven Mietzins<br />
übereinstimmt, ändert nichts an dieser<br />
Tatsache. Folglich ist die Differenzzahlung<br />
als Einnahme solange anzurechnen, wie sie<br />
tatsächlich eingeht. <br />
•<br />
Bernadette von Deschwanden<br />
Mitglied Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen der SKOS<br />
10 ZeSo 3/<strong>13</strong> praxis
Die private Sozialhilfe spielt bei der<br />
Armutsbekämpfung eine wichtige Rolle<br />
Die private und die öffentliche Sozialhilfe ergänzen sich gut. Das zeigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte<br />
und die heutige Positionierung der Angebote. Damit die private Sozialhilfe ihre Stärken<br />
voll ausspielen kann, braucht es eine leistungsfähige öffentliche Sozialhilfe.<br />
Die Rolle der privaten Sozialhilfe vis-à-vis der öffentlichen Sozialhilfe<br />
und deren Verhältnis zueinander lässt sich auf verschiedene<br />
Weise beschreiben: über ihre Entstehungsgeschichte und ihre gesellschaftliche<br />
Bedeutung, über die Art der Trägerschaften und der<br />
Finanzierung oder über die spezifischen Angebote der privaten<br />
Sozialhilfe.<br />
Historisch betrachtet war Sozialhilfe beziehungsweise die Armenfürsorge<br />
eine Aufgabe der Klöster. Im Hochmittelalter (1050 bis<br />
1250) stiessen die Klöster jedoch an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen<br />
Leistungsfähigkeit und drohten selbst zu verarmen. Dies<br />
und die damals wachsende Armut in der Bevölkerung bewirkte,<br />
dass neue Institutionen geschaffen wurden, die unabhängig von<br />
Kirchen und Klöstern entstanden: Spitäler sowie Siechen- und<br />
Armenhäuser. Erste bürgerliche Stiftungen trugen ebenfalls zur<br />
Kommunalisierung der Fürsorge bei. Die wirtschaftliche Krise<br />
des Spätmittelalters (1500) bewirkte dann einen weiteren Schritt<br />
in der Armenfürsorge. Die Fürsorge der Obrigkeiten und damit<br />
des Staats äusserte sich im Erlass und in der Durchsetzung gesundheitspolizeilicher<br />
Massnahmen und in Vorkehrungen zur<br />
Lebensmittelversorgung. Diese Betrachtungen zeigen, dass die<br />
private Sozialhilfe weiter zurückreicht als die öffentliche Sozialhilfe.<br />
Im verwandtschaftlichen Verhältnis kann sie gegenüber der<br />
öffentlichen Sozialhilfe eine Art Elternschaft geltend machen.<br />
Allerdings besteht auf eine Unterstützung durch private Sozialhilfe<br />
– im Gegensatz zur öffentlichen Sozialhilfe – kein klagbarer<br />
Rechtsanspruch.<br />
Finanzierung und Trägerschaft<br />
Die Finanzierung der öffentlichen Sozialhilfe erfolgt denn auch<br />
durch die öffentliche Hand. Die Kantone und Gemeinden sind für<br />
ihre Durchführung verantwortlich. Eine Ausnahme bildet die Sozialhilfe<br />
für Asylsuchende, für die der Bund die Hauptlast trägt.<br />
Die Finanzierung der privaten Sozialhilfe hingegen erfolgt durch<br />
Spendengelder und durch die Bewirtschaftung von Eigenkapital,<br />
aber teilweise auch durch die öffentliche Hand. In den vergangenen<br />
Jahrzehnten haben Leistungsvereinbarungen zwischen Privaten<br />
und dem Staat stark an Bedeutung gewonnen.<br />
Private Hilfswerke binden<br />
die Bevölkerung in die<br />
Armutsbekämpfung ein.<br />
Zu den auf nationaler Ebene wichtigsten privaten Sozialhilfeeinrichtungen<br />
gehören die drei «Pro-Werke» Pro Infirmis, Pro<br />
Senectute und Pro Juventute, Caritas Schweiz, das Hilfswerk der<br />
Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), das Schweizerische<br />
Arbeiterhilfswerk (SAH), das Schweizerische Rote Kreuz (SRK)<br />
und die Heilsarmee. Die privaten Sozialhilfeeinrichtungen lassen<br />
sich in Hilfswerke (religiöse und nicht-religiöse), Stiftungen und<br />
weitere nicht staatliche Institutionen einteilen.<br />
Relevanz des Angebots<br />
Gemäss Bundesamt für Statistik belaufen sich die jährlichen direkten<br />
Sozialhilfeausgaben zu Lasten der öffentlichen Hand auf<br />
rund zwei Milliarden Franken. Das Ausmass der privaten Sozialhilfe<br />
ist hingegen nicht erforscht. Schätzungen sind zwar möglich,<br />
aber mit Vorsicht zu geniessen. Folgende Überlegungen lassen<br />
darauf schliessen, dass der Umfang dieser Leistungen sehr<br />
bedeutsam ist. In der Schweiz gibt es rund <strong>13</strong> 000 Stiftungen,<br />
knapp 40 Prozent von ihnen geben eine Tätigkeit im sozialen Bereich<br />
an. Insgesamt verfügen gemeinnützige Stiftungen über ein<br />
geschätztes Vermögen von 70 Milliarden Franken, wobei die jährliche<br />
Ausschüttung nur einen Bruchteil davon ausmacht. Eine unsystematische<br />
Umfrage bei den Pro-Werken und anderen national<br />
tätigen Hilfswerken im Hinblick auf diesen Beitrag lässt<br />
vermuten, dass sich das jährliche Unterstützungsvolumen der privaten<br />
Sozialhilfe auf rund 20 Millionen Franken beläuft. Das entspricht<br />
immerhin einem Prozent der staatlichen Ausgaben für die<br />
Sozialhilfe.<br />
Anders als die Leistungen der öffentlichen Sozialhilfe sind die<br />
Angebote und Zuständigkeitsbereiche der Privaten nicht definiert.<br />
Klar ist hingegen, dass sie wichtige Aufgaben bereits vorgelagert<br />
zur Sozialhilfe übernehmen, indem sie beispielsweise Beratung<br />
für Ratsuchende anbieten, die noch nicht von staatlichen Stellen<br />
erfasst wurden. Oder sie springen dort ergänzend zu den Leistungen<br />
der öffentlichen Sozialhilfe ein, wo diese nicht möglich oder<br />
nicht ausreichend sind. Das Angebot der privaten Sozialhilfe ist<br />
also sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Bezug auf die<br />
Angebotspalette bedeutsam.<br />
Ungeklärte Subsidiarität<br />
Die SKOS-Richtlinien geben vor, dass Sozialhilfeleistungen grundsätzlich<br />
auch subsidiär sind gegenüber Leistungen Dritter, die ohne<br />
rechtliche Verpflichtung erbracht werden. Die öffentliche Sozialhilfe<br />
wäre demnach nur subsidiär zu den Leistungen der<br />
Hilfswerke oder Stiftungen auszurichten.<br />
Die Realität ist eine andere. Im Gegensatz zu früher haben die<br />
privaten Hilfswerke den Zugang zu ihren finanziellen Mitteln er-<br />
18 ZeSo 3/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
Die private Sozialhilfe übernimmt wichtige Aufgaben, zum Beispiel die eines Mahlzeitendienstes für Rentnerinnen und Rentner.<br />
Bild: Keystone<br />
schwert und orientieren sich oft an der öffentlichen Sozialhilfe.<br />
Die meisten unter ihnen betonen sinngemäss, dass die Leistungen<br />
der öffentlichen Hand nicht ersetzt, sondern nur gezielt ergänzt<br />
werden können. Hier zeigt sich ein nicht vollends geklärtes Verständnis<br />
der Subsidiarität. Die Frage lautet: Welche Leistung geht<br />
vor? Die Praxis verhält sich pragmatisch. Es gibt Sozialdienste, die<br />
versuchen, die freiwilligen Leistungen Dritter systematisch zu erschliessen,<br />
andere wiederum delegieren diese Verantwortung an<br />
die Klientel.<br />
Gesellschaftliche Bedeutung<br />
Die gesellschaftliche Bedeutung der privaten Sozialhilfe zeigt sich<br />
auf verschiedenen Ebenen. Sie hilft da, wo die Unterstützung des<br />
Staats nicht greift, finanziert zum Beispiel Ferienaufenthalte für<br />
Bedürftige oder übernimmt Arztrechnungen. Die zahlreichen Projekte<br />
im Bereich der beruflichen und sozialen Integration sind<br />
ebenfalls zentral. Hinzu kommt die bereits genannte wichtige Beratungstätigkeit.<br />
Zudem bilden die Privaten eine Kohäsionskraft<br />
in der Zivilgesellschaft. Die Bevölkerung wird quasi in die Armutsbekämpfung<br />
eingebunden, mittels Spenden oder ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit. Die Gesellschaft nimmt hier ergänzend zum Staat eine<br />
unterstützende Rolle wahr.<br />
In einem Referat hat SKOS-Präsident Walter Schmid einmal<br />
die Frage gestellt, ob Vormundschaft und Sozialhilfe Geschwister<br />
seien. Er verneinte dies und verwies dabei auf historische Gründe<br />
sowie auf die unterschiedliche Rechtsgestalt. Weiter oben wurde<br />
auch auf ein mögliches verwandtschaftliches Verhältnis von privater<br />
und öffentlicher Sozialhilfe hingewiesen. Immerhin tragen<br />
sie ja den gleichen «Nachnamen». Die Ausführungen haben aber<br />
deutlich gemacht: Zwischen der privaten und der öffentlichen<br />
Sozialhilfe besteht kein direktes Verwandtschaftsverhältnis. Und<br />
trotzdem besteht eine wichtige Beziehung zueinander. Während<br />
Betroffene die Unterstützung der öffentlichen Sozialhilfe rechtlich<br />
durchsetzen können – ähnlich wie bei der Unterhaltspflicht<br />
der Eltern gegenüber ihren Kindern –, besteht kein Anrecht auf<br />
private Sozialhilfe. Die Rolle der privaten Sozialhilfe gegenüber<br />
der öffentlichen gleicht am ehesten der einer Gotte beziehungsweise<br />
Patin: Sie ist im Normalfall wenig belastet, die Gespräche<br />
haben einen informellen Charakter und Beratungen sind ohne<br />
Verpflichtungen möglich. Dafür kommt die finanzielle Hilfe nur<br />
unregelmässig (wie jedes Patenkind weiss), und die Höhe kann<br />
stark variieren.<br />
Dies hat auch Konsequenzen für die künftige Sozialpolitik.<br />
Falls in Zukunft Leistungen vom Staat gekürzt werden sollten,<br />
können die Privaten nur begrenzt einspringen. Es braucht daher<br />
weiterhin eine leistungsfähige Sozialhilfe der öffentlichen Hand,<br />
damit die Privaten ihren angestammten wichtigen Part auch in<br />
Zukunft wahrnehmen können.<br />
•<br />
Pascal Engler<br />
Dozent im Bachelor - und Masterstudiengang<br />
Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>13</strong> ZeSo<br />
Mit einem öffentlichen Auftrag im<br />
Rücken lässt sich langfristig planen<br />
Caritas Neuenburg betreut im Auftrag des Kantons Flüchtlinge und ist dabei zuständig für Sozialhilfe<br />
und Eingliederungsmassnahmen. Der Autor beschreibt die Chancen und Risiken, die privaten<br />
Organisationen aus der Übernahme eines Sozialhilfeauftrags erwachsen können.<br />
Caritas Neuenburg ist im Rahmen eines kantonalen Leistungsauftrags<br />
zuständig für die Sozialhilfe für anerkannte Flüchtlinge. Zum<br />
Auftrag gehört auch die Begleitung der gesellschaftlichen und beruflichen<br />
Integration dieser Personengruppe. Für die Betreuung<br />
sind im Budget pro Familie und Monat zwei Stunden vorgesehen.<br />
Gestützt auf den Leistungsauftrag hat Caritas ihre Kompetenzen<br />
für Integrationsarbeit vertiefen und zusätzliche, ihr ursprüngliches<br />
Angebot erweiternde Dienstleistungen entwickeln<br />
können. So bietet das Hilfswerk heute beispielsweise Sprachkurse<br />
an, hilft bei der Wohnungssuche, setzt freiwillige Helfer für die<br />
individuelle Begleitung ein und informiert ihre Klientinnen und<br />
Klienten über Krankenversicherungen und andere Institutionen,<br />
über die sie Kenntnisse haben sollten. Bei der Wohnungssuche<br />
ist die Unterstützung durch Freiwillige äusserst wertvoll, geht es<br />
doch darum, Wohnungen für ausländische, fremdsprachige und<br />
sozialhilfeabhängige Familien zu suchen. Sie gehören zu der Personengruppe,<br />
die von privaten Hausverwaltungen am häufigsten<br />
abgewiesen wird.<br />
Private Sozialhilfe-Akteure sind für diese Art der Unterstützung<br />
bestens geeignet und leisten wertvolle Pionier- und Vorarbeit. Sie<br />
können innovative Projekte lancieren und dazu beitragen, Lücken<br />
im System der Betreuungs- und Beratungsangebote zu schliessen.<br />
Zur Finanzierung und Durchführung von Projekten können sie<br />
auf ein Netz von Spendern und Freiwilligen sowie auf Beiträge von<br />
Stiftungen und privatwirtschaftlichen Sponsoren zurückgreifen.<br />
Doch aufgepasst! Dieser strategische Ansatz kommt einer Gratwanderung<br />
gleich. Die Anstrengungen dürfen auf keinen Fall<br />
darauf hinwirken, dass durch alternative Finanzierungsquellen<br />
Budgetbeschränkungen bei anderen Institutionen ausgeglichen<br />
werden, bloss um auf diese Weise das Niveau der Sozialhilfeleistungen<br />
aufrechtzuerhalten. Das käme einer Schwächung des<br />
Sozialnetzes gleich. Um ihr Engagement nachhaltig zu sichern<br />
und weiter in die Sozialarbeit investieren zu können, ist Caritas<br />
Neuenburg deshalb auf die Sicherheit von Aufträgen der öffentlichen<br />
Hand angewiesen. Auf diesem Fundament kann sie zusätzliche,<br />
durch eigene Projekte finanzierte Leistungen erbringen.<br />
Beobachter- und Expertenfunktion<br />
Die folgenden Betrachtungen beleuchten die Zusammenarbeit<br />
und die Effizienz bei solchen Kooperationsmodellen:<br />
Die Revision der Sozialhilferichtlinien im Kanton Neuenburg im<br />
Jahr 2007 sah eine spürbare Kürzung der Leistungen zur Deckung<br />
des Lebensunterhalts vor – entgegen der Empfehlungen der SKOS.<br />
Als Hilfswerk und Auftragnehmerin konnte sich Caritas Neuenburg<br />
im Rahmen der Vernehmlassung zur Revision äussern. Da ihr das<br />
System aus erster Hand bekannt war, konnten die Auswirkungen<br />
Private Sozialhilfe-Akteure helfen, Lücken im System der Betreuungs- und Beratu<br />
der geplanten Revision eingehend analysiert werden. Und als unabhängige<br />
Expertin konnte Caritas in der Folge die Revision in einigen<br />
Punkten ein wenig mitgestalten. Das Zusammenwirken von öffentlichem<br />
und privatem Sektor erwies sich in diesem Fall als effizient.<br />
Denn ähnlich wie die Medien eine Kontrollfunktion gegenüber<br />
Exekutive, Legislative und Judikative ausüben, haben die Hilfswerke<br />
ein waches Auge auf die Entwicklung der Richtlinien und<br />
Gesetze im Sozialbereich. Solange diese einen annehmbaren Rahmen<br />
definieren, lässt sich mehr bewirken, wenn man sich aktiv am<br />
System und damit an seiner Entwicklung beteiligt. In diesem Licht<br />
ist es allerdings bemerkenswert, dass das Bundesamt für Migration<br />
die Betreuung der Empfangs- und Verfahrenszentren für Asylsuchende<br />
an gewinnorientierte private Unternehmen vergibt…<br />
Finanzielle und rechtliche Risiken<br />
Mit dem Übergang der Zuständigkeit für die Sozialhilfe an Flüchtlinge<br />
im Jahr 1998 vom Bund an die Kantone begann das kantonale<br />
Amt für Migration, die Fallpauschalen des Bundes an Caritas<br />
zu überweisen. Als in der Folge die Zahl der betreuten Personen<br />
stetig zunahm und die Ausgleichszahlungen rund um die Flüchtlingsbetreuung<br />
im Jahr 2007 die Höhe des gesamten übrigen<br />
Budgets der Organisation erreichten, war die Verwaltung dieser<br />
22 ZeSo 3/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
ngsangebote zu schliessen.<br />
Bild: Pixsil<br />
Gelder zu einem erheblichen finanziellen Risiko geworden. Denn<br />
Caritas verfügt über das Vereinsvermögen hinaus über keine weiteren<br />
Defizitgarantien. Um die Risiken der Pauschalenverwaltung<br />
vom Hilfswerk an den Kanton zu übergeben, hat Caritas darauf<br />
dem Kanton ein alternatives Entschädigungsmodell vorgeschlagen,<br />
das es ihr erlaubt, dem Kanton die effektiv anfallenden Kosten<br />
der Sozialhilfe in Rechnung zu stellen.<br />
Als beauftragte Sozialhilfeorganisation entscheidet Caritas<br />
Neuenburg auch über Rückforderungen von Sozialhilfeleistungen<br />
oder über die Ausstellung von Schuldanerkennungen. Das bedeutet,<br />
dass die Schuldner in der Folge das bezogene Geld einem<br />
privaten Dienstleister, der öffentliche Gelder verwaltet, zurückbezahlen<br />
müssen. Auch das wirft Fragen auf, die im Rahmen<br />
des Leistungsauftrags geklärt werden müssen: Wer übernimmt<br />
das Eintreiben dieser Forderungen, wenn ein Sozialhilfedossier<br />
einmal geschlossen ist? Gehört das noch zum Sozialhilfeauftrag?<br />
Kann man in der gegebenen Funktion einen Schuldner überhaupt<br />
für Forderungen betreiben, die ein Dritter erhebt? Können Bund<br />
und Kanton eine Rückzahlung vom privaten Dienstleister einfordern,<br />
wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist?<br />
Wäre Letzteres der Fall, müsste der Dienstleister Rückstellungen<br />
bilden, um dieses Risiko aufzufangen. Das ist aber angesichts<br />
der Höhe der Beträge und Finanzflüsse unmöglich. Auf solche<br />
und ähnliche Fragen müssen immer erst Antworten gefunden<br />
werden. Nicht zuletzt deshalb, um bei den beteiligten Parteien<br />
keine falschen Erwartungen aufkommen zu lassen.<br />
Kontrolle ist besser<br />
Der Kanton Neuenburg hat in der Folge die Risiken, die im Zusammenhang<br />
mit der Verwaltung der vom Bund erstatteten Pauschalen<br />
auftreten, übernommen. Im Gegenzug ist er aber darauf<br />
angewiesen, dass die Sozialhilfeausgaben für Flüchtlinge konsequent<br />
ausgewiesen werden. Doch je mehr Kontrollebenen eingerichtet<br />
werden (Hilfswerk, Kanton, Bund), desto grösser ist die Gefahr,<br />
dass man das Wesentliche, nämlich die Menschen, aus den<br />
Augen verliert. Wir bei Caritas Neuenburg haben mittlerweile<br />
manchmal das Gefühl, mehr Zeit in die transparente Abrechnung<br />
der eingesetzten Gelder als in die Förderung von Selbständigkeit<br />
und finanzieller Unabhängigkeit der Flüchtlinge zu investieren.<br />
Und es gibt in diesem Zusammenhang noch weitere Herausforderungen<br />
zu meistern. Über die Hälfte der kantonalen Mittel<br />
fliesst im Rahmen von Leistungsaufträgen an Dritte. Zu Kontrollund<br />
Steuerzwecken ist der Kanton deshalb bestrebt, für alle Leistungen<br />
einheitliche Rechnungslegungs- und Kennzahlenmodelle<br />
anwenden. Die privaten Dienstleister auf der anderen Seite haben<br />
eigene, auf die eigenen Ziele ausgerichtete Instrumente, mit denen<br />
sie ihre Tätigkeit und Ausgaben analysieren. Wenn diese Unterschiede<br />
nicht thematisiert werden, kann das Aufeinandertreffen<br />
der öffentlichen und der privaten Modelle zu Spannungen und<br />
Missverständnissen führen.<br />
Umständlich ist zudem, dass private Sozialhilfedienstleister<br />
immer wieder an Datenschutzgrenzen stossen. Wenn Belege und<br />
Vollmachten nicht ausreichen, müssen die öffentlichen Auftraggeber<br />
für sie die benötigten Informationen beschaffen. Das ist weder<br />
zweckmässig noch effizient.<br />
Aus der Zusammenarbeit zwischen einem öffentlichen Auftraggeber<br />
und einem privaten Auftragnehmer wie Caritas Neuenburg<br />
ergeben sich gemäss diesen Betrachtungen sowohl Vorteile<br />
wie auch Nachteile. Sie bietet Chancen und birgt Risiken. Umso<br />
wichtiger ist es, dass man sich auf einen stabiles Fundament stützen<br />
kann. Auf dieser Grundlage ist es möglich, eine Vorreiter- und<br />
Beobachterrolle zu übernehmen. Was wir uns aber vor allem wünschen<br />
ist, dass auch bei unseren Partnern weiterhin der Mensch<br />
im Mittelpunkt steht. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>13</strong> ZeSo<br />
Sébastien Giovannoni<br />
Leiter Sozialberatung<br />
Caritas Neuenburg<br />
Armut muss mit einer integralen<br />
Strategie bekämpft werden<br />
private sozilhilfe<br />
Das Case Management und die interinstitutionelle Zusammenarbeit sollten kassenunabhängig<br />
funktionieren. Damit würden sich wichtige Akteure nicht mehr aus der Fallbearbeitung zurückziehen,<br />
nur weil sie nicht mehr zahlungspflichtig sind. Ein Plädoyer für ein nachhaltigeres IIZ-Modell.<br />
Armut geht alle an, sie ist kein isoliertes Problem. Weder bei der<br />
Analyse der Gründe für Armut, noch bei der Erarbeitung von<br />
Lösungsansätzen. Fehlt bei der Analyse der Armutsentstehung<br />
eine ganzheitliche Betrachtung, wird man auch in der Lösungsfindung<br />
nur Symptombekämpfung betreiben. Auch die Betrachtung<br />
von Armut als bloss finanzielles oder wirtschaftliches Phänomen<br />
greift zu kurz. Soziale, geistige und spirituelle Armut sind markante<br />
Treiber struktureller Armut.<br />
Erkennt man die zum Teil komplexen Sachverhalte und die systemischen<br />
Abhängigkeiten, die die Armutsproblematik prägen,<br />
und vergleicht sie mit den meist sequenziellen und wenig integralen<br />
Lösungsfindungen, stellt man fest, dass in der Organisation<br />
und der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren<br />
bei der Armutsbekämpfung ein grosses Potenzial besteht. Zwar<br />
wurde mit dem Ansatz IIZ (interinstitutionelle Zusammenarbeit)<br />
ein grosser Schritt in die richtige Richtung gemacht. Dennoch<br />
zeigt sich in der Praxis, dass das «Kassendenken» noch weit verbreitet<br />
ist. Erschwerend kommt hinzu, dass – je nach Entwicklung<br />
eines Falls – sich wichtige Akteure nach und nach aus der Fallbearbeitung<br />
zurückziehen, weil sie nicht mehr zahlungspflichtig sind.<br />
Beispielsweise die Arbeitsvermittlung: Die betroffenen Personen<br />
verbleiben dann in der Obhut der Sozialhilfe, die als Folge nun<br />
alle Systeme, Arbeit, Wohnen, Förderung und Teilhabe, bedienen<br />
muss. Dies führt zu einer Überforderung der Ressourcen in der<br />
Sozialhilfe.<br />
Die heutigen Formen der IIZ sind so definiert, dass die staatlichen<br />
Sozialversicherungen, die Berufsberatung und die Sozialhilfe<br />
an einen Tisch sitzen. Andere Akteure wie zum Beispiel die<br />
Wirtschaft, die Gesellschaft allgemein, Kirchen oder eben auch<br />
private Sozialwerke werden nur bedingt in die Lösungsfindung<br />
einbezogen. Dies auch deshalb, weil die Armutsbekämpfung als<br />
rein staatliche Aufgabe verstanden wird. Armut ist aber ein gesellschaftliches<br />
Problem. Aus diesem Grund müssten möglichst<br />
viele Akteure bei der Lösungsfindung mitarbeiten. In dem Zusammenhang<br />
ist auch darauf hinzuweisen, dass die Ressourcen der<br />
Armutsbetroffenen – ihre Erfahrungen, Skills und Netzwerke –<br />
auch immer noch zu wenig berücksichtigt werden.<br />
Für ein nicht im Vollzug<br />
angesiedeltes Case<br />
Management wären<br />
private Sozialwerke als<br />
Partner denkbar.<br />
Lücken im Sozialnetz der Schweiz<br />
Wenn man nach den Lücken im Sozialnetz der Schweiz sucht, findet<br />
man diese an den Schnittstellen zwischen den staatlichen Sozialversicherungen<br />
und der Sozialhilfe oder im Bereich des langjährigen<br />
Sozialhilfebezugs. Die Begleitumstände sind vielfältig, doch<br />
eines scheint klar: Eine integrale Strategie, die bessere Vernetzung<br />
der Akteure und ein besserer Einbezug des Know-hows von Spezialisten,<br />
die Teilnahme möglichst aller Schlüsselakteure und generell<br />
die Suche nach langfristigen Lösungen sind Faktoren, deren<br />
breite Berücksichtigung bessere Resultate hervorbringen würde.<br />
Viele Herausforderungen können nicht oder nur begrenzt von einem<br />
einzelnen Akteur erfolgreich bewältigt werden. Ein umfassendes<br />
Case Management wäre notwendig. Dieses sollte aber möglichst<br />
nicht im Bereich des Vollzugs angesiedelt sein, sondern<br />
kassenunabhängig arbeiten können. Hierfür wären private Sozialwerke<br />
als Partner denkbar.<br />
Als Beispiel für einen solchen Ansatz kann ein Projekt aus<br />
Amsterdam dienen. Die Heilsarmee als privates Sozialwerk führt<br />
im Auftrag der Stadt Amsterdam ein «Intake-House», in dem insbesondere<br />
obdachlose Menschen aufgenommen werden. Dies<br />
mit dem Ziel, mit der betroffenen Person in einer sechswöchigen<br />
Abklärungsphase eine individuelle Strategie zu entwickeln. An<br />
dieser Strategieentwicklung nehmen die Heilsarmee und andere<br />
Sozialwerkvertreter als Case Manager teil, genauso wie Vertreter<br />
der Sozialhilfe, der Sozialversicherungen, der Arbeitsvermittlung,<br />
der Wohnungsvermittlung, von juristischen Beratungsstellen oder<br />
medizinisch-psychiatrischen Diensten. Nach der Abklärungsphase<br />
begleitet das Case Management die Klientinnen und Klienten,<br />
während diese an Massnahmen zur Arbeitsintegration, zur Wohnkompetenzförderung<br />
und so weiter oder an sozialtherapeutischen<br />
Massnahmen teilnehmen. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen<br />
einer solchen Arbeitsweise spielt auch der Beziehungsaspekt in<br />
der Begleitung eine wichtige Rolle. Im Sinne einer langfristigen<br />
und integralen Lösung für Armutsbetroffene und eines effizienten<br />
Mitteleinsatzes müssten solche Lösungsansätze vermehrt auch in<br />
der Schweiz verfolgt werden.<br />
•<br />
Daniel Röthlisberger<br />
Direktor Sozialwerke<br />
Heilsarmee Schweiz<br />