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Die Blätter fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie<br />

fallen mit verneinender Gebärde.<br />

Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.<br />

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. und sieh dir andre an: es ist in allen.<br />

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.<br />

Rainer Maria Rilke


Sterbebegleitung aus logotherapeutisch-phänomenologischer Sicht-über den<br />

Umgang mit todkranken Menschen<br />

„Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und existenzanalytischer<br />

Beratung und Begleitung“<br />

Februar 2007<br />

Eingereicht von:<br />

Eingereicht bei:<br />

Angenommen am:<br />

Cornelia Köllen<br />

Dr. paed. Christoph Kolbe und Helmut Dorra<br />

27.08.2008 von: Dr. paed. Christoph Kolbe


Zusammenfassung<br />

Sterbende sind herausgefordert, sich vom Geistigen her ‚dem Unbegreiflichen’ zu nähern und<br />

sich darauf einzulassen. Es wird dargestellt, wie dieser Weg mit logotherapeutischen Mitteln unterstützt werden<br />

kann. Beispiele aus der Praxis erhellen die Vielfalt der je situativ-und persönlichen Möglichkeit, auch diese letzte<br />

Phase des Lebens selbstverantwortlich sinnvoll zu gestalten.<br />

Schlüsselwörter Phasen der inneren Verarbeitung schwerer Schicksalsschläge-Verwirklichung von Haltungsund<br />

Einstellungswerten-Selbstdistanz und Selbsttranszendenz<br />

Summary People, who are dying, are demanded to approach of the intellectual here, “the inconceivable” – and to<br />

admit itself on that. It is represented how this way can be supported with means of the Logotherapy. Examples out<br />

of the practice shed light on the variety of those always personal possibilities, to form also this last phase of life even<br />

responsible meaningfully.<br />

Key words: Phases of processing of heavy fate blow – realization of bearings – meaning – “Selbstdistanz” and<br />

“Selbsttranszendenz”


Sterbebegleitung aus logotherapeutisch-phänomenologischer Sicht-über den<br />

Umgang mit todkranken Menschen<br />

1. Einführung<br />

2. Wege zum Sinn<br />

2.1 ... wenn "plötzlich und unerwartet" die Lebenseinstellung nicht mehr<br />

trägt<br />

2.1.1 Das wertorientierte Gespräch<br />

2.1.2 Im Schweigen beieinander sein<br />

2.2 ... wenn "nichts mehr zu tun und zu ändern" ist<br />

2.2.1 Das Lebenswerk betrachten<br />

2.2.2 Den Blick darüber hinaus wagen<br />

2.3 ... wenn die Situation "unwiderruflich" ist<br />

2.3.1 Halt und Schutz in der Angst<br />

2.3.2 Zeit der Nähe und Wärme inmitten der Traurigkeit<br />

1 Sterben in Würde<br />

2 Falldarstellungen<br />

3 Nachgedanken


1. Einführung<br />

Der Tod ist ein tiefes Geheimnis. Zwei Dinge können wir aber über ihn sagen: Es ist absolut<br />

gewiss, dass wir sterben werden; und es ist unsicher, wann und wie wir sterben werden.<br />

Die einzige Sicherheit, die wir also haben, ist die Unsicherheit bezüglich unserer<br />

Todesstunde. Das ist unsere Ausrede, um die direkte Auseinandersetzung mit dem Tod<br />

aufzuschieben. Wir sind wie die Kinder, die sich beim Versteckspielen die Augen<br />

zuhalten und glauben, niemand könne sie sehen.<br />

Sogyal Rinpoche<br />

Bereits in meinem Studium der Sonderpädagogik für Kinder mit geistiger-und körperlicher<br />

Behinderung hatte ich das Glück, Viktor Frankls Werk kennenzulernen. Ich kam darauf zurück, als<br />

unser Sohn mit einer cerebralen Schädigung zur Welt kam-und ich erinnerte mich daran, als mir<br />

einige Jahre später ein schwerer Autounfall passierte, den ich mit einer bleibenden Verletzung<br />

überlebte. Frankls Gedankengut hat einen guten Anteil daran, dass ich die beiden Einschnitte in mein<br />

Leben für mich persönlich sinnvoll zu bewältigen vermochte: Aus Anlass der Geburt unseres<br />

behinderten Kindes wechselte ich in den Bereich der Frühförderung von behinderten-und von<br />

Behinderung bedrohter Kinder; und ich empfand es als sinnvoll und sinnerfüllend, mit ganz<br />

jungen-hauptsächlich schwerbehinderten Kindern körperlich-basal zu arbeiten. Mein späterer Unfall<br />

enthielt mir guten Grund, eine Tätigkeit in der Sterbebegleitung zu beginnen; und diese ist mir seit<br />

nunmehr 7 Jahren zutiefst wertvoll. Im Folgenden stelle ich dar, wie ich meine ehrenamtliche Arbeit<br />

im Ambulanten Hospizdienst vor dem Hintergrund meiner Kenntnis in Logotherapeutischer Beratung<br />

und Begleitung gestalte.<br />

Nach Viktor Frankl ist der Wille zum Sinn das den Menschen spezifisch und zentral bewegende<br />

existentielle Moment-und Frankl postuliert dieses menschliche Urverlangen nach Sinn<br />

gewissermaßen als Garanten für persönliches Glück. Denn hierin sei der Mensch nicht angewiesen,<br />

sondern selbstverantwortlich frei in einer Affinität zum Transzendenten. Hier tue sich die spezifisch<br />

menschliche Möglichkeit auf, „herauszutreten“ (s. lat. ex-sistere) aus der Begrenztheit und<br />

Bedingtheit-ja aus der Angst und Verzweiflung einer unwiderruflich hoffnungslosen Situation in den<br />

Bereich des „trotzdem“ Möglichen. Auf dem Niveau geistiger Haltung und Einstellung vermöge er,<br />

wenn zu tun es nichts mehr gäbe, doch noch sich selbst zu überschreiten auf Neues und Höheres-ja<br />

bisher Nichtgekanntes und Ungeahntes hin. Und so kulminiert also Frankls Aussage darin, dass der<br />

Mensch leidensfähig sei-dass jeder Mensch im Zweifelsfall die Möglichkeit und Fähigkeit besitze,<br />

etwas-nämlich sein unerfülltes Wollen, Wünschen, Hoffen und Sehnen-aktiv zu er-leiden. Der<br />

Mensch vermöge so gut „homo patiens“ zu sein, wie er „homo faber“ oder „homo ludens“ ist. Mit<br />

demselben Effekt verkündet Frankl auch „3 Wege zum Sinn“, mithilfe derer es dem Menschen<br />

unter allen erdenklich schlimmen Umständen möglich sei, sich selbst mit den Anderen in Frieden zu<br />

bewahren. Und was er damit meint, ist ja, dass der Mensch sich mit dem, was jeweils gerade ist, nicht<br />

nur auf körperlich-seelischem-, sondern auch auf geistigem Niveau harmonisieren kann-und gemeint<br />

ist ja, dass der Mensch eben das, was gerade ist, nicht nur in seinem Sinne aktiv gestalten-und in<br />

seiner Fülle aktiv erleben kann, sondern eben auch, im Notfall, aktiv geistig zu er-leiden in der Lage<br />

ist... Und jeder Mensch nun, der durch ärztliche Diagnose oder eigenes inneres Wissen akut mit dem<br />

unwiderruflich nahen Sterben und Tod konfrontiert ist, ist auf diesem von Frankl sogenannten dritten<br />

Weg zum Sinn-also auf dem Niveau seiner geistigen Haltung und Einstellung in seiner<br />

Leidensfähigkeit angefragt und existentiell herausgefordert: Es liegt nahe, dass er in seiner<br />

emotionalen Grundgestimmtheit allumfassend verunsichert ist. Und man mag sich vorstellen, dass er


sich so fühlt, als würde ihm in seiner Erfahrung von Halt, Nähe, Wertschätzung und einer Antwort auf<br />

die Frage „wofür denn eigentlich bin ich (jetzt noch) da?“, worauf er bis zum gegenwärtigen Moment<br />

eben gerade noch grundmotivational ausgerichtet war, damit ihm sein Leben gelingt, abrupt Einhalt<br />

geboten. Ist er doch im Begriff, seine gesamte Welt zu verlieren: seine Lieben, seinen Besitz, sein<br />

Haus, seinen Beruf, seinen Körper und seinen Geist-er verliert alles. Sterben lässt sich nicht wirklich<br />

im Voraus denken und planen-es muss letztendlich getan und er-lebt werden-mutig im geistig<br />

„existentiellen Sprung“ in noch nicht Geahntes hinein. Vor dem Hintergrund der<br />

Dimensionalontologie Max Schelers beschreibt und postuliert Frankl die hierzu notwendige Fähigkeit<br />

zu Selbstdistanz und Selbsttranszendenz als spezifisch menschlich. Und wenn das stimmt, kann er<br />

es also, der Mensch: wenn das wahr ist, kann der Mensch sogar in Frieden sterben. Die höchste Form,<br />

"mit einer persönlichen Haltung dem Unheil entgegenzutreten, ist das Aushalten. Menschen sind<br />

imstande, und zeigen es auch vielfältig, dass sie bereit sind, Schmerzen zu dulden, Ängste<br />

auszuhalten, weil sie Gründe dafür haben... sie haben ein "für wen" sie das Leid ertragen wollen. Der<br />

eine will es für seine engsten Angehörigen oder Freunde... Und der andere will es für seinen Gott aus<br />

seinem Glauben heraus. Wieder einer will es, um vor sich selber gerade stehen zu können. Er ist es<br />

sich selber wert, sich von einem Schmerz seine grundsätzliche Haltung zum Leben, zu anderen<br />

Menschen und sich selber nicht nehmen zu lassen." (Längle in: DPA 1994, 504). So sagt es A.<br />

Längle-und ja, in den Begleitungen durfte ich es so auch schon in anrührender Weise erleben.


Begleitung im professionell phänomenologisch-verstehenden Ansatz der Logotherapie hat den<br />

Anspruch, ohne Zeitdruck offen und vorurteilsfrei hinzunehmen und zu verstehen, was sich beim<br />

anderen zeigt und noch zeigen will, um ihm ein Weitergehen in der eigenen selbsterkannten Wahrheit<br />

zu ermöglichen. In der Begleitung sterbender Menschen gilt es, die außerordentliche Lebenssituation,<br />

in der sich dieser Mensch befindet, zu erfassen: Er ist einerseits besonders feinsinnig empfänglich,<br />

aber gleichzeitig durch Schmerzen, Schlaflosigkeit, Medikamente, Angst oder andere<br />

Begleiterscheinungen auch an seiner Belastungsgrenze. Sterbebegleitung ist ohne spezielle<br />

Ausbildung (in der auch und besonders das eigene Sterben Thema wird), fortlaufend spezielles<br />

Fortbildungsangebot und regelmäßigen Erfahrungsaustausch (in dem die eigene Berührtheit und<br />

Verunsicherung aus-und besprochen werden darf) nicht denkbar. Anders als in der konventionellen<br />

Beratungssituation kommt der Begleiter zum Rat-und Hilfesuchenden: zu ihm nach Hause bzw. in die<br />

Institution (Krankenhaus, Pflegeheim, Hospiz), in der er sich eben gerade befindet. Und hier ist er in<br />

der Regel nicht nur mit dem Betroffenen allein, sondern auch mit dessen Angehörigen, Freunden und<br />

mit Ärzten und medizinischem Pflegepersonal mehr oder weniger unmittelbar konfrontiert. Häufig<br />

hat er keine Möglichkeit, sich in einem ruhigen Gespräch erst einmal die Lage erklären zu lassen,<br />

sondern muss spontan erfassen und unter Umständen gleich hineinspringen in eine aktuelle-und<br />

vielleicht auch ganz akute Situation.


Außerdem anders als in der konventionellen Beratungssituation, unterstützt der Begleiter den<br />

sterbenden Menschen zwar zentral, aber nicht nur gesprächsweise psychosozial und spirituellgeistig<br />

ratschaffend, sondern entsprechend den Umständen auch in ganz praktischer Hinsicht. Und<br />

schließlich anders als in konventioneller Beratungssituationssituation gibt es für die einzelne<br />

Sterbebegleitung naturgemäß auch keinen zeitlich planbaren Rahmen.<br />

Nichts zählt im Angesicht unseres nahen Todes mehr, als das innere Wissen um die im Zentrum des<br />

logotherapeutischen Arbeitens stehende Wahrheit, dass letztendlich das Leben uns befragt-und wir<br />

im Zweifelsfall und eigentlich nicht Ansprüche stellen können und fordern. "Erwartungen haben wir<br />

im Grunde alle immer wieder, aber es ist wichtig, Erwartungen auf die Herausforderungen<br />

veränderter Situationen abstimmen zu können... Dieses Ja zu dem, was ist, meint nicht dasselbe wie<br />

eine kritiklose Ergebenheit, es meint auch nicht den Verzicht auf das Eigene. Es meint-viel<br />

bescheidener-erst einmal die Annahme dessen, was ist... Wenn man nun gelten lässt, was ist, lautet<br />

die nächste Frage dann: Was mache ich mit dieser Situation? Wie will ich mit ihr umgehen?" (Kolbe<br />

in: Längle/Sulz 2005, 34f). Wer im alltäglichen Leben bereits sich mit jenem inneren Wissen um den<br />

Herausforderungscharakter des Lebens vertraut gemacht-und es kultiviert hat, der ist, wenn es darauf<br />

ankommt, schon darin geübt, auch und gerade die Situation aktiv zu gestalten, die er nie je wollte, und<br />

die ihn so ängstlich wie traurig und wohl auch wütend macht. Er hat schon eine Ahnung davon, dass<br />

es sich lohnt: Es kommt eine Art von Liebe auf, die friedlich stimmt. Und wer bislang 'davon<br />

gekommen' zu sein scheint, den erreicht es jetzt: Jetzt ist es unaufschiebbar an der Zeit, zu<br />

existieren-nämlich herauszutreten aus dem, was und wie er sein Leben erträumt, um demgegenüber<br />

aufrichtig und demütig Einsicht zu nehmen, wie es denn eigentlich und wirklich ist. Und um dann,<br />

über den wahrhaftigen Umgang mit den eigenen unerfüllbaren Wünschen, einen angenehmen Zustand<br />

von Freiheit und Leichtigkeit zu erlangen. Als Begleiter leben und erleben wir diesen existentiellen<br />

Prozess mit-und mithin ist uns die unschätzbare Möglichkeit geschenkt, unsere eigene Haltung zu<br />

verfeinern.<br />

Was aber mir das Begleiten sterbender Menschen in besonderer Weise wert macht, ist das Erleben,<br />

wie sie immer mehr in ihr eigentliches Wesen gelangen-und darin zunehmend echt und eigentlich<br />

werden. Denn das ist ja im Angesicht des Todes die außerordentliche Gelegenheit: Weil ‚nichts mehr<br />

zu verlieren ist’, dürfen alle Masken und Hüllen fallen. Die Kommunikation ist ganz offen und<br />

rein-eben menschlich. Damit das gelingt, muss ich mit. Und dass allerdings ich mit darf-dass sie ein<br />

Stück ihres Weges vertrauensvoll mich mit sich nehmen, wandelt mein Geben in ein Geschenk an<br />

mich von hohem Wert: Wir sind gemeinsam aufrichtig unterwegs in der Frage nach Leben und<br />

Sterben.


2. Wege zum Sinn<br />

Bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem<br />

Hintergrund der Wirklichkeit Viktor Frankl<br />

Wenn Krankheit, Sterben und Tod uns allen miteinander nicht so einen riesengroßen Schrecken<br />

einjagen würde, dass wir es immer wieder neu so schnell wie möglich vergessen, wenn wir alles, was<br />

damit zusammenhängt, mehr in unser alltägliches Leben Einzug halten lassen könnten, müsste es<br />

gerade den Ambulanten Hospizdienst, in dem ich mich engagieren, vielleicht gar nicht geben. Aber<br />

wir werden oft gerufen. Ich erlebe es selbst, dass die Menschen schnell abwinken und mich zu ernst<br />

finden, wenn ich bei Gelegenheit davon sprechen mag. Anders schon die Menschen mit chronischen<br />

Erkrankungen und schweren Behinderungen-sie denken öfter an den Tod und suchen das Gespräch<br />

darüber, so sie es denn wagen, einen anderen mit diesem ‚dunklen’ Thema zu ‚belästigen’. Aber falls<br />

wir nicht das zweifelhafte Glück haben, eines tatsächlich plötzlich und unerwarteten Todes durch<br />

Unfall oder akutes Organversagen zu sterben, was ja gar nicht so häufig vorkommt-und jedenfalls in<br />

keinem Fall so oft, wie es heimlich gewünscht wird, dann steht uns doch allen nicht nur ein kurzer<br />

Moment, nein sondern eine ganze Lebensphase bevor, in der wir dem unwiderruflich nahen Tod<br />

bewusst gegenüberstehen. Wie wird das sein? Was werden wir dann tun? Können wir dann noch<br />

etwas tun, oder ist dann ‚alles aus und vorbei’ und ohne Sinn? Der Dalai Lama sagt: „Als Buddhist<br />

sehe ich im Tod einen normalen Prozess. Ich akzeptiere ihn als Realität, der ich so lange ausgesetzt<br />

bin, wie meine irdische Existenz dauert. Da ich weiß, dass ich mich dem Tod nicht entziehen kann,<br />

sehe ich keinen Sinn darin, mich vor ihm zu fürchten. Ich betrachte den Tod eher wie einen<br />

Kleiderwechsel und nicht als endgültigen Schlusspunkt. Doch der Tod ist nicht vorherzusehen: Wir<br />

wissen weder, wann noch wie er uns ereilen wird. Daher ist es klug, sich auf ihn vorzubereiten, bevor<br />

es soweit ist.“ (Dalai Lama. In: Glogowski/Haag 2004)<br />

2.1 ... wenn ‚plötzlich und unerwartet’ die Lebenseinstellung nicht mehr trägt<br />

Da Vergänglichkeit für uns gleichbedeutend ist mit Schmerz, klammern wir uns verzweifelt an<br />

Dinge, obwohl sie sich ständig ändern. Wir haben Angst loszulassen, wir haben Angst, wirklich<br />

zu leben, weil leben lernen, loslassen lernen bedeutet.


Es liegt eine tragische Komik In unserem krampfhaften Festhalten: Es ist nicht nur vergeblich,<br />

sondern es beschert uns genau den Schmerz, den wir um jeden Preis vermeiden wollten.<br />

Sogyal Rinpoche<br />

„Da Tod wirklich eine Realität ist,“, sagt Verena Kast, „geht es in unserem Leben immer auch um<br />

Trennung, um Abschiednehmen... Wenn wir das nicht tun, dann bleiben wir an der Vergangenheit<br />

hängen, was bedeutet, dass wir uns vor der Zukunft verschließen, dass wir nicht mehr wirklich<br />

weiterleben. Deshalb müssen wir lernen, ins Leben hineinzusterben und mit dieser Art von Sterben<br />

umzugehen.“ (Kast 2006, 84). In ihrem Werk ‚Trauern’ stellt sie ausführlich und eindringlich dar, wie<br />

wichtig es ist, in Verlustsituationen bewusst Abschied zu nehmen und sich dem „fortschreitenden<br />

Trauerprozess-vom Nicht-wahrhabens-wollen bis in die Phase des neuen Selbst-und Weltbezugs<br />

hinein-mutig und geduldig zu stellen. Denn sonst „bleibt der Trauerprozess ´stecken´, die Möglichkeit<br />

zu depressiven Reaktionen ist gegeben. Diese sind umso pathologischer, je stärker die<br />

Verlusterlebnisse und die damit verbundenen Aggressionen schon immer verdrängt wurden, je mehr<br />

unbearbeitete Konflikte vorliegen, je weniger ein Ich in der Lage ist, Konflikte auszutragen.“ (Kast<br />

1987, 38) Also, sozusagen ‚lösungsorientiertes’ Abschiednehmen-sich bewusst verabschieden, um da<br />

heraus anders und neu weiter zu leben-rechtes Trauern als Prozess, in welchem aller Verlust<br />

allmählich Schritt für Schritt zu realisieren und zu akzeptieren ist, damit man sich im Verlusterleben<br />

„nicht versitzt“ (Kast 1987, 37), sondern sich neu zu orientieren-und neu zu beginnen vermag. So ist<br />

es vielerorts in der Fachliteratur beschrieben für den Fall, dass wir Geliebtes und Gewohntes aus<br />

unserem Lebensumfeld verlieren. Und es mag uns ja auch gelingen, dies nachzuvollziehen und selbst<br />

zu versuchen, wenn wir vielleicht auch an uns bekannte Menschen denken, die eben solchen<br />

Neuanfang geschafft haben. Was aber es bedeuten mag, wenn jemand „unerwartet plötzlich“ sich<br />

selbst in eigener Person und ganz konkret mit allem Hab und Gut und vollständig mit seinem Leben<br />

gefährdet sieht und über ein neues anderes besseres Sein abgesehen von diesem einen nicht wirklich<br />

etwas weiß-das klingt hier noch nicht wirklich an. Diese Situation ist in ihrer Endgültigkeit einzigartig<br />

und einmalig im Leben-und eben deshalb von noch anderer Qualität. Sie fühlt sich wohl noch anders<br />

an: Von einem Moment zum anderen wirklich aller bisher geltenden Sinn-und Wertmöglichkeit<br />

unwiderruflich beraubt, ist dem Betroffenen der Boden unter den Füßen entrissen-nichts gilt ihm<br />

mehr; er ist erschreckt, entsetzt und blockiert. Er gerät in einen Schockzustand. Auf die Botschaft,<br />

irreversibel bösartig erkrankt zu sein, reagiert er zunächst mit: “Ich doch nicht! Das ist doch gar nicht<br />

möglich! Es muss eine Verwechslung sein! Es kann nicht sein!“ Und dies-so die Sterbebegleiterin<br />

und Sterbeforscherin Elisabeth KüblerRoss-„besonders dann, wenn er unvermittelt und zu früh durch<br />

jemanden informiert wird, der ihn und seine Aufnahmebereitschaft nicht wirklich kennt, oder ‚es<br />

schnell hinter sich haben’ will.“ (Kübler-Ross 1973, 16) Es bedarf also eines sehr hohen Maßes an<br />

Feinfühligkeit und Geduld seitens des Begleiters, in diesem höchst fragilen Moment der<br />

Anfangsphase des Sterbemüssens mit dem Betroffenen überhaupt in wertfühlende und wertorientierte<br />

Kommunikation zu treten. Er als Begleiter mag ja für sich selbst mit Hermann Hesse aufrichtig darauf<br />

hoffen, dass „vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung“ entgegensendet (Hesse<br />

1990, 187), aber es steht ihm nicht zu-und es wäre ganz sinnlos, dergleichen in dieser<br />

außerordentlichen Situation in die Waagschale zu werfen. Die Tatsache allerdings, selbst nicht<br />

unmittelbar betroffen zu sein-sie ist, so meine ich, seine Möglichkeit, sich immerhin in seinem<br />

Wissen zu halten-und nicht mit dem anderen zu leiden, sondern zu ihm und seiner Situation hin zu<br />

spüren und ihn zu verstehen: Dieser Mensch, der mir gegenüber ist, muss-ja und sei es, dass es ihm<br />

gerade eben erstmalig bewusst wird-jetzt muss er jedenfalls unwiderruflich „der Frage nach dem Sinn<br />

des Lebens eine kopernikanische Wendung geben: Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen<br />

stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten<br />

– das Leben zu verantworten hat.“ (Frankl 2001, 141). Und es kommt ja nicht wirklich „unerwartet“,


dass wir Abschied nehmen müssen. Wir mögen wohl ängstlich und auch ein bisschen bequem sein, es<br />

uns bewusst zu machen, aber wir haben seit jeher ein inneres Wissen darum, dass alle Lebewesen und<br />

auch wir selbst sterblich sind-und wir praktizieren es längst unbewusst und ganz natürlich von selbst:<br />

Wir leben seit jeher und längst abschiedlich im stetigen Wechsel der Zeiten, inmitten von<br />

Geborenwerden und Sterben unseres Mitmenschen und inmitten allen Gelingens und Scheiterns<br />

unseres Lebenswerkes und unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wenn wir es wagen, uns<br />

bewusst darauf einzulassen und zu schauen und uns zu erinnern, haben wir längst eine inneres<br />

Wissen-ja leiblich gespürte Erfahrung davon, wie kostbar das Leben im Angesicht seiner Endlichkeit<br />

sich anzufühlen vermag: Die letzte Blüte, die der Rosenstrauch vor dem langen, grauen Winter<br />

schenkt-das letzte Winken des Freundes, der auf große Reise geht-der letzte Schluck guten Weines im<br />

Glas... -wir erleben es in einzigartiger Qualität. Das Wissen um die Endlichkeit der Dinge, der<br />

Situationen-und auch und gerade unseres eigenen Lebens sensibilisiert unser Spüren und macht es<br />

tief und weit für die Kostbarkeit des gegenwärtigen Moments. „Die Werte verändern sich“, sagt die<br />

Psychologin und Sterbebegleiterin Daniela Tausch-Flammer, „die kurzen Augenblicke des Seins, des<br />

Glücks bekommen mehr Bedeutung...“ (Tausch-Flammer/Bickel 2000, 46). Und wenn wir es wagen,<br />

uns bewusst darauf einzulassen und zu schauen und uns zu erinnern, haben wir auch längst ein inneres<br />

Wissen-ja leibliche Erfahrung davon, dass wir uns selbst manchmal ganz unvermittelt in Hingabe an<br />

solch kostbare letzte Momente-und aber auch einfach in Hingabe an irgendeine beliebig<br />

selbstgewählte Tätigkeit des Alltags vollständig vergessen können; und dies, um erst im Nachherein<br />

zu bemerken, wie friedlich und glücklich wir eben gerade gewesen sind. Bei diesem unwillkürlichen<br />

Loslassen und Sich-selbstvergessen handelt es sich um jenen von Viktor Frankl beschriebenen<br />

„existentiellen Sprung“ in den Bereich ungeahnter Friedlichkeit und ungeahnten Glücklichseins. Wir<br />

können ihn nicht willentlich tun, sondern er ergibt sich in aufrichtiger Hingabe an den derzeitigen<br />

Moment und die augenblicklich für wert-und sinnvoll erachtete Tätigkeit; und zwar unabhängig<br />

davon, wie schlimm die Umstände gerade sind. Dieses Phänomen mag einen Energieschub<br />

bedeuten, der uns neu mit Kraft und Hoffnung erfüllt; aber vielleicht wird durch ihn sogar auch eine<br />

Art von Stau in uns gelöst-und etwas vom ursprünglichen Wissen über das Leben freigesetzt, so dass<br />

wir innerlich bereichert und gewisser weitergehen.


2.1.1 Das wertorientierte Gespräch Wenn wir als Sterbebegleiter heraushören und spüren,<br />

dass der Sterbende beginnt, in dieser Frage von „Abschied und Neubeginn“ um Sinn zu ringen, sehen<br />

wir uns herausgefordert, ihm die uns Menschen vorbehaltene Möglichkeit ans Herz zu legen, einer<br />

jeweiligen Situation-wie schlimm sie auch sei-mit den von Viktor Frankl so häufig gebrauchten<br />

Worten „trotzdem und gerade deshalb“ einen persönlich konkreten Sinn abzuringen. Vor dem<br />

Hintergrund unserer eigenen Einstellung, dass es für uns Menschen immer wieder neu notwendig-und<br />

aber auch grenzenlos möglich ist, „ins Leben hinein zu sterben“ (Kast 2006,84), werden wir im<br />

wertorientierten Gespräch versuchen, sein existentielles Grundbedürfnis nach Sinn freizulegen, „um<br />

ihn dann sich selbst entscheiden zu lassen wofür: für die Erfüllung welchen konkreten Sinnes und für<br />

die Verwirklichung welcher persönlichen Werte?“ (Frankl 1989, 153). Wir werden ihn ermutigen,<br />

genau zu schauen und wahrzunehmen: „Wir sterben ja nicht nur einmal im Leben, erleiden nicht nur<br />

den körperlichen Tod. Wir sterben viele Male. Jeder Verlust im Leben ist ein Sterben, jede Krise,<br />

jedes Loslassen, jedes Abschiednehmen von Menschen, Plänen, Wünschen, Ideen.“ ( Flammer E: Wir<br />

sterben ja nicht nur einmal In: Tausch-Flammer/ Bickel. 1999, 80). Wir werden ihn fragen, ob er sich,<br />

wie wir selbst, solcher Abschiedsmomente zu erinnern weiß, in denen ihm das Leben mit einem Mal<br />

sehr kostbar und intensiv wurde-und auch, ob er sie kennt, diese Momente im Leben, in denen man<br />

alles um sich herum vergisst und darin ganz friedvoll ist. Und eigentlich fragen wir ihn so ganz<br />

existentiell und sokratisch herausfordernd: Willst du trotzdem Ja zum Leben sagen? Willst du auch in<br />

dieser Situation Dein Leben bestehen? Willst du es? Wie willst du es machen? Was ist dir jetzt gerade<br />

und trotz alledem wert und wichtig, zu tun? Weißt du von anderen, die in ähnlicher Situation waren,<br />

wie Du-und ‚es geschafft’ haben? ... Und wir werden, so wie er mag und kann, mit ihm gemeinsam<br />

erkunden, was ihm selbst hier und jetzt, in der Situation-und eben gerade, weil nicht mehr ‚alle Zeit<br />

der Welt’ bleibtwertvoll und wichtig ist, praktisch und konkret vorzusorgen, zu erledigen, zu Ende zu<br />

bringen, zu klären oder zu erleben. Wir werden ihn danach fragen, was es ist, das ihm eben noch und<br />

gerade ‚am Herzen liegt’; und wir werden ihm helfen, es zu verwirklichen. Wir werden also<br />

versuchen, ihn mit-und hineinzunehmen in den Versuch, sich gehabter Sinnerfahrungen zu erinnern<br />

und dann seinen Blick zu öffnen für das, was ihm eben gerade erst jetzt, angesichts der<br />

offensichtlichen Begrenztheit seines Lebens, wahrhaft wertvoll erscheinen kann. Und natürlich haben<br />

wir damit zu rechnen, dass er uns seine Angst, Wut, Verzweiflung und alles Sinnlosigkeitsgefühl<br />

entgegenwirft, denn er will ja, wie wir selbst, nur leben. Diese existentiellen Gefühle, wenn sie sich<br />

einstellen, bedürfen also unseres aufrichtigen Verstehens-und dass wir ihnen Raum geben (vgl. Kap.<br />

2.3).


In den Begegnungen mit Sterbenden, die gar nicht (mehr) sprechen mögen oder können, sind wir in<br />

noch stärkerem Maße auf uns selbst angewiesen, aufmerksam zu erfassen, was sie wohl brauchen<br />

und gerne (noch einmal) tun oder erleben würden. Es ist Kommunikation ohne Worte-mimisch,<br />

gestisch und über die Augen, in der das phänomenologische Prinzip vorurteilsfreier Zuwendung, um<br />

zu verstehen und gelten zu lassen, was der andere meint, so gut auf dem Prüfstein steht, wie das von<br />

den Buddhisten als ‚Methode’ gelehrte Mitgefühl: „Ich höre, obwohl ich schweigen muss und nun<br />

auch schweigen will. Halte meine Hand! Ich will es mit der Hand sagen, wisch mir den Schweiß von<br />

der Stirn! Streich die Decke glatt. Bleib bei mir. Wir sind miteinander verbunden. Das ist das<br />

Sakrament des Sterbebeistandes. Wenn nur noch die Zeichen sprechen können..., so lass sie<br />

sprechen...“ ( Hampe J Ch: Ratschläge eines Sterbenden. In: Andreas Ebert/Peter Godzig 1993, 102)<br />

Es gibt ja außerdem neben dem wertorientierten Gespräch auch noch andere Möglichkeiten, dem<br />

Sterbenden eine persönliche Bezogenheit auf Sinn und Wert wieder erfahrbar zu machen. Ich<br />

persönlich verwende gerne leichte Entspannungs-und Kontemplationstechniken, literarische<br />

Gleichnisse und Lyrik oder ruhige Musik. Aber jede Art sinnlich/körperlicherästhetischer-schöngeistiger<br />

oder natürlich spiritueller Anregung mag geeignet sein, je nachdem, wie<br />

es für die einzelne Persönlichkeit in ihrer speziellen Situation eben stimmt, geht, passt, gewollt und<br />

möglich ist (s. hierzu besonders Kap. 3.4). Denn es geht ja darum, den Menschen in seiner<br />

unbewussten Tiefe zu erreichen, von wo aus er intuitiv


„Seinsollendes“ und „Mögliches“ (Viktor Frankl 1998, 77) erfasst-ihn hier neu zu berühren und<br />

wieder neu berührbar zu machen. Viktor Frankl würde an dieser Stelle von Gewissen sprechen:<br />

„Denn das Gewissen ist ja, wenn Sie so wollen, das in die menschliche Seele ‚eingebaute’<br />

Sinn-Organ, das die Funktion hat, der jeder Situation innewohnenden, in ihr ‚schlummernden’<br />

Sinnmöglichkeit gewahr zu werden.“ (Frankl 1998, 286)<br />

2.1.2 Beieinandersein im Schweigen Die Möglichkeit, in vorsätzlicher geistiger Haltung und<br />

Einstellung gemeinsam miteinander zu schweigen, wenn und weil „das eine, was Not tut“ rational<br />

nicht mehr zu erkennen, sondern nurmehr intuitiv erfahrbar wird-das ist es, was Sterbebegleitung im<br />

besonderen ausmacht und kennzeichnet. Denn genau besehen liegt sie in ihrer Außerordentlichkeit<br />

und Existentialität von Anbeginn außerhalb der Grenze legitimer beraterischer Intervention.<br />

„Die Möglichkeit des geistig Seienden, ‚bei’ anderem Seienden zu ‚sein’, ist ein ursprüngliches<br />

Vermögen, ist das Wesen geistigen Seins, geistiger Wirklichkeit... Dieses Bei-Sein von geistig<br />

Seiendem bei anderem geistig Seienden, dieses Bei-Sein zwischen je einem geistig Seienden, nennen<br />

wir nun Beieinander-Sein... Du sagen können zu jemandem-und darüber hinaus auch ja sagen<br />

können zu ihm; mit anderen Worten: einen Menschen in seinem Wesen, seinem Sosein, in seiner<br />

Einmaligkeit und Einzigartigkeit erfassen, aber eben nicht nur in seinem Wesen und Sosein, sondern<br />

auch in seinem Wert, in seinem Seinsollen, und das heißt ja, ihn bejahen...“ (Frankl 1998, 74ff) „Wie<br />

können wir nun mit einem Menschen kommunizieren, der verwirrt ist oder nicht reagiert? ... in der<br />

Stille zuhören und versuchen, intuitiv zu erfassen was der andere erlebt und braucht. Coleman Barks<br />

hat ein Gedicht des Sufi-Mystikers Rumi übersetzt, in dem ein Richter drei Söhnen eine Frage stellt,<br />

um zu entscheiden, welcher von ihnen das Vermögen des Vaters erben soll: ‚Wenn du jemanden nicht<br />

dazu bringen kannst, etwas zu sagen, wie kannst du seine verborgene Natur erkennen? Und der dritte<br />

Sohn antwortet: ‚Schweigend will ich vor ihm sitzen und eine Leiter aus Geduld errichten, und wenn<br />

in seiner Gegenwart eine Sprache jenseits von Freude und jenseits von Gram aus meiner Brust zu<br />

strömen beginnt, dann weiß ich, dass seine Seele so tief und strahlend ist wie der Stern Canopus, der<br />

über dem Jemen aufgeht. Und wenn dann ein kraftvoller Erguss von Worten aus mir zu strömen<br />

beginnt, dann erkenne ich ihn an dem, was ich sage und wie ich es sage, denn es hat sich ein Fenster<br />

zwischen uns geöffnet, das die Nachtluft unserer Wesen vermischt." ( Longaker 2001, 224f)<br />

“Schweigen ist nicht nur ein passives Nichtreden, eine innere Haltung der Sammlung und darin ein<br />

Kampf gegen Fehlhaltungen, sondern auch ein positives Tun, ein Akt des Loslassens. Schweigen als<br />

aktives Tun besteht nicht darin, dass wir nicht mehr reden und denken, sondern dass wir unsere<br />

Gedanken und unser Reden immer wieder loslassen... Wenn es aber gelingt, mich wirklich<br />

loszulassen und nicht länger an dem erbaulichen Bild festzuhalten, das sich die anderen von mir<br />

machen sollten, dann mache ich mir keine Gedanken mehr..., um mich ganz Gott zu überlassen. Um<br />

dieses Loslassen geht es letztlich im Schweigen... Ziel des Schweigens ist es, uns für Gott offener zu<br />

machen, so dass in unsere Lebensvollzüge, in unser Denken und Tun Gottes Geist einströmen könnte.<br />

Nicht wir mit unserer egoistischen Enge bestimmen unser Leben, sondern Gottes Geist selbst, dem<br />

wir uns schweigend überlassen und anvertrauen.“ ( Grün A: Schweigen. In: Andreas Ebert und Peter<br />

Godzik 1993, 119) Worum es hier geht, ist jener Moment, in welchem der Mensch unabdingbar<br />

herausgefordert ist, seine Fähigkeit, sich selbst zu transzendieren, in reinster Form zu<br />

vollziehen-nämlich herauszutreten aus der unbeschreibbaren Not, das Ende des eigenen Lebens<br />

unwiderruflich einsehen zu müssen. Dieser Moment vollzieht sich im Geistigen-er ist im höchsten<br />

Maße intim/persönlich und er entzieht sich eigentlich und letztendlich aller Worte. Aber da ist eben<br />

jene besondere Möglichkeit des Beieinanderseins im Schweigen, in der wir ihm nicht zu nahe zu<br />

treten brauchen.


Ich meine, Frau K. gab von diesem Moment ein Zeichen, als sie an einem der letzten Tage<br />

ihres Lebens mit großer Entschiedenheit veranlasste, die Bilder ihrer lebenden Verwandten<br />

von ihrem Nachttisch zu entfernen-und nur die der bereits verstorbenen sollten ihr zum<br />

Ansehen-uns als Signal-weiter bleiben. Jedenfalls sprach sie von da an auch nicht mehr.<br />

2.2 ...wenn „nichts mehr zu tun und zu ändern“ ist<br />

Im Moment des Todes Kommt es auf zwei Dinge an: Wie wir unser Leben gelebt haben und<br />

wie der Zustand unseres Geistes in diesem Moment ist. Sogyal Rinpoche<br />

Es ist ein geeignetes konkretes anschauliches Bild, das Ursula Tirier in ihrem Buch „Wenn alles<br />

sinnlos erscheint“ (Tirier 2003, 55) vorschlägt, um die geistige Fähigkeit zur Einstellungsänderung zu<br />

erklären. Wenn eine undurchdringliche Mauer vor uns ist, können wir immer wieder und weiter<br />

sinnlos dagegen anlaufen und uns verletzen, oder aber auch uns umdrehen mit dem Rücken dazu-und<br />

was wir dann sehen und betrachten können, ist unser Lebenswerk in seiner ganzen Fülle. Und wenn<br />

eine undurchdringliche Mauer vor uns ist, können wir immer wieder und weiter sinnlos dagegen<br />

anlaufen und uns verletzen, oder aber auch uns eine Leiter daran stellen, um einen Blick auf das zu<br />

wagen, was dahinter liegt-und was wir dann sehen und betrachten können, ist Gott/die Welt/das<br />

Du/der andere Mensch, der weiterlebt über uns hinaus.<br />

2.2.1 Das eigene Lebenswerk betrachten Stellen wir uns also mit dem Sterbenden<br />

gemeinsam mit dem Rücken zur undurchdringlichen Wand-und betrachten sein Lebenswerk.<br />

Befragen wir ihn nach seinem-und über sein gelebtes Leben. Vielleicht mag er uns Bilder zeigen.<br />

Viele Fragen tauchen auf: Wie war mein Leben? Was war mir wichtig? Welche Menschen waren mir<br />

wichtig? Was war das Schönste? In diesem Schauen gewinnen wir selbst Kontur und erkennen uns in<br />

dem, wie wir sind und geworden sind. In dieser Betrachtung können wir unser Leben annehmen-und<br />

leichter sagen: Ja, das war ich.


Als Sterbebegleiter, die wir selbst über das Sterben nachdenken und damit beschäftigt sind, wissen<br />

wir dass: „guter Abschied nicht möglich ist, ohne alles Übersehene, Vermiedene, und Versäumte<br />

noch einmal zu sichten und aufzuräumen.“ (Canacakis1990, 59). So gehört an diese Stelle unbedingt<br />

die Frage nach ‚Unerledigtem’, das noch zu Ende gebracht werden will; und da tut sich vieles auf, bei<br />

dem wir helfen-oder Hilfe vermitteln können. Es ist im Rahmen aller persönlichen und situativen<br />

Grenzen und Möglichkeiten durchaus noch etwas zu tun, wenn ‚nichts mehr zu tun und zu ändern ist’.<br />

Wie auch Frankl sagt: „ „Wie oft hält man uns nicht vor, dass der Tod den Sinn des ganzen Lebens in<br />

Frage stelle. Dass alles letzten Endes sinnlos sei, weil der Tod es schließlich vernichten müsse. Kann<br />

nun der Tod der Sinnhaftigkeit des Lebens wirklich Abbruch tun? Im Gegenteil. Denn was geschähe,<br />

wenn unser Leben nicht endlich in der Zeit, sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich,<br />

dann könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme nie darauf an, sie<br />

eben jetzt zu tun, sie könnte ebenso gut auch erst morgen oder übermorgen oder in einem Jahr oder in<br />

zehn Jahren getan werden. So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze unserer Zukunft<br />

und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunutzen,<br />

und die einmaligen Gelegenheiten... nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen.“ (Frankl 1982, 83)<br />

2.2.2 Den Blick darüber hinaus wagen Es gibt das alte Wort ‚das Zeitliche segnen’. Jörg<br />

Zink hat darüber nachgedacht: „Das ist ein wunderbares Wort. Wir reden davon, der Regen ‚segne’<br />

die Erde, oder von einer Frau, sie sei ‚gesegneten Leibes’. Segen ist eine Kraft, die Erde fruchtbar<br />

macht oder einen Menschen... Im übertragenen Sinn ist segnen ein Bejahen und Fördern des Lebens.<br />

Und so ‚segnet’ der Sterbende sein vergangenes Leben, die Welt und alle Menschen, die ihm nahe<br />

stehen. Er gibt seine Lebenskraft, seine Liebe weiter an die Lebenden, die er liebt... Segen hinterlässt<br />

derjenige, der zu Lebzeiten regelt, was an Zeitlichem noch zu regeln ist. Segen hinterlässt derjenige,<br />

der allen, die ihm nahe stehen, zuletzt bestätigt, dass er sie bejaht, ihnen ihr Weiterleben gönnt. Das<br />

Zeitliche segnen heißt: das eigene Leben in Frieden abschließen, heißt aber noch mehr: das<br />

weitergehende Leben der anderen bejahen und gutheißen...“ ( Zink 1985, 12f) Vertreter der<br />

buddhistischen Weltanschauung meinen dasselbe, wenn sie die Haltung des Mitgefühls (mit in<br />

spezieller Praxis für das eigene Sterben) als die einzigartige Methode lehren, sich über die jeweilige<br />

Situation hinaus-wie schlimm sie auch sei-in Frieden und Liebe zu bewahren: „For a person who does<br />

not have a specific religion like Buddhism, we can advice them to think, „may everybody be happy,<br />

may all living being please somehow be freed from their misery.“ (Kirti Tsenshab Rinpoche 1990, in:<br />

Mandala Sept/Okt 1997, 34) Und dass Viktor Frankl wohl darum gewusst hat, verrät sein<br />

unermüdlicher Appell ‚...trotzdem Ja zum Leben sagen’-und wie er im gleichnamigen Werk seinen<br />

Überlebens„Trick“ beschreibt, sich in geistigem Bemühen über seine an sich hoffnungslose und<br />

qualvolle Situation als KZ-Häftling zu erheben auf die ersehnte Zukunft hin: „... und ich spreche;<br />

spreche und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers...“ (Frankl 1982, 121).<br />

Dass der „Trick“ ihm gelang, lag darin begründet, dass er vom Geistigen her ein ‚weg vom Ich – hin<br />

zum Du/zur Welt’ vollzog. Dieser „Trick“ mag immer gelingen in der am Ende mitfühlenden Absicht,<br />

anderen Menschen das eigene Leiden-und dass und wie man es bewältigt bzw. bewältigt hat,<br />

mitzuteilen, damit es denen zugute kommt. So erhält das eigene Leiden einen Sinn.


2.3 ...wenn die Situation „unwiderruflich“ ist<br />

Ein sterbender Mensch muss zuallererst Liebe spüren; diese Liebe muss frei sein von jeglicher<br />

Erwartung, so bedingungslos wie irgend möglich. Dazu braucht es keinerlei Expertenwissen.<br />

Seien sie einfach natürlich, seien Sie Sie selbst, ein wahrer Freund, eine wahre Freundin, und<br />

der Sterbende wird zweifellos spüren, dass sie wirklich bei ihm sind...<br />

Sogyal Rinpoche<br />

In jeder Situation, in der unmissverständlich und unwiderruflich nichts mehr zu tun und zu ändern ist,<br />

als das persönliche Wünschen und Wollen der Herausforderung des Lebens selbst preiszugeben,<br />

entstehen über anfänglichen Schock hinaus Gefühle der Angst, Verzweiflung und Wut-und diese<br />

starken existentiellen Gefühle mögen auch vorübergehend das existentielle Grundbedürfnis nach Sinn<br />

zuschütten. Es ist eine normale und gewissermaßen gesunde Reaktion. Wir müssen uns allerdings<br />

daran machen und dürfen nicht aufgeben und uns auch nicht darin verlieren, wieder freizuschaufeln,<br />

was uns unzerstörbar innewohnt und am Leben hält: dieser unerschöpfliche Wille, jeden-und sei es<br />

eben jenen letzten Moment unseres Lebens einen sinnvollen sein und werden zu lassen. Eines der<br />

bedeutendsten Phasemodelle zur Veranschaulichung der inneren Verarbeitung lebensbedrohlicher<br />

Erkrankungen und schwerer Behinderungen ist das Spiralenmodell der Sozialwissenschaftlerin,<br />

Theologin und Religionspädagogin Erika Schuchardt (Schuchardt 2006). Ihrer Erfahrung und<br />

wissenschaftlichen Forschungserkenntnis entsprechend verläuft der Weg der Krisenverarbeitung „als<br />

Lernprozess“ spiralförmig aufsteigend in acht Phasenbeginnend im „Ungewissen“, über<br />

„Gewissheit“, „Aggression“, „Verhandlung“ „Depression“-und aber dann kulminierend nicht, wie<br />

herkömmlich dargestellt, in der „Annahme“ des Unbegreiflichen, sondern erst in auf qualitativ<br />

höherem Niveau wiedererlangter „Aktivität“ und „Solidarität“. Was hier für die beiden letzten<br />

Stufen des Lernprozesses Krisenverarbeitung beschrieben wird, ist, dass durch „die bewusste<br />

Erfahrung der Grenze“-also durch die schrittweise Annahme der realen Lebenssituation neue Kräfte<br />

frei werden, und so sich neue Wege im Umgang mit der eigenen Lebenssituation eröffnen können.<br />

Und: „Werden vom Leiden Betroffene in den beschriebenen Phasen angemessen begleitet, erwächst<br />

in ihnen irgendwann der Wunsch, selbst in der Gesellschaft verantwortlich zu handeln.“ (Schuchardt<br />

2006, 44f). Den Weg aus der Krise als Lernprozess bis möglicherweise in eine solidarische Haltung<br />

hinein aufzufassen-das entspricht dem Franklschen Appell, der Mensch könne und möge sich, wenn<br />

er dazu herausgefordert würde, seiner uneingeschränkten Fähigkeit zu Selbstdistanz und<br />

Selbsttranszendenz bedienen. Was also der Mensch, der im Sterben liegt, von uns Begleitern braucht,<br />

ist, dass wir ihm im Bewusstsein seiner konkreten körperlichen-und aber vor allen Dingen auch<br />

seelischen Not und Gefühlsverwirrung helfen, sich trotz allem und gerade jetzt durch alle schlimmen<br />

Gefühle hindurch immer wieder und weiter und qualitativ neu in einem existentiellen Grundgefühl<br />

des Gehalten-, Geborgen-und Gewürdigtseins zu bewahren. Es liegt auf der Hand, dass wir dem<br />

Sterbenden in seiner Angewiesenheit spontan und akut praktisch helfen-besonders was die<br />

körperliche Versorgung anbetrifft, aber auch etwa durch die Vermittlung von geeigneten Fachärzten,<br />

Pflegepersonal und Pflegeeinrichtungen-durch die Erledigung dringender unaufschiebbarer<br />

Haushaltsdinge-durch die Beantragung von Pflegeeinstufung-und Geld oder durch die gemeinsame<br />

Erstellung testamentarischer Vorsorge (Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht). Aber ihn zu<br />

erinnern-bzw. das Wiederauflebenlassen seiner eigenen Unerschöpflichkeit auch und gerade in dieser<br />

äußersten und letzten Krise seines Lebens ist das Eigentliche der Sterbebegleitung. Allerdings ist es<br />

schwere Arbeit mitten durch all die schlimmen Gefühle hindurch, zu der die Psychotherapeutin Doris<br />

Wolf betroffene Menschen in ihrem als praktisch anwendbare Lebenshilfe geeignetem Buch<br />

ermuntert: „...es hängt an Ihnen. Sie haben nicht die Fähigkeit, den Tod ungeschehen zu machen. Sie<br />

haben nicht die Wahl, keine Trauer zu haben. Aber Sie haben die Fähigkeit in sich, Abschied zu<br />

nehmen und Neues zu beginnen. Sie haben die Fähigkeit, die Situation so anzunehmen, wie sie ist.


Sie haben die Fähigkeit, klagende, hadernde, sehnsüchtige, angstmachende Gedanken loszulassen und<br />

ihren Blick langsam auf die Zukunft zu lenken...“ (Wolf 2005, 75)


2.3.1 Halt und Schutz gegen die Angst Das am stärksten hervortretende Gefühl im<br />

Angesicht des nahen Todes ist Angst. Und natürlich haben wir im Angesicht des Todes Angst. Das<br />

existentielle Grundbedürfnis nach Halt, Schutz und Raum erfährt ja schwerste Erschütterung. Wie<br />

denn sollten wir es passiv angehen lassen, dass das, was sich uns bis zum gegenwärtigen Moment als<br />

haltgebend und sicher bewährte, nun mit einem Mal als brüchig und nichtig erweist-und dass wir alles<br />

verlieren, was uns wert und wichtig ist-und dass wir mit dem uns Eigenen keine Stimme mehr<br />

haben...? Vielmehr geraten wir innerlich wie äußerlich in Bewegung. "Der Sinn der Angst ist die<br />

'Aktivierung', die Alarmierung als Lebensschutz vor einer Gefahr, die zur Mobilisierung der Kräfte<br />

führt. Angst warnt immer dort, wo Haltgebendes nachzulassen droht und damit der 'Seinskontakt'<br />

schwinden könnte, dieses Eingebettetsein im Sein, in das, was der Fall ist, das den Boden bildet für<br />

die Dynamik des Lebendigen..." (Längle in Längle/Sulz 2005, 98) Wenn unsere Angst stark wird,<br />

haben wir die Möglichkeit, uns zu entschließen und zu entscheiden, ‚mehr’ zu sein als unsere Angst.<br />

Wir haben die Möglichkeit, sie uns vorzunehmen und anzusehen und in ihrer Konkretheit kennen-und<br />

verstehen zu lernen, anstatt uns ihr hilflos auszuliefern: In welchen Situationen habe ich Angst?<br />

Wovor? Und was passiert? In unserem Inneren verbirgt sich ja durchaus ein verständlicher Grund für<br />

unsere Angst: wir sehen, wie sie dem gut dient, was wir ‚unbedingt’ vermeiden wollen-aber wenn wir<br />

weiter schauen, erkennen wir sie auch als ein gewissermaßen falsch programmiertes Signal unseres<br />

Körpers, mit dem wir uns gleichermaßen selbst behindern in dem, was wir eigentlich wünschen bzw.<br />

was eigentlich notwendig und wahr zu tun wäre. Also liegt doch eine Chance in dem Versuch einer<br />

veränderten Sicht-bzw. Verhaltensweise für die Situation, in der die Angst ‚immer’ kommt: Auf<br />

welche meiner wohlüberlegten Wünsche und Absichten und auf welche entsprechend wohlüberlegt<br />

abgewogenen Möglichkeiten, sie in die Tat umzusetzen, könnte ich mich ‚das nächste Mal’ in besagter<br />

kritischer Situation vorsätzlich alternativ konzentrieren? Und sei es, dass ich beabsichtige‚<br />

wenigstens’ ruhig zu bleiben in besagter Situation-wie fange ich es an; welche einfachen<br />

Möglichkeiten der Spontanentspannung gibt es, dass ich mich, wenn es darauf ankommt, darauf<br />

konzentrieren kann? Solange es sich nicht um reale Angst im Angesicht von tatsächlicher<br />

Lebensgefahr handelt, können wir derart versuchen, gut vorbereitet dennoch in die Situation<br />

hineinzugehen, um uns nicht selbst zu hindern an dem, was wir eigentlich wollen und wünschen für<br />

unser persönlich sinnerfülltes Leben. Es ist ja nicht nur die Angst vor dem Sterben selbst, die den<br />

Alltag eines lebensbedrohlich erkrankten Menschen belastet: Da ist Angst, ‚es’ den anderen zu sagen<br />

und überhaupt ‚darüber’ zu sprechen-Angst, von Partnern, Verwandten, Freunden und vor allem auch<br />

von Ärzten und ärztlichem Pflegepersonal nicht mehr ernst genommen zu werden-Angst, in eine<br />

Pflegeeinrichtung abgeschoben zu werden-Angst vor Schmerz oder Angst, durch<br />

chemotherapeutische Behandlung alle Haare zu verlieren. Und überall hier gilt es, für den speziellen<br />

Fall die beste aller ‚möglichen Möglichkeiten’ gemeinsam miteinander abzuwägen und auszuwählen.


Frau S. als Friseurmeisterin fürchtete sich verständlicherweise in besonderem Maße davor, in<br />

der anstehenden Chemotherapie ihr Haar verlieren zu müssen. Deshalb erzählte ich ihr von<br />

anderen Patientinnen, die in gleicher Situation sich dafür entschieden hatten, dem<br />

Befürchteten ein Stück weit den Wind aus dem Segel zu nehmen, indem sie sich schon vorher<br />

eine Kurzhaarfrisur schneiden ließen. Es war eine schlimme Situation in der sehr schlimmen<br />

Lage für Frau S.-aber dadurch, dass sie etwas davon selbst in die Hand nehmen konnte, wurde<br />

es „ein wenig erträglicher“, wie sie selbst später einräumte. Aus dem eigenen Haar wurde nach<br />

ihren Anweisungen eine Perücke ‚für später’ hergestellt.<br />

Aber selbst wenn nun im Angesicht des Todes, Angst zu überborden droht, weil wir tatsächlich bei<br />

allem guten Abwägen kompromisslos nichts von dem haben-und behalten können, was wir brauchen,<br />

gewohnt sind, lieben und ersehnen, können wir das Befürchtete dennoch ‚dereflektieren’. Es mag so<br />

sein, dass unser Leben, unsere Lebensqualität und unser persönliches Glück, uns tatsächlich nicht<br />

mehr guter ausreichender Grund sein kann, unsere Angst in die Hand zu nehmen, weil ja eben genau<br />

das absehbar nicht mehr gilt. Aber abgesehen davon, dass es im Moment der Feststellung noch gilt<br />

und wir also eventuell Unerledigtes doch noch-und einfach weiter zu Ende bringen können-es geht<br />

auch hier weiter: Zwar ist hier, und das ist entscheidend, die Hyperreflexion-dieses Zuviel an Absicht<br />

und Aufmerksamkeit auf das Befürchtete nicht neurotisch bedingt wie wir es von der neurotischen<br />

Erwartungsangst her kennen, sondern sie ist vielmehr auf existentiellem Niveau sinnlos, denn der<br />

Verlust steht ja wirklich und unwiderruflich an-und zwar können wir unsere Angst nicht im Abwägen<br />

anderer, besserer-und auf die beste aller Möglichkeiten für uns selbst hin bearbeiten, aber wir<br />

können über uns selbst hinaus einen Blick wagen auf das Du/die Welt um uns herum und uns vom<br />

Geistigen her durch sie wertspürend und mitfühlend berühren lassen. „Durch die Dereflexion lerne<br />

ich, an meiner Angst vorbeizuleben. Es genügt im allgemeinen jedoch nicht, sich nur einfach<br />

abzulenken, sich nicht zu beobachten; zu rasch landet man dann wieder in der Egozentriertheit des<br />

neurotischen Menschen. Man muss weg von sich selbst, auf ein Ziel hin leben, für eine Aufgabe, eine<br />

Sache, eine geliebte Person da sein, das heißt auf einen Wert hin, einen Sinn ausgerichtet sein. Frankl<br />

spricht hier von der Selbsttranszendenz. Selbsttranszendenz aber bedeutet, über sich hinausreichen,<br />

hinaus geordnet zu sein, auf eine Aufgabe hin, die es mit Sinn zu erfüllen gilt. Wenn es gelingt, das<br />

Leben mit einer Aufgabe, mit Sinn zu erfüllen, werde ich mich selbst vergessen. Vergesse ich mich<br />

aber selbst, werde ich meine Ängste vergessen, an ihnen vorbeileben. Frankl spricht davon, dass die<br />

Angst einer Inaktivitätsatrophie anheim fiele. Dies ist das therapeutische Ziel, das wir mit der<br />

Dereflexion erreichen.“ (Kozdera 1987, 22f). Selbst im Angesicht des Todes können wir einen<br />

Menschen herauslocken aus seiner Angst. Denn die Fähigkeit, vom Geistigen her sich selbst in der<br />

Situation mit den anderen zu betrachten und anders, besser bzw. ganz neu-nämlich über das eigene<br />

Wünschen und Bedürfen hinaus weiter zu gehen, die ist grundsätzlich und ohne jede Beschränkung<br />

vorhanden. Und sie lässt sich unter achtsamer Berücksichtigung aller situativen und persönlichen<br />

Möglichkeiten und Grenzen so gut durch sensibles Nachfragen initiieren wie durch aufmerksames<br />

Hinhören unterstützen.<br />

Eine Lehrerin gab sich in voller Bewusstheit ihrer irreversiblen schweren Krebserkrankung<br />

bis zum letzten Tag-und längst bettlägerig der Fertigstellung ihres Unterrichtprojektes „Tod<br />

und Sterben“ hin. Ursprünglich hatte sie gehofft, es mit ihren Schülern noch selbst<br />

durchführen zu können, aber als sich abzeichnete, dass ihr persönlich das nicht mehr möglich<br />

sein würde, war ihr das kein Grund, aufzugeben-es gelang ihr, sich innerlich auf die<br />

veränderte Situation einzustellen, und sie verhandelte mit Kolleginnen. Da ist durchaus Angst<br />

gewesen, aber indem-und je mehr sie die Arbeit an ‚ihrem’ Thema ihren Schülern zu widmen<br />

wünschte, desto glaubwürdiger schien sie sich selbst darüber zu ‚vergessen’. Ein Netz von<br />

Menschen entstand um sie herum, die alle ihr Mut machten gegen die Angst, sinnlos und<br />

einsam im Nichtgewollten, Nichtgeahnten, Unbegreiflichen zu landen: Mut, anderen<br />

mitzuteilen-und mit anderen zu teilen, was sie selbst am eigenen Leib über Leben, Sterben und<br />

Tod erlebte. Und sie ist über ihrer fast vollendeten Arbeit-und mitten darin nahezu ‚nebenbei’


eingeschlafen.


Herr A., den ich seit einem halben Jahr begleite, leistet-über mitunter qualvolle Schmerzen und<br />

depressive Einschübe hinweg-etwas ganz ähnliches, indem er in geradezu professioneller Weise<br />

eine sehr persönliche Web-Site gestaltet. Als ich gerufen wurde, ging es ihm allerdings gerade so<br />

schlecht, dass er ernsthaft in Erwägung zog und plante, seiner „sinnlosen Qual“ ein Ende zu<br />

setzen: Seit vielen Jahren in der Wohnung „eingesperrt“ mit Schmerzen trotz medikamentöser<br />

Einstellung-mit immer wieder neuen schweren Infekten-mit immer wieder notwendig<br />

werdenden-und jedes Mal lebensbedrohlichen operativen Eingriffen-und nun neuerdings auch<br />

noch mit eskalierenden Partnerproblemen in Angst, verlassen zu werden. Herr A. wirkte<br />

zermürbt und hoffnungslos-und er war zu jener Zeit auch außerordentlich wütend und böse auf<br />

‚Gott und die Welt’. Es wäre ihm als Krankenpfleger mit einem ‚Berg’ an Medikamenten im<br />

Hause wohl ein leichtes gewesen, sich aus dieser schlimmen Situation durch Selbsttötung<br />

herauszunehmen. Deshalb erschrak ich-konnte aber gleichzeitig realisieren, dass er mir-indem<br />

er mich nicht nur einweihte in seine Todesgedanken, sondern auch konkret fragte und bat, ob<br />

ich ihm helfen könne beim Suizid-die Chance gab, mit ihm zu ringen: „Ich weiß nicht, ob ich<br />

damit leben könnte, jemanden beim Selbstmord geholfen zu haben-ich habe nämlich eine<br />

bestimmte Einstellung dazu-wollen/können Sie die hören?/ Was, wenn doch nun ich hier bin mit<br />

einem aufrichtigen Interesse an ihrem Leben-wollen/können Sie mir nicht weiter davon<br />

erzählen?/ Was, wenn in Kürze ein Medikament auf den Markt käme, das Ihre Situation<br />

zumindest erleichtern würde?/ Was, wenn sich herausstellte, dass Ihre Partnerprobleme lösbar<br />

sind-wir könnten erst einmal schauen?/ Wäre es eine Möglichkeit, Ihre Patientenverfügung<br />

noch einmal neu klar und präzise daraufhin zu formulieren, was Sie im Falle eines erneut<br />

notwendig werdenden Eingriffes wünschen und was für Sie keinesfalls in Frage kommt?...“. In<br />

und um diese Fragen haben wir einzeln und nacheinander gerungen und schwer gearbeitet. Es<br />

tut mir kein Moment davon leid, denn Herr A. lebt; und es geht ihm derzeit so gut, wie es<br />

keiner seiner behandelnden Ärzte für möglich gehalten hat. Der Grundstein für dieses geistige<br />

Arbeiten in personaler Distanz zu sich selbst in der eigenen ausweglos erscheinenden Situation<br />

war gelegt, als Herr A. sich auf folgenden impulsgebenden Gedanken von mir einlassen<br />

konnte: „Was, wenn wir Menschen in unserem Leben bestimmte Aufgaben zu erledigen<br />

haben-und was, wenn unser Versuch, uns diesen Anforderungen zu entziehen, nur bedeutet,<br />

dass wir sie weiter ‚mitschleppen’ in ein weiteres neues Leben, das wir jetzt nur noch nicht<br />

ahnen? Wie tauglich könnte Ihnen in ihrer Situation die Alternative erscheinen, die Menschen<br />

in buddhistischer Weltanschauung für solche Situation sehen und probieren-nämlich in<br />

Mitgefühl und Solidarität mit anderen, die ebenfalls und ähnlich schwer betroffen sind, das<br />

Unabänderliche zu erleiden?“ In diesem Moment ist Herr A. ‚herausgesprungen’ aus der<br />

hoffnungslosen Enge seiner schlimmen Situation! Wir kamen auf seine Web-Site zu sprechen,<br />

die er ja schon seit mehreren Jahren gestaltete-über die es aber vor allen Dingen mit seinem<br />

Lebenspartner in letzter Zeit zu schweren Auseinandersetzungen gekommen war, weil jener<br />

sich durch die Preisgabe allzu intimer Daten verletzt gefühlt hatte; enttäuscht und wütend<br />

hatte Herr A. „alles gelöscht“. Wir sprachen über die besondere Rücksichtnahme, die es<br />

erfordert, in einem so öffentlichen Forum wie dem Internet eben nicht nur über sich selbst,<br />

sondern auch über andere-ohne deren Einverständnis-etwas Persönliches zu offenbaren. Ich<br />

gestand ihm in diesem Zusammenhang auch meine eigene hohe Empfindlichkeit und bat für<br />

mich selbst darum, als seine Hospizbegleiterin an diesem Ort nicht weiter benannt zu<br />

werden-aber ich ermunterte ihn gleichermaßen, die alte Arbeit, die ihm doch immer viel Freude<br />

bereitetet hatte, wieder aufzunehmen: jetzt neu und bewusst in der Absicht, auf diese Weise<br />

Kontakt aufzunehmen zu anderen Menschen in ähnlich schwerer Lage, um sich mit denen zu<br />

solidarisieren und von denen zu lernen. Indem er sich nun seither wieder mitteilt und mit<br />

anderen teilt, wie er es-nicht nur aufgrund seines fundierten krankenpflegerischen Wissens,<br />

sondern auch in geistig sich erhebender Haltung-immer neu und weiter schafft, zu leben, hat er<br />

ein wertvolles ‚wozu’ für sein Leben gewonnen. Seine Zeit ist mit dieser Arbeit erfüllter und


ausgefüllter denn je-ich merke es daran, dass er gegenwärtig nicht mehr so dringend und<br />

angewiesen auf meine Besuche und Anrufe wartet wie zu Beginn unserer Beziehung; und es<br />

entlastet mich.


Überdies stehen wohl auch gute Möglichkeiten der palliativmedizinischen Versorgung zur<br />

Verfügung, die es sich ja zur Aufgabe macht, primär schmerz-und auch angstmildernd zu wirken.<br />

Aber auch hier will ja eine Entscheidung in verantwortlicher Abwägung aller Möglichkeiten und<br />

Grenzen der jeweiligen Situation erst einmal getroffen sein.<br />

Bei Frau S. kam die palliativmedizinische Möglichkeit in für mich unvergesslicher-und<br />

sicherlich besonderer Weise zum Einsatz. Frau S. litt in ihrer letzten Lebensphase an massiven<br />

Angstattacken, die sich für alle, die mit ihr zu tun hatten, nur sehr schwer bzw. gar nicht<br />

abgrenzen ließen von Symptomen ihrer unheilbaren und weit fortgeschrittenen<br />

Lungenerkrankung: schwere Atemnot, Blaufärbung des Gesichtes, Zittern, kalter Schweiß.<br />

Wider besseres Wissen-und eben doch nicht sicher genug-riefen die Angehörigen auf ihr Flehen<br />

hin immer wieder den Notarzt, welcher natürlich in die Klinik überwies, die außer einer Gabe<br />

von Beruhigungsmitteln aber ‚nichts mehr tun’ konnte. Die Situation eskalierte, als die<br />

verschiedenen Krankenhäuser, in denen Frau S. mittlerweile bekannt war, nicht mehr bereit<br />

waren, sie aufzunehmen-und ‚es’ zu Hause alleine nicht mehr ging. In dieser Zeit lernten wir<br />

uns kennen-und ich versuchte zunächst, die Situation dadurch zu stabilisieren, dass wir-die<br />

Tochter, deren Freund, eine Freundin und ich-einen Besucherplan erstellten: Jeden Tag zu<br />

festgelegter Stunde sollte eine Vertrauensperson bei ihr sein. Wir beide beschäftigten uns dann<br />

intensiv mit der Erstellung einer Patientenverfügung-auch dies ist ja ein Stück Halt und Schutz<br />

inmitten aller Angst vor dem nicht gewollten Unbegreiflichen-und wir wurden darüber sehr<br />

vertraut miteinander. Sie vertraute mir vieles aus ihrem Leben an-viele Härten und<br />

Enttäuschungen von Kindheit an, über die sie wohl zum ersten Mal überhaupt zu sprechen<br />

wagte. Einen Menschen, dem in der Schicksalhaftigkeit der Ereignisse Zurückgenommenheit<br />

und Selbstbeherrschung zur zweiten Natur werden musste, derart weinen zu sehen, wie sie es<br />

mitunter tat, berührte mich; es waren sehr aufrichtige Momente. Jedes Mal, wenn ich kam,<br />

brachte ich ihr einen kurzen Text mit-sie sammelte alle bis zum Schluss in einem extra dafür<br />

angeschafften Ordner: „Das lese ich heute abend im Bett, obwohl ich früher gar nicht gelesen<br />

habe-aber es tut gut...“, sagte sie oft; Und manchmal hatte sie auch eine Frage dazu. Aber Frau<br />

S. war eben aufgrund ihrer vielen unaufgearbeiteten schweren Enttäuschungen im Leben auch<br />

eine eigensinnige und wenig kompromissbereite Frau geworden, die allen voran ihrer Tochter,<br />

aber auch den Ärzten und allem Pflegepersonal mit ihrer Sturheit-ja und auch ‚ungerechten’<br />

Wut das Leben schwer machte. Als sich ihre körperlich/seelischen Zusammenbrüche derart<br />

häuften, dass eine stationäre Unterbringung unumgänglich wurde und wir mühsam in jeder<br />

Hinsicht eine Übersiedlung-immerhin in ein Hospiz ‚erarbeitet’ hatten, lief sie mit ihrer<br />

Überlebensstrategie, allen widrigen Umständen blind zu trotzen, zur Höchstform auf: „Hier<br />

wollen ja alle, dass ich sterbe“, meinte sie und strafte das gesamte Personal so gut mit<br />

Verachtung, wie sie mit ihrer Tochter um viele Dinge aus der Vergangenheit stritt. Mich weihte<br />

sie in ihren geheimen Plan ein, das Haus so bald wie möglich wieder zu verlassen, um zu Hause<br />

mit Hilfe einer privat bezahlten Pflegerin „noch einmal von vorn anzufangen“. Ja, das meinte<br />

sie, die vom Tod bereits deutlich gezeichnete Frau, wirklich ernst; und ich sollte ihr dabei<br />

helfen. Ich fasste ihren Wunsch ein Stück weit auch als Resultat unserer Gespräche über<br />

ihr/das Leben auf und glaubte, zu verstehen, was sie meinte. Mich überkam ein großes<br />

Mitgefühl-und es fiel mir also nicht schwer, ihr in einem wohl zweistündigen Ringen mein<br />

aufrichtiges Verstehen rückzumelden und die Situation wenigstens ‚offen’ zu halten: „Im<br />

Moment geht das aber nicht...“. So oft es möglich war, verließen wir mit Rollstuhl und<br />

Sauerstoffgerät das „Gefängnis“, um die Freiheit kleiner Spaziergänge-manchmal sogar einen<br />

Kaffee oder ein Glas Wein zu genießen. Mit Blick auf die wirklich riskante Sauerstoffsituation,<br />

die jeden Moment entgleisen konnte-das wussten wir alle, und die Mitarbeiter des Hospizes<br />

waren im Hintergrund sozusagen bereit-war ich selbst recht angespannt, aber Frau R. konnte<br />

hier draußen in so beeindruckendem Maße entspannter lachen und weinen und reden, dass es<br />

mir das wert war. Als nun diese Art friedlichen Erleidens aber nicht mehr möglich war,


entschied Frau R. eines Tages in einem nahezu gewalttätig anmutendem Kraftakt, ihre<br />

Situation selbst in die Hand zu nehmen: Wenn nun schon sterben-so wollte doch sie den<br />

Zeitpunkt wenigstens bestimmen-nämlich ‚jetzt’: Sie befahl alle Angehörigen auf einen<br />

bestimmten Zeitpunkt zu sich ans Bett, um sich zu verabschieden-und sie verabschiedete sich<br />

wirklich und ernsthaft unter Tränen von jedem einzelnen. Allerdings nicht von mir... So waren<br />

wir nun alleine noch beisammen-die Situation war zum Zerreißen gespannt-und als Frau R. in<br />

ihrem verzweifelten Jammern auch zu hyperventilieren begann, hörte ich mich sie fragen, ob es<br />

ihr denn vielleicht lieber sei, „’den Rest’ nicht mehr so ganz bei Bewusstsein mitzuerleben?“<br />

Das wollte sie. Ein Arzt sprach mit ihr, soviel es ihre Panik noch zuließ-er besprach mit ihr, sie<br />

in einen leichten künstlichen Schlaf zu versetzen und allerdings zwischendurch nachzufragen,<br />

ob es ‚gut’ so sei für sie, damit sie nicht mehr weiter so leiden müsse. In den zwei Tagen, die<br />

sie noch gelebt hat, wollte Frau S. nicht mehr wach werden. Ihre Tochter und ich haben<br />

abwechselnd an ihrem Bett gesessen. Wir haben den Raum geschmückt, eine Kerze für sie<br />

brennen lassen und ihr Frieden gewünscht auf ihrem Weg.


Es kann auch sein, dass der Sterbende auf seinem Weg einen Moment erfährt, in denen er mit seinem<br />

Sterben einverstanden ist: Mag es an der langen mühsamen Zeit der Erkrankung liegen mit all den<br />

quälenden Schmerzen, oder auch wirklich an einem Gefühl ausreichend gelebten, abgerundeten<br />

Lebens, dass er spürt: Es ist genug-ich will jetzt weiter; ich bin jetzt bereit, zu schauen, was kommen<br />

mag.<br />

Als ich Frau M. kennenlernte, die schon seit längerer Zeit ohne Angehörige und Freunde in<br />

einem Seniorenheim lebte, war sie ‚bereit’, zu sterben. Sie hatte dennoch um den Besuch<br />

gebeten-wie ich glaube, weniger aus Angst vor dem Tod, als um in ‚guter’ Weise Abschied zu<br />

nehmen, was eines zugewandten und gewährenden Gegenübers eben bedarf. Wenn ich es<br />

richtig erfasst habe, war da jene unausgesprochene Bitte: „Ich würde gerne länger leben, doch<br />

ich bin des Kämpfens müde. Bitte, mach mir das nicht zum Vorwurf und verlange nicht von<br />

mir weiterzukämpfen, wenn ich keine Kraft mehr habe. Ich brauche jetzt deinen Segen und<br />

dass du mich und alles, was mit mir geschieht, akzeptierst. Sage mir, dass ich sterben darf... mit<br />

deinen besten Wünschen und allem Mut, den du in diesem Moment aufbringen kannst.“<br />

(Longaker Ch: Die Bedürfnisse von Menschen kurz vor ihrem Tod. In: Longaker Ch 2001,<br />

43ff). Frau M. hat mir ein wenig aus ihrem Leben erzählt-danach, was schön darin gewesen ist,<br />

habe ich sie gefragt-aber die überwiegende Zeit, die ich an ihrem Bett saß, haben wir<br />

geschwiegen und uns ab und zu angelächelt. Als ich zum dritten Mal zu ihr kam, war ihr Blick<br />

in die Höhe gerichtet, wie wenn sie durch alles Gemäuer hindurchschauen könne auf etwas, was<br />

nur ihr allein sich offenbarte. Sie sprach auch zu ihrem Gegenüber-das war nicht für mich<br />

bestimmt. Aber zu mir gewandt deutete sie fortwährend wieder und weiter mit beiden Armen<br />

in jene Richtung-die ausladende Bewegung mit geöffneten Handflächen nach oben muss sie sehr<br />

angestrengt haben. Weil ich ihre Anstrengung zu spüren glaubte, entschied ich mich für den<br />

Abschied und sagte es ihr: „Ich sehe, dass sie auf dem Heimweg sind und wünsche Ihnen von<br />

Herzen eine gute Reise an Ihr Ziel! Wenn ich morgen wieder nach Ihnen schauen werde, sind<br />

Sie vielleicht schon gegangen-ich werde Ihnen dann nochmals eine gute Reise wünschen und<br />

mich freuen, dass Sie weitergehen auf Ihrem Weg.“ Am nächsten Morgen wurde sie mit der<br />

Rose gefunden-so wie ich sie ihr in die Hand gelegt hatte.


2.3.2 Zeit der Nähe und Wärme inmitten der Traurigkeit Im Verlauf des<br />

Sterbeprozesses muss der Mensch, neben großer Angst, auch einen tiefgreifenden Mangel seines<br />

existentiellen Grundbedürfnisses nach Nähe, Wärme und Geborgenheit erleben. Er beginnt<br />

natürlicherweise in stärkster Form zu trauern-und wir sind da, ihn auf diesem ebenso schweren wie<br />

wertvollen Weg zu begleiten. „Grundsätzlich ist die Trauerreaktion eine Fähigkeit, die mit uns<br />

geboren wird. Sofort nach der Geburt tritt sie in Erscheinung als das bekannte Verhalten des<br />

Neugeborenen: Weinen, schreien, protestieren, klagen usw. Diese Fähigkeit bleibt uns erhalten bis zu<br />

unserem Tod. Wenn wir unser tägliches Leben einmal in Ruhe betrachten, so werden wir sehr schnell<br />

entdecken, dass dieses Leben von Anfang an voller Abschiede, Trennungen und Verluste ist. Die erste<br />

schmerzhafte Trennung ist der Verlust des paradiesischen Aufenthaltes im Bauch der Mutter, und die<br />

letzte, vielleicht schwerste, ist die Trennung von der Welt und den Menschen, wenn man stirbt.<br />

Merkwürdigerweise sind also beides, Anfang und Ende, Trauersituationen... aber die Weisheit der<br />

Natur hat gut gesorgt und uns vorprogrammiert, das heißt, mit geeigneten Reaktionen ausgestattet, so<br />

dass wir ein Leben lang fähig sein könnten, Trennungen und Abschiede aller Art, unter allen<br />

möglichen Umständen und Bedingungen mit der entsprechenden Trauerantwort gesund zu<br />

überstehen.“ (Canacakis 1990, 23f) Abschiede-Trennungen und Verluste zu bewältigen, um wieder<br />

neu, anders und besser weiter gehen zu können, ist also eine Frage der geistigen Haltung und inneren<br />

Einstellung. Die Herausforderung lautet: Traurig sein in der Bereitschaft und dem Mut, den<br />

unwiderruflichen Verlust aktiv zu erleiden-und zwar dies einschließlich aller darin anklingenden,<br />

schon früher erlittenen Entbehrungen. Nur solche Art der aktiven mutigen Trauer ermöglicht einen<br />

friedlichen Abschied mit freiem Blick auf neu Mögliches hin. Aktive Trauer ist Arbeit und braucht<br />

genügend Zeit und einen sicheren Raum; und dann einen vertrauenswürdigen Begleiter, der sie<br />

bestätigt und bezeugt und im Zweifelsfall, wenn es schwer wird, mit hält und aushält. Ich weiß, es ist<br />

schwer, wenn ich als Begleiter mein Gegenüber auffordere, im Wechsel der gegensätzlichen<br />

Empfindungen zu schauen auf alles Bedrückende und Unangenehme-und gleichermaßen das Gute<br />

und Schöne auch zu erinnern, das sein Leben erfüllt. Was sich auftut, ist vielleicht viel Wut, Neid,<br />

Verbitterung, Enttäuschung, Scham, Schuld-und aber gleichermaßen auch Gutes, Schönes, Zärtliches,<br />

Gefühl, und vielleicht Reue und Wunsch und Möglichkeit der Wiedergutmachung und des<br />

Verzeihens. Wenn ich den sterbenskranken Menschen danach frage, was ‚schlimm’ war in seinem<br />

Leben-und was auch ‚gut’ und vielleicht ‚das beste’ darin gewesen ist, geschieht dies nicht nur aus<br />

Interesse an seiner Biographie, sondern ich versuche, mit ihm gemeinsam biographisch zu arbeiten im<br />

hoffnungsvollen Gerichtetsein, Frieden zu finden über dem, was das eigene Leben ist und gewesen<br />

ist. Mir persönlich nahe ist A. Längles Beschreibung des Trauerprozesses. Vor dem Hintergrund des<br />

anschaulichen Bildes einer Wunde, die gereinigt sein muss, ehe eine Naht gesetzt-und schließlich<br />

genäht werden kann, betont er die Wesentlichkeit des "Weinens". Ja, das Weinen als Voraussetzung<br />

für ein wahrhaftiges-im Sinne der Trauerbewältigung notwendiges Selbstmitleid, aus dem<br />

Selbstfürsorge erwächst. Mithin kann auf existentiellem Niveau die "Beziehung zum verlorenen Wert<br />

verinnerlicht" werden-und erst dann steht der "Aufnahme weiterer Beziehung zu neuen Werten"<br />

nichts mehr entgegen. (Längle 2002, 13ff). Und wozu Längle Mut macht: "Keine Angst vor der<br />

Trauer haben. Trauern ist ein wunderbarer, intimer Prozess, in welchem das Leben sich wieder<br />

einstellt. Die Trauer als heilsam und wohltuend kennen, als Quell des Lebens, als<br />

wachstumsfördernd." (Längle 2002,17)


Das wertvollste, womit wir als Begleiter dem sterbenskranken Menschen in seiner Trauer und<br />

Verzweiflung helfen können, ist, wie ich meine, dass wir ihm Zeiten der Nähe und Wärme schenken,<br />

in denen er sein gelebtes Leben noch einmal abwägend überdenken-und vom Unerledigten darin<br />

vielleicht sogar noch etwas erledigen kann, damit ein Abschied in Gelassenheit möglich wird. In<br />

dieser Zeit wird er wohl weinen und sich zunächst einmal erkennen in seiner ganzen Ärmlichkeit-aber<br />

dies nur, um sich auf sich selbst zu besinnen, und auf sein gelebtes Leben, und darauf, was ihm<br />

vielleicht noch möglich ist, zu vollenden. Die situativen und persönlichen Möglichkeiten, in dieser<br />

Weise abschiedlich das eigene Lebenswerk zu betrachten, sind im Einzelfall sehr unterschiedlich. Ich<br />

weiß von Menschen, die es sich sehr wünschen, aller schwerer Abschied möge ihnen etwa durch<br />

einen unerwarteten Herztod erspart bleiben, aber andere bezeugen auch in beeindruckender Weise,<br />

welch eine Chance besteht, das eigene Leben bis zum letzten Augenblick zu erfüllen-und gar noch in<br />

der letzten Lebensphase ein sinnerfülltes Leben in Mitgefühl für andere und alle<br />

Menschen zu verwirklichen.<br />

In einer der Phasen, in der Herr A. gedanklich sehr konkret die Möglichkeit eines Suizides<br />

erwog, intervenierte ich sehr direkt und konkret in Hinblick auf die momentan bestehende<br />

Irritation in seiner Partnerschaft: Wollte er wirklich sterben, ohne zumindest versucht zu<br />

haben, hier eine Klärung zu erreichen? Nein, „so ungeklärt und unversucht“ wollte er seine<br />

Partnerschaft „eigentlich nicht“ lassen. Und mittlerweile-und derzeit ist alles unbegründete<br />

Misstrauen und alle Wut, die herausgearbeitet und besprochen wurde, wie verflogen; und er<br />

ist in sogar sehr hohem Maße um das Wohl seines Partners besorgt.<br />

Es ist aber auch eine wichtige Information für alle vom Sterbeprozess betroffenen Menschen, dass<br />

depressive Verstimmungen bei lebensbedrohlichen Erkrankungen auch körperlich bedingt sein<br />

können-nämlich als Auswirkung von Chemotherapie, Bestrahlung, Operation, mangelnder Bewegung<br />

und Mangelernährung. Dieses körperlich bedingte Erschöpfungssyndrom ist in der Medizin unter dem<br />

Namen Fatigue bekannt. In solchen Momenten steht für die Patienten weniger die im Angesicht des<br />

Todes notwendige Haltungsänderung im Vordergrund, als dass es gilt, einen schöpferischen Umgang<br />

mit dem körperlichen Unwohlsein zu finden. Sie sollten Nahrungsergänzung, Bewegungsangebote<br />

und psychotherapeutische Unterstützung erhalten.<br />

Frau S., die es sich von Kindesbeinen an zur Gewohnheit gemacht hatte, keine Schwäche zu<br />

zeigen-und bisher mit Erfolg stark geblieben war in jeder ihrer Partnerschaften und im<br />

selbstständigen Beruf, zeigte sich, als ich sie kennenlernte, ratlos und sehr verzweifelt über ihre<br />

plötzlich andauernde Müdigkeit und Lustlosigkeit und dass sie „gar nicht mehr in die Gänge“<br />

kam. Wohl sah ich gleich bei meinem ersten Besuch Anzeichen schwerer unbewältigter<br />

Trauer-etwa in der Art, wie sie müde abwinkte bei der Frage nach Partnerschaft, oder wie sie<br />

peinlich berührt und fadenscheinig die Hundertschaft von leeren Weinflaschen auf dem Balkon<br />

zu erklären versuchte, aber ich spürte in der Art, wie sie mich empfing und bewirtete, zunächst<br />

auch deutlich ihr Signal: ‚Zwing mich nicht, mich schwach zu zeigen!’ Deshalb erzählte ich ihr<br />

zunächst vom Erschöpfungssyndrom Fatigue, das für ihre Krankheitssituation sicherlich auch<br />

zutreffend war-und wir sahen uns gemeinsam den Patienteninformationsfilm ‚Wendepunkt<br />

Krebs-anders leben mit Fatigue’ an (Hrsg. Ortho Biotech. Division of Jansson-Cilag Gmbh). Ich<br />

halte diesen Film in seiner sensibel informativen Art, wie er nicht nur Ärzte, sondern auch<br />

betroffene Patienten zu Wort kommen lässt, für sehr geeignet. Und Frau S. zeigte sich auch<br />

wirklich berührt-sie konnte da heraus beginnen, über alle Schwere und die Schwierigkeiten<br />

ihres Lebens zu sprechen.


2.3.3 Sterben in Würde Im Verlauf der inneren Verarbeitung von lebensbedrohlicher<br />

Erkrankung und Behinderung sind Gefühle der Aggression und Wut so gut ein gewissermaßen<br />

gesundes Durchgangsgefühl wie Angst oder Depression. „... Zorn, Groll, Wut, Neid. Dahinter steht<br />

die Frage: ‚Warum denn gerade ich?’... Wir müssen lernen, unserem Patienten zuzuhören und<br />

manchmal auch unbegründeten Ärger hinzunehmen, weil wir wissen, dass es ihn erleichtert, den Groll<br />

einmal auszusprechen, dass es ihm hilft, die letzten Stunden seines Lebens gelassener hinzunehmen.“<br />

(Kübler-Ross 1973, 26ff) . Die anhaltend starken Schmerzen-die Angewiesenheit auf fremde<br />

Hilfe-das Reduziertsein auf Wohnung, Krankenzimmer oder Bett-das Sichanfassenlassenmüssen von<br />

Menschen, denen man es in gesundem Zustand nicht zugestanden hätte oder der Gedanke an all die<br />

verpassten Möglichkeiten-das macht wütend; und die Wut mag ja immerhin eine Art von Energie zu<br />

erzeugen, wo kein Leben mehr zu sein scheint. Als Begleiter werte ich den Zorn, den der Betroffene<br />

zeigt, als verständlichen Ausdruck seines in Frage gestellten Lebenswillens, aber ich bin es ihm-wie<br />

schlimm auch immer die Situation eben gerade ist-gleichermaßen schuldig, ihn in der Weise als<br />

eigenständige Person ernst zu nehmen, dass ich ihn nicht vollständig aus seiner Selbstverantwortung<br />

für die Gestaltung seiner gelingenden Beziehung zur Welt entlasse. Es wäre falsches rührseliges<br />

Mitleiden, das ihn in seiner personalen Möglichkeit unterschätzte und degradierte, würde ich ihm die<br />

Frage nicht zumuten, ob er weiß, wie er mich/andere verletzt-und warum eigentlich er ‚so’ mit<br />

mir/mit den anderen umgeht. Wenn die Situation es erlaubt, schlage ich ihm des weiteren vor, sich in<br />

seiner Wut leiblich zu spüren-in der ihr entsprechenden körperlichen Befindlichkeit mit schnellem,<br />

flachen und unregelmäßigem Herzschlag und Atem-in den ihr entsprechenden düsteren Gedanken und<br />

Gefühlen und in der Versuchung, gegen andere loszuschlagen und ihnen zu schaden. Und wenn er<br />

wahrzunehmen vermag, dass der Zorn wohl da ist als ein Stück Leben, aber sich ihm hinzugeben<br />

wiederum auch wenig Gutes bringt, suchen wir nach einer neuen Art des Umgangs damit. Man<br />

könnte sich in seinem starken Gefühl sehr ernst nehmen, aber gleichermaßen es mit<br />

fürsorglich-kritischem Blick beobachten-wie man es macht bei einem kleinen Kind vielleicht. Man<br />

könnte sich fragen, was für ein ernstzunehmendes Bedürfnis sich dahinter verbirgt. Und man könnte<br />

am Ende sich fragen: Was also will und kann denn ich selbst hier und jetzt in dieser Situation noch<br />

tun?


Frau H. war unwiderruflich an Darmkrebs erkrankt-und die Metastasen am Rückenmark<br />

waren, wie es bekannt ist, schmerztherapeutisch nur sehr schwer zu behandeln. Sie litt also<br />

große Schmerzen-und musste über zwei lange Jahre hinweg zwischenzeitlich immer wieder neu<br />

mit allen Kunstgriffen der Anästhesie so stark sediert werden, dass sie auf Zeit kaum mehr<br />

ansprechbar war. Ich habe sie nie anders erlebt-und ich vermute, es ist während ihrer gesamten<br />

Ehe nie anders gewesen-als dass sie ihren Mann für sich sprechen-und in all ihren persönlichen<br />

Angelegenheiten auch entscheiden ließ. Wir alle um sie herum hatten gemeinsam denselben<br />

Eindruck, dass er in seinem großen Misstrauen gegenüber allen Fremden, das wohl zu seiner<br />

Persönlichkeit gehörte, sehr darauf bedacht war, uns nicht mit ihr alleine zu lassen. Und wenn<br />

es doch einmal gelang, ohne ihn mit ihr im Raum zu sein, blieb sie dabei, ihm alle wesentliche<br />

Entscheidung zu überlassen-hielt gewissermaßen zu ihm in seiner mitunter grob unhöflichen<br />

und jähzornigen Art und gestand mir nur ein einziges Mal und wie nebenbei, dass es ihr Sorge<br />

bereite, ihn ‚einfach so’ allein zurück zu lassen. Aber ich war hellhörig: Wir alle erlebten ja<br />

Herrn H. in seinem jugendlich-pubertär wirkenden Beleidigt-und Wütend-Sein; und wir alle<br />

bekamen es ja zu spüren: Er war zornig und böse, dass ihm „mit der Liebe seines Lebens“ nach<br />

seiner Pensionierung „nur noch drei kurze Jahre“ gegönnt sein sollten; er fand es „ungerecht“.<br />

Und so schimpfte er am Bett seiner schwerstkranken Frau über ihren Kopf hinweg laut und<br />

kindlich auf Gott-erklärte jeden Arzt für unfähig, der seiner Frau keine Aussicht auf Heilung<br />

prognostizierte-beleidigte alle Pflegekräfte und bemäkelte jeden ihrer Handgriffe, ohne dabei<br />

wenigstens in der Lautstärke auf ‚die Liebe seines Lebens’ Rücksicht zu nehmen. Es war<br />

faszinierend zu beobachten, wie gewohnt er es war-und wie es ihm auch jetzt gelang, von<br />

niemandem Einhalt geboten zu bekommen, weil alle versuchten, mit ‚Rücksicht auf seine arme<br />

Frau’ freundlich zu bleiben. Aber diese Rücksicht nutzte ihr ja nicht, sondern sie schien<br />

vielmehr ihr vergleichsweise langes und qualvolles Siechtum, welches auch die Ärzte ratlos<br />

machte, sinnlos zu verlängern. Es lag auf der Hand, dass Frau H. umso weniger sich einlassen<br />

mochte und konnte auf ihr Sterben, als da jener zornige kleine Junge war, der wütend mit dem<br />

Fuß aufstampfte und schrie: ‚Nein! Du gehst noch nicht! Du bleibst noch hier!’ Bei der<br />

nächsten sich bietenden Gelegenheit setzte ich sozusagen alles auf eine Karte und konfrontierte<br />

ihn in ihrer Gegenwart. Es war am Hochzeitstag beider, als ich zur Tür hereintrat mit den<br />

Blumen, die ich in seinem Auftrag besorgt hatte, und er demonstrativ den Fernseher<br />

einschaltete und auf den Bildschirm starrte, um mich absichtlich nicht zu begrüßen. Da sagte<br />

ich ihm, dass ich seine Enttäuschung, Trauer und Wut gerade an einem Tag wie diesem wohl<br />

erahnen könne, dass ich aber gewissermaßen stellvertretend für alle anderen und seine Frau<br />

nicht länger bereit sei, seine unbeherrschten Gefühle sinnlos auszuhalten. Ich teilte ihm mit,<br />

dass ich mich bis auf weiteres verabschieden werde, um auf seinen eventuellen Anruf zu warten,<br />

in dem er mir seinen neuen Entschluss mitteilt, mit uns allen gemeinsam in reifer Weise<br />

Verantwortung zu übernehmen für die schwere Situation-und zu Gunsten seiner Frau. Am<br />

selben Abend rief Herr H. mich an-und wir konnten von da an besser gemeinsam überlegen<br />

und kooperieren. Frau H. ist zwei Wochen darauf verstorben. Herr H. war bei ihr, fasste ihre<br />

Hand ohne festzuhalten-und zum ersten Mal habe ich ihn weinen sehn.<br />

Natürlich-im Umgang mit lebensbedrohlich erkrankten und sterbenden Menschen sind wir selbst als<br />

Begleiter und Angehörige angefragt in unserer wertschätzenden Haltung gegenüber einem<br />

Menschen, der dieses eine letzte Mal herausgefordert ist, Abschied zu nehmen. Er will ja auch jetzt<br />

in dieser Situation nicht anders als sonst im Leben wieder und weiter Achtung und Respekt erfahren<br />

dürfen: „Ich möchte, dass du mich als vollwertigen Menschen betrachtest und mich nicht auf eine<br />

Krankheit oder eine Tragödie reduzierst. Man muss mich nicht mit Vorsicht behandeln, als wäre ich<br />

aus Glas. Betrachte mich nicht mit Bedauern, sondern mit all deiner Liebe und deinem Mitgefühl.<br />

Auch wenn ich den Tod vor Augen haben mag – noch bin ich lebendig. Ich möchte, dass man mich<br />

wie einen lebendigen Menschen behandelt und mich am Leben teilhaben lässt. Denke nicht, dass du<br />

nicht völlig offen zu mir sein kannst. Sag mir ruhig, wenn ich dir das Leben schwer mache oder


wenn du Angst hast oder traurig bist.“ ( Longaker Ch: Die Bedürfnisse eines Sterbenden. In:<br />

Christine Longaker 2001, 43) ) Es ist leicht verständlich und auch anrührend zu erleben, wie nahe<br />

Angehörige sterbenskranker Menschen geneigt sind, sich in deren Versorgung und Pflege bis an die<br />

Grenze ihrer Belastungsfähigkeit zu bemühen. Aber es ist ‚zu viel’ und bedarf der Intervention, wenn<br />

sie dabei ihn selbst unmerklich übersehen und überhören in dem, was er selber jetzt spürt, wünscht<br />

und braucht. Vielleicht ist er schon viel mehr als sie für sich selbst zu erfassen und zu verkraften<br />

vermögen dabei, sich einzufügen in das, was er unwiderruflich muss-und so machen sie es ihm sehr<br />

schwer. Wenn man als Begleiter in eine solche Situation hineinkommt, merkt man es daran, dass<br />

man auf ‚zwei Hochzeiten’ tanzt: Der Sterbende selbst ist still in sich, und man gönnt ihm spontan<br />

mitfühlende und friedliche Nähe in seiner leisen Arbeit des Loslassens. Sein Angehöriger aber, der<br />

verlangt viel mehr und lauter als er selbst nach Halt und Schutz und Hilfe in der Situation des<br />

drohenden Verlustes. Er ist, wie Herr H. im oben geschilderten Beispiel (vgl. Kap. 2.2.3 ), gefangen<br />

in seinem eigenen Schmerz und hält den anderen sinnlos fest und zieht und zerrt an ihm, der doch<br />

längst von anderswoher abgezogen wird; und er meint, er tut das aus Liebe. Eine Auflösung finde ich<br />

in dem Versuch, den/die Angehörigen mit hineinzunehmen in meine Art und Haltung dem<br />

Sterbenden gegenüber-in dem Versuch also, dass wir gemeinsam uns Mühe geben, ihn ‚gehen zu<br />

lassen’, weil er doch ‚gehen muss’ und wir es ihm also nicht ‚schwerer ’ machen sollten, als es ist..<br />

Was darüber hinaus nicht möglich ist, liegt im symbiotischen Bindungsverhalten des Paares<br />

begründet-und nicht mehr in meiner Hand. Ich gehe dann davon aus, dass die beiden einander seit<br />

langer Zeit schon so kennen und gewohnt sind und verstehen: der Tod ist für sie mehr eine<br />

gewaltsame Trennung ohne Abschied; und eine Deutung steht mir weiters nicht zu.


Herr R. erlitt seinen schnell wachsenden Hirntumor mit rasch zunehmender geistiger<br />

Eintrübung in berührender Ergebenheit und Stille. Da seine zunehmende geistige Verwirrtheit<br />

der ununterbrochenen Beaufsichtigung bedurfte, war er in einem Pflegeheim untergebracht.<br />

Seine Frau pflegte ihn hier über alle Maßen aufopferungsvoll-bei genauem Hinsehen jedoch<br />

sprach sie nicht nur dem gesamten Pflegepersonal die Kompetenz ab, es vielleicht wenigstens<br />

einigermaßen auch zu können, sondern sie fragte nicht einmal ihn selbst, was er brauchte und<br />

wollte-sie wusste es ohne ihn besser. Die Art, wie sie ihn aus dem Tiefschlaf weckte-kämmte,<br />

säuberte, windelte, „fütterte“ oder verlagerte, wirkte unmotiviert unvermittelt grob und<br />

unsensibel. Es dauerte lange, ehe Frau R. mir so viel Vertrauen schenken konnte, dass ich sie<br />

wenigstens für kurze Zeit einmal am Bett ihres Mannes ablösen durfte. Und es dauerte noch<br />

länger, ehe sie sich darauf einlassen konnte, wenigstens für kurze Zeit einmal mit mir das<br />

Krankenzimmer zu verlassen, um unter vier Augen miteinander zu sprechen. Letzteres<br />

erschien mir allerdings besonders notwendig, weil ich sah, wie es Herrn R. belastete, dass seine<br />

Frau zu klagen und zu jammern begann über ihr Schicksal und ihre unabsehbare Zukunft ohne<br />

ihn, sobald ich nur zur Tür hereintrat: Herr R. verdrehte dann die Augen, um sie in<br />

resigniertem Aufstöhnen zu verschließen, verspannte sich am gesamten Körper-und manchmal<br />

sagte er auch etwas in der Art: „Jetzt geht das wieder los...!“ Ich erlebte Frau R. auffällig<br />

anspruchsvoll in der Haltung: Ja aber das kann doch einfach gar nicht sein...! Es war nicht nur<br />

ihre laute Stimme, in der sie ihre verletzten Gefühle zum Ausdruck brachte, sondern vor allen<br />

Dingen auch der für die Situation unverhältnismäßig hohe Anspruch auf persönliche<br />

Zuwendung, der auf mich übertrieben wirkte-ja mich ärgerlich machte. Und es war eben ihr<br />

Zorn, der sich von ihr unbemerkt auf mich übertrug. „Wir müssen es gemeinsam schaffen, es<br />

ihm nicht unnötig schwer zu machen, weil er ja nicht freiwillig geht, sondern gehen muss..., und<br />

dann danach gemeinsam sehen-bzw. vornehmlich außerhalb des Zimmers gemeinsam schauen,<br />

wie Sie später alleine zurechtkommen werden können. Schritt für Schritt!“das sagte ich ihr.<br />

Ja, Schritt für Schritt gemeinsam-das wurde unser Motto, das ich ihr anbot, und mit dem ich sie<br />

so gut es eben möglich war, in der akuten Situation zu halten versuchte. Ich ‚verlangte’ also von<br />

ihr, ihre außerordentlich starken-auf mich deutlich histrionisch gefärbt wirkenden Gefühle<br />

für den Moment so gut es ging aus dem Krankenzimmer herauszuhalten-und es gelang ihr, sich<br />

darauf einlassen, weil ich ihr offenbar glaubwürdig gleichzeitig meine Hilfe für jetzt und später<br />

zusagte. Im entscheidenden Moment des Todes verließ Frau R. fluchtartig den Raum; und es<br />

war in Ordnung so-wie ich vermute, auch für ihren Mann. Wir hatten in seiner Gegenwart<br />

abgesprochen, dass sie es gegebenenfalls so tun würde, und er hatte genickt; und ihr genügte es,<br />

mich noch bei ihm-und ihn also nicht allein zu wissen. Ich habe Frau R., wie zugesagt, noch eine<br />

lange Zeit in ihrer Trauer weiter begleitet, die wohl vor dem Hintergrund einer schon<br />

bestehenden histrionischen Grundbefindlichkeit sich in der Verarbeitungsphase des Leugnens<br />

und des Zornes verfangen musste. Indem ich mich ihr alleine zuwenden konnte, konnten wir<br />

herausarbeiten, dass sie seit ihrer Kindheit auch an panikartigen Angstzuständen litt, die seit<br />

jeher behandlungsbedürftig gewesen wären. Ihr Mann hatte sie scheinbar die gesamte Ehe<br />

hindurch darin gehalten. Es muss sehr schwer gewesen sein für beide. Ich empfahl Frau R. über<br />

unsere Gespräche hinaus eine ärztliche Psychotherapie.


Herr A., dem in seiner Situation genügend Zeit-und aber auch persönliche Möglichkeit zur<br />

Verfügung steht, sorgt für den Erhalt seiner Würde bis zum letzten Moment in ungewöhnlich<br />

starkem Maße selbstverantwortlich vor: Nicht nur ist er mit einem außerordentlich gesunden<br />

Selbstbewusstsein ausgestattet, welches ihm gestattet, allem Pflegepersonal gegenüber<br />

deutlich-mitunter sogar eher ein wenig zu forsch seine Bedürfnisse zu vertreten, sondern er hat<br />

auch bei allem Vorbehalt vorgeplant, wer im letzten Augenblick bei ihm sein möge, wie die<br />

Trauerfeier ablaufen soll-und sogar eine Grabstelle gibt es schon. Es ist sein Naturell, aber auch<br />

eine mich persönlich jedenfalls sehr berührende Art von Tapferkeit, die er zunehmend<br />

‚erlernt’, dass wir alle um ihn herum eigentlich gar nicht erst uns bemühen müssen, ihn in<br />

seiner tatsächlich beeindruckenden Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu achten. Ich habe genug<br />

Wissen, um ihn aus vollem Herzen und mit guten Wünschen gehen zu lassen, wenn es einmal so<br />

weit ist, aber mein Herz wird auch aufrichtig schwer sein über den Verlust. Wir lernen ja so<br />

viel mit-und aneinander.<br />

Der zweckrationalisierte Klinik-bzw. Altenpflegeheimalltag ist bekanntermaßen in besonderer Weise<br />

geeignet, sterbenskranke Menschen in ihrer Würde zu übersehen. Sie sind zu leise, ihre Hand zu<br />

heben und zu rufen: Halt! Habt ihr mich wohl vergessen? Kann jemand mir etwas zu trinken bringen?<br />

Kann jemand mir-und sei es: noch einmal-erklären, wie es um mich steht? Könnt ihr aufhören, meine<br />

Angelegenheiten über mich hinweg zu entscheiden? Könnt ihr mit mir reden? Kann für einen Moment<br />

einer bei mir sitzen und vielleicht meine Hand halten in meiner Angst? Hier bedürfen die Kranken<br />

unserer praktischen Unterstützung-dass wir bzw. die Angehörigen möglichst häufig bei ihnen sind<br />

und mit ihnen sprechen, um gegebenenfalls für sie einzutreten und zu vermitteln. Und die Erstellung<br />

einer Patientenverfügung, in der vorsorglich Art und Umfang der im Ernstfall erwünschten<br />

ärztlich-medizinischen bzw. pflegerisch-seelsorgerlichen Behandlung und Betreuung dargelegt<br />

werden kann, dient ja ganz ausdrücklich der Wahrung persönlicher Autonomie und Würde in der<br />

letzten Lebensphase. Wir können dabei helfen, das Thema Krankheit und Sterben-persönliche<br />

Erfahrungen mit schwerer lebensbedrohlicher Erkrankung, Sterben und Tod-persönliche<br />

ethisch/moralische Grundsätze zu Sterben und Tod-persönliche Vorstellungen zum eigenen Sterben<br />

im eigenen Bewusstsein beizeiten zuzulassen, um so auch die letzte Lebensphase weniger<br />

unvorbereitet und vielmehr frei und selbstverantwortlich sinnvoll gestalten zu können.


Als Herr A. in der ersten Phase unserer Begegnung in äußerster Erschöpfung und<br />

Hoffnungslosigkeit angesichts seiner langandauernden schweren und sehr komplexen<br />

Erkrankung Suizid in Erwägung zog, gehörte zu den sichernden Maßnahmen, die wir<br />

gemeinsam vollzogen, auch eine Neu-und Umformulierung seiner Patientenverfügung, die er<br />

Jahre zuvor schon einmal erstellt hatte. Es war ein sehr existentieller Moment in dem wir es<br />

taten-es war im Krankenhausflur, unmittelbar vor einem kleinen, eigentlich harmlosen<br />

operativen Eingriff, der für ihn in seiner schlechten Allgemeinverfassung aber durchaus riskant<br />

war. Her A. hatte nämlich in den Tagen zuvor bei genauem Hinhören zwei Gefühle zum<br />

Ausdruck gebracht: „Es ist mir egal, wenn ich nicht mehr aufwache-ich will ja gar nicht<br />

mehr...“; und: „Die sollen mich ‚anständig’ behandeln!“ Und so hatte ich von der Gelegenheit<br />

Gebrauch gemacht, die er mir gegeben hatte, ‚unser’ Augenmerk in dieser Situation auf die<br />

seine Persönlichkeit deutlich kennzeichnende hohe Verletzbarkeit im Anspruch auf Achtung<br />

und Respekt zu legen; und ich hatte ihn bestärkt in seinem Recht und seiner Möglichkeit,<br />

seine Behandlungsund Betreuungsansprüche noch einmal neu-und auch präziser als bisher zu<br />

formulieren. In dieser Weise zur Lebendigkeit herausgefordert, fand er nun buchstäblich im<br />

letzten Moment tatsächlich wieder ein Stück weit mehr in sein ‚Wollen’-und vielleicht kann<br />

man auch sagen, er erinnerte sich seiner Würde.<br />

Es mag auch sein, dass ein Mensch von seinen persönlichen und situativen Möglichkeiten her gar<br />

nicht in der Lage ist, sich in seinem Sterben-in welcher Weise auch immer emotional zu positionieren.<br />

Er scheint in den oben geschilderten phasischen Verlauf der Krisenverarbeitung (vgl. Kap. 2.3)-sei es<br />

nun erschüttert, wütend, verhandelnd oder eben auch traurig-resigniert zum Suizid bereit, überhaupt<br />

nicht einzutreten, wie als ob er selbst damit nichts zu tun hätte. Er scheint einfach zu verkümmern.<br />

Wenn Angehörige oder Pflegekräfte in solchen Umständen um Hilfe rufen, spüre ich die<br />

Herausforderung, in Achtung und Respekt vor dem Leben selbst neben dem anderen herzugehen, um<br />

ihm-wie immer seine Hintergründe sein mögen-ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Einmal habe<br />

ich in einem solchen Fall ganz besonderes erlebt:<br />

Der Lebenspartner einer Frau mit ‚austherapiertem’ schnell wachsendem Hirntumor ruft um<br />

Hilfe-mit dieser Information ging ich in die erste Begegnung mit Frau E. Die Situation, in die<br />

ich geriet, als ich die Wohnung betrat, war so erschreckend wie unwürdig: Frau E., in ihrer<br />

Zierlichkeit sehr abgemagert und ausgesprochen ungepflegt, saß zusammengekrümmt in einem<br />

Sessel und reagierte auf meine Begrüßung ohne aufzublicken mit einer knappen Andeutung von<br />

Bejahung. Gleichzeitig steigerte sich ein unhöflicher, ebenfalls sehr ungepflegter Mann in einen<br />

unbeherrschten Zornesausbruch bei dem Versuch, mir zu erklären, dass er „mit der Frau<br />

fertig“ sei. Er sei nicht und unter keinen Umständen weiter bereit, sie in seiner Wohnung leben<br />

zu lassen. Nichts ginge mehr. Er habe sie nie leiden können-sie müsse „raus“. Dass es sich nicht<br />

um eine reine Überlastungsreaktion durch die damals bereits bestehende<br />

Versorgungsbedürftigkeit von Frau E. handelte-sie zeigte phasenweise schon leichte<br />

Verwirrtheitszustände-war schnell geklärt: Dieser Mann schrie es mir ins Gesicht: er wollte<br />

und werde seine Lebenspartnerin niemals wieder sehen. Glücklicherweise gelang es mir,<br />

innerhalb kürzester Zeit für Frau E. einen Platz in einer Sozialstation mit Hospizcharakter zu<br />

organisieren. In der ersten Zeit war sie sehr unruhig und fühlte sich eingesperrt-und so wie es<br />

noch möglich war, verließen wir das Haus, um in naher Umgebung kleine Einkäufe für ihren<br />

persönlichen Bedarf zu machen, oder vielleicht ein Eis zu essen. Für diese kleinen ‚Ausflüge’-sie<br />

waren aufgrund der zunehmenden hirnorganisch bedingten Gleichgewichtsproblematik nicht<br />

eben mühelos, aber wir konnten mitunter tatsächlich darüber lachen-war mir Frau E. sehr<br />

dankbar-und sie wurde sehr anhänglich und begann, sich zu öffnen. In der darauf folgenden<br />

Zeit erzählte sie mir, wie es ihr eben jeweils gerade möglich war, aus ihrem ruhe-und rastlosen<br />

Leben voller Härten und Enttäuschungen. Es gab da zwei geschiedene Ehemänner, mehrere<br />

Lebenspartner und zwei Töchter-und auffällig darin und dabei: keiner von denen wollte mehr<br />

etwas mit ihr zu tun haben. Sie vermochte nicht zu sagen, warum-sie wusste es nicht; und ich


kann meinen Eindruck nur als solchen stehen lassen, dass sie es in ihrem Leben niemals<br />

bewältigt hat, ihre sozialen Beziehungen in vernünftiger und guter Weise zu gestalten. „Ich war<br />

immer auf der Flucht“, hat sie einmal gesagt, aber das zu reflektieren, blieb uns weder Zeit,<br />

noch Möglichkeit. Natürlich versuchte ich, Kontakt zu ihren jugendlichen Töchtern zu<br />

vermitteln-sie wollte es am Schluss, wollte sich verabschieden-aber jene hatten sich längst aus<br />

der Not heraus von ihrer Mutter losgesagt und fanden keine Kraft, sie in ihrem elenden<br />

Zustand noch einmal wiederzusehen. Was ich von den Töchtern zu verstehen glaubte, ist sehr<br />

traurig-und es ließe sich vielleicht so andeuten: Wir können uns nicht von ihr verabschieden,<br />

denn sie hat uns nie begrüßt. Und all die Männer ihres Lebens, die galten eh nicht mehr. Und so<br />

waren wir beide also allein miteinander gegen Ende ihres Lebens. Manchmal erzählte sie ein<br />

bisschen-und immer öfter schwiegen wir. Ich brachte ihr eine bestimmte ruhige und klare<br />

Flötenmusik mit, die sie auch in meiner Abwesenheit täglich hörte. Ihre Todesstunde war<br />

aufgrund körperlicher Anzeichen absehbar, sodass wir in der bekannten Flötenmusik<br />

schweigend beisammen sein konnten, als es soweit war. Was sich im Moment von Frau E.s Tod<br />

ereignete, gehört in den Bereich des Unaussprechlichen-ich will davon nur sagen: Im Moment<br />

des Todes entspannte sich ihr verlebtes und gequältes Gesicht in einen ungekannt friedlichen<br />

Ausdruck und-es erstrahlte. Ich war sehr berührt und blieb noch lange sitzen. Vielleicht hat<br />

Frau E. über allem nicht zu Ende Gebrachten eine Art des Friedens gefunden.


3. Falldarstellungen<br />

Begleiten hat eine viel tiefere Bedeutung und bezieht sich auf das Wohl und Wehe des ganzen<br />

Menschen. Begleitung umfasst alle Versuche, dem anderen als Menschen nahe zu sein, dessen<br />

eigene Möglichkeiten zu wecken und zu verstärken. Begleitung bedeutet nicht, die Probleme für<br />

den anderen zu lösen und seine Last für ihn zu tragen, sondern ihn so zu unterstützen, dass er<br />

sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod sterben kann<br />

Paul Sporken<br />

Frau K.<br />

Frau K. war unwiderruflich an Gebärmutterhalskrebs erkrankt-und es befanden sich Metastasen im<br />

gesamten Unterleib. Ihre Begleitung fand zunächst bei ihr zu Hausezwischenzeitlich im<br />

Krankenhaus-und in den letzten Lebenstagen in einem Hospiz statt; sie dauerte ein knappes Jahr. Frau<br />

K. war 82 Jahre alt. Sie war eine sehr gepflegte Frau, die auch krank und bettlägerig viel Wert auf ihre<br />

äußere Erscheinung legte-und der man tatsächlich ihr Alter nicht ansah. Beeindruckend war bis zum<br />

letzten Augenblick ihre geistige Präsenz-und wie sie ihre Krankheitssituation jederzeit<br />

selbstverantwortlich in der Hand behielt. Aus vielen Gesprächen mit ihr ging hervor, dass sie in ihrer<br />

Ehe nicht glücklich gewesen war, weil der Ehemann ihr von der Hochzeit an nicht treu gewesen war.<br />

Als ihr Mann gut 20 Jahre vor ihr starb, begann sie an anderem Ort noch einmal neu und besser allein<br />

zu leben. Der Tod ihres 17-jährigen Enkels-und der Tod eines ihrer Söhne wenige Jahre später, lag<br />

jedoch bis zum Ende wie ein Schatten über ihr. Und diese beiden Menschen waren es auch-neben<br />

ihrer Mutter, die es ihr in der Todesstunde ermöglichten, sich mit jener berührenden Geste der<br />

verzweifelten Entschiedenheit in das Unvermeidliche und bis eben dahin Nichtgewollte zu fügen.<br />

Denn das war Inhalt und Essenz ihrer Begleitung: Sie fühlte und fand sich zu jung zum Sterben. Sie<br />

wollte es nicht, und sie vermochte es nicht einsehen, als es soweit war-fand es „ungerecht“. „Warum<br />

gerade ich...?“, so hat sie immer gefragt-und dann aber in personaler Entschiedenheit bejahend über<br />

sich und ihr Leben hinausgeblickt auf die geliebten Menschen hin, die es schon vor ihr ‚geschafft’<br />

hatten...<br />

Frau S<br />

Frau S. litt an einem inoperablen Lungenkarzinom mit Metastasen. Mehrmals musste wegen akuter<br />

Atemnot notfallmäßig interveniert werden und eine Einweisung ins Krankenhaus erfolgen. Neben<br />

Schmerzen in der Brust klagte Frau S. im Sinne des Fatigue-Syndroms über tiefe Erschöpfung,<br />

Kraftlosigkeit und Müdigkeit. Ihre Begleitung fand bei ihr zu Hause, in verschiedenen Kliniken-und<br />

für die letzten Lebenswochen in einem Hospiz statt; sie erstreckte sich über etwa Jahr. Frau S. war 56<br />

Jahre alt-Friseurmeisterin in Selbstständigkeit-zweimal geschieden mit einer Tochter und einer<br />

Enkeltochter. Durch die Erkrankung hindurch wirkte eine stattliche Erscheinung, die eine gewisse<br />

Autorität ausstrahlte. Äußerlich jedoch erschien sie in gewissem Maße vernachlässigt; und neben der<br />

Erkrankung sah man ihr einen übermäßigen Alkohol-und Nikotinkonsum an. Sie benötigte permanent<br />

Sauerstoff, rauchte und trank dabei aber gleichzeitig weiter. Selbst in den letzten Lebenstagen im<br />

Hospiz-als sie geistig schon nicht mehr vollständig präsent war, verlangte sie nach ‚ihrer Zigarette’,<br />

und wir sahen keinen Sinn darin, diese ihr zu verwehren, weil sie sich darüber unverhältnismäßig<br />

erregt hätte; wir halfen ihr beim Rauchen.


Im Gespräch mit Frau S. hatte ich den Eindruck, es mit einem Menschen zu tun zu haben, der es sich<br />

zur Aufgabe macht, stärker zu sein als das Leben mit all seinen Härten und Enttäuschungen. Sie tat es<br />

um den Preis, dafür im zwischenmenschlichen Umgang als durchaus schwierig zu gelten-sie wusste<br />

es und nahm es in Kauf; und ich befand sie dafür als tapfer und fühlte mich ihr nah. Nun aber in<br />

‚unserer Situation’ war es schwierig damit: Wir haben gemeinsam häufiger für einzelne Momente<br />

ihrem Tod konkret ins Auge blicken können, aber darin verweilen wollte und konnte sie nicht-das war<br />

ihr dann in all ihrer immer schwerer werdenden Atemnot und in all dem enttäuschten Lebensgefühl<br />

des Eingesperrt-und Gehindertseins einfach zu viel und zu schwer. Immer wieder geriet sie darüber in<br />

eine Art des Verhandelns, in dem sie die Bedingungen-und da eben letztendlich den Zeitpunkt-selbst<br />

zu bestimmen suchte. Am Ende hat sie sich über gut ärztlich-medizinisch überwachte Versorgung<br />

helfen lassen können in der existentiellen Angst, ohnmächtig und hilflos im Nichts zu versinken.<br />

Herr A<br />

Herr A. ist 39 Jahre alt-von Beruf Krankenpfleger und seit 7 Jahren mit einem Mann verheiratet. Er<br />

ist ein körperbetonter Mensch-gern verweist er auf Fotos von früher, auf denen er mit gut<br />

durchtrainiertem muskulösen Körper zu sehen ist; Und trotz seiner extremen Abgemagertheit wirkt er<br />

noch erstaunlich ansehnlich und sehr gepflegt. Seit 9 Jahren ist er an Darmkrebs (mit künstlichem<br />

Darmausgang)-und seit 17 Jahren an Aids (jetzt im sogenannten „Vollbild“) erkrankt. Im<br />

Zusammenhang mit diesen beiden Erkrankungen hat er schon vielmals gegen alle ärztliche Prognose<br />

lebensgefährliche Operationen und Infektionen überlebt. Vor etwa einem Jahr war seine<br />

Gesamtsituation derart ‚aussichtslos, dass er in ein Hospiz aufgenommen wurde-und aber da sich<br />

wieder erholte; es war für ihn und seinen Lebenspartner ein traumatisches Erlebnis. Kurz darauf<br />

wurde ich gerufen wegen der seelischen Krise, in der er sich verständlicherweise befand. . Ich weiß<br />

inzwischen von vielen unerhört schmerzhafte Ereignissen, die er bereits als Kind erleben musste-und<br />

überlebt hat. Er hat eine gewisse Übung darin-und das ist gut, denn er ist ja weiter gefordert. Schon<br />

manch eine kritische Situation haben wir mittlerweile zusammen durchlebt. Es handelt sich dabei<br />

nicht nur um akute körperliche Notlagen, sondern immer wieder zwischendurch schlägt es ihn zurück<br />

in alte, wieder lebendig werdende Wut, die er nur leider unkontrolliert wahllos an falscher Stelle<br />

projiziert; und wir müssen also mitunter bis in juristische Belange hinein klären, klarstellen und<br />

wieder gut machen, was eben möglich ist. Ich bin fortlaufend auf Nichtalltägliches gefasst. Aber wir<br />

können gut miteinander arbeiten-wir lassen uns aufeinander ein und es ist ein Vertrauensverhältnis<br />

entstanden. Ich gehe gerne neben ihm her-lerne selbst und freue mich, dass ich ihm wahrscheinlich<br />

ein wenig helfen kann. Derzeit ist Herr A. zu Hause. Es geht ihm den Umständen entsprechend recht<br />

gut. Wenn es geht, will er zu Hause sterben.<br />

Frau M<br />

Frau M. hatte Bronchialkrebs und litt an Altersdemenz und Schwerhörigkeit. Sie hatte keine<br />

Angehörigen mehr-nur einen amtlichen Betreuer-und lag allein in einem Seniorenheim mit der<br />

üblichen personellen Unterbesetzung. Ich habe sie fünf mal besucht. Frau M. war 67 Jahre alt.<br />

Schmerzen schien sie nicht zu leiden-und sie mag wohl das Gefühl gehabt haben, ihr Leben sei nun<br />

genug gelebt. Wenn ich ihre wenigen Worte und vielen eindrücklichen Gebärden richtig verstanden<br />

habe, hat sie einfach nur sehr auf den Tod gewartet-ohne Angst.


Frau H<br />

Frau H. hatte Darmkrebs mit Metastasen am gesamten Rückenmark. Ihre Schmerzen wurden mit<br />

verschiedenartigen Opiaten behandelt, aber sie hat dennoch sehr gelitten. Sie war wie ihr Mann 66<br />

Jahre alt und hatte in einem großen Unternehmen als Verwaltungsangestellte gearbeitet, während ihr<br />

Mann Hausmeister einer Schule gewesen war. Wie im Text dargestellt (vgl. Kap. 2.3.3 ) war Herr H.<br />

derjenige, der die Situation in ihrem gesamten Verlauf-und nicht nur mit Worten beherrschte. Aber sie<br />

schien das so zu kennen und nicht kritisch zu hinterfragen. Beide erzählten mit Stolz immer wieder,<br />

sie seien in ihren über 40 Ehejahren nur zwei Nächte voneinander getrennt gewesen. Und wenn wir<br />

miteinander allein waren, schwiegen wir, oder sie erinnerte sich lächelnd an schöne Erlebnisse mit<br />

ihmunschöne habe es nicht gegeben. Sorgen habe es schon gegeben in ihrem Leben, aber nie mit ihm.<br />

Im ganzen schien sie eher still. Auffällig für uns Außenstehende war nur, dass Frau H. in ihrer<br />

sterbenskranken Situation rein physisch so vergleichsweise lange durchhielt-dass sie die überdauernd<br />

hohe Gabe von verschiedenartigsten schwersten Schmerzmitteln so vergleichsweise lange überlebte.<br />

Die Ärzte fanden es ganz ungewöhnlich. Und da war ja nun dieses eine Gespräch, in welchem Frau H.<br />

auf mein Nachfragen hin eingestand, dass sie ihn doch ‚nicht einfach allein lassen’ könne, aber für<br />

jegliche Auseinandersetzung damit und darüber schien sie mir rein körperlich zu schwach. Ihr Mann<br />

war es, der mit seinem kindlich-trotzig wirkenden Verhalten die Möglichkeit bot, in die Symbiose<br />

hinein zu intervenieren. Die Begleitung fand anfänglich zu Hause-und später in einem Hospiz statt;<br />

sie dauerte zwei Jahre.<br />

Herr R<br />

Herr R. hatte einen inoperablen Hirntumor, der innerhalb von 7 Monaten zum Tode führte. Er war 57<br />

Jahre alt und mit seiner 55-jährigen Frau seit 30 Jahren verheiratet. Die beiden hatten keine Kinder,<br />

aber einen sehr geliebten kleinen Hund. Er war Chefkoch eines renommierten Hotels gewesen-seine<br />

Frau ist ganztägig kaufmännische Angestellte bei einer Krankenkasse. Ich lernte Herrn R. in der<br />

liebenswerten, gut-und gleichmütigen Art und mit dem wohltuenden Humor kennen, für den er wohl<br />

sein Leben lang bekannt gewesen war. Alle mochten ihn-auch besonders die Kinder, den kleinen stark<br />

beleibten Koch. Schwerfällig und täppisch konnte er zunächst auch noch laufen und am Tisch sitzen,<br />

war aber-durchbrochen von bewußtseinsmäßig hellwachen Momenten, in denen wir kleine kurze<br />

Unterhaltungen zu seiner Situation führen konnten-bereits deutlich desorientiert zur eigenen Person,<br />

zur gegenwärtigen Situation, zum Ort und auch zeitlich. Er war deshalb in einem Pflegeheim<br />

untergebracht. Bereits in den folgenden zwei Wochen wurde er aber zunehmend somnolent und damit<br />

bettlägerig. Soweit ersichtlich, blieb Herr R. bis zu seinem Tod innerlich ruhig und unaufgeregt-bis<br />

auf jene Ausnahmen, in denen er sich durch die Erregtheit seiner Frau deutlich genervt zeigte-und<br />

deutlich signalisierend Blickkontakt mit mir aufnahm. Da wir vornehmlich zu zweit an seinem Bett<br />

saßen, versuchte ich in seinem Interesse immer neu so gut die Aufmerksamkeit seiner Frau von ihrer<br />

eigenen Klage weg auf seine Ruhe hin zu lenken, wie ich andererseits versuchte, sie von einem<br />

übermäßig nervösem an ihm Herumhantieren abzuhalten. Ich glaube, dass er erfasst hat, weshalb wir<br />

mitunter ‚nach draußen’ gingen. Die Begleitung von Herrn R. dauerte 7 Monate


Frau E<br />

Die 39-jährige Frau E. hatte einen schnell wachsenden nicht operablen Hirntumor. Nicht nur im<br />

Zusammenhang mit ihrer Erkrankung, sondern auch, weil sie außerordentlich ungepflegt und<br />

vernachlässigt war, wirkte sie wesentlich älter-und außerdem verlebt. Von Beruf war sie<br />

Kinderpflegerin, hat aber, wenn ich sie richtig verstanden habe, nicht gearbeitet. Sie war nach zwei<br />

gescheiterten Ehen mit mehreren Lebenspartnern liiert gewesen und hatte zwei Töchter im Alter von<br />

17 und 21 Jahren, die sich aber eindeutig und ausdrücklich weigerten, mit ihr in Kontakt zu treten.<br />

Auch sonst wollte niemand mit ihr zu tun haben-sie habe sich durchweg zu anmaßend, unverschämt<br />

und gleichgültig verhalten. Ich fand sie in einem sozial problematischen Umfeld vor-und erfuhr im<br />

Miteinander mit ihr, dass sie ihre Kindheit und Jugend in ebensolchem problematischen Umfeld zu<br />

bestehen hatte. Die aufrichtige Einfachheit, in der sie mir davon erzählte, brachte sie mir innerlich<br />

näher: Offenbar hatte sie nie lernen können, ihre sozialen Beziehungen auch nur einigermaßen<br />

sinnvoll zufriedenstellend zu leben-und nun irrte sie, wenig sympathisch im ersten Eindruck und<br />

hilflos angewiesen aufgrund der zunehmenden geistigen Beeinträchtigung dem Tod entgegen. Es hat<br />

wohl niemand von den Verwandten und Bekannten sein können, der sich ihr für diesen einen letzten<br />

Moment im Leben in Achtung und Respekt vor dem Menschsein an sich-und in Mitgefühl zuwendet,<br />

ganz unabhängig davon, was immer da vorgefallen sein mag. Ich aber, als Außenstehende, hatte<br />

keinen Grund, es nicht zu tun. Die Begleitung fand in einer Sozialstation über 7 Monate statt.


4. Nachgedanken<br />

Wenn ein Mensch echte Tröstung erfahren hat, ist er mit dem Geistigen oder Spirituellen in<br />

Berührung gekommen. Das Erlebnis der Tröstung ist im tiefsten Sinne eine mystische Erfahrung,<br />

Dieses Erlebnis ereignet sich über ein Medium, einen Kanal: einen Menschen, ein Kunstwerk, die<br />

Natur oder ein anderes Element. Sie waren Träger oder Vermittler einer Qualität, eben der<br />

besonderen Qualität, die Heilung und Tröstung bringt. Das Eigentliche aber, das verwandelt und<br />

heilt, ist der Geist, das Geistige, der Heilige Geist, das Ewige, Göttliche. Es ist diese Kraft, die<br />

schöpferische Kraft, die es vermag, Dunkel zu erhellen, Schweres aufzuheben, Mutlosigkeit in<br />

Hoffnung zu verwandeln.<br />

Daniela Tausch-Flammer<br />

In der Begleitung eines Menschen, der sterben muss, steht weniger der therapeutische Versuch im<br />

Vordergrund, zu erhellen, mit welchen unbemerkt und unabsichtlich inadäquaten Verhaltensmustern<br />

er eventuell seinem persönlichen Frieden selbst im Wege steht. Mehr gilt hier die logotherapeutische<br />

Absicht, ihn darin zu unterstützen, vom spezifisch menschlichen Herausgefordertsein-der<br />

Selbstverantwortung und der Freiheit Gebrauch zu machen, sich selbst in seinem eigenen gesamten<br />

Lebenszusammenhang in den Blick zu nehmen, um sich auch und gerade in dieser äußersten<br />

Grenzsituation seiner Existenz subjektiv-persönlich wertabwägend für eine bestimmte<br />

Handlungsmöglichkeit zu entscheiden. Und dabei ist es in Wahrheit nicht das Loslassen und<br />

Abschiednehmen, sondern-ich will es am Ende so deutlich sagen-die Liebe, die sich ihren Weg bahnt<br />

durch alle Trauer über das verlorene Gewohnte, Vertraute, Geliebte, Erhoffte und Ersehnte. Sie, die<br />

Liebe ist es, die Klärung und Versöhnung mit dem Verlorenen sucht, um so auch kommendes Neues<br />

wieder sinn-ja liebevoll zu gestalten. Wir können diese Liebe mit dem Anderen so wenig besprechen,<br />

wie sie ihm anraten. Wie Rilke dichtet: "...Statt in die Kissen, weine hinauf. Hier, an dem weinenden<br />

schon, an dem endenden Antlitz, um sich greifend, beginnt der hinreißende Weltraum..." (Rilke 1976,<br />

50). Und wie auch Frankl sagt: "Den Satz von Ludwig Wittgenstein... -wovon man nicht sprechen<br />

kann, davon muss man schweigen-können wir... auch aus dem Agnostischen ins Theistische<br />

übersetzen – von dem man nicht sprechen kann, zu dem muss man beten.“ (Frankl 1977, 97). Diese<br />

Liebe, derer der Andere bedarf, um letztendlich Abschied nehmen zu können, kann sich ihm nur<br />

dadurch vermitteln, dass wir selbst um sie wissen, während wir mit ihm gemeinsam die ihm eigenen<br />

Ressourcen aufspüren, den Blick vom Gewesenen auf neu Kommendes hin zu wenden. Ein 'guter<br />

Begleiter' kennt also die Transzendenz als Möglichkeit, sonst müsste er ja bald auf der Strecke<br />

bleiben. Und sein geeignetes Handwerkszeug mag, so meine ich, mit gutem Recht die Logotherapie<br />

Viktor Frankls sein. "Frankl stellt Religion respektive Religiosität nicht in Frage, er thematisiert<br />

vielmehr ihren Stellenwert in menschlichen Suchen nach dem Sinn des Lebens. Als Psychologe weiß<br />

er um die Grenzen seiner Zuständigkeit, ohne den Verweis auf Transzendenz auszuklammern."<br />

(Kolbe 1986, 263). Ja, die Logotherapie stellt die geistige "Stellung des Menschen im Kosmos" (vgl.<br />

Max Scheler 1928, Die Stellung des Menschen im Kosmos) heraus-und aber lässt ihm dabei in<br />

sensibler phänomenologischen Haltung jederzeit den Vortritt hinsichtlich seiner<br />

subjektiv-persönlichen Antwort auf die jeweilige Herausforderung seines einmaligen und<br />

einzigartigen Lebens. So kann sich Begleitung, durchweg anspruchsvoll an sich selbst, in Achtung<br />

vor der Würde des Menschen vollziehen Für mich persönlich hat sich aus dem Leben heraus ein mich<br />

berührendes und bereicherndes Mit-und Ineinander von Frankls Logotherapie und dem<br />

buddhistischen Weg des Nicht-Leidens ergeben-auch und gerade in Hinblick auf die Möglichkeit,<br />

Sterbende zu begleiten. Die Nähe der beiden Versuche zueinander, den Menschen auf seine<br />

Möglichkeit hin zu begleiten, im Zweifelsfall über alles zu Erleidende seinen eigenen persönlichen<br />

inneren Frieden erlangen zu können, ließe sich sicherlich detailliert beschreiben-das wäre ein eigenes


interessantes Thema. Jedenfalls erscheint es mir nicht nur sinnvoll, sondern ich freue mich und bin<br />

dankbar, in dieser Weise mit Sterbenden auf dem Weg sein zu dürfen.


Dass schließlich vieles ungesagt geblieben ist in meinem Versuch, über die Begleitung sterbender<br />

Menschen zu sprechen, liegt in der Natur der Sache: ein guter Teil davon vollzieht sich tatsächlich in<br />

besonderer Weise unmittelbar, spontan, natürlich-in einer Art des intimen Beieinanderseins, das so<br />

wenig absehbar ist, wie hernach auch würdige Wort der Beschreibung dafür fehlen. Es ist am Ende<br />

dieses „Ja“ und „... trotzdem Ja zum Leben“, das in einem bestimmten Moment-hoffentlich-sich<br />

vermittelt. Und ich möchte also eher nicht zu viel gesagt haben.


Literaturliste<br />

Canacakis J (1990) Ich begleite dich durch deine Trauer. Stuttgart: Kreuz Frankl V (1998)<br />

Logotherapie und Existenzanalyse. Weinheim: Beltz Frankl V (1982) Ärztliche Seelsorge. Frankfurt:<br />

Fischer Frankl V (2004) ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das<br />

Konzentrationslager. München: Frankl V (1964) Logotherapie und Religion. In: Das Leiden am<br />

sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute. Freiburg, Basel, Wien: Herder Flammer E (1989) Wir<br />

sterben ja nicht nur einmal. In: Tausch-Fammer D/Bickel L (1999) Ich möchte dich begleiten.<br />

Freiburg, Basel, Wien: Herder Glogowski D/Haag A (2004). Buddhistische Ansichten. München:<br />

Bruckmann Kast V (1987) Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart: Kreuz<br />

Kast V (2006) Zeit der Trauer. Stuttgart: Kreuz Kübler-Ross E (1973) Interviews mit Sterbenden.<br />

Stuttgart: Kreuz Kodzera E (1986) Logotherapeutische Behandlung der Angst. In: Tagungsberichte<br />

der GLE 1, 22f Kolbe C (1986) Heilung oder Hindernis. Stuttgart: Kreuz Kolbe C (2005) Sinn und<br />

Glück. In: Längle S/Sulz M (Hg) (2004) Das eigene Leben. Wien:GLE-Verlag Längle A (1994) Zur<br />

Bewältigung von Angst und Schmerz bei schwerer Krankheit. In: DPA 48, 708 (1994) Längle A<br />

(2002) Lehrbuch der Existenzanalyse (3). Wien: GLE-Verlag Längle A (?) Lehrbuch zu den<br />

klinischen Bildern im Verständnis der Existenzanalyse. In: Längle S/Sulz M (Hg) (2004) Das eigene<br />

Leben. Wien:GLE-Verlag Longaker C (2001) Dem Tod begegnen und Hoffnung finden. Die<br />

emotionale und spirituelle Begleitung Sterbender. München, Zürich: Pieper Ortho Biotech (Hrsg):<br />

Wendepunkt Krebs-anders leben mit Fatigue. Ein Patienten-Informationsfilm Rilke RM (1976)<br />

Überfließende Himmel. In: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Leipzig:Insel Rinpoche S (1999)<br />

Den Tod verstehen. Bern, München, Wien: O.W. Barth Scheler M (1928 ) Die Stellung des Menschen<br />

im Kosmos. Bonn:Bouvier Schuchardt E (2006) Warum gerade ich...? Leben lernen in Krisen.<br />

Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht (überarb. und erw. Aufl.) Schmatz F (1986)<br />

Sterbendenbegleitung (Referatskizze). In: Tagungsberichte der GLE 2, 96 Tausch-Flammer D/Bickel<br />

L (2000) Jeder Tag ist kostbar. Endlichkeit erfahren-intensiver leben. Freiburg, Basel, Wien: Herder<br />

Wolf D (2005) Einen geliebten Menschen verlieren. Vom schmerzlichen Umgang mit der Trauer.<br />

Mannheim: PAL Verlagsgesellschaft mbH Tirier U (2003) Wenn alles sinnlos erscheint.<br />

Logotherapie in der Begleitung lebensbedrohlich erkrankter Menschen. Gütersloh: Gütersloher<br />

Verlagshaus Zink J 1985): Trauer hat heilende Kraft. Stuttgart: Kreuz


Noch bist du da<br />

wirf deine Angst in die Luft<br />

bald ist deine Zeit um bald wächst der Himmel unter dem Gras fallen deine Träume<br />

ins Nirgends<br />

noch duftet die Nelke singt die Drossel noch darfst du lieben Worte verschenken<br />

noch bist du da<br />

sei was du bist gib was du hast<br />

Rose Ausländer

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