ZESO 01/13
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<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>01</strong>/<strong>13</strong><br />
FALLREVISION THEORETISCHE UND PRAKTISCHE ANSÄTZE HUMANITÄRE<br />
DIPLOMATIE WALTER KÄLIN ENGAGIERT SICH FÜR DIE SCHWÄCHSTEN HOCHQUALIFIZIERT<br />
UND MIGRATIONSHINTERGRUND DISKRIMINIERUNG BEI DER STELLENSUCHE
SCHWERPUNKT14–25<br />
FALLREVISION<br />
Die Komplexität vieler Sozialhilfe-Fälle hat in<br />
den vergangenen Jahren zugenommen, und die<br />
Politik hat ihren Druck auf die Sozialhilfe und<br />
ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf mehr<br />
als einer Ebene erhöht: In Form von Änderungen<br />
der Vorgaben für den Bezug von Leistungen von<br />
vorgelagerten Sozialversicherungen, mit Sparaufträgen,<br />
und aufgrund eines beständigen latenten<br />
Verdachts, dass jemand über Gebühr von der<br />
Sozialhilfe profitieren könnte.<br />
<strong>ZESO</strong><br />
HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19, REDAKTION Michael Fritschi REDAKTIONELLE<br />
BEGLEITUNG Dorothee Guggisberg AUTORINNEN UND AUTOREN<br />
IN DIESER AUSGABE Monika Bachmann, Fabienne Cosandier, Tom<br />
Friedli, Maya Graf, Sabrina Graf, Martin Hošek, Martina Huber,<br />
Ganga Jey Aratnam, Alex Lötscher, Pirmin Marbacher, Michel<br />
Nicolet, Alena Ramseyer, Kurt Seifert, Sandro Stettler, Bernadette<br />
von Deschwanden, Julia Weber, Claudine Ziegler TITELBILD Rudolf<br />
Steiner LAYOUT mbdesign Zürich, Marco Bernet KORREKTORAT<br />
Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG Rub Media AG, Postfach,<br />
30<strong>01</strong> Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE<br />
Jahresabonnement Inland CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF<br />
69.–), Abonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 4. März 2<strong>01</strong>3<br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2<strong>01</strong>3<br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
2 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>13</strong> INHALT
INHALT<br />
5 Im Alter wächst die Ungleichheit.<br />
Kommentar von Kurt Seifert<br />
6 <strong>13</strong> Fragen an Maya Graf<br />
8 Praxis: Wie sind die Einnahmen<br />
des Konkubinatspartners zu<br />
berücksichtigen?<br />
9 Wer Pflichten auferlegt, muss auch<br />
über Rechte informieren<br />
10 «Es geht um die Möglichkeit, den<br />
Staat zur Verantwortung zu ziehen»<br />
Interview mit Walter Kälin,<br />
Professor für Staats- und Völkerrecht<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
FALLREVISION<br />
16 Fallrevisionen sind Bestandteil eines<br />
internen Kontrollsystems<br />
18 Alle machen es ein wenig anders<br />
20 Überprüfung der Organisation durch<br />
externe Dienstleister<br />
22 Interview mit Oscar Tosato,<br />
Lausanner Sozialdirektor und<br />
Vizepräsident der Städteinitiative<br />
Sozialpolitik<br />
24 Verdeckte Ermittlungen haben sich<br />
etabliert<br />
DIE HÖCHSTE SCHWEIZERIN<br />
DER MENSCHENRECHTSDIPLOMAT<br />
KONSTRUIERTE GEGENSÄTZE<br />
Maya Graf, dipl. Sozialarbeiterin HFS, ist<br />
die erste grüne Parlamentspräsidentin<br />
der Schweiz. Die Bio-Bäuerin aus Sissach<br />
erklärt in der Rubrik «<strong>13</strong> Fragen» unter<br />
anderem, wie Geduld und eine sportliche<br />
Einstellung zum Erreichen von langfristigen<br />
Zielen beitragen.<br />
6<br />
Walter Kälin reist immer wieder in<br />
Krisengebiete und setzt sich vor Ort für die<br />
Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen<br />
ein. Als Leiter des Schweizerischen<br />
Kompetenzzentrums für Menschenrechte<br />
(SKMR) unterstützt er auch im Inland<br />
Behörden, Organisationen und die<br />
Privatwirtschaft bei der Umsetzung von<br />
Menschenrechtsverpflichtungen.<br />
10<br />
Hochqualifizierte mit Migrationshintergrund<br />
stossen in der Schweiz tendenziell auf<br />
Ablehnung, wenn sie im Sozialbereich<br />
tätig werden wollen. Ihre kulturelle und<br />
ethnische Diversität erfährt wenig positive<br />
Wertschätzung, sagt eine Studie.<br />
26 Studie: Wo sich der Sozialbereich von<br />
seiner weniger sozialen Seite zeigt<br />
28 Reportage: Zuhause ist ein Ort, wo<br />
man sich verstanden fühlt<br />
30 Plattform: Der Schweizerische<br />
Fachverband Sozialdienst in<br />
Spitälern SFSS<br />
32 Arbeitslosenprojekt: Die Fotografie<br />
als Mittel zur Selbstermächtigung<br />
und Anerkennung<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Die Brückenbauerin: Porträt der<br />
interkulturellen Übersetzerin<br />
Theresa Anthoneypillai<br />
SCHWIERIGE VERSTÄNDIGUNG<br />
26<br />
Sie sprechen mit Gebärden und in Lauten:<br />
Gehörlose Menschen werden in einer<br />
Gesellschaft von Hörenden schlecht<br />
verstanden. Wer aber genau hinhört und<br />
hinschaut, lernt Menschen mit starken<br />
Emotionen kennen. Zu Besuch in der<br />
Gehörlosenstiftung Uetendorfberg bei Thun.<br />
28<br />
INHALT 1/<strong>13</strong> <strong>ZESO</strong><br />
3
Konkubinat: Wie sind Einnahmen<br />
des Partners zu berücksichtigen?<br />
Ein Mann mit Unterhaltsverpflichtungen lebt mit seiner neuen Partnerin und dem gemeinsamen<br />
Kind im Konkubinat. Das nachfolgende Beispiel zeigt, wie sich die überarbeitete Praxishilfe H.10 auf<br />
die Berechnung der Sozialhilfe auswirkt.<br />
Im Schwerpunkt «Wohn- und Lebensgemeinschaften»<br />
(<strong>ZESO</strong> 3/2<strong>01</strong>2, S. 20) wurde<br />
die Situation von Eugenio M. geschildert,<br />
der, von seiner zweiten Ehefrau getrennt,<br />
mit seiner neuen Partnerin Lida B.<br />
und einem gemeinsamen Kind zusammenlebt.<br />
Sein Einkommen beträgt ohne Kinderzulagen<br />
rund 4000 Franken. Nach Bezahlung<br />
der (nach-)ehelichen und elterlichen<br />
Unterhaltsverpflichtungen aus den<br />
beiden ersten Ehen bleibt nicht genug Geld<br />
für den Lebensunterhalt der aktuellen Familie.<br />
Lida B. beantragt deshalb Sozialhilfe.<br />
Für die Beurteilung des Antrags ist<br />
klar, dass es sich um ein stabiles Konkubinat<br />
handelt, da das Paar mit einem<br />
gemeinsamen Kind zusammenlebt. Im<br />
Unterstützungsbudget von Lida B. sind<br />
die Einnahmen ihres Partners Eugenio M.<br />
angemessen zu berücksichtigen (SKOS-<br />
Richtlinien, F.5.1).<br />
Frage<br />
1. Was heisst, «angemessen berücksichtigen»?<br />
2. Was ändert sich für Eugenio M. und<br />
seine Partnerin durch die überarbeitete<br />
Praxishilfe H.10?<br />
PRAXIS<br />
Die Rubrik « Praxis » beantwortet Fragen der<br />
Sozialhilfe praxis. SKOS-Mitglieder haben die<br />
Möglichkeit, konkrete Fragen an die SKOS-Line<br />
zu richten (www.skos.ch, einloggen ins Intranet,<br />
Rubrik «SKOS-Line» wählen). Ihre Fragen werden<br />
von Fachpersonen beantwortet, und ausgewählte<br />
Beispiele werden in der <strong>ZESO</strong> publiziert.<br />
Grundlagen<br />
Wären Eugenio M. und Lida B. verheiratet,<br />
würde für sie das Prinzip der Familienbzw.<br />
Unterstützungseinheit gelten. Dieses<br />
Prinzip ergibt sich aus der im Zivilrecht<br />
verankerten familienrechtlichen Beistandspflicht<br />
und bedeutet, dass zusammenlebende<br />
Ehegatten eine wirtschaftliche<br />
Schicksalsgemeinschaft bilden. Dementsprechend<br />
sind in Hausgemeinschaft<br />
lebende Ehegatten und unmündige Kinder<br />
mit gleichem Unterstützungswohnsitz<br />
nach Art. 32 Abs. 3 ZUG rechnerisch als<br />
ein Unterstützungsfall zu behandeln und<br />
folglich die Einnahmen beider Ehegatten<br />
anzurechnen. Bei Konkubinatspaaren fehlt<br />
diese gesetzlich verankerte Beistandspflicht,<br />
es darf deshalb nicht von einer Unterstützungseinheit<br />
ausgegangen werden.<br />
Eine völlige Gleichstellung von Konkubinatspaaren<br />
mit Ehepaaren ist mangels<br />
rechtlicher Gleichstellung nicht möglich,<br />
sie würde gegen das Rechtsgleichheitsbzw.<br />
Differenzierungsgebot von Art. 8 Abs.<br />
1 BV verstossen. Die Konkubinatspartnerin<br />
hat beispielsweise von Gesetzes wegen<br />
gar keinen Unterhaltsanspruch, den Konkubinatspartner<br />
trifft höchstens eine moralische<br />
Verpflichtung. Diesem Umstand<br />
hat die Sozialhilfe als unterstes Netz der<br />
sozialen Sicherung Rechnung zu tragen.<br />
Ausserdem werden Unterhaltsleistungen<br />
des erwerbstätigen Konkubinatspartners<br />
an die Partnerin steuerlich nicht berücksichtigt.<br />
Die Frage der Bedürftigkeit lässt sich aber<br />
dennoch nicht gänzlich unabhängig von den<br />
finanziellen Verhältnissen des erwerbstätigen<br />
Partners beurteilen. Es gilt zu verhindern<br />
– wie das Bundesgericht zutreffend feststellt<br />
–, dass ein in gefestigten Verhältnissen<br />
lebendes, Sozialgelder beziehendes Konkubinatspaar<br />
besser gestellt wird als ein verheiratetes<br />
Paar (Urteil des BGer 8C_356/2<strong>01</strong>1<br />
vom 17. August 2<strong>01</strong>1, E. 3.2.1).<br />
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte<br />
hat die SKOS die Praxishilfe H.10 überarbeitet.<br />
Einige Bemerkungen zur seit Januar<br />
2<strong>01</strong>3 geltenden Regelung:<br />
• Für den nicht unterstützten Partner ist<br />
nach wie vor ein erweitertes SKOS-Budget<br />
zu erstellen.<br />
• Neu wird der rechtlichen Unterhaltspflicht<br />
gegenüber im gleichen Haushalt<br />
lebenden gemeinsamen Kindern Rechnung<br />
getragen: Bedarf und Einkünfte<br />
dieser Kinder werden im Budget des<br />
nicht unterstützten Partners berücksichtigt.<br />
Die Kosten für gemeinsame<br />
Kinder gehen also neu voll zu Lasten<br />
des nicht unterstützten Partners, sofern<br />
dessen finanziellen Verhältnisse dies erlauben.<br />
• Rechtliche Unterhaltsverpflichtungen<br />
gegenüber Personen ausserhalb des<br />
Haushalts gehen aber aufgrund deren<br />
prioritären Charakters nach wie vor der<br />
Unterstützung der Konkubinatspartnerin<br />
vor (BGE <strong>13</strong>6 I 129, E. 7.2.1).<br />
• Schuldenabzahlungen werden bei Konkubinaten<br />
mit gemeinsamen Kindern<br />
nicht mehr berücksichtigt.<br />
Antwort<br />
1. Nach wie vor gilt die Berücksichtigung<br />
des Einkommens des nicht unterstützten<br />
Partners als angemessen, wenn einerseits<br />
den rechtlichen Unterschieden<br />
Rechnung getragen wird und andererseits<br />
keine wesentliche Besserstellung<br />
gegenüber Ehepaaren erfolgt.<br />
2. Nach alter Regelung wurde Lida B. zusammen<br />
mit dem gemeinsamen Kind<br />
unterstützt. Neu hat Eugenio M. für den<br />
Unterhalt des Kindes voll aufzukommen,<br />
es wird nur mehr seine Partnerin<br />
unterstützt, das Kind wird nicht in die<br />
Unterstützungseinheit aufgenommen.<br />
Die familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen<br />
von Eugenio M. gehen<br />
aber nach wie vor der Unterstützung<br />
seiner Partnerin vor und sind in seinem<br />
erweiterten SKOS-Budget anzurechnen.<br />
•<br />
Bernadette von Deschwanden<br />
Mitglied Arbeitsgruppe RiP<br />
(Richtlinienkommission der SKOS)<br />
8 ZeSo 1/<strong>13</strong> praxis
«Es geht um die Möglichkeit, den<br />
Staat zur Verantwortung zu ziehen»<br />
Walter Kälin reist als «Menschenrechtsdiplomat» immer wieder in Krisengebiete. Er kennt den Nutzen<br />
von Konsensdiplomatie und weiss, wie man Diktatoren dazu bringen kann, über Menschenrechte<br />
zu sprechen. In der Schweiz ist die Diskussion über die Menschenrechte von einem moralisierenden<br />
Ton geprägt, wodurch relevante Anliegen in den Hintergrund gedrängt werden, bedauert er.<br />
Herr Kälin, Sie setzen sich seit über<br />
zwei Jahrzehnten – meistens im Auftrag<br />
der Uno – für die Menschenrechte<br />
und den Schutz von vertriebenen Menschen<br />
ein. Was machen Sie da genau?<br />
Das hängt vom jeweiligen Mandat ab.<br />
Als Vertreter des Uno-Generalsekretärs für<br />
intern Vertriebene und ihre Menschenrechte<br />
in den Jahren 2004 bis 2<strong>01</strong>0 bestand<br />
die Aufgabe darin, in Länder mit<br />
Vertreibung zu reisen, um mir vor Ort ein<br />
Bild der Situation zu machen, aus meinen<br />
Feststellungen Vorschläge zu formulieren,<br />
was verbessert werden muss, und darüber<br />
mit den Regierungen zu verhandeln. Auf<br />
konzeptioneller Ebene entwickelte ich<br />
Hilfsmittel, beispielsweise ein Handbuch<br />
zur Frage, wie humanitäre Organisationen<br />
die Menschenrechte der Opfer im Nachgang<br />
einer Naturkatastrophe besser schützen<br />
können.<br />
Und was tun Sie als Mitglied des Uno-<br />
Menschenrechtsausschusses?<br />
Da bin ich einer von 18 Expertinnen<br />
und Experten, die darüber wachen, ob der<br />
Uno-Pakt über die bürgerlichen und politischen<br />
Rechte eingehalten wird. Hier ist<br />
das Prüfen der Berichte, die die Staaten<br />
uns unterbreiten müssen, die zeitlich aufwändigste<br />
Aufgabe. Die Diskussion dieser<br />
Berichte mit einer Delegation des überprüften<br />
Staates und die Verabschiedung<br />
konkreter Empfehlungen braucht viel Zeit.<br />
Daneben behandeln wir Beschwerden wegen<br />
Menschenrechtsverletzungen in Einzelfällen.<br />
Wie verhandelt man Menschenrechte<br />
und wie bringt man Despoten und<br />
Warlords überhaupt erst dazu, über<br />
Menschenrechte zu sprechen?<br />
Das ist durchaus nicht immer einfach.<br />
Ich habe Regierungsvertreter getroffen,<br />
die vermutlich für Kriegsverbrechen und<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich<br />
waren. Doch auch für solche<br />
Länder sind hunderttausende vertriebener<br />
Menschen, die am Rand der Existenz leben,<br />
eine Belastung. Die Regierungen<br />
wissen, dass sie etwas tun müssen, um die<br />
humanitäre Krise zu entschärfen, um international<br />
und im eigenen Land eine minimale<br />
Glaubwürdigkeit zu bewahren. Das<br />
ist meistens der Türöffner.<br />
Man argumentiert aus einer längerfristigen<br />
Perspektive?<br />
Es ist eine Mischung von Appellieren<br />
an unmittelbare Eigeninteressen des Regimes,<br />
beispielsweise, dass sich hunderttausende<br />
vernachlässigter Vertriebener<br />
leicht radikalisieren lassen und Nichtstun<br />
deshalb ein Sicherheitsrisiko darstellt,<br />
und an die Prinzipien der Menschenrechte.<br />
Es kann sein, dass jemand aus dem<br />
Umfeld des Regimes auf Gelder aus humanitärer<br />
Unterstützung angewiesen ist,<br />
beispielsweise eine ihm nahe stehende<br />
Bevölkerungsgruppe. Diese Hilfe könnte<br />
eingestellt werden. Man muss die richtige<br />
Mischung finden zwischen der Verteidigung<br />
der Menschenrechtsprinzipien und<br />
Argumenten, die eher im Denken und der<br />
Logik dieser Leute verankert sind.<br />
Wie viel Öffentlichkeit verträgt Menschenrechtsarbeit?<br />
Vertraulichkeit kann ein wichtiger Aspekt<br />
sein, da muss man gut abwägen. Ein<br />
Minimum an Transparenz wie Pressemitteilungen<br />
am Ende einer Mission ist aber<br />
immer nötig. In Sri Lanka, das ich 2009<br />
besuchte, war das Interesse an meiner Tätigkeit<br />
im Land selber riesig. Und mein Bericht<br />
im Jahr 2005 über Georgien wurde<br />
auch in China und Australien beachtet. Zu<br />
Simbabwe, das wir 2004 nicht besuchen<br />
durften, habe ich ganz bewusst ein hartes<br />
Statement zur Situation der Menschen<br />
verfasst, die in der Hauptstadt aus den Armenvierteln<br />
vertriebenen wurden.<br />
Von welchen Ländern oder Regionen<br />
könnte man sagen, dass es Ihnen<br />
gelungen ist, dort nachhaltig zu einer<br />
besseren Menschenrechtssituation<br />
beizutragen?<br />
10 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>13</strong> INTERVIEW
In Georgien ist es mir beispielsweise<br />
gelungen, die Regierung zu überzeugen,<br />
die Lebensbedingungen der in den frühen<br />
1990er-Jahren aus Abchasien Vertriebenen<br />
zu verbessern. Bis 2007 war die<br />
offizielle aber wenig realistische Position,<br />
dass diese Menschen bald zurückkehren<br />
könnten, und deshalb in ihren überfüllten<br />
Kollektivunterkünften ausharren müssten<br />
und sich nicht integrieren dürften. In Sri<br />
Lanka, wo eine Viertelmillion Vertriebene<br />
in Internierungslagern eingesperrt waren,<br />
haben zähe Verhandlungen dazu beigetragen,<br />
dass die Lager viel früher als zuerst<br />
angekündigt geöffnet wurden. Daneben<br />
habe ich auch frustrierende Erfahrungen<br />
machen müssen.<br />
Ihnen begegnet grosses Elend, aber Sie<br />
können nicht immer helfen. Wie gehen<br />
Sie mit diesen Frustrationen um?<br />
Ich vergleiche mich in solchen Situation<br />
mit Leuten, die im Medizinalbereich arbeiten,<br />
die mit Leiden und Tod konfrontiert<br />
sind, ihre Kraft aber daraus ziehen, dass sie<br />
so vielen Menschen helfen können. In meiner<br />
Arbeit ist es sogar in besonders schwierigen<br />
Ländern meist möglich, wenigsten<br />
kleinere Konzessionen zu erreichen. Man<br />
lebt davon, dass es immer wieder Erfolge<br />
gibt. Hier besteht wohl eine Parallele zur<br />
Sozialarbeit: Die Befriedigung entsteht<br />
dort, wo man Menschen helfen kann, aus<br />
einer schwierigen Situation herauszukommen.<br />
«Die Befriedigung<br />
entsteht dort, wo<br />
man Menschen<br />
helfen kann, aus<br />
einer schwierigen<br />
Situation herauszukommen.»<br />
<br />
INTERVIEW 1/<strong>13</strong> <strong>ZESO</strong><br />
11
Oberflächlich betrachtet scheint es<br />
trotz allen Fortschritten, dass die Welt<br />
in den vergangenen Jahrzehnten nicht<br />
wirklich besser oder humaner geworden<br />
ist. Stimmt dieser Eindruck?<br />
Nein. Schauen Sie: Dem Völkerbund<br />
war es mit wenigen Ausnahmen verboten,<br />
sich zu Menschenrechtsfragen zu äussern.<br />
So musste er beispielsweise die deutsche<br />
Rassengesetzgebung einfach hinnehmen.<br />
Seit der Verabschiedung der allgemeinen<br />
Menschenrechtserklärung im Jahr 1948<br />
durch die Uno ist es nicht mehr die alleinige<br />
Angelegenheit eines Staates, wie er<br />
seine Einwohner behandelt. In den 60erund<br />
70er-Jahren wurden viele Konventionen<br />
erarbeitet, die zuerst eher wenig<br />
bewirkten. Nach dem Ende des Kalten<br />
Krieges haben die internationalen Menschenrechte<br />
auf nationaler Ebene aber<br />
stark an Relevanz gewonnen. Insgesamt<br />
wurden qualitativ und quantitativ grosse<br />
Fortschritte erzielt.<br />
Woran zeigt sich das?<br />
Viele Länder haben die Todesstrafe abgeschafft.<br />
Es gibt weniger politische Gefangene<br />
und systematische Vorzensur der<br />
Medien ist selten geworden. Im Kampf gegen<br />
die Diskriminierung der Frauen sind<br />
wichtige Erfolge zu verzeichnen Aber gab<br />
es auch Rückschritte. Der «War on Terror»<br />
beispielsweise hat die Folter wieder salonfähig<br />
gemacht.<br />
Trotzdem, wenn man die Nachrichten<br />
verfolgt…<br />
Im 20. Jahrhundert ging die Hauptgefahr<br />
für die Menschenrechte vom diktatorischen<br />
Staat aus. Heute ist die Existenz<br />
zu schwacher Staaten das Hauptproblem.<br />
Wenn die Staatsgewalt in Somalia oder im<br />
Ostkongo auseinanderbricht, gibt es keinen<br />
Schutz mehr für die Bevölkerung. Im<br />
Kern der Menschenrechtsidee geht es um<br />
die Möglichkeit, den Staat zur Verantwortung<br />
zu ziehen, was nicht möglich ist, wo<br />
es keinen funktionierenden Staat gibt. Die<br />
Grenzen staatlicher Interventionsmöglichkeiten<br />
sind auch in entwickelten Staaten<br />
ein Problem. In der Schweiz ist trotz aller<br />
Bemühungen das Problem des Frauenhandels<br />
– eine Form moderner Sklaverei – ungelöst.<br />
Tötungsdelikte in Paarbeziehungen<br />
und andere Formen häuslicher Gewalt sind<br />
auch bei uns häufig. Die Menschenrechte<br />
verpflichten die Behörden, Opfer gegen<br />
WALTER KÄLIN<br />
Walter Kälin (61) ist seit 1985 Professor für Staats- und<br />
Völkerrecht an der Universität Bern. In den Jahren 1991/92<br />
war er Spezialberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission<br />
für Kuwait unter irakischer Besatzung und von<br />
2004 bis 2<strong>01</strong>0 war er Repräsentant des UNO-Generalsekretärs<br />
für die Menschenrechte intern Vertriebener. Zudem war<br />
er von 2003 bis 2008 Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschusses,<br />
dem er seit 2<strong>01</strong>2 wieder angehört. Walter Kälin<br />
leitet auch das Schweizerische Kompetenzzentrum für<br />
Menschenrechte (SKMR), das im April 2<strong>01</strong>1 seine operative<br />
Tätigkeit aufgenommen hat.<br />
Gewalt zu schützen, aber auch in unserem<br />
Land stossen wir hier an Grenzen.<br />
Seit zwei Jahren leiten Sie das Schweizerische<br />
Kompetenzzentrum für Menschenrechte<br />
(SKMR), das den Fokus<br />
auf nationale Fragen im Zusammenhang<br />
mit Menschenrechten richtet.<br />
Was sind die Aufgaben des SKMR?<br />
Jeder Staat sollte eine unabhängige<br />
Menschenrechtsinstitution haben, die eine<br />
Scharnierfunktion einnimmt zwischen der<br />
nationalen und der internationalen Ebene.<br />
Das SKRM ist ein auf fünf Jahre befristetes<br />
Pilotprojekt in Hinblick auf die Schaffung<br />
einer solchen Institution in der Schweiz.<br />
Wir haben die Aufgabe, die internationalen<br />
Entwicklungen zu beobachten und<br />
auf dieser Grundlage Behörden, Organisationen<br />
und die Privatwirtschaft bei der<br />
Umsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen<br />
zu unterstützen. Wir tun dies mit<br />
Studien, Gutachten und Ausbildungsaufträgen.<br />
Die SKOS-Richtlinien stützen auch<br />
auf Grundrechte ab, zum Beispiel auf<br />
«Ein Diskriminierungsverbot<br />
wäre<br />
ein wichtiges Instrument<br />
für den Abbau<br />
von Integrationshindernissen.»<br />
Menschenwürde und Existenzsicherung.<br />
Trotzdem gibt es auch in der<br />
Sozialhilfe hin und wieder Grauzonen,<br />
was die Menschenrechte betrifft. Wo<br />
sehen Sie diesbezügliche Gefahren?<br />
Der Themenbereich Missbrauch und<br />
Kürzungen von Sozialhilfe ist ein menschenrechtsrelevanter<br />
Bereich. Klar gibt es<br />
Fälle, wo Sanktionen gerechtfertigt sind.<br />
Aber wo genau verlaufen die Grenzen? Wo<br />
beginnen Willkür und unbewusste Diskriminierung?<br />
Wir planen, in diesem Bereich<br />
12 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>13</strong> INTERVIEW
ein Weiterbildungsangebot für Sozialarbeitende<br />
zu entwickeln.<br />
Wo müssen sich die Sozialhilfe-<br />
Behörden sonst noch kritisch mit<br />
ihren Praktiken auseinandersetzen?<br />
Sind beispielsweise die Hürden für Antragsteller<br />
zu hoch gesetzt, und was ist<br />
von «Generalvollmachten», wie sie das<br />
im Berner Sozialhilfegesetz vorsieht,<br />
zu halten?<br />
Wir haben diese Fälle nicht untersucht.<br />
Aber diese Themen sind sicher menschenrechtsrelevant.<br />
Das Thema Diskriminierung<br />
interessiert uns sehr. In der Schweiz<br />
gibt es kein allgemeines Diskriminierungsverbot.<br />
Deshalb bleibt beispielsweise<br />
schutzlos, wer aufgrund einer Behinderung,<br />
der Hautfarbe oder weil die Person<br />
ein Kopftuch trägt keine Wohnung findet.<br />
Gibt es ein Grundrecht auf Integration<br />
in eine Zivilgesellschaft?<br />
In der Verfassung und in den internationalen<br />
Menschenrechtsverträgen gibt es<br />
kein ausdrückliches Recht auf Integration.<br />
Verboten ist die zwangsweise kulturelle<br />
Assimilation, da Garantien wie die Religions-<br />
oder Sprachenfreiheit ein Stück weit<br />
ein Recht darauf verankern, anders zu<br />
sein. Wer sich integrieren möchte und daran<br />
beispielsweise wegen seiner Herkunft<br />
gehindert wird, kann sich auf das Diskriminierungsverbot<br />
berufen. Dieses Verbot<br />
wäre ein wichtiges Instrument, um Integrationshindernisse<br />
abzubauen.<br />
In der Innerschweiz, im Engadin oder<br />
im Berner Oberland gibt es Einheimische,<br />
die aus wirtschaftlichen Gründen<br />
wegziehen müssen, weil sie die<br />
hohen Mieten nicht mehr bezahlen<br />
können. Würde das Kompetenzzentrum<br />
diese Art von Vertreibung auch<br />
untersuchen?<br />
Das betrifft eher die Regional- oder Familienpolitik.<br />
Es gibt ja auch kein Recht auf<br />
tiefere Mieten, dafür Forderungen nach einer<br />
adäquaten Wohn- und Regionalpolitik.<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
Es gibt Kreise in der Schweiz, die<br />
Institutionen wie das SKMR oder den<br />
UNO-Menschenrechtsrat ablehnen.<br />
Es gibt sogar Kreise, die den Begriff<br />
Menschenrechte als Schimpfwort verwenden.<br />
Das gibt Anlass zur Sorge. Diese Haltung<br />
ist umso schwieriger nachvollziehbar,<br />
als viele Rechte, die seit dem 2. Weltkrieg<br />
Eingang in die Menschenrechtskonventionen<br />
gefunden haben, bereits 1874 in unserer<br />
Bundesverfassung verankert wurden.<br />
Die Menschenrechte werden uns nicht von<br />
aussen aufgedrängt, sondern sie gehören<br />
zu unserer Tradition. Leider ist die Diskussion<br />
über Menschenrechte bei uns oft von<br />
einem moralisierenden Ton geprägt. Wir<br />
sollten diese Diskussion wieder auf eine<br />
praktische und relevante Ebene zurück<br />
bringen und zeigen, wie wir alle von Menschenrechte<br />
profitieren.<br />
Der UNO-Menschenrechtsrat hat<br />
kürzlich die Menschenrechtssituation<br />
in der Schweiz kritisiert. In diesem Rat<br />
sind nicht wenige Länder vertreten,<br />
denen massive Menschenrechtsverletzungen<br />
vorgeworfen werden.<br />
Es geht hier um die so genannte universelle<br />
periodische Überprüfung. Das Verfahren<br />
ist geschaffen worden, weil es früher gewissen<br />
besonders problematischen Staaten<br />
immer wieder gelang, sich jeder Überprüfung<br />
zu entziehen. Kanada hatte die Idee,<br />
dass wir dies nur ändern können, wenn sich<br />
wirklich alle Staaten, also auch Länder mit<br />
einem guten Menschenrechtsniveau, bereit<br />
erklären, sich dem gleichen Verfahren zu<br />
unterziehen. In meinen Augen ist es ein<br />
Fortschritt, wenn sich nun alle Staaten den<br />
Fragen und Empfehlungen der anderen<br />
Länder stellen und erklären müssen, welche<br />
Empfehlungen sie akzeptieren und welche<br />
sie zurückweisen. Sie werden zur Rechenschaft<br />
gezogen, wenn sie ihre Versprechen<br />
nicht erfüllen. Mehr noch: Auch wenn heute<br />
alle Staaten wenigstens einzelne Menschenrechtskonventionen<br />
unterzeichnet<br />
haben, sind sie in vielen Ländern nicht<br />
wirklich akzeptiert. Es geht also nach wie<br />
vor darum, einen breiten Konsens herzustellen.<br />
Unter diesem Gesichtspunkt ist<br />
es interessant, wenn ein islamischer Staat,<br />
der ein traditionelles Rollenverständnis der<br />
Frau hat, von der Schweiz verlangt, dass<br />
sie mehr in die Gleichberechtigung von<br />
Frauen investiert. Denn damit signalisiert<br />
er seine Akzeptanz dieses Grundsatzes.<br />
Dies kann uns dann nützen, wenn wir<br />
später unsererseits Kritik an diesem Staat<br />
üben. So funktioniert Konsensdiplomatie.<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
INTERVIEW 1/<strong>13</strong> <strong>ZESO</strong><br />
<strong>13</strong>
Fallrevisionen sind Bestandteil eines<br />
internen Kontrollsystems<br />
Aufgrund von Auslagerungen und Regionalisierungen zum einen und wegen der Komplexität der<br />
Fälle zum anderen hat die Bedeutung von internen Kontrollen innert weniger Jahre auch in den<br />
Aufgabengebieten der Sozialdienste stark an Bedeutung gewonnen.<br />
Bei einer Fallrevision werden einzelne Fälle eines Sozialdienstes,<br />
beispielsweise im Bereich der Vormundschaft, der Sozialhilfe oder<br />
der Alimente, kritisch durch eine Zweitperson nach festgelegten<br />
Vorgaben begutachtet. Die Vorgaben betreffen die Vollständigkeit<br />
der Unterlagen und die zu tätigenden Abklärungen, die fristgerechte<br />
Korrespondenz und Information, die Korrektheit der Berechnungen<br />
usw. Die Auswahl der zu begutachtenden Fälle kann<br />
sich beispielsweise an den Unterstützungskosten oder den Fallbearbeitungskosten<br />
orientieren. Sie sollte aber ebenso einen Zufallsaspekt<br />
beinhalten, damit auch die eher «unauffälligen» Dossiers<br />
regelmässig überprüft werden. Die Begutachtung der Fälle erfolgt<br />
idealerweise durch eine qualifizierte Fachkraft (Sozialarbeiterin,<br />
Sozialversicherungsexperte) mit mehrjähriger Erfahrung in der<br />
Fallführung und mit Erfahrungen und Weiterbildungen (beispielsweise<br />
in Form von Tagesseminaren) im Bereich der internen<br />
Kontrolle.<br />
Rahmen und Ziele<br />
Eine Fallrevision findet normalerweise in definierten Arbeitsschritten<br />
und festgelegten zeitlichen Abständen statt. Eine erste<br />
Revision kann beispielsweise nach dem Intake, eine zweite nach einer<br />
bestimmten Bearbeitungszeit, etwa nach nach 12 Monaten,<br />
Die regelmässige Neubeurteilung ist ein wesentliches Element in der Fallrevision.<br />
Bild: Keystone<br />
16 ZeSo 1/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
fallrevision<br />
erfolgen. Das Feedback an die fallführende Person sollte systematisch,<br />
auf der Basis eines ausgefüllten Formularrasters, und<br />
möglichst zeitnah zur gemachten Kontrolle in einem persönlichen<br />
Gespräch erfolgen.<br />
Mit der Fallrevision werden folgende Ziele verfolgt: Einhaltung<br />
von Gesetzen und Vorschriften, Schutz des Vermögens<br />
der öffentlichen Verwaltung, Gewährleistung von Effizienz und<br />
Effektivität in der Fallbewirtschaftung, Vermeidung und Aufdeckung<br />
von Verstössen und Irrtümern sowie kontinuierliche Verbesserung<br />
und Qualitätssteigerung der Arbeit des Sozialdienstes.<br />
Die revidierende Fachkraft kann dabei Teil des fallführenden<br />
Teams sein oder, insbesondere bei grösseren Sozialdiensten, als<br />
Teil eines nicht direkt involvierten Fallrevisions-Teams operieren.<br />
Die Fallrevision kann im Rahmen des Aufbaus eines Qualitätsmanagementsystems<br />
oder eines internen Kontrollsystems erfolgen.<br />
Beim Aufbau eines internen Kontrollsystems wird die stichprobenweise<br />
Überprüfung der Fälle durch eine Zweitperson als<br />
Schlüsselkontrolle in der Fallführung implementiert und somit<br />
das Vier-Augen-Prinzip als Regel sichergestellt.<br />
Das Subsidiaritätsprinzip, also der Grundsatz, dass Hilfe nur<br />
dann gewährt wird, wenn die bedürftige Person sich nicht selber<br />
helfen kann oder wenn Hilfe von dritter Seite nicht oder nicht<br />
rechtzeitig erhältlich ist, ist ein wesentliches Element in der Fallbearbeitung<br />
in Sozialdiensten. Die Anpassung der Lebensverhältnisse<br />
sowie Leistungen wie AHV, IV, EL, ALV, Alimente, Stipendien,<br />
Versicherungsvergütungen usw. sind im Rahmen der Hilfe<br />
zu berücksichtigen und durch die fallführende Person zu beurteilen.<br />
Die regelmässige Neubeurteilung ist ein wesentliches Element<br />
in der Fallrevision.<br />
Rolle des Rechnungsprüfungsorgans<br />
Häufig sind Sozialdienste regional als Beratungs- und Mandatsführungszentren<br />
in Form eines Zweckverbandes organisiert. In den<br />
Verbandsstatuten wird als Rechnungsprüfungsorgan oft dasjenige,<br />
das auch die diversen anderen Tätigkeitsbereiche einer Gemeinde<br />
prüft, übernommen. Für die Prüfung der Verbandsrechnung gelten<br />
in diesem Fall die Vorschriften und Reglemente der Gemeinde.<br />
Ein professionelles Rechnungsprüfungsorgan beurteilt anlässlich<br />
einer Zwischenprüfung normalerweise die Wirkung der internen<br />
Kontrolle. Kann sich das Rechnungsprüfungsorgan auf die Kontrollen<br />
des Sozialdienstes stützen, sind weniger eigene Stichproben<br />
notwendig und der Prüfungsaufwand kann reduziert werden.<br />
Ein Verlass auf die internen Kontrollen und die Fallrevision ist<br />
nur möglich, wenn diese intern dokumentiert werden und die geforderte<br />
Wirkung erzielen. Um dies zu beurteilen, ist auch beim<br />
Rechnungsprüfungsorgan spezifisches Fachwissen notwendig. Wo<br />
dies aufgrund der Gemeindeordnung möglich ist, werden deshalb<br />
immer häufiger externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaften mit<br />
Erfahrungen im Bereich der Prüfung von Sozialdiensten als Rechnungsprüfungsorgan<br />
gewählt. Um grundsätzliche Fragen wie<br />
«Wird über die Ausrichtung von Sozialhilfe aufgrund geeigneter<br />
Unterlagen entschieden?» beantworten zu können, benötigt das<br />
Rechnungsprüfungsorgan Einsicht in einzelne Unterlagen von<br />
Fällen. Das Rechnungsprüfungsorgan untersteht der Geheimhaltungspflicht.<br />
Ausblick: Umsetzung HRM2<br />
Die Kantone haben gemäss Beschluss der Finanzdirektorenkonferenz<br />
das neue harmonisierte Rechnungsmodell (HRM2) bis spätestens<br />
2<strong>01</strong>8 auf Gemeindeebene umzusetzen. Die Umsetzung<br />
betrifft somit auch die Sozialdienste. Als Orientierungshilfe für die<br />
Umsetzung dient das Musterfinanzhaushaltgesetz für Kantone<br />
und Gemeinden (MFHG), in dessen Artikel 68 die Anforderungen<br />
an das interne Kontrollsystem wie folgt beschrieben werden:<br />
1. Das interne Kontrollsystem umfasst regulatorische, organisatorische<br />
und technische Massnahmen. Der Regierungsrat erlässt<br />
nach Rücksprache mit der Finanzkontrolle die entsprechenden<br />
Weisungen.<br />
2. Die Leitungen der Verwaltungseinheiten sind verantwortlich<br />
für die Einführung, den Einsatz und die Überwachung des<br />
Kontrollsystems in ihrem Zuständigkeitsbereich.<br />
Unter regulatorischen Massnahmen versteht man die klare Definition<br />
der Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen innerhalb<br />
einer Organisation. Mit organisatorischen Massnahmen sind<br />
Funktionentrennungen innerhalb der Prozessabläufe, Vier-Augen-Prinzip<br />
für Schlüsseltätigkeiten sowie klare Regelungen von<br />
Stellvertretungen und Hierarchien gemeint. Technische Massnahmen<br />
betreffen die Bereitstellung von technischen Hilfsmitteln zur<br />
Fallbearbeitung (Software, Hardware, Intranet, Vorlagen, Checklisten<br />
usw.).<br />
Wird der Artikel 68 in der kantonalen Gesetzgebung übernommen,<br />
was in einigen Kantonen bereits erfolgt ist, müssen Sozialdienste<br />
ein der Grösse angemessenes internes Kontrollsystem aufbauen.<br />
Die Fallrevision gehört in diesem Fall zu einem wirksamen<br />
internen Kontrollsystem und ist spätestens dann als Schlüsselkontrolle<br />
in einem Sozialdienst nicht mehr wegzudenken. •<br />
Alex Lötscher<br />
Projektleiter und Dozent<br />
Kompetenzzentrum Public and Nonprofit Management<br />
Hochschule Luzern – Wirtschaft<br />
SCHWERPUNKT 1/<strong>13</strong> ZeSo<br />
«Der Staat müsste die Daten<br />
miteinander vergleichen können»<br />
In Lausanne beziehen zehn Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Sozialhilfe. Oscar Tosato,<br />
Sozialdirektor der Stadt Lausanne und Vizepräsident der Städteinitiative Sozialpolitik, äussert sich<br />
im Interview zum Thema Fallrevision und Missbrauchsbekämpfung aus politischer Sicht.<br />
Herr Tosato, Sie sind als Stadtrat politisch verantwortlich<br />
für das gute Funktionieren des Sozialwesens in der Stadt<br />
Lausanne. Wie stellen Sie die Qualität der Fallführung in<br />
der Sozialhilfe sicher?<br />
In der Westschweiz sind die Kantone für die Sozialhilfe zuständig.<br />
Bei uns im Kanton Waadt sind die regionalen Sozialdienste,<br />
die Centres sociaux régionaux (CSR), direkt dem kantonalen Gesundheits-<br />
und Sozialdepartement unterstellt. Das gilt auch für<br />
den CSR von Lausanne. Nur das kantonale Gesundheits- und<br />
Sozialdepartement ist befugt, Weisungen zur Betreuung der Klientinnen<br />
und Klienten zu erlassen. Die Gemeinden und Gemeindeverbände<br />
sind für die so genannt optionalen Leistungen zuständig,<br />
wie zum Beispiel die Unterbringung von Menschen nach<br />
einer Zwangsräumung, nicht aber für die eigentlichen Sozialhilfe-<br />
Leistungen. Hingegen haben die CSR im Rahmen der ihnen zugeteilten<br />
Budgets einen relativ grossen Handlungsspielraum. Die<br />
Sozialen Dienste und das CSR in Lausanne wurden 2<strong>01</strong>0 vollständig<br />
reorganisiert. Seither sind die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
nicht mehr für die Ausrichtung von finanzieller Hilfe<br />
zuständig. Ihre Rolle ist es vielmehr, den Unterstützten zu helfen,<br />
wieder selbstständig zu werden. Mit dieser Reform wurden die Voraussetzungen<br />
für eine sozialhilfegerechte Fallführung geschaffen.<br />
Ist die Fallführung auf politischer Ebene ein Thema?<br />
Bis heute hat der Kanton in der Sozialhilfe kein Case Management<br />
respektive keine Fallführung eingeführt, wie das in der<br />
Deutschschweiz gängig ist. Doch in der Praxis unterscheidet sich<br />
die Sozialarbeit bei uns nicht gross von dem, was heute als Case<br />
Management bezeichnet wird. Der Schwerpunkt unseres Ansatzes<br />
liegt auf Zielsetzungen und Projekten sowie auf der interinstitutionellen<br />
Zusammenarbeit. Unsere Aufgabe ist es, eine öffentliche<br />
Politik festzulegen, die von ihr erwarteten Ergebnisse zu definieren,<br />
diese Politik umzusetzen und ihre Resultate zu evaluieren.<br />
Wenn die Resultate nicht den Erwartungen entsprechen, werden<br />
die Methodik und die Werkzeuge der Sozialarbeiter auf jeden Fall<br />
politisch diskutiert.<br />
Der Sozialhilfe vorgelagert und eine wichtige sozialpolitische<br />
Maxime ist das Subsidiaritätsprinzip. Verfügt die Stadt<br />
Lausanne über Instrumente, die die Einhaltung der Subsidiarität<br />
gewährleisten?<br />
Die Sozialhilfe ist tatsächlich subsidiär zu den anderen Systemen<br />
der sozialen Sicherung, und wenn die Bedingungen dafür erfüllt<br />
sind, kann bei diesen eine Unterstützung beantragt werden.<br />
Das kann über die ganze Dauer der Unterstützung durch die Sozialhilfe<br />
jederzeit vorkommen. Deshalb klärt das CSR Lausanne bei<br />
jedem Antrag auf Sozialhilfe und danach mindestens ein Mal pro<br />
Jahr anhand einer Checkliste systematisch ab, ob ein Anspruch<br />
auf Leistungen anderer Sozialsysteme besteht. Jedes Dossier wird<br />
zudem auch monatlich überprüft, und sobald die fallführende<br />
Person irgendwelche Vorfälle entdeckt, kann sie Massnahmen im<br />
Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip einleiten. Und<br />
schliesslich werden regelmässig spezifische Kontrollen durchgeführt.<br />
So überprüfte das CSR beispielsweise vor kurzem sämtliche<br />
Dossiers von Personen, die potenziell Anspruch auf eine Familienergänzungsleistung<br />
oder eine AHV-Überbrückungsrente erheben<br />
können.<br />
Revisionen sind ein integraler Teil jeder Fallführung. In den<br />
letzten Jahren hat die Kontrolle der Unterstützung durch<br />
die Sozialhilfe jedoch eine zusätzliche, politische Bedeutung<br />
erhalten. Die Medien berichten über Missbrauchsfälle,<br />
vor allem in der Deutschschweiz. Über Missbrauchsfälle<br />
beispielsweise in Lausanne oder Genf liest man hingegen<br />
weniger. Ist das Zufall? Machen Sie Ihre Arbeit besser?<br />
Zu Beginn der 2000er-Jahre gab es in Lausanne mehrere Fälle<br />
von Sozialhilfe-Missbrauch und das Thema interessierte die Medien<br />
sehr. Es gab mindestens so grosse politische Diskussionen<br />
wie in der Deutschschweiz. Seither haben wir die erforderlichen<br />
Massnahmen ergriffen. Doch der in der Schweiz hochentwickelte<br />
Datenschutz schränkt unsere Abklärungsmöglichkeiten stark<br />
ein. Wir haben kein Mittel, um nicht deklarierte Bankkonten<br />
ausfindig zu machen, wir erhalten von der kantonalen Verwaltung<br />
keine Angaben über quellensteuerpflichtige Personen und<br />
wir können beispielsweise auch keine systematischen Vergleiche<br />
mit den AHV-pflichtigen Einkommen vornehmen. Missbrauch<br />
bleibt also möglich. Auf über 10 000 Haushalte, die uns in Anspruch<br />
nehmen, entdecken wir durchschnittlich 500 Fälle mit<br />
Unregelmässigkeiten pro Jahr. Und fünfzig davon können als<br />
relativ schwerwiegend bezeichnet werden.<br />
Beschäftigen Sie in Lausanne auch Sozialinspektoren? Falls<br />
ja, wie viele, und wie ist ihre Arbeit organisiert?<br />
Die Stadt Lausanne war vor zwölf Jahren in der Schweiz die<br />
erste, die Ermittler eingestellt hat. Damals hat sie diese auch selbst<br />
finanziert. Heute verfügt jedes CSR über Ermittler, und ihre Arbeit<br />
wird vollumfänglich durch den Kanton geregelt und finanziert.<br />
Wir haben für die Stadt Lausanne vier Ermittler, wir bräuchten<br />
aber eigentlich sechs, um alle Fälle innert vernünftiger Frist<br />
zu bearbeiten. Die einzelnen Ermittlungen werden angeordnet,<br />
wenn die fallführende Person begründete Zweifel hat und auch<br />
nach Hinweisen durch Dritte. Die Abklärungen können bis zur<br />
22 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
FALLREVISION<br />
«Die Sozialdienste fordern<br />
dringend eine Vereinfachung<br />
des Systems, und sie haben<br />
meine volle Unterstützung.»<br />
Oscar Tosato. <br />
Bild: zvg<br />
Beschattung gehen, wobei die Ermittler allerdings keine polizeilichen<br />
Befugnisse haben. Nicht selten gelangen sie zur Überzeugung,<br />
dass zwar unrechtmässig Sozialhilfe bezogen wird, sie aber<br />
keine ausreichenden Beweise erbringen können. Vor dem Richter<br />
hat ihre Aussage nicht mehr Gewicht als die des Bezügers.<br />
Lohnt sich der Aufwand für den Einsatz von Ermittlern?<br />
Können Sie etwas zur Erfolgsquote sagen?<br />
Unsere Ermittler leisten gute Arbeit, und in mehr als der Hälfte<br />
der untersuchten Fälle weisen sie einen Verstoss nach, der einen<br />
Rückerstattungsentscheid oder eine Strafe nach sich zieht. Ihr<br />
Lohn wird mit dieser Arbeit mehrfach finanziert.<br />
Wie beurteilen Sie das anteilmässige Verhältnis zwischen<br />
kontrollierender und beratender Sozialarbeit?<br />
Unsere Mittel fliessen zu zwei Dritteln in die Ausrichtung der<br />
finanziellen Leistung und zu einem Drittel in die soziale Unterstützung<br />
und die Integration. Im Rahmen der Ausrichtung von<br />
finanziellen Leistungen entfällt der grösste Teil des zeitlichen Aufwands<br />
auf Kontroll- und Datenerfassungsaufgaben. In Lausanne<br />
beziehen zehn Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Sozialhilfe,<br />
und für jeden dieser Haushalte werden, nach Kontrollen, mehrere<br />
Zahlungen pro Monat geleistet. Das bedeutet über 100 000 Zah-<br />
lungen pro Jahr. Das ist ein enormer Aufwand. Die Sozialdienste<br />
fordern dringend eine Vereinfachung des Systems, und sie haben<br />
meine volle Unterstützung.<br />
Wo steht die Missbrauchsdiskussion heute?<br />
Ich glaube, alle sind sich darüber einig, dass das auf diesem<br />
Gebiet Mögliche getan wird. Das CSR Lausanne jedenfalls wurde<br />
seit 2004 keiner Laschheit mehr bezichtigt. Aber auch dies<br />
ist klar: Wenn man Betrug wirklich verhindern will, müssten die<br />
Datenschutzgesetze geändert werden, beispielsweise müsste das<br />
Bankgeheimnis aufgehoben werden. Doch genau die Kreise, die<br />
Sozialhilfemissbrauch regelmässig anprangern, betrachten das<br />
Steuer- und das Bankgeheimnis als stützende Säulen der Schweizer<br />
Demokratie.<br />
Müsste sich in der Fallrevision etwas ändern, damit Missbräuche<br />
früher erkannt werden?<br />
Ja, ganz bestimmt. Der Staat müsste die Daten miteinander vergleichen<br />
können. In den meisten Missbrauchsfällen wird der AHV<br />
ein Lohn deklariert, aber nicht dem CSR. Der Arbeitgeber hat der<br />
Steuerverwaltung zwar einen Lohnausweis geschickt, doch diese<br />
gibt uns an, die betreffende Person habe kein Einkommen, weil die<br />
Deklarationen der Arbeitgeber und jene der Arbeitnehmer nicht<br />
miteinander verglichen werden. Für über die Hälfte der Sozialhilfebeziehenden<br />
haben wir keinen Steuerentscheid, weil sie der Quellensteuer<br />
unterliegen und laut Gesetz keine Auskünfte dazu erteilt<br />
werden dürfen. Generell gesagt müssen wir einfach glauben, was<br />
uns die Klientinnen und Klienten sagen, und das scheint mir nicht<br />
sinnvoll, wenn wir Missbräuche aufdecken sollen. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 1/<strong>13</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Interview: Michael Fritschi<br />
Wo sich der Sozialbereich von<br />
seiner weniger sozialen Seite zeigt<br />
Hochqualifizierte mit Migrationshintergrund stossen in der Schweiz tendenziell auf Ablehnung,<br />
wenn sie im Sozialbereich tätig werden wollen. Ihre kulturelle und ethnische Diversität erfährt<br />
wenig positive Wertschätzung, und die Mechanismen, die bei der Rekrutierung zu ihrem vorzeitigen<br />
Ausschluss führen, werden teilweise tabuisiert, sagt eine Studie.<br />
Ilustration:<br />
Christoph Fischer<br />
«Mehr als 50 Bewerbungen, telefoniert,<br />
gesprochen. Ich habe alles Mögliche unternommen»,<br />
erzählt Herr El Sayed (Namen<br />
anonymisiert), ein Sozialarbeiter aus Nordafrika,<br />
der in der Schweiz zusätzlich Soziologie<br />
studiert hat, in der Studie «Hochqualifizierte<br />
mit Migrationshintergrund» der<br />
Universität Basel (siehe Kasten). «Mein<br />
Traum war es, einmal ein Bewerbungsgespräch<br />
zu führen. Aber auf diese Ebene habe<br />
ich es nie geschafft.» Interview-Aussagen<br />
wie diese sind für die qualitative Forschung<br />
keine Forschungsbefunde an sich. Vielmehr<br />
werden die geäusserten Wahrnehmungen<br />
und Erfahrungen systematisiert,<br />
nach Sinnstrukturen analysiert und interpretiert.<br />
Im Folgenden werden noch drei<br />
weitere Erfahrungen von Hochqualifizierten<br />
mit Migrationshintergrund (kurz:<br />
HQM) auf Stellensuche im Sozialbereich<br />
geschildert.<br />
Frau Tomic, eine Sozialarbeiterin, die<br />
in Südosteuropa in leitender Position<br />
Flüchtlinge betreut hatte, bilanzierte nach<br />
dreizehn Jahren in der Schweiz: «Et puis<br />
je commençais comme dame de buffet, et<br />
peut-être je vais finir comme dame de buffet.»<br />
Obwohl ihr Universitätsdiplom hier anerkannt<br />
wurde, blieben ihre Bewerbungen<br />
erfolglos. Ihre Kompetenzen sind nur im ehrenamtlichen<br />
Bereich gefragt, sei es für Alphabetisierungskurse<br />
oder als Übersetzerin.<br />
Durch ehrenamtliches Engagement<br />
und die Arbeit in «ethnischen Nischen»<br />
entsteht eine breite Vernetzung im sozialen<br />
Bereich, die HQM Hoffnung macht. So<br />
dachte auch Frau Ferreira, eine aus Südamerika<br />
stammende Ökonomin. Sie suchte<br />
während Jahren nach einer ihrer Qualifikation<br />
entsprechenden sozialen Tätigkeit.<br />
Vergeblich. Einmal zog ein Hilfswerk seine<br />
Zusage in letzter Minute zurück. Grund war<br />
der Widerstand seitens einer Mitarbeiterin<br />
ohne Migrationshintergrund.<br />
Erfolglose Bewerbungen im Sozialbereich<br />
liessen Frau Santos, eine Kommunikationswissenschaftlerin<br />
mit verschiedenen<br />
Weiterbildungen, resignieren. Die<br />
gebürtige Brasilianerin kritisiert in der<br />
Studie, dass ihr eine Stelle ohne Entscheidungskompetenz,<br />
für die in einem Integrationsprojekt<br />
explizit Migrantinnen gesucht<br />
wurden, angeboten wurde. «Aber eher als<br />
Alibi … und alle haben gewusst, dass diese<br />
Funktion die schlechteste im ganzem<br />
Projekt wäre, und da hab‘ ich mich nicht<br />
einmal beworben.»<br />
Entgegnung der Arbeitgeber<br />
Was sagen Arbeitgeber zu solcher Kritik?<br />
«Wir können keine Ausländer nehmen, die<br />
sind einfach zu wenig neutral zu anderen<br />
Ausländern», begründete eine NGO-Personalverantwortliche<br />
den Entscheid, warum<br />
sie eine einheimische Bewerberin einem<br />
gleich qualifizierten Ausländer vorzog. Die<br />
Antizipierung angeblicher Befangenheit<br />
qua Ethnie ist das Resultat eines Zuschreibungsprozesses,<br />
den insbesondere Personen<br />
aus nicht-privilegierten Herkunftsländern<br />
erfahren, und dies auch über<br />
Anstellungsverhältnisse hinaus. So stiess in<br />
Basel die Neubesetzung des Präsidiums<br />
für die Kommission der Ausländerberatung<br />
einer NGO auf Widerstand. Die Kriti-<br />
26 ZeSo 1/<strong>13</strong> STUDIE
ker führten ins Feld, beim vorgeschlagenen<br />
Mann kurdisch-türkischer Herkunft sei<br />
«doch automatisch die Neutralität in Frage<br />
gestellt». Nicht nur wegen seiner Rolle als<br />
Politiker, sondern auch als Exponent einer<br />
bestimmten Ausländergruppe. Solche Erfahrungen<br />
und Wahrnehmungen zeigen,<br />
dass sich HQM mit Zugangsproblemen<br />
zum Sozialbereich konfrontiert sehen. Die<br />
Problematik betrifft die untersuchten<br />
staatlichen, para- und nicht staatlichen Institutionen<br />
ausserhalb des Gesundheitsund<br />
des Bildungsbereichs.<br />
Sozialwissenschaftliche Überlegungen<br />
und Konzeptualisierungen bieten Erklärungsansätze<br />
für das Phänomen. So kann<br />
Ingroup-Favoritism eine Rolle spielen,<br />
wenn Sozialtätige Bewerberinnen und<br />
Bewerber aus der eigenen Bezugsgruppe<br />
bevorzugen. Erleichtert werden solche eurozentrischen<br />
Entscheidungspräferenzen<br />
– im hiesigen Kontext spricht die Studie<br />
von Helvetozentrismus – durch bestimmte<br />
Beziehungsmuster und Arbeitsbündnisse.<br />
Darin nehmen Migranten entweder die<br />
Rolle der hilfesuchenden Klienten oder die<br />
Rolle der (semi-)professionellen Nischenarbeiterinnen<br />
ein. Eine adäquate Positionierung<br />
als Projekt- oder Bereichsleiterin,<br />
als Kommissionspräsident oder einfach als<br />
hochqualifizierter Arbeitskollege ist in diesem<br />
Setting kaum vorgesehen.<br />
Konstruierte Gegensätzlichkeit<br />
Die Möglichkeiten für eine hochqualifizierte<br />
Tätigkeit schwinden infolge von Labeling-Prozessen:<br />
Dabei wird den HQM<br />
mitunter eine befremdende Fremdheit<br />
(Alienität, Othering) zugeschrieben. Die<br />
so konstruierte Differenz wird danach auf<br />
die Tauglichkeit mit Arbeitseinstellungen<br />
überprüft, die als schweizerische Errungenschaften<br />
überhöht werden (Helvetonormativität).<br />
Dazu gehören angebliche<br />
Neutralität ebenso wie die Hochstilisierung<br />
der Ortssprache. Werden Personen<br />
mit Migrationshintergrund schon gar<br />
nicht erst eingeladen, dann wird ihnen<br />
der Arbeitsmarktzugang infolge der konstruierten<br />
Gegensätzlichkeit verbarrikadiert.<br />
Im hier besprochenen Berufsfeld<br />
kommt hinzu, dass die Gesellschaft den<br />
Akteurinnen und Akteuren im Sozialbereich<br />
per se ein soziales Bewusstsein und<br />
ein moralisches Guthaben attestiert. Daraus<br />
ziehen die Akteurinnen die Legitimation,<br />
gelegentlich auch selbstgerechte<br />
Zuschreibungen (Labeling) vorzunehmen.<br />
In solchen Vergleichsprozessen fallen<br />
für den Sozialbereich wichtige soziale<br />
und transkulturelle Kompetenzen, die<br />
HQM mitbringen, ausser Betracht. Bei<br />
transnationalen Unternehmungen hingeben<br />
kommen die gleichen Kompetenzen<br />
besser an. Im Urteil jener HQM, die den<br />
Zugang geschafft haben, schneiden solche<br />
Arbeitgeber gut ab. Denn dieser Markt<br />
funktioniert quasi farbenblind, wenn<br />
auch nach verdienstorientierten und damit<br />
meritokratischen Prinzipien. Wer<br />
diese Selektionshürde «nach Leistung»<br />
überwindet, wird mit Wertschätzung<br />
kultureller beziehungsweise ethnischer<br />
Diversität entschädigt. So sagt ein Manager<br />
mit mazedonischem Hintergrund im<br />
Interview: «Ich weiss, da draussen gibt es<br />
Forschungsprojekt<br />
Die hier präsentierten Befunde für den Sozialbereich stammen aus<br />
einem Forschungsprojekt der Universität Basel und der eidg. Kommission<br />
gegen Rassismus. Die Studie basiert auf <strong>13</strong>0 Interviews<br />
und verfügbaren statistischen Daten und beschreibt die Zugangsbedingungen<br />
für Hochqualifizierte mit Migrationshintergrund zum<br />
Schweizer Arbeitsmarkt und ihre Situation am Arbeitsplatz. Sie<br />
kommt unter anderem zum Schluss, dass Personen ausländischer<br />
Nationalität trotz Hochqualifizierung stärker von Arbeitslosigkeit<br />
betroffen sind als Schweizerinnen und Schweizer. Der erschwerte<br />
Zugang zum Arbeitsmarkt hängt von diversen Faktoren ab, und<br />
es findet ein «Brain Waste» statt. Unter anderm wurde auch<br />
festgestellt, dass Lebenslauf-Sequenzierungen, die dem gängigen<br />
schweizerischen Modell (Bildung, Arbeit, Familiengründung) widersprechen,<br />
ein Hindernis darstellen.<br />
Ganga Jey Aratnam, Hochqualifizierte mit Migrationshintergrund:<br />
Studie zu möglichen Diskriminierungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt,<br />
Edition Gesowip, Basel 2<strong>01</strong>2, CHF 20.-.<br />
ISBN 978-3-906129-82-2; auch als PDF verfügbar.<br />
sehr viel Rassismus gegenüber Albanern,<br />
gegenüber Muslimen und gegenüber der<br />
Kombination von beidem sowieso. Aber<br />
ich kann sagen, es ist mir egal. Ich lebe in<br />
meinem Mikrokosmos.»<br />
Fazit<br />
Einerseits erfährt kulturelle und ethnische<br />
Diversität im «sozialen» Arbeitsmarktbereich<br />
bislang zu wenig positive Wertschätzung.<br />
Anderseits werden dort wirkende<br />
Ausschlussmechanismen und Diskriminierungspotenziale<br />
gegenüber HQM tabuisiert.<br />
Das ist auch eine Folge des Sperrfeuers,<br />
in dem sich der Sozialbereich befindet.<br />
Es versetzt im Sozialberich Tätige zuweilen<br />
in eine Abwehrhaltung, die selbstkritischer<br />
Distanz zum eigenen Tun entgegenwirken<br />
kann. Um der Untervertretung von HQM<br />
im Sozialbereich auf den Grund zu kommen<br />
und Gegenmassnahmen zu entwickeln,<br />
bedarf es einer Enttabuisierung und<br />
weiterer Forschungen. <br />
•<br />
Ganga Jey Aratnam<br />
Seminar für Soziologie der Universität Basel<br />
STUDIE 1/<strong>13</strong> ZeSo<br />
27