Wahlkampf Interview Ausbeutung - Biss
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Deutschlands bekannteste Psychoanalytikerin<br />
Margarete Mitscherlich über zwanghafte<br />
Ehrlichkeit, einfühlsame Unwahrheit – und wie<br />
sie einmal die Gestapo belog, um ihr Leben<br />
zu retten<br />
Frau Mitscherlich, lassen Sie uns über das Lügen sprechen …<br />
Lüge ist so ein grobes Wort. Lüge ist zum Beispiel, wenn man jemandem<br />
100 Euro stiehlt und sagt: Ich war es nicht. Also wenn<br />
man jemandem Schaden zufügt.<br />
Ist die Wahrheit das höchste Gut?<br />
Es ist gut, wenn man die Wahrheit als oberstes Gut darstellt –<br />
mit einer Einschränkung. Kant hat mal sinngemäß geschrieben:<br />
„Die Wahrheit: Ja! Aber nur, wo sie nicht missbraucht wird.“<br />
Wo kann Wahrheit missbraucht werden?<br />
Na überall, wo Ihnen jemand nicht wohlwill. In Diktaturen ist<br />
das gang und gäbe. Im Jahre 1944 lebte ich als Studentin gemeinsam<br />
mit Kommilitonen in einer Pension in Heidelberg. Wir<br />
waren alle gleicher Meinung, was die Nazis betraf: Ihre Diktatur<br />
war fürchterlich, und darüber redeten wir sehr offen. Der<br />
Verlobte einer Mitbewohnerin denunzierte uns wegen Abhö<br />
rens von Feindsendern – die schalteten wir jeden Abend ein –<br />
und wegen Zersetzung der Wehrkraft. So wurden wir also von<br />
der Gestapo verhört. Da war klar: Es drohte einem, gehenkt zu<br />
werden, wenn man ehrlich war. Wir leugneten also alles. Wie so<br />
oft waren es Neid und Eifersucht, weswegen die Wahrheit missbraucht<br />
wurde. Die Lust, mit Hilfe dieser „Wahrheit“ andere an<br />
den Pranger zu stellen, ist nicht geringer geworden.<br />
Das ist natürlich ein Extrembeispiel. Gibt es auch in anderen<br />
Bereichen berechtigte Lügen?<br />
Auch im Berufsleben. Da mögen Sie sich diesen oder jenen Fehler<br />
geleistet haben, vielleicht war es, von Ihnen aus gesehen, gar<br />
kein Fehler, aber andere sehen das so. Oder erinnern Sie sich an<br />
die Schulzeit: wenn man behauptete, wir hätten abgeschrieben,<br />
was wir nicht getan haben. Vielleicht haben wir irgendwann<br />
auch doch mal abgeschrieben. Es gibt viele Beispiele.