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Vortragsmanuskript - StrickRausch

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1<br />

Das Phänomen Stricken<br />

Stricken. Fast jeder von uns hat es gelernt oder wenigstens versucht – zu Hause oder in der<br />

Schule.<br />

Doch wie entstand diese Methode?<br />

Was ist das Besondere am Stricken?<br />

Wer strickte oder strickt warum?<br />

Alter und Herkunft des Strickens<br />

Bedingt durch Vergänglichkeit von Textilien kann das Alter oder die Herkunft der Stricktechnik<br />

nicht sicher bestimmt werden.<br />

Auch die Herstellungsart einzelner Textilfragmente ist oft schwierig zu erkennen.<br />

(Nadelspitzen, Spangtechnik, sehen im Ergebnis oft zum verwechseln ähnlich aus.)<br />

Das Ursprungsland ist nicht bekannt.<br />

Vermutungen:<br />

Amazonen im 6. u.5. JH v.Chr trugen enganliegende Beinkleider, die eigentlich nur gestrickt sein<br />

können.<br />

Wahrscheinlich hat sich „nalbinding“ in Ägypten entwickelt<br />

Ältesten zeitlich gesicherten und tatsächlich handgestrickten Funde: 12.Jh. (Socken aus dem<br />

islamischen Ägypten).<br />

Es gibt heute weltweit sehr unterschiedliche Handstrick-Methoden, die vermutlich einen sehr<br />

frühen gemeinsamen Ursprung haben und sich dann parallel eigenständig entwickelt haben.<br />

Westeuropäische Raum<br />

Osteuropäische, vorderasiatische Raum >>Bild strickende Griechin<br />

Südamerika, Anden, Peru<br />

Bei uns ist Stricken erst ab Mittelalter gesichert nachzuweisen.<br />

Bild 1: Meister Bertram: „Strickende Maria“ um 1390 n.Chr.<br />

>>> So kunstfertig, dass sie das Ende einer langen Entwicklung darstellen.<br />

Mitte des 15.Jh Beginn in England wollene Kopfbedeckungen zu stricken.<br />

„Capknitters“ sind seitdem als Beruf erwähnt.<br />

Höhepunkte des gewerblichen Strickens lagen im 16.Jh


2<br />

1589 gelang es William Lee, einem Engländer, eine erste Strickmaschine zu entwickeln. So ein<br />

Wirkstuhl arbeitete 6 mal so schnell wie eine geübte Handstrickerin.<br />

>>> Er erhielt keine Unterstützung durch englische Königin, die die gewerblichen Handstricker<br />

förderte.<br />

>>> 1609 wandert Lee nach Frankreich aus<br />

>>> begründet in Frankreich eine Wirkindustrie, die hauptsächlich von Protestanten ausgeübt<br />

wurde.<br />

>>> Viele der Hugenotten flüchteten auch nach Deutschland und brachten die Strumpfwirkerei<br />

auch nach Deutschland.<br />

Damit begann die langsame Verdrängung des gewerblichen Handstrickens.<br />

Ab 1782 war in Berlin das Maschinenstricken obrigkeitlich erlaubt.<br />

Gestrickte Strümpfe galten noch bis ins 17., 18. Jh. als reine Luxusartikel.<br />

Maria Stuart hatte welche bei ihrer Hinrichtung an.<br />

(Nicht so begüterte trugen von Hosenschneider aus Stoff zugeschnittene und genähte Strümpfe)<br />

Lange Zeit besaßen nur Herren Strümpfe, da unter den langen Röcken der Frauen keine<br />

notwendig waren.<br />

Um 1840 kommen immer mehr maschinengestrickte, billigere Waren auf den Markt.<br />

Das Handstricken geht zurück.<br />

Erst in der Gründerzeit, so ab 1870, wird wieder verstärkt von den Frauen – in allen Schichten<br />

und mit unterschiedlicher Motivation - gestrickt.<br />

Anfang des 19.JH kamen die ersten Strickbücher auf.<br />

In den Weltkriegen wurde vor allem zur Selbstversorgung, aber auch aus Fürsorge für die<br />

Soldaten gestrickt. Stricken wurde zur gesellschaftlichen Norm.<br />

Bis in die 70er Jahre war Stricken vor allem zur Selbstversorgung verbreitet.<br />

Im Gebiet der ehemaligen DDR wurde viel gestrickt. Vor allem weil Stricken die Möglichkeit<br />

eröffnete, sich modisch individuell zu kleiden.<br />

Heute ist Needle-Work-Design wieder en vogue.<br />

Stars wie Julia Roberts, Sandra Bullock oder Cameron Diaz stricken während der Drehpausen,<br />

um sich zu entspannen und auf den nächsten Auftritt zu konzentrieren.<br />

In den USA finden sich 1000de zu Stricktreffen ein.


3<br />

In Londons U-Bahnen, Nachtclubs oder auf Sportveranstaltungen stricken junge Trendsetter<br />

beiden Geschlechts - ihre Motive sind Entspannung und neue Sinneserfahrung.


4<br />

Das Besondere am Stricken<br />

liegt in seiner doppelten Funktion zwischen nützlich und ästhetisch/dekorativ.<br />

In chronologischer Hinsicht wechseln die beiden Aspekte „nützlich“ und „dekorativ“ immer<br />

wieder.<br />

Während im Mittelalter das Stricken eher ein produktives Gewerbe war,<br />

wurde dieses mit Aufkommen der Maschinenstrickerei schrittweise zurück gedrängt.<br />

Es wurde das ästhetische Element mehr betont.<br />

In Kriegs- und Krisenzeiten trat dann immer wieder die Nützlichkeit in den Vordergrund.<br />

Teilweise wurde es sogar zur gesellschaftlichen Norm (Frauen unterstützen ihre Soldaten im<br />

Krieg)<br />

Stricken wurde mit Wertvorstellungen verbunden, die teilweise noch heute geläufig sind.


5<br />

Wer warum strickte<br />

Gewerbliches Stricken<br />

Im ländlichen Raum<br />

Hausindustrie:<br />

Im 16.Jh in Deutschland verbreitet.<br />

Frauen und Mädchen hatten „allweg wüllen Garn- und Strickstock“ bei sich und Hosen strickten<br />

um sie an den Händler zu verkaufen.<br />

Die Stricker waren meist für einen Vertragshändler tätig.<br />

Vertragshändler liefert Rohstoffe und übernimmt Verkauf der Waren.<br />

Vertragshändler konnte große Mengen an Rohstoffen einkaufen > Waren waren dadurch<br />

preiswerter als beim Gewerbe.<br />

Verkauf<br />

Entweder selbst durch Familienangehörige oder Verleger<br />

Urteilsprotokoll von 1788: Mann wird beschuldigt, dass er „schon verschieden mahlen, wenn Ihn<br />

Seine Frau geschikt, Strümpfe zu verkaufen, nicht eher zurückgekommen seye, bis er das daraus<br />

gelöste Geld versoffen“ habe<br />

Kundschaft bestand aus bäuerlichen Schichten aus Umland<br />

Gründe für gewerbliches Stricken:<br />

Zubrot. Vor allem in Heidegebieten mit schlechtem Ertrag und zur Verwertung der Wolle.<br />

In manchen Orten strickte die gesamte Bevölkerung:<br />

So berichtet ein Hauptmann Flensburg aus Münster um 1780:<br />

Die viele Wolle, die der Landmann von diesen Schafen zieht, hat Anlaß gegeben, sie zu<br />

Strümpfen zu verstricken. Alles strickt hier, was nur Hände hat, Bauer und Bäuerin, Kinder,<br />

Knechte und Mägde. Vom fünften Jahre des Lebens an bis ins höchste Alter. So die Ackerarbeit<br />

freie Muße gibt, sitzt alles beim Feuer oder im Schatten und strickt. Der Knecht strickt beim<br />

Mistwagen unterwegs, wenn er zum Acker, zur Wiese oder sonst über Land geht; so die Magd, so<br />

alle Hausgenossen; der Schäfer den ganzen Tag hinter den Schafen, und selten findet man hier<br />

den Landmann, auch auf größeren Reisen, ohne Strickzeug. In den Bauernschaften und Dörfern<br />

versammeln sich im Winter die Stricker den Abend hindurch zu 20 bis 30 in einer Stube, um bei


6<br />

der Wärme des Ofens und dem Schein einer Tranlampe auf der Diele beim Feuer ohne Licht so<br />

wohlfeil als möglich zu arbeiten, oft bis 11 oder 12 Uhr.<br />

Auch kleine Kinder von drei oder vier Jahren wurden zum Stricken herangezogen.<br />

Um 1840 kommen immer mehr maschinengestrickte, billigere Waren auf den Markt.<br />

Für Handstricker blieb nur das, was für die Maschine zu kompliziert oder ausgefallen war.<br />

Die Hausindustrie war nicht mehr konkurrenzfähig und ging langsam ein.<br />

Zunftgebundenes Strickerhandwerk in den Städten<br />

Um 1590, in der Zeit in der William Lee die Erfindung der Strickmaschine gelang, schlossen sich<br />

Städter zu Zünften zusammen.<br />

Die älteste bekannte Strickergilde wurde 1527 in Paris gegründet: „La Commonante des Maitres<br />

Bonnetiers Au Tricot“.<br />

„Tricot“ bedeutet Stricken.<br />

In Berlin 1590 erste Hosenstricker-Innung.<br />

Zuerst Handstricken, dann ab 1782 in Berlin Maschinenstricken obrigkeitlich erlaubt<br />

Anfangs rein weibliches Gewerbe, das erst ab 16.Jh von Männern eingenommen wurde.<br />

Zünfte regeln das Lehrlings- und Gesellenwesen und legen Bedingungen zur Erlangung der<br />

Meisterwürde fest.<br />

Zünfte hatten Einfluss auf private Sphäre der Handwerker. Die Mitgliedschaft in einer Zunft war<br />

Voraussetzung, um in den vollen Genuss der bürgerlichen Rechte zu kommen (selbständige<br />

Berufsausübung, Heirat, Wahlrechte, Versorgung im Alter…)<br />

„Zunftzwang“<br />

„Nicht zünftige“ waren nicht Gewerbe berechtigt und galten als Pfuscher.<br />

Höhepunkt des gewerblichen Strickens lag im 16.Jh.<br />

Männermode: Kniehosen und gestrickte Strümpfe mit Vorzeigefunktion.<br />

Die Hosenstrickerordnung in Nürnberg schrieb 1625 eine vierjährige Lehrzeit und eine<br />

vierjährige Gesellenzeit vor, wovon zwei Jahre auf Wanderschaft verbracht werden sollten.<br />

Nur wer das hatte, durfte Meister werden.<br />

Meisterstücke<br />

waren nicht zum Verkauf vorgesehen und mussten in einer bestimmten Zeit angefertigt werden.


7<br />

In Colmar lautete 1739 eine Vorschrift, dass Kandidaten für die Meisterwürde innerhalb 13<br />

Wochen eine Decke, ein Paar Reithandschuhe und einen Wams anzufertigen hatten.<br />

Gestrickte Teppiche<br />

Vor allem die gestrickten Teppiche spielten als Meisterstücke eine große Rolle.<br />

Der früheste Beleg eines Strickteppichs: Prag um 1600,<br />

Der letzte: 1780 aus dem Elsaß<br />

Strickteppiche wurden in wohlhabenden Bürgerhäusern als Wandbehänge, Bett- und<br />

Tischdecken sowie als Bodenteppiche verwendet.<br />

In Breslau wurden sie hingegen als Paradestücke für öffentliche Gebäude wie Rathäuser und<br />

Kirchen verwendet.<br />

Die Größe der Teppiche: Zwischen 1,20 x 1,20 und 3,10 x 2,15m<br />

>> Bild Breslauer Wandteppich<br />

Die Teppiche sind in einem Stück gearbeitet, also nicht aus mehreren Stücken zusammengesetzt.<br />

> völlig unklar, wie gestrickt wurde.<br />

Zwei Auffassungen:<br />

mit mehreren Nadeln oder<br />

über Metallhaken, die nach der gleichen Methode gebraucht wurden wie die heutigen<br />

Strickliesln<br />

Nach der Fertigstellung wurden die Teppiche oft noch nachbehandelt, z.B. verfilzt.<br />

(Territorial unterschiedlich, von Zunft vorgegeben)<br />

Konkurrenz<br />

Zünfte / ländlichen Vertragsstricker / unzünftige Heimarbeit von Frauen / Soldaten<br />

Karl Spitzweg: „Der strickende Wachposten“, >>> Bild Strickender Soldat<br />

Verbote zum vergeben von Strickaufträgen an Soldaten.<br />

Ende der Zünfte<br />

Französische Revolution: lange Beinkleider ersetzten die Kniehosen.


8<br />

Strickmaschinen „Strickstühle“ wurden immer raffinierter und teurer.<br />

Gegen Ende des 19.Jh wechselten viele Strumpfstricker in andere Berufe oder gingen in die<br />

Fabrik.<br />

Stricken in Heimarbeit<br />

Wurde vor allem seit der Gründerzeit verstärkt betrieben. Der Grund: Die Repräsentation kostete<br />

oft mehr als der Mann verdiente.<br />

Wurde meist offiziell verschwiegen.<br />

Heimlich holen sie sich Arbeit aus den Geschäften und genau so heimlich liefern sie die fertigen<br />

Arbeiten wieder ab. Niemand darf davon etwas erfahren.<br />

Es wurde nach Zeit gestrickt. So gibt es einen Bericht, wonach für ein paar Fingerhandschuhe 5<br />

Stunden bezahlt wurden. Eine geübte Strickerin schaffte 100 Maschen pro Minute.<br />

Mit zunehmender Industrialisierung wächst in den Städten das Proletariat.<br />

Erwerbsarbeit musste an Familiensituation angepasst werden. > beliebt: Heimarbeit.<br />

Nähen und Stricken. (Nähen setzt Besitz Nähmaschine voraus.)<br />

Stricken und Nähen für eigene Bekleidung zur Kostenersparnis.<br />

Mittagspause in der Fabrik:<br />

Das Einnehmen der kargen Mahlzeit war rasch besorgt, dann wurden Strümpfe gestrickt,<br />

gehäkelt oder gestickt.<br />

Stricken zur Selbstversorgung<br />

Hat wohl in allen Zeiten eine Rolle gespielt.<br />

In Not- und Krisenzeiten wurde vor allem Bekleidung verstärkt gestrickt:<br />

Vorteil: Gestricktes kann man wieder auftrennen. Man kann jeden Wollrest verwerten.<br />

Bester Kälteschutz.


9<br />

Stricken im Dienste der Kindererziehung<br />

Im ländlichen Raum:<br />

Da Bäuerinnen nicht viel Zeit hatten, wurden ab 1860 in vielen Dörfern von der Frau des Arztes,<br />

des Lehrers oder des Pfarrers Strickschulen (auch „Winkelschulen“) gegründet, in denen das<br />

Stricken gelehrt wurde.<br />

In ihnen sollten die Kinder nützlich beschäftigt, gottesfürchtig erzogen und gleichzeitig die<br />

Sprache üben.<br />

„Und bald lernten die Kinder, Buben und Mädchen, in allen Dörfern der Pfarrei das Stricken.<br />

Nicht nur das Stricken, zu gleicher Zeit lernte man sie schöne geistliche Lieder und biblische<br />

Geschichten, die die Kinder auch auswendig lernten, auch lernten sie andere kleine Geschichten,<br />

ihrer Auffassungsgabe entsprechend.“<br />

Diese privaten Einrichtungen gelten als die Vorform des heutigen Kindergartens.<br />

>>> Bild StrickSchule<br />

Leiterin wurde nach der Anzahl der gestrickten Strümpfe bezahlt.<br />

Im aufstrebende Bürgertum:<br />

Mit Handarbeiten wurden Kinder frühzeitig an ein tätiges Leben gewöhnt. Dabei ging es nicht um<br />

die Handarbeit als solche, sondern eher darum, das Mädchen für seine späteren Pflichten zu<br />

trainieren.<br />

In einem pädagogischen Ratgeber heißt es: „ Handarbeiten erfordern große Gewandtheit der<br />

Finger, viel Übung, Bildung des Ordnungs- und Schönheitssinns. Das sich anzueignen, ist das<br />

erwachsene Mädchen nicht mehr befähigt. Die Finger sind zu unbiegsam, die Zeit ist zu vielfältig<br />

in Anspruch genommen, die Geduld nicht entwickelt“<br />

Nach dem Prinzip vom Leichten zum Schweren vorgehend, sollten die Mädchen „erst stricken,<br />

dann nähen, flicken, stopfen, häkeln und zuschneiden lernen.<br />

Der Oberbürgermeister von Gera, Wilhelm Weber, schreibt 1875: „Zu meinem Geburtstag hat<br />

mir meine Tochter Lise (4 Jahre alt) ihre erste Handarbeit gebracht, ein Seifenläppchen, das sie<br />

selbst gestrickt hat.“


10<br />

Stricken war ein wertbeladenes Thema. Ein ordentliches, tüchtiges Mädchen musste Stricken<br />

können.<br />

Lange Zeit war die Motivierung zum Stricken mit Hilfe eines Wunderknäuels üblich. (In den<br />

Knäuel wurde eine Leckerei oder Stammbuchblümchen eingewickelt)<br />

Stricken zur Kommunikationspflege<br />

Im ländlichen Bereich:<br />

Transportable textile Arbeiten wie das Spinnen und Stricken wurden bevorzugt an<br />

„Lichtstuben“abenden ausgeführt.<br />

Grund: Arbeit im geselligen Kreis macht mehr Spaß<br />

Kostbares Heizmaterial und Beleuchtung wird gespart<br />

Jeweils rundum in jeweils einer anderen Bauernstube.<br />

Eine Frau vom Kaiserstuhl berichtet, dass noch in 60er Jahren / 20.JH das „Z’Licht gehen“<br />

üblich war.<br />

Für sie war es selbstverständlich, immer was zum Stricken dabei zu haben: „ganz und gar ohne<br />

geht man nur zu nem Kranken“<br />

Auch im städtischen Bereich<br />

wurden Handarbeiten oft im geselligen Kreis ausgeführt. Das stärkte das<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie:<br />

Dass Stricken mit Unterhaltung mehr Spaß macht, empfindet auch das Nesthäkchen Annemarie,<br />

als sie bei Großmama stricken lernt:<br />

… Großmuttchen, …, wenn Du mir was erzählst, stricke ich bis heute Abend, dann ist es kein<br />

bisschen langweilig.<br />

Nesthäkchen sprang vor Freude aus dem Stühlchen auf. Da sprangen auch gleich ein paar<br />

Maschen von der Nadel. Aber Großmutter wurde nicht ungeduldig, den Schaden immer wieder<br />

zu heilen. Bald klapperten aufs neue eifrig die Stricknadeln von Großmama und Enkelchen. Und<br />

Großmama erzählte…<br />

Handarbeiten waren zur Legitimation des „Damentreffs“ notwendig.<br />

Vielfach haben solche Handarbeitstreffs auch als Alibi für Versammlungen mit frauenpolitischen<br />

Zielsetzungen gedient.<br />

Die Forderung des ständigen Beschäftigseins führte im 19.Jh zu einer wahren Mode des Strickens<br />

in jeder denkbaren Situation. So weiß Krünitz in seiner Encyklopädie 1840 zu berichten:


11<br />

In jeder Gesellschaft, auf jedem Spazierganz sah man die Frauen und Jungfrauen mit dem<br />

Strickstrumpfe beschäftigt keine Unterhaltung im Kaffee- und Theezirkeln, als bei oder mit dem<br />

Strickstrumpfe“<br />

Stricken aus Fürsorge<br />

Im aufstrebenden Bürgertum ein wichtiges Thema:<br />

Die Fürsorge auch für Leute außerhalb des engen Familienkreises sollte ebenfalls in der<br />

Erziehung kleiner Mädchen gefördert werden.<br />

Bei Nesthäkchen heißt es:<br />

„Die Großmutter lehre sie auch Strümpfchen stricken für die kleinen Füße, die sie nackt sehen“<br />

Wie in der Mädchenerziehung spielt im Leben der bürgerlichen Damen das selbstlose Stricken für<br />

Familienangehörige und bedürftige Personen eine entscheidende Rolle.<br />

Vor allem in der 2.Hälfte des 19.Jh. wurden zahlreiche gemeinnützige Vereine gegründet. Die<br />

Beliebtheit bei Frauen aus dem Großbürgertum und der oberen Mittelschicht ist verständlich:<br />

Schließlich war es für die Frauen die einzige erlaubte Beschäftigung außerhalb des Hauses und<br />

bot Abwechslung.<br />

Stricken als Ausdruck gern gesehener Häuslichkeit<br />

Handarbeiten eigneten sich dazu, die Mädchen für ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu prägen.<br />

Denn Tugenden wie „Sparsamkeit, Reinlichkeit und die Sorge und Beachtung des Kleinen“<br />

konnten damit eingeübt werden.<br />

Aus dem Lebensbericht von Fanny Lewald ist zu entnehmen, dass sie sich ca. 5 Stunden am Tag<br />

mit Nähen und Stricken zu beschäftigen hatte, um sich im häuslichen Fleiß zu üben.<br />

Der Autor Heinrich Seidel beschreibt seine Erwartungshaltung (und vermutlich die seiner<br />

Gesellschaft) an eine künftige Ehefrau so:<br />

„Ein jeder gern aufs Mädchen blickt,<br />

wenn es hübsch fleißig näht und strickt.<br />

Gewöhnt man sich an Arbeit leicht,<br />

Dann wird ein schönes Ziel erreicht.“


12<br />

Das Fleißpostulat und der demonstrativer Müßiggang<br />

Wohlhabende Frauen des Großbürgertums hatten das unaufhörliche Beschäftigtsein so<br />

verinnerlicht, dass sie das Nichtstun weder bei sich noch bei anderen duldeten.<br />

Mit einer Handarbeit konnten die Damen fortwährend geschäftig aussehen, konnten aber auch<br />

gleichzeitig den Müßiggang demonstrieren.<br />

Stricken galt – vermutlich wegen seines zugleich nützlichen Charakters - oft als Arbeit.<br />

Anfang des 19.JH kamen die ersten Strickbücher auf.<br />

Die Damen strickten<br />

Damenbeuteltaschen,<br />

Niedliche Babyjäckchen und Häubchen mit Spitzenstrickerei<br />

Gemusterte Handtaschen und Brillenetuis in Perlstrickerei.<br />

Stricken zur Disziplinierung<br />

Hedwig Dorn beschreibt das Familienleben als brav und bieder:<br />

„Die Mädchen saßen möglichst still, sittsam, machten Handarbeiten in den Freistunden, von der<br />

mühsamen Perlen- und petitpoint-Stickerei bis zum ekligen Strumpfstopfen herunter.“<br />

Bei den regelmäßigen Beschäftigungen ging es auch darum, die Triebe unter Kontrolle zu halten.<br />

„Rastlose Tätigkeit ist das beste Mittel, sündige Lüsternheit zu ersticken.“<br />

Äußerlich sauber ausgeführte Handarbeiten sollten zur inneren Reinheit führen.<br />

Handarbeiten hatten nicht nur in der Mädchenerziehung die Funktion zum Stillsitzen anzuhalten.<br />

Sie bewirkten auch bei den Damen eine „Fesselung von Kopf-Herz-Hand“<br />

Es ging auch um die Beherrschung der – vor allem sexuellen – Triebe.<br />

Stricken für die Aussteuer<br />

Für junge Mädchen nach der Töchterschule oder dem Pensionat begann das Warten auf einen<br />

Freier. Den Mädchen blieb nun viel Zeit, sich mit häuslichen Arbeiten zu befassen.<br />

Darunter Arbeiten, die den „Charakter des bloßen Zeitvertreibs“ zu wahren hatten. Hierzu<br />

gehörten repräsentative Tätigkeiten wie französische Konversation, Stricken, Klavierspielen,


13<br />

Singen, Malen. Die Ausübung der schönen Künste hatte zugleich den Zweck, den Blick des<br />

richtigen Mannes auf sich zu ziehen.<br />

Nach Bernhardine Kron, einer Erzieherin, musste man, um zum Heiraten berechtigt zu sein, 100<br />

Paar Strümpfe gestrickt haben.<br />

Stricken für den repräsentativen Salon<br />

Neben der Herstellung und Bewahrung des friedlichen Binnenklimas, war es auch eine Aufgabe<br />

der Frau, den guten Ruf des Mannes „durch ihr Auftreten zu bestärken und seinen sozialen<br />

Status im Rahmen der Gesellschaft zu festigen“<br />

Während im Biedermeier nur Feste innerhalb der Familie üblich waren, erfuhr die Stellung des<br />

Mannes auf der gesellschaftlichen Stufenleiter in den Gründerjahren immer mehr an Bedeutung.<br />

Die berufliche Position des Mannes wurde auch an den privaten Verhältnissen gemessen.<br />

Gesellschaftliche Verpflichtungen wie private Einladungen gehörten deshalb zum guten Ton.<br />

Der Salon, der schönste und größte Raum der Wohnung sollte bei Festen der Öffentlichkeit<br />

zugänglich gemacht werden. Dessen kostbare Ausstattung sollte den Reichtum der Familie<br />

erkennen lassen. Zugleich war die Wohnung Visitenkarte für „Wohlanständigkeit und tugendhafte<br />

Gesinnung der Familie“.<br />

Die Handarbeiten mussten heimlich, hinter den Kulissen, ausgeführt werden. Denn man wollte ja<br />

nicht zeigen, dass man sich etwas nicht leisten konnte.<br />

Nur feine Handarbeiten, die nicht nach wirklicher Arbeit aussahen, waren gesellschaftsfähig.<br />

Stricken als gesellschaftliche Normvorgabe<br />

In den beiden Weltkriegen wurde von Kindern und Frauen erwartet, für Soldaten zu stricken.<br />

Sie bekamen Adressen von ihnen fremden Frontsoldaten.<br />

In Frauenzeitschriften wurde an dienstwillige appelliert und Strickvorschläge für z.B.<br />

Ohrenschützer und Fußschlüpfer gegeben.<br />

Das Stricken wurde für die politische Propaganda genutzt:<br />

1. Beschaffung der warmen Kleidung und<br />

2. Soldaten bekamen mit der Kleidung auch Rückhalt aus der Heimat.


14<br />

Vereine und Kommunen richteten Strickstuben ein.<br />

Stricken zur Beruhigung<br />

In Kriegszeiten diente Stricken oft auch dazu, Angst zu verarbeiten, die Nerven zu beruhigen.<br />

„Alle hatten Angst, als sie im Luftschutzkeller saßen, ich beruhigte mich mit Stricken.“<br />

Die beruhigende Wirkung des Strickens erkannte ein Londoner Psychologe, der diese Technik als<br />

„das wohl beste Beruhigungsmittel“ bezeichnete.<br />

Außerdem stellte das Stricken eine praktische Hilfe dar. Sie konnten für Gatten und Söhne<br />

sorgen und damit gleichzeitig ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringen.<br />

Stricken zur Entspannung und besonderen Sinneserfahrung<br />

Heute<br />

Forscher des Institut Mind / Body an der Harvard Medical School entdeckten, dass das Stricken<br />

und Häkeln so wirkungsvoll wie Meditation oder Yoga für die Entspannung des Körpers ist.<br />

Die gleichmäßigen Bewegungen beim Stricken blockieren den Ausstoß des Stresshormons. Der<br />

Blutdruck und die Herzfrequenz sinken. In einer Studie sank der Puls des Needle Workers pro<br />

Minute um elf Schläge.<br />

Stricken als künstlerischer Ausdruck<br />

>>> <strong>StrickRausch</strong> / KlugeStrickArt<br />

Quelle für den historischen Teil:<br />

Sylvia Greiner: „Kulturphänomen Stricken – Das Handstricken im sozialgeschichtlichen Kontext“<br />

Verlag Bernhard Albert Greiner, 2002<br />

ISBN 3 – 935383 – 06 - 1

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