(Notizen Juni) - Lehranstalt für systemische Familientherapie
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THERAPIEPRAXIS ><br />
HELMUT DE WAAL<br />
GROSSE WORTE UND GESTEN<br />
Gedanken zum Pathetischen in der Psychotherapie<br />
ZUERST DER VERSUCH einer Definition:<br />
Vom Pathetischen sprechen<br />
wir dann, wenn wir erfasst werden<br />
oder uns erfassen lassen von<br />
etwas, das – unserer Empfindung<br />
nach – größer ist als wir, es ist<br />
ein Zustand von Passivität, in<br />
den wir uns begeben, den wir<br />
riskieren und erleiden: „Wir lassen uns ergreifen“.<br />
Wobei das nicht negativ gemeint ist, alle Erfahrung von<br />
Hingabe, Begeisterung, Faszination usw. ist so geartet;<br />
„überrascht sein“, „sich wundern“ ist eine pathetische<br />
Erfahrung, auch die Erkenntnis des Neuen, zumindest<br />
im Moment der Entdeckung, wenn die aktive Neugierde<br />
umschlägt in die passive Verwunderung.<br />
Das Gegenüber des Pathetischen ist das Skeptische. Es<br />
ist immer mehrdeutig oder führt die Mehrdeutigkeit in<br />
den Diskurs zwischen Menschen ein – das Pathetische<br />
hingegen behauptet Eindeutigkeit und, zumindest meistens<br />
(„ich erlebe es so“), Gültigkeit. Das Pathetische<br />
findet immer in der Gegenwart statt, ja schafft Gegenwart.<br />
Es entbehrt im Unterschied zum Skeptischen (das<br />
nur aus der Distanz heraus möglich ist) der Distanz. In<br />
der modischen Terminologie von gestern: Das Pathetische<br />
ist das „Hier und Jetzt“ per se.<br />
Nachdem das Pathetische subjektiv assoziiert erlebt wird<br />
– dem eigenen Gefühl nach tatsächlich erlitten – kann<br />
auch leicht die Verantwortung da<strong>für</strong> abgegeben werden<br />
– „etwas Höheres hat uns erfasst“.<br />
Für den Psychotherapeuten eine problematische<br />
Geschichte, trotzdem manchmal unvermeidlich, an sich<br />
auch nützlich. Unter dem Motto „ man kann zumindest<br />
darüber reden“ soll hier reflektiert und auch nach plausibler,<br />
verantwortungsvoller und nachvollziehbarer Anwendung<br />
gesucht werden.<br />
AN DEN ANFANG soll eine persönliche Vorbemerkung<br />
über das Pathetische und das Peinliche gestellt werden.<br />
Persönlich liegt mir das Pathetische überhaupt nicht, es<br />
erlaubt wenig Selbstkontrolle, setzt die distante Wahrnehmung,<br />
auch die Selbstwahrnehmung, außer Kraft.<br />
Gelingt deswegen dann das Pathetische nicht punktgenau<br />
– das ist die unvermeidlich riskierte, mögliche<br />
Nebenwirkung – dann kommt das Peinliche auf<br />
(obwohl das wiederum durchaus spannend sein kann,<br />
denn das Auftreten des Peinlichen signalisiert immerhin,<br />
dass etwas aufregend Neues geschieht, das uns insgesamt<br />
betrifft und betroffen macht). Aber wir haben es<br />
nicht so gerne, weil die Erfahrung der Peinlichkeit in<br />
ihrer Gesamtheit alle andere Erfahrung blockiert – wir<br />
könnten in den Erboden versinken, wir schämen uns<br />
dann buchstäblich zu Tode, oder zumindest, wie man<br />
im Gemeindebau früher gesagt hat, „bis in den Arsch<br />
hinein“ (um einmal gleich eine kleine peinliche Duftmarke<br />
zu setzen). Das Peinliche ist das Pathetische,<br />
wenn es schief geht – systemisch gesprochen: ein zu<br />
großer Unterschied, den wir plötzlich und körperlich<br />
verspüren. Das ist dann eine Erfahrung, die wir eher<br />
vermeiden, schon aus eigenem Interesse. Man könnte<br />
das nicht oft aushalten oder müsste, noch schlimmer,<br />
der Erfahrung des Peinlichen gegenüber total abgestumpft<br />
sein.<br />
Trotzdem, das Pathetische wird offenbar gebraucht, setzt<br />
sich immer wieder durch – man denke nur an die konkurrenzlose<br />
Ergriffenheit und absolute Überzeugtheit<br />
von Klienten, die sich einer Familienaufstellung unterzogen<br />
haben oder ganz generell an den Versuch der<br />
Wiedererrichtung von großen Ritualen, etwa von Hochzeitsbräuchen<br />
(„Baumstämme durchsägen“ und ähnlich<br />
abstruse Unternehmungen), die zwar völlig sinnentleert,<br />
aber trotzdem mit Andacht und Hingabe verwendet<br />
werden – und natürlich auch an den immer wieder verspürten<br />
Wunsch von verzweifelten Menschen, dass etwas<br />
Eindeutiges, Erlösendes und Machtvolles unsererseits<br />
passieren möge, das wundersam ihre Sorgen beseitigt,<br />
ein Wunsch, den wir nicht erfüllen können, den wir<br />
aber auch ernst nehmen müssen, wenn wir den Klienten<br />
nicht verlieren wollen an jene, die hier großzügigere<br />
Versprechen abgeben.<br />
AN SICH sind wir als <strong>systemische</strong> Therapeuten ja bescheiden<br />
geworden. Wir sind dem Skeptischen verpflichtet.<br />
(s. A.Retzer). Der Therapeut weiß die Wahrheit nicht<br />
mehr, macht nur Unterschiedsvorschläge und ist anson-<br />
06 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
sten neutral. Wir „glauben“ eben nicht, wir halten <strong>für</strong><br />
möglich.<br />
Der Klient ist der Experte <strong>für</strong> Stimmigkeit und Gültigkeit,<br />
nicht der Therapeut.<br />
Aber die tatsächlich erfahrene Realität ist anders. Die<br />
Überzeugungen des (<strong>systemische</strong>n) Therapeuten und die<br />
Erwartungen, zumindest die Hoffnungen und Sehnsüchte,<br />
der Klienten gehen manchmal auseinander.<br />
Wir kennen z.B. in unserem Alltagsleben die großen<br />
ergreifenden Übergänge nicht mehr, sie sind in der Vieldeutigkeit<br />
modernen Lebens verschwunden – man<br />
braucht da nur an die Kompliziertheit des jugendlichen<br />
Heranwachsenden denken und an die vielen, komplexen<br />
DER THERAPEUT WEISS DIE WAHRHEIT NICHT<br />
MEHR, MACHT NUR UNTERSCHIEDSVORSCHLÄGE<br />
UND IST ANSONSTEN NEUTRAL. WIR „GLAUBEN“<br />
EBEN NICHT, WIR HALTEN FÜR MÖGLICH.<br />
Übergänge ins Erwachsenenalter: Führerschein, Bundesheer,<br />
Matura, eigene Wohnung, eigenes Geld, eigene<br />
Waschmaschine etc. etc. Wer sehnt sich da nicht nach<br />
der Eindeutigkeit der Übergangsrituale zurück, die van<br />
Genepp geschildert hat. Trotzdem: Wir finden sie realiter<br />
nicht und Kopien sind eher peinlich als nützlich,<br />
aber die Sehnsucht nach dieser Eindeutigkeit, Klarheit<br />
und definitiven Unterscheidung ist nur zu verständlich.<br />
Die wenigen großen Erzählungen sind zwar zugunsten<br />
vieler und vielfältiger kleiner zurückgetreten (s. K. Grossmann),<br />
aber der Traum von großer und klarer Erzählung<br />
ist geblieben und offenbar auch die Vorstellung, der<br />
Psychotherapeut könnte der Autor, der Verkünder und<br />
Regisseur dieser Erzählung sein.<br />
Wir unterscheiden uns ja zumindest offiziell strikt von<br />
jeglicher Guruhaftigkeit – Simon und Retzers Ahndung<br />
Bert Hellingers sind hier ein Beispiel.<br />
Die Annäherungen des Psychotherapeuten an seinen<br />
Klienten sind zurückhaltend und postmodern geworden.<br />
Das ist an sich gut, alles Andere empfinden wir als<br />
peinlich, aufdringlich und unpassend.<br />
Das Pathetische ist aus der Psychotherapie verschwunden<br />
– was hätte es auch dort zu suchen, wir sehen es<br />
eher im Privaten, in der Freundschaft, in der Liebe, im<br />
Kinderkriegen. Glaubensdingen im öffentlichen und gar<br />
professionellen Rahmen gegenüber sind wir misstrauisch.<br />
Aber das ist, wie gesagt, die eine Seite der Geschichte.<br />
Wir leben nicht nur in einer Zeit des Entbehrens großer<br />
Gesten und Rituale, wir sehen uns auch – seitens der<br />
Klienten zumindest – dem Verlangen ausgesetzt, es<br />
möge jemand die dazugehörige Rolle einnehmen, tatsächlich<br />
ein wissender Seelenführer sein wie der Priester<br />
oder zumindest so klar und eindeutig wie der Arzt.<br />
Wenn der Klient uns<br />
gegenüber steht mit seiner<br />
Sehnsucht nach dem<br />
Wunderbaren, nach Lossprechung<br />
oder Heilung,<br />
dann sehen wir uns, angesichts<br />
des Klientenwunsches,<br />
einerseits mit unserem<br />
Unvermögen der Einflussnahme konfrontiert, aber<br />
anderseits auch der Versuchung ausgesetzt, die pathetische<br />
Pose trotzdem einzunehmen. Wobei allerdings<br />
angeführt werden soll, dass diejenigen, die zur bedeutsamen<br />
Pose bereit sind, nicht immer alle ihre Folgen tragen<br />
wollen – ein Priester oder Schamane wäre man nämlich<br />
immer, 24 Stunden am Tag und jeden Tag des Jahres,<br />
nicht nur zu den Praxisöffnungszeiten oder wenn<br />
wir bei „Energie“ sind.<br />
NOCH EINMAL zusammengefasst – manchmal vermissen<br />
wir das Pathetische allerdings, auch in unserem therapeutischen<br />
Vollzugsrepertoire:<br />
Auch wenn die anderen damit so großen Erfolg haben –<br />
zumindest momentan – und wir glauben, dass das auch<br />
den Klienten gegenüber eine unfaire Konkurrenz darstellt:<br />
Wir sehen hier das Große durch die Hintertür,<br />
ohne korrekte Legitimation wiedergekommen – etwa<br />
wenn der esoterische Lebensberater sich aufführt wie ein<br />
Hoher Priester.<br />
Oder wenn wir Bedeutsamkeit in der Therapie aus-<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 07
DE WAAL ><br />
drücken oder dem Klienten ermöglichen wollen,<br />
bedeutsame Unterschiede in seinem Leben zu markieren<br />
oder zu erfahren, bzw. als Erfahrung zu vermitteln,<br />
Sollten wir das überhaupt (auf diese Weise)?<br />
Aber wir müssen hier bedenken: Das Pathetische zu<br />
ermöglichen heißt Gelegenheiten zur Wahl eher zu verringern,<br />
wir vermehren damit nicht Möglichkeiten, wir<br />
schränken sie ein – etwa, wenn wir einen Übergang von<br />
einer Lebensphase zur<br />
anderen durch Rituale<br />
markieren. Übergangsrituale<br />
sind pathetische<br />
Ereignisse, zumindest<br />
im Kern, hat man sich<br />
dazu entschieden, werden<br />
sie riskiert, und<br />
man liefert sich ihnen<br />
aus, sie markieren immer ein Tor zum Unbekannten, das<br />
durchschritten und erfahren wird (man denke nur an die<br />
Rituale der Initiation junger Männer in den Status des<br />
Erwachsenen). Das kann nicht wieder ungeschehen<br />
gemacht werden. Das bezeichnet jetzt überhaupt den<br />
Unterschied zwischen dem pathetischen dem skeptischen<br />
Vorgehen. Wer skeptisch vorgeht, erwägt, verwirft,<br />
wählt aus, wer pathetisch vorgeht, hat entschieden.<br />
Was heißt Neutralität bezüglich dem Pathetischen und<br />
dem Skeptischen – denn das sind ja nicht zwei therapeutische<br />
Interventionsformen, die einander irgendwie<br />
gleichwertig gegenüberstehen, sondern zwei grundverschiedene<br />
Formen der Wahrnehmung?<br />
VERSUCH EINER STANDORTBESTIMMUNG in bezug auf das<br />
Pathetische in der Therapie: Wir sind in der Therapie<br />
immer mit zwei grundsätzlich verschiedenen Möglichkeiten<br />
befasst, mit „Erfahrung“ umzugehen:<br />
Entweder wir „verwenden“ und ändern damit bereits<br />
gemachte Erfahrungen – wir erinnern und reflektieren<br />
könnten wir hier oberbegrifflich sagen – wir erzeugen<br />
damit Vieldeutigkeit und stellen Gültigkeit in Frage,<br />
oder wir inszenieren oder ermöglichen zumindest neue<br />
Erfahrungen, die zumeist unmittelbar und als solche erst<br />
einmal eindeutig und absolut erlebt werden, „das<br />
geschieht mir jetzt“ – das wäre der Unterschied zwischen<br />
reflektieren und erleben. Natürlich tun wir immer auch<br />
beides, weil die „Begegnung“ als solche bereits eine<br />
neue Erfahrung darstellt. Die ist uns allerdings nicht<br />
immer vollständig zugänglich und absichtsvoll handhabbar,<br />
wie immer wir „Beziehung“ als solche werten oder<br />
verstehen.<br />
DAS PATHETISCHE, WIE ES HIER VERSTANDEN<br />
WIRD (NÄMLICH ALS TEIL ABSICHTSVOLL GESTAL-<br />
TETER PSYCHOTHERAPIE) KANN ALS ERFAHRUNG<br />
EINGESTUFT WERDEN, UND ZWAR ALS ERFAHRUNG<br />
DES KLIENTEN, NICHT DES THERAPEUTEN.<br />
Hier mein Verfahrensvorschlag:<br />
Das Pathetische, wie es hier verstanden wird (nämlich als<br />
Teil absichtsvoll gestalteter Psychotherapie) kann als<br />
Erfahrung eingestuft werden, und zwar als Erfahrung des<br />
Klienten, nicht des Therapeuten. Genauer gesagt natürlich<br />
– weil sich ja spontane Ereignisse und damit auch<br />
Erfahrung seitens des Therapeuten nicht direkt beeinflussen<br />
lassen – ist damit die absichtsvolle Herstellung<br />
einer Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung <strong>für</strong> den<br />
Klienten gemeint. Damit ist also explit die pathetische<br />
Pose des Therapeuten ausgeschlossen.<br />
Was aber wenn der Therapeut selbst ergriffen ist (früher<br />
war ja das „tränende Auge“ und die „belegte Stimme“ ein<br />
durchaus beliebtes Stilmittel der therapeutischen Einflussnahme)?<br />
Dann sollte er selbstreflexiv sein und nicht<br />
weihevoll. Natürlich kann der Therapeut bewegt sein<br />
von dem, was passiert, aber das ist nicht Gegenstand und<br />
Absicht der Therapie. Das Pathetische, das hier gemeint<br />
ist, ist ein Angebot <strong>für</strong> den Klienten, keine Sensation des<br />
Therapeuten. So ist das mit (<strong>systemische</strong>r) Therapie vereinbar.<br />
Trotzdem bleibt – auch wenn wir hier die Position des<br />
Therapeuten als die eines verantwortungsvollen Skeptikers<br />
definieren, der das Pathetische ermöglicht, nicht<br />
absichtlich erfährt – seine verantwortungsvolle Situation<br />
08 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
estehen: Die Erfahrung des Pathetischen reduziert Möglichkeiten<br />
und legt Bedeutung fest. Noch einmal deutlich:<br />
Das Pathetische stellt eine Erfahrung dar, keine<br />
Reflexion oder Erzählung von Erfahrung, ist eindeutig<br />
und bedeutsam, bedient sich schließender Metaphorik,<br />
hat multisinnlichen Charakter, ist seitens des Klienten<br />
nicht neutral, wird riskiert und erlebt und kann keinesfalls<br />
mehr rückgängig gemacht werden. Genau betrachtet<br />
weist die Erfahrung des Pathetischen (man denke noch<br />
einmal an die Erfahrung der Initiation, könnte aber auch<br />
an das Ritual der Hochzeit denken) durchaus einige Charakteristika<br />
des Traumatischen auf, es gibt meist keine<br />
(würdigen) Möglichkeiten der Abwehr oder der Entfernung,<br />
die Erfahrung wird als gefühlsmäßig überwältigend<br />
erlebt. (Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“<br />
könnte als Beispiel misslungener und verantwortungsloser<br />
Pathetik und ihrer verzweifelten Abwehr gelesen<br />
werden.) Das alles legt dem Psychotherapeuten eine<br />
gewisse Verantwortung auf. Theatralisch gesprochen: Mit<br />
der Ermöglichung des Pathetischen treten Therapeut und<br />
Klient aus der „Auszeit“ der Therapiesituation heraus und<br />
hinein in das Leben des Klienten.<br />
WANN ALSO ist denn eine derartige Interventionsform<br />
überhaupt angebracht? Hier einfach einmal eine mögliche<br />
Liste von, wie ich glaube, verantwortungsvoller Anwendung:<br />
■ die „Klage“ mit dem Therapeuten als würdigendes und<br />
würdiges Gegenüber wäre die erste Kategorie, das<br />
Unabwendbare – das Unveränderliche im Leben oder<br />
Erleben des Klienten da<strong>für</strong> der Anlass. Damit ist natürlich<br />
nicht Steve de Shazers Kategorie vom Klienten,<br />
Kläger, Besucher gemeint, sondern jene grundsätzliche<br />
Verzweiflung angesichts unabwendbaren und unbeeinflussbaren<br />
Unglücks – diese Äußerung ist unmittelbar<br />
und total. Groß gesagt könnten wir ein Menschenrecht<br />
auf die Äußerung des Schmerzes postulieren und auf<br />
Gelegenheiten <strong>für</strong> diese Äußerungen. In öffentlichen<br />
und sozialen Zusammenhängen ist diese Gelegenheit<br />
oft verlorengegangen, nicht nur Rituale des Übergangs,<br />
auch Möglichkeiten, Verzweiflung zu äußern, sind verloren.<br />
Wer nicht ‚gut drauf’ ist, gilt als lächerlich,<br />
schwarze Kleidung signalisiert Coolness und Dynamik,<br />
nicht mehr Verlust und Trauer. Der Therapeut<br />
hat hier durchaus die Aufgabe, diese Äußerung zu<br />
ermöglichen (zum „Wie“ s.u.).<br />
Damit hier kein Missverständnis aufkommt, häufig,<br />
vielleicht sogar meistens, ermöglicht derartige Klage<br />
im Weiteren dann auch eine neue Sichtweise, die<br />
wiederum noch nicht gekannte Einflussmöglichkeiten<br />
wahrnehmen lässt und dann unsere übliche Vorgangsweise<br />
von Problem und Lösung zulässt (Steve de<br />
Shazers Vorgehen angesichts der Klage). Das ist gut,<br />
aber nicht die eigentliche Absicht. Die Klage ist nicht<br />
nur ein Mittel zum Zweck späterer Lösungsideen. Sie<br />
hat zuerst und an sich Recht. Lösungsneutralität<br />
heißt hier <strong>für</strong> den Therapeuten zuerst einmal, seinerseits<br />
das Unabwendbare zumindest am Leben des<br />
Klienten aushalten zu können. Es klammheimlich<br />
positiv zu konnotieren, etwa als Wachstumsmöglichkeit,<br />
halte ich <strong>für</strong> einen Verrat am Klienten. Wer Therapeut<br />
sein will, muss auch bereit sein <strong>für</strong> die Begegnung<br />
mit dem Unglück und dem Scheitern, egal ob es<br />
sich ändern lässt oder nicht.<br />
■ Dann scheint mir das Pathetische angebracht bei den<br />
großen Wendungen im Leben, als Ersetzung fehlender<br />
Übergangsrituale, wenn man will. Hier sollte der<br />
Therapeut darauf achten, welche Rolle er einnimmt.<br />
Zuerst sollte nur ersetzt werden, was wirklich nötig<br />
ist. Wenn jemand in einem neuen Lebensabschnitt<br />
Verantwortung und Freiheit gewonnen hat sollte das<br />
mit allen Sinnen erfahren werden, und alle Beteiligten<br />
sollten davon Kenntnis haben, klare Unterschiedssetzung<br />
im Sinne von Erweiterung aber auch Reduktion<br />
von Möglichkeiten (Modi der Verantwortung) ist hier<br />
das Ziel. Aber wenn der Klient einen runden<br />
Geburtstag hat, ist das in diesem Zusammenhang<br />
meist weniger wichtig.<br />
■ V.a. sollte sich der Therapeut klar sein, welche Prozesse<br />
er beim Klientensystem anregt, welche Abläufe er<br />
inszeniert oder welche Rollen er sogar selbst übernimmt.<br />
Ein Zeremonienmeister oder gar ein Anleiter<br />
<strong>für</strong> irgendeine Initiation kann schwer in die variante<br />
und neutrale Rolle des Therapeuten zurückschlüpfen,<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 09
DE WAAL ><br />
sie passt dann unter Umständen nicht mehr. Das stellt<br />
eine gewisse Versuchung <strong>für</strong> die Beteiligten dar. Speziell,<br />
wenn der Therapeut bei allen wichtigen Lebensereignissen<br />
aufgesucht wird, oder zumindest bei regelmäßigen<br />
Einladungen zu Familienfeiern, sollte er<br />
dann doch überlegen, welche Rolle er denn eigentlich<br />
einnimmt.<br />
■ Wenn der Klient sich in seinem Leben entschieden<br />
äußern will, wäre eine pathetische Anregung ebenfalls<br />
passend, z.B., wenn er sich, ganz altmodisch „erklären“<br />
möchte; <strong>für</strong> diejenigen, die den Ausdruck nicht<br />
mehr verstehen: Damit ist das einseitige und bei dem<br />
Risiko von Blamage und Zurückweisung<br />
WIR HABEN GUT ZWANZIG JAHRE LANG<br />
ENTSCHIEDEN UND DEUTLICH DAS<br />
PATHETISCHE AUS DEM THERAPEUTI-<br />
SCHEN DISKURS HERAUSGEHALTEN.<br />
DAS HAT UNS IN VIELEM GUT GETAN.<br />
gewagte Eingeständnis von Liebe oder<br />
Zuneigung gemeint. Das wäre aber auch<br />
als Eingeständnis und Äußerung jeder<br />
bedeutungsvollen Bewegtheit denkbar.<br />
Auch die Begeisterung <strong>für</strong> eine Idee oder<br />
eine Unternehmung oder die Sympathie<br />
<strong>für</strong> den Freund oder die Freundin könnten<br />
hier pathetische Äußerungen sein.<br />
Das im Gespräch zu thematisieren, vielleicht sogar<br />
ermutigend als Wahlmöglichkeit zu erobern, scheint<br />
mir durchaus Aufgabe von Psychotherapie.<br />
■ Aber auch die Empörung, vielleicht sogar die gemeinsame,<br />
über Ungerechtigkeit und Grausamkeit in der<br />
Gesellschaft kann meiner Meinung nach Gegenstand<br />
des Pathetischen in der Therapie sein. Psychotherapie<br />
braucht nicht so tun, als gäbe es das nicht. Allerdings<br />
sollte der Klient hier genau wissen, was sein Anteil an<br />
dieser Klage – denn darum handelt es sich – denn<br />
wirklich ist. Der Therapeut sollte hingegen klar wissen,<br />
wann er, ehrlicherweise selbstbetroffen, einstimmt,<br />
wann nicht, wie er es hier mit der Neutralität<br />
also hält. Denn im Gegensatz zur Klage über das persönliche<br />
Schicksal ist hier der Therapeut unter<br />
Umständen genau so betroffen und engagiert wie der<br />
Klient. Hier wird, bei aller Gemeinsamkeit, zu klären<br />
sein, was wirklich Gegenstand von Therapie sein soll.<br />
■ Für die Erforschung der Vergangenheit an sich scheint<br />
mir das Pathetische nicht geeignet, zumindest leuchtet<br />
mir keine plausible Notwendigkeit ein. Die Vergangenheit<br />
soll ja gerade nicht zur Gegenwart werden und<br />
das ist die Implikation des Pathetischen. Als Systemiker<br />
sehe ich die Vergangenheit als ständig erneuertes<br />
Konstrukt im Dienste der Gegenwart. Meist sehen wir<br />
unsere Aufgabe darin, behutsam (so dass das Neue<br />
dem Bisherigen nicht widerspricht) die Erneuerung<br />
dieses Konstruktes zu ermöglichen, ein eher „skeptisches“<br />
Unternehmen also. Eine Ausnahme mag sein,<br />
wenn ein bestimmtes Ereignis der Vergangenheit an<br />
sich immer wieder pathetisch zurückkehrt (traumatisch<br />
also), dann mag, in aller Vorsicht, sozusagen ein<br />
„Wiedererleben des Vergangenen bei anderem Ausgang“<br />
angebracht sein. Traumatherapeuten sind hier<br />
die Spezialisten. Aber hier wird der Therapeut sich der<br />
„Nebenwirkung“ bewusst sein, denn derartige<br />
Behandlung impliziert die gültige Festlegung der so<br />
bewältigten Vergangenheit.<br />
Was wären korrekte Anwendungsregeln?<br />
■ Seitens des Therapeuten: absichtsvoll und verantwortet,<br />
als Ergebnis von Hypothesen, reflektiert, explizit,<br />
nicht guruhaft, sondern ereignisbezogen, transparent,<br />
soviel therapeutischen Einfluss wie nötig, nicht mehr.<br />
Das Pathetische soll beim Klienten (assoziiert) sein,<br />
nicht beim Therapeuten (dissoziiert), die große Geste<br />
nur soweit nötig – sie sollte seitens des Therapeuten<br />
demütig, nicht großartig vorgenommen werden.<br />
■ Wie wäre Reflexion vor Aktion praktisch vorstellbar?<br />
Inszenierung seitens des Therapeuten nur wenn nötig,<br />
sonst sollte er sich mit der Anregung zufrieden geben.<br />
Eine „gestaltende Rolle“, etwa als Verkünder von Übergängen<br />
etc., sollte der Therapeut nur einnehmen, wenn<br />
es sich gar nicht vermeiden lässt und dann in aller Ver-<br />
10 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
antwortung bezüglich den Entkleidungsmöglichkeiten<br />
und auch Unmöglichkeiten dieser Rollenpositionierung<br />
(wer den Priester macht, wird nicht immer so<br />
ohne weiteres wieder zum Ministranten werden).<br />
■ Haben wir „Methoden“, die das Pathetische begünstigen?<br />
Alles, was multisinnliches Erleben im Moment<br />
fördert; kommt dann noch die Absicht der bedeutsamen<br />
Erfahrung („Botschaft“, die der Klient entdeckt)<br />
oder Aussage („Versprechen“, das der Klient verkündet)<br />
hinzu, können wir von einer Einladung zum<br />
Pathetischen per se sprechen. Im genannten Sinn wird<br />
der Therapeut damit absichtsvoll und verantwortlich<br />
umgehen, er wird wissen, was er tut und warum, und<br />
er wird das auch benennen können.<br />
■ Mut und Takt, entlang der Peinlichkeit könnten die<br />
Richtlinien sein. Damit haben wir noch keine Formen<br />
der Anwendung, aber vielleicht ist die Peinlichkeit, die<br />
den Therapeuten gerade so ein bisschen anweht, ein<br />
verlässlicher Indikator <strong>für</strong> das richtige Maß an Erstmaligkeit,<br />
„gerade noch gut verträglich“ wäre hier das<br />
Maß. Wer das Pathetische riskiert, liefert sich aus,<br />
gibt, zumindest <strong>für</strong> den Moment, die Kontrolle aus<br />
der Hand und wagt damit auch das „Zuviel“, auch das<br />
„Unpassende“; der Therapeut, als behutsamer Begleiter,<br />
nicht selbst Betroffener, kann und sollte hier<br />
Ermutigungs- oder Kontrollvorschläge machen. Riskiert<br />
der Klient zu wenig, passiert nichts (Bert Hellingers<br />
Bemerkung, was nicht mit Zittern und Zagen<br />
gewagt sei, wäre nicht gewagt, scheint mir hier durchaus<br />
stimmig), riskiert er zu viel, kann er so ergriffen<br />
sein, dass er die (peinliche) Erinnerung daran nicht<br />
aushält, und dann ist der Schaden größer als der Nutzen.<br />
■ Neutralität gegenüber der Beeinflussbarkeit, Respekt<br />
vor dem Schicksal – oder wie immer wir dasjenige<br />
nennen, worauf wir keinen Einfluss haben – scheinen<br />
mir wesentliche Grundhaltungen zu sein, wenn wir<br />
unsere Klienten bei diesen Erfahrungen begleiten wollen,<br />
und vielleicht sind das ja unvermeidliche Erfahrungen<br />
bei jedem Veränderungsprozess.<br />
An den Schluss möchte ich anstatt einer Zusammenfassung<br />
(das sind ja ohnedies noch eher unfrisierte Gedan-<br />
ken und Anregungen) noch eine persönlich gehaltene<br />
Bemerkung setzen. Wir haben gut zwanzig Jahre lang<br />
entschieden und deutlich das Pathetische aus dem therapeutischen<br />
Diskurs herausgehalten. Das hat uns in vielem<br />
gut getan. Ich meine das durchaus auch praktisch,<br />
weil ich mich noch gut erinnere, wie erleichtert ich war,<br />
als Seminartage nicht mehr mit endlosen „Wetterberichten“<br />
und „Befindlichkeitsrunden“ begannen (und<br />
manchmal auch gleich endeten).<br />
Ich denke auch, dass die distante und skeptische Haltung<br />
der <strong>systemische</strong>n Therapie ihre wesentlichen Erfolge<br />
ermöglicht haben: „Unterschied“ statt „Befindlichkeit“,<br />
„Lösungsorientiertheit statt endlose Begleitung“, die<br />
Reflexion über die Position des Beobachters, vielleicht<br />
alle konstruktivistischen Aspekte insgesamt, etc. etc..<br />
Aber keine Exkommunikation sollte auf Dauer aufrecht<br />
erhalten werden (v.a. wird der Aufwand da<strong>für</strong> immer<br />
größer), so sinnvoll sie in gewissen Momenten sein mag.<br />
Wenn ich zudem bemerke, dass in der Theorie überzeugte<br />
Skeptiker sich praktisch durchaus pathetischen Ritualen<br />
unterwerfen (therapeutischen, nicht religiösen, auch<br />
wenn von „heimlichen Pilgerschaften“ gesprochen werden<br />
könnte), dann möchte ich, in aller Vorsicht, eine<br />
ganz große Sehnsucht nach dieser Art von Erfahrung<br />
konstatieren, ein Verlangen, das wir achten sollten. Wir<br />
sollten, wenn wir nicht – vielleicht sogar verhohlen und<br />
verschämt – in althergebrachtes „pathetisches Agitieren“<br />
zurückfallen wollen, das Pathetische wieder wahr- und<br />
ernstnehmen und in den therapeutischen Diskurs<br />
zurückholen. Dieser Beitrag will dabei ein bescheidener<br />
Versuch sein.<br />
Literatur:<br />
Grossmann K.P.: Der Fluss des Erzählens, Heidelberg, 2000<br />
Klosinski G. (Hrsg.): Pubertätsriten, Bern, 1991<br />
Retzer A.: Passagen, Stuttgart, 2002<br />
Weber G. (Hrsg.): Zweierlei Glück, Heidelberg, 1993<br />
DR. HELMUT DE WAAL ist klinischer Psychologe, Psychotherapeut<br />
in freier Praxis (Steyr), Supervisor, Lehrtherapeut <strong>für</strong> <strong>systemische</strong><br />
<strong>Familientherapie</strong> und Autor mehrfacher Veröffentlichungen in<br />
<strong>systemische</strong>r Therapie.<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 11