„Systemkompetenz“ in der Forensischen Psychiatrie - Lehranstalt für ...
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FORENSISCHE PSYCHIATRIE ><br />
ELISABETH WAGNER<br />
SYSTEMKOMPETENZ<br />
IN DER FORENSISCHEN PSYCHIATRIE<br />
EINLEITUNG<br />
Wenn systemische Therapie<br />
nicht <strong>in</strong> privater Praxis o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
Beratungsstellen, wo e<strong>in</strong> klassisches<br />
Therapiesett<strong>in</strong>g mit den<br />
konstituierenden Merkmalen<br />
von Freiwilligkeit und Verschwiegenheit<br />
besteht, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> öffentlichen Institutionen wie Psychiatrischen Krankenhäusern,<br />
Suchtkl<strong>in</strong>iken, Jugendämtern, Gefängnissen,<br />
zur Anwendung kommt, müssen die <strong>der</strong> systemischen<br />
Therapie zugrunde liegenden Konzepte kritisch<br />
reflektiert und differenziert werden. Da öffentliche<br />
soziale Institutionen immer auch die Schutz- und Ordnungs<strong>in</strong>teressen<br />
<strong>der</strong> durch den Staat repräsentierten<br />
Öffentlichkeit vertreten, haben sie neben e<strong>in</strong>em Hilfsauch<br />
e<strong>in</strong>en Ordnungs- und Kontrollauftrag zu erfüllen<br />
(vgl. Brandl-Nebehay, Russ<strong>in</strong>ger 1995); es geht um<br />
gesellschaftliche Macht, aber auch um die schutzwürdigen<br />
Bedürfnisse von Dritten. Der Staat übernimmt<br />
Verantwortung, drohende Gefahren abzuwenden und<br />
bedient sich dabei <strong>der</strong> professionellen Arbeit von BeraterInnen<br />
und/o<strong>der</strong> TherapeutInnen. Daraus ergibt sich<br />
das typische Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle,<br />
zwischen Therapie und Strafe (vgl. Russ<strong>in</strong>ger,<br />
Wagner 1999)<br />
Nach e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>führenden Darstellung des Arbeitskontextes<br />
Maßnahmenvollzug soll <strong>in</strong> diesem Beitrag aufgezeigt<br />
werden, wie e<strong>in</strong>e unkritische Anwendung zentraler<br />
systemischer Konzepte wie Auftragsfokussierung,<br />
Lösungs- und Ressourcenorientierung den Erfor<strong>der</strong>nissen<br />
e<strong>in</strong>er verantwortungsvollen therapeutischen Arbeit<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong> zuwi<strong>der</strong>läuft, während<br />
die kritische Reflexion dieser Konzepte unter E<strong>in</strong>beziehung<br />
<strong>der</strong> Systemtheorie als Theorie sozialer Systeme<br />
und als Metatheorie des Beobachtens und Unterscheidens<br />
e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Kompetenz des systemischen Therapeuten<br />
darstellen kann. Da diese Kompetenz nicht<br />
wesentlich aus <strong>der</strong> Anwendung kl<strong>in</strong>ischen Wissens (dem<br />
Wissen über gesunde versus pathologische seelische Phänomene)<br />
erwächst, möchte ich sie unter dem Begriff<br />
<strong>„Systemkompetenz“</strong> diskutieren.<br />
Das Konstrukt Systemkompetenz wurde von Schiepek<br />
e<strong>in</strong>geführt (Manteufel & Schiepek, 1998) und be<strong>in</strong>haltet<br />
neben dem Verständnis <strong>für</strong> allgeme<strong>in</strong>e Charakteristika<br />
dynamischer Systeme (z.B. Rückkopplung, Nichtl<strong>in</strong>earität,<br />
Selbstorganisation usw.) und <strong>der</strong> Fähigkeit zu<br />
kompetentem selbstreflexiven Handeln beim E<strong>in</strong>greifen<br />
<strong>in</strong> komplexe Systeme auch e<strong>in</strong> fundiertes Fachwissen<br />
über das jeweils spezifische komplexe System (d.h. über<br />
die Vernetzung relevanter Systemelemente und E<strong>in</strong>flussfaktoren).<br />
<strong>„Systemkompetenz“</strong>, def<strong>in</strong>iert als Kompetenz<br />
im Umgang mit komplexen dynamischen Systemen,<br />
besteht damit aus e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en bereichsübergreifenden<br />
und e<strong>in</strong>em speziellen bereichsspezifischen<br />
Anteil. E<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d situationsbezogenes und<br />
doma<strong>in</strong>spezifisches Wissen und Handlungskompetenzen<br />
notwendig, um mit den <strong>in</strong> <strong>der</strong> speziellen Anfor<strong>der</strong>ungssituation<br />
relevanten Systemen und Systemelementen<br />
angemessen umzugehen. An<strong>der</strong>erseits wird postuliert,<br />
dass auch e<strong>in</strong>e „allgeme<strong>in</strong>e“, bereichsübergreifende<br />
Systemkompetenz entwickelt werden kann. Diese<br />
übergreifenden Wissens- und Fähigkeitskomponenten<br />
helfen Personen <strong>in</strong> verschiedenen komplexen Problemsituationen<br />
beim Management von Systemprozessen<br />
(Kriz 2000).<br />
FÜR DIE AUSEINANDERSETZUNG mit dem Arbeitskontext<br />
Forensische <strong>Psychiatrie</strong> möchte ich die anzustrebende<br />
<strong>„Systemkompetenz“</strong> auf drei Ebenen explizieren:<br />
a) die Ebene <strong>der</strong> angemessenen Konzeptualisierung des<br />
<strong>in</strong>stitutionellen Kontextes vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong><br />
Theorie Luhmanns,<br />
b) die Ebene <strong>der</strong> angemessenen erkenntnistheoretischen<br />
Fundierung von Expertenwissen <strong>in</strong> <strong>der</strong> forensischen<br />
<strong>Psychiatrie</strong> und<br />
c) die Ebene <strong>der</strong> angemessenen Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> therapeutischen<br />
Beziehung <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf das Teilhaben<br />
an <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Macht <strong>der</strong> Vollzugsanstalt.<br />
Zunächst soll aber <strong>der</strong> Arbeitskontext Forensische <strong>Psychiatrie</strong><br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Grundzügen vorgestellt und die<br />
grundsätzliche Schwierigkeit <strong>der</strong> Anwendung systemischer<br />
Konzepte diskutiert werden.<br />
12 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
ZUM ARBEITSKONTEXT FORENSISCHE PSYCHIATRIE<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> die strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />
des Täters, somit <strong>für</strong> dessen Schuldfähigkeit, ist dessen<br />
Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Tat. Wer<br />
nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, das Unrecht se<strong>in</strong>er Tat e<strong>in</strong>zusehen<br />
und entsprechend diesem Urteil zu handeln, <strong>der</strong> handelt<br />
nicht schuldhaft und kann nicht bestraft werden. Wenn<br />
jedoch zu be<strong>für</strong>chten ist, dass jemand, <strong>der</strong> „unter dem<br />
E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>er geistigen o<strong>der</strong> seelischen Abartigkeit<br />
höheren Grades“ e<strong>in</strong> Delikt begangen hat, unter dem<br />
E<strong>in</strong>fluss dieser „Abartigkeit“ e<strong>in</strong>e weitere strafbare<br />
Handlung mit schweren Folgen begehen könnte, erfolgt<br />
DIE UNTERBRINGUNG IM MASSNAHMENVOLL-<br />
ZUG IST ALS „VORBEUGENDE MASSNAHME“<br />
DEFINIERT, DIE DEM ABBAU DER SPEZIFI-<br />
SCHEN GEFÄHRLICHKEIT UND DAMIT DER<br />
ABWENDUNG KÜNFTIGER GEFAHREN, DIE VOM<br />
UNTERGEBRACHTEN AUSGEHEN, DIENT<br />
die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> den Maßnahmenvollzug. Aus dem<br />
Rechtsbrecher wird e<strong>in</strong> Patient <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong>,<br />
<strong>der</strong> behandelt wird, bis se<strong>in</strong>e Gefährlichkeit abgebaut<br />
ist und dann mit e<strong>in</strong>er gerichtlichen Behandlungsweisung<br />
bed<strong>in</strong>gt entlassen werden kann. Die Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
im Maßnahmenvollzug ist als „vorbeugende Maßnahme“<br />
def<strong>in</strong>iert, die dem Abbau <strong>der</strong> spezifischen<br />
Gefährlichkeit und damit <strong>der</strong> Abwendung künftiger<br />
Gefahren, die vom Untergebrachten ausgehen, dient.<br />
Zweck <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung ist, den Zustand des Untergebrachten<br />
soweit zu bessern, dass von ihm die Begehung<br />
weiterer Straftaten nicht mehr zu erwarten ist,<br />
und „den Untergebrachten zu e<strong>in</strong>er rechtschaffenen<br />
und den Erfor<strong>der</strong>nissen des Geme<strong>in</strong>schaftslebens angepassten<br />
Lebense<strong>in</strong>stellung zu verhelfen“. Zur Erreichung<br />
<strong>der</strong> Vollzugszwecke s<strong>in</strong>d die Untergebrachten<br />
„entsprechend ihrem Zustand ärztlich, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
psychotherapeutisch, psychohygienisch und erzieherisch<br />
zu betreuen“.<br />
Ohne hier auf die Details <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
„vorbeugenden Maßnahme“ e<strong>in</strong>gehen zu wollen, sollen<br />
doch die wesentlichen Charakteristika genannt se<strong>in</strong>:<br />
■ Die Unterbr<strong>in</strong>gung erfolgt, was das Ausmaß an Freiheitse<strong>in</strong>schränkung<br />
betrifft, unter haftähnlichen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen, unabhängig davon, ob sie an spezialisierten<br />
forensischen Abteilungen psychiatrischer<br />
Krankenhäusern o<strong>der</strong> <strong>in</strong> spezialisierten Justizanstalten<br />
vollzogen wird.<br />
■ Die Unterbr<strong>in</strong>gung erfolgt zeitlich unbegrenzt. Da es<br />
sich unabhängig von <strong>der</strong> Schwere des Delikts um e<strong>in</strong>e<br />
„vorbeugende Maßnahme zum Abbau <strong>der</strong> spezifischen<br />
Gefährlichkeit“ handelt, ist die Entlassung an<br />
den Behandlungserfolg und<br />
die damit verbundene günstige<br />
Prognose geknüpft.<br />
■ Die Überprüfung <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
<strong>der</strong> weiteren<br />
Anhaltung erfolgt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />
e<strong>in</strong>mal jährlich.<br />
■ Die Entscheidung über die<br />
Entlassung fällt das Gericht. In<br />
<strong>der</strong> Regel werden da<strong>für</strong> positive<br />
Stellungnahmen <strong>der</strong> Behandelnden und e<strong>in</strong> positives<br />
Gutachten e<strong>in</strong>es externen Sachverständigen benötigt.<br />
■ Bei <strong>der</strong> Entlassung handelt es sich immer um e<strong>in</strong>e<br />
bed<strong>in</strong>gte Entlassung, d. h. die Entlassung ist an<br />
Bed<strong>in</strong>gungen (meist die Fortführung e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Art <strong>der</strong> Betreuung o<strong>der</strong> Behandlung) geknüpft.<br />
Aus diesen Eckdaten wird ersichtlich, dass die Entstehung<br />
des Maßnahmenvollzuges untrennbar mit dem<br />
Auftreten e<strong>in</strong>er Fachdiszipl<strong>in</strong>, <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong>,<br />
verknüpft war, die den Anspruch erhob, über prognostisches<br />
Wissen zur Gefährlichkeitse<strong>in</strong>schätzung und<br />
behandlungstechnische Kompetenz zum „Abbau <strong>der</strong><br />
spezifischen Gefährlichkeit“ zu verfügen. Dieser Anspruch<br />
ersche<strong>in</strong>t z.B. beim paranoid-psychotischen<br />
Patienten, <strong>der</strong> im Rahmen e<strong>in</strong>es Verfolgungswahnes se<strong>in</strong>en<br />
verme<strong>in</strong>tlichen Verfolger umgebracht hat und durch<br />
antipsychotische Behandlung von se<strong>in</strong>em Wahn distanziert<br />
ist, relativ unproblematisch. Nach erfolgter psychopathologischer<br />
Stabilisierung kann er unter <strong>der</strong> Auflage,<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 13
WAGNER ><br />
dass er sich weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er medikamentösen Therapie<br />
unterzieht, entlassen werden. Diese (relative) E<strong>in</strong>deutigkeit<br />
psychiatrischer Kategorien fehlt jedoch z.B. beim<br />
impulsiven Vergewaltiger, dessen „seelische Abartigkeit<br />
höheren Grades“ sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em psychiatrisch gut<br />
def<strong>in</strong>ierten Krankheitsbild (paranoide Psychose) son<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unabhängig vom Delikt häufig schlecht<br />
identifizierbaren Verhaltens- bzw. Persönlichkeitsmerkmal<br />
manifestiert.<br />
Zur Konzeptualisierung dieser pathologischen Persönlichkeitsentwicklungen<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong><br />
zunächst vor allem psychoanalytische Konzepte<br />
verfolgt worden, welche sich aus mehreren Gründen <strong>für</strong><br />
diesen Kontext eignen: Sie bieten<br />
das mit Abstand reichhaltigste<br />
theoretische Repertoire an<br />
Erklärungsmustern <strong>für</strong> abweichendes<br />
Erleben und Verhalten.<br />
Sie stimmen darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong><br />
ihrem Umgang mit Kausalität,<br />
Zeit und Geschichtlichkeit mit<br />
den Grundannahmen des Maßnahmevollzugs<br />
übere<strong>in</strong>: Das<br />
Delikt ist Ausdruck (Symptom)<br />
e<strong>in</strong>er Störung, diese Störung<br />
kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langwierigen therapeutischen Prozess<br />
behandelt werden. In den letzten Jahren haben sich <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong> h<strong>in</strong>gegen zunehmend kognitiv-behaviorale<br />
und psychoedukative Behandlungsstrategien<br />
verbreitet, die wegen <strong>der</strong> Zielgerichtetheit<br />
ihrer Interventionen und ihrer empirisch nachgewiesenen<br />
Wirksamkeit punkten konnten. In e<strong>in</strong>em Rückfallpräventionsprogramm<br />
lernt <strong>der</strong> Täter, den eigenen Entscheidungsprozess<br />
und damit zusammenhängende Risikofaktoren<br />
zu identifizieren und Kontrolle über diesen<br />
Entscheidungsprozess zu übernehmen. Im Zentrum <strong>der</strong><br />
Behandlung steht die Arbeit am Deliktszenario, die erst<br />
abgeschlossen ist, wenn <strong>der</strong> Täter die <strong>für</strong> ihn typische<br />
Abfolge von Situationen, Gefühlen, Gedanken und<br />
Handlungen kennt, die dazu führen können, dass er<br />
wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Delikt begeht.<br />
Trotz aller <strong>in</strong>haltlicher Unterschiede zwischen e<strong>in</strong>em<br />
psychoanalytischen und e<strong>in</strong>em kognitiv-behavioralen<br />
Therapieansatz (vgl. Parfy, Wagner 1999) weisen diese<br />
Modelle doch auch gewisse Geme<strong>in</strong>samkeiten auf, die<br />
sie an<strong>der</strong>erseits von e<strong>in</strong>em systemischen Therapieverständnis<br />
unterscheiden: beide Theorien haben ausgefeilte<br />
Störungsmodelle, rechnen mit <strong>der</strong> Möglichkeit zielgerichteter<br />
Interventionen und konzeptualisieren eher<br />
kont<strong>in</strong>uierliche Verän<strong>der</strong>ungsprozesse („Durcharbeiten<br />
<strong>der</strong> Konflikte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übertragungsbeziehung“ bzw.<br />
„Arbeit am Deliktszenario“). Dieses Bekenntnis zu l<strong>in</strong>earer<br />
Kausalität, dieser Umgang mit Zeit und Geschichtlichkeit<br />
s<strong>in</strong>d mit den Grundannahmen des Maßnahmenvollzugs<br />
gut kompatibel.<br />
IM ZENTRUM DER BEHANDLUNG STEHT DIE<br />
ARBEIT AM DELIKTSZENARIO, DIE ERST ABGE-<br />
SCHLOSSEN IST, WENN DER TÄTER DIE FÜR<br />
IHN TYPISCHE ABFOLGE VON SITUATIONEN,<br />
GEFÜHLEN, GEDANKEN UND HANDLUNGEN<br />
KENNT, DIE DAZU FÜHREN KÖNNEN, DASS ER<br />
WIEDER EIN DELIKT BEGEHT.<br />
Daraus ergibt sich aber auch die grundsätzliche Schwierigkeit<br />
bei <strong>der</strong> Anwendung systemisch-konstruktivistischer<br />
Konzepte <strong>in</strong> diesem Kontext. SystemikerInnen<br />
konzeptualisieren ke<strong>in</strong>e „zugrundeliegenden Störungen“,<br />
sie verstehen Therapie nicht als langwierigen therapeutischen<br />
Prozess, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Klient wie <strong>in</strong> den<br />
psychodynamischen Therapien im Wege <strong>der</strong> Durcharbeitung<br />
<strong>der</strong> Übertragung se<strong>in</strong>e psychische Struktur verän<strong>der</strong>t<br />
o<strong>der</strong> wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em psychoedukativen Programm<br />
schrittweise an die Übernahme von Eigenverantwortung<br />
herangeführt wird. Systemische Modelle verweisen im<br />
Gegensatz dazu auf die Nicht-Instruierbarkeit psychischer<br />
o<strong>der</strong> sozialer Systeme, legen eher diskont<strong>in</strong>uierliche<br />
Verän<strong>der</strong>ungen nahe (Was würde wohl e<strong>in</strong> Gutachter<br />
von e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>gle-session-therapy e<strong>in</strong>es Gewalttäters<br />
halten?) und rufen zur Skepsis gegenüber jedem diagnostischen<br />
und prognostischen Wissen auf.<br />
14 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
SIND SYSTEMISCHE KONZEPTE<br />
FÜR DIE ARBEIT IN ZWANGSKONTEXTEN<br />
GRUNDSÄTZLICH UNPASSEND?<br />
In e<strong>in</strong>er Vielzahl kritischer Artikel (Her<strong>in</strong>gton 1993,<br />
Levold 1993, Levold et al 1993, Pleyer 1996) werden die<br />
konstituierenden Charakteristika systemisch-therapeutischen<br />
Arbeitens <strong>für</strong> den Kontext von Gewalt und sozialer<br />
Kontrolle zum<strong>in</strong>dest kontroversiell diskutiert. Diese<br />
Diskussion wurde an<strong>der</strong>norts ausführlich dargestellt<br />
(Russ<strong>in</strong>ger, Wagner 1999) und soll daher <strong>in</strong> diesem Beitrag<br />
nur mit wenigen Sätzen angerissen werden.<br />
E<strong>in</strong> grundlegendes Charakteristikum systemischen Denkens<br />
– die Infragestellung l<strong>in</strong>earer Kausalität und die<br />
Fokussierung auf Zirkularität – ersche<strong>in</strong>t vielen Autoren<br />
problematisch, wenn es zu schweren Gewalttaten<br />
gekommen ist. Vor allem aus fem<strong>in</strong>istischer Perspektive<br />
wurde kritisiert, dass durch die Konstruktion zirkulärer<br />
Zusammenhänge dem Opfer <strong>der</strong> Gewalttat implizit<br />
Schuld zugewiesen wird. Was <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Beratungs- o<strong>der</strong><br />
Therapiekontext, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Paar aktiv an Verän<strong>der</strong>ung<br />
des problematischen evtl. auch gewalttätigen Verhaltens<br />
arbeitet, hilfreich ist, kann <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelarbeit mit verleugnenden<br />
Tätern höchst problematisch se<strong>in</strong>. Allzu<br />
bereitwillig können <strong>in</strong>haftierte Gewalttäter die „Provokation“<br />
durch das Opfer nicht nur als Auslöser son<strong>der</strong>n<br />
als ausreichende Erklärung (und Entschuldigung) <strong>für</strong><br />
das Delikt heranziehen, wodurch die Übernahme von<br />
Verantwortung und die Erarbeitung sozial akzeptierter<br />
Verhaltensweisen erschwert wird. Auch durch die Ablehnung<br />
e<strong>in</strong>er „objektiven Realität“, durch e<strong>in</strong>e undifferenzierte,<br />
„neutrale Haltung“ gegenüber dem <strong>in</strong>krim<strong>in</strong>ierten<br />
Verhalten und durch e<strong>in</strong>e strikte Auftragsfokussierung<br />
(wenn nämlich nur <strong>der</strong> Therapieauftrag des Klienten<br />
berücksichtigt wird) können systemische TherapeutInnen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unheilvolle Koalition mit den Verleugnungstendenzen<br />
des Täters geraten.<br />
Dass bei angemessener Differenzierungs- und Reflexionsleistung<br />
systemische Konzepte auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit<br />
mit Gewalttätern verantwortungsvoll angewandt werden<br />
können, wurde <strong>in</strong> dem Beitrag „Gewalt – Zwang –<br />
System“ (Russ<strong>in</strong>ger, Wagner 1999) ausführlich dargestellt.<br />
LeserInnen, die sich <strong>für</strong> die Anwendung systemi-<br />
scher Konzepte, die nötige Adaptierung und Begrenzung<br />
<strong>für</strong> die Arbeit <strong>in</strong> Zwangskontexten <strong>in</strong>teressieren, seien<br />
auf diese Arbeit verwiesen. In diesem Beitrag sollen nun<br />
drei Ebenen <strong>der</strong> <strong>„Systemkompetenz“</strong> erläutert werden.<br />
DREI EBENEN DER SYSTEMKOMPETENZ<br />
IN DER FORENSISCHEN PSYCHIATRIE<br />
A) SYSTEMKOMPETENZ BEI DER THEORETISCHEN<br />
BETRACHTUNG DES INSTITUTIONELLEN KONTEXTES<br />
Luhmanns Konzept <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung<br />
gesellschaftlicher Subsysteme und die Umwandlung von<br />
Gefahren <strong>in</strong> Risken durch die Kopplung an e<strong>in</strong>e Entscheidung<br />
In e<strong>in</strong>er systemtheoretischen Betrachtungsweise drängt<br />
sich die Formulierung auf, dass im Maßnahmenvollzug<br />
Komplexität entlang zweier verschiedener Leitdifferenzen<br />
reduziert wird: gesund/krank im mediz<strong>in</strong>isch-therapeutischen<br />
Bereich, Recht/Unrecht im Bereich <strong>der</strong><br />
Justizverwaltung. Dass es sich dabei nicht nur um e<strong>in</strong>e<br />
abstrakte, <strong>der</strong> soziologischen Reflexion entsprungene<br />
Unterscheidung handelt, son<strong>der</strong>n diese <strong>in</strong> hohem Ausmaß<br />
die tägliche Zusammenarbeit <strong>der</strong> Berufsgruppen<br />
bestimmt, ist zum<strong>in</strong>dest den dort Beschäftigten<br />
schmerzhaft bewusst. Bei je<strong>der</strong> Teamentscheidung über<br />
Vollzugslockerungen, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychiater über den zu<br />
rehabilitierenden Kranken, <strong>der</strong> Beamte über den zu<br />
bewachenden Rechtsbrecher spricht, kann diese Differenz<br />
<strong>der</strong> Unterscheidung deutlich werden. Das<br />
„Warum“ e<strong>in</strong>er Vollzugslockerung bedarf <strong>für</strong> den Arzt<br />
o<strong>der</strong> Therapeuten ke<strong>in</strong>er Begründung, wohl aber muss<br />
das „Warum nicht“ (Gefährlichkeit, Rückfallgefahr) kritisch<br />
bedacht werden. Der Justizwachebeamte, <strong>der</strong> nicht<br />
von therapeutischen Idealen geleitet ist, son<strong>der</strong>n im<br />
Insassen den Rechtsbrecher sieht, vor dem die Gesellschaft<br />
geschützt werden will, mag nicht nur die Gefährlichkeit<br />
an<strong>der</strong>s e<strong>in</strong>schätzen (me<strong>in</strong>er Erfahrung nach ist<br />
bei <strong>der</strong> Beantwortung des „Warum nicht“ relativ leicht<br />
E<strong>in</strong>igung zu erzielen) – er stellt vor allem die viel grundsätzlichere<br />
Frage des „Warum“ e<strong>in</strong>er Vollzugslockerung,<br />
die er zunächst als vermeidbares Risiko ansieht.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong> treffen damit regelmäßig<br />
zwei verschiedene „Systemlogiken“ aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, und alle<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 15
WAGNER ><br />
Entscheidungsträger s<strong>in</strong>d aufgefor<strong>der</strong>t, die Berechtigung<br />
<strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en Logik und die daraus erwachsende<br />
Argumentation zu würdigen.<br />
Neben dem vertieften Verständnis <strong>für</strong> die unterschiedlichen<br />
Leitdifferenzen und den daraus erwachsenden<br />
Konfliktl<strong>in</strong>ien hat mir die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Luhmanns<br />
Werk noch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e wichtige Denkfigur eröffnet,<br />
welche die Entwicklung von e<strong>in</strong>em kustodialen zu<br />
e<strong>in</strong>em therapeutischem Vollzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en größeren gesellschaftlichen<br />
Zusammenhang stellt. Luhmann (1991) hat<br />
darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft<br />
zunehmend Gefahren <strong>in</strong> Risken umgewandelt werden,<br />
<strong>in</strong>dem sie Entscheidungen zugerechnet werden. Dies<br />
geschieht auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung des Strafvollzugs von<br />
e<strong>in</strong>em kustodialen zu e<strong>in</strong>em therapeutischen: Vollzugslockerungen<br />
und die Entlassung aus dem therapeutischen<br />
Vollzug basieren auf Entscheidungen, an denen<br />
zumeist die „professionellen Helfer“, also Psychiater,<br />
Psychotherapeuten etc. mit ihren jeweiligen handlungsleitenden<br />
Fachtheorien beteiligt s<strong>in</strong>d. Durch die Zurechnung<br />
auf e<strong>in</strong>e Entscheidung wird aus <strong>der</strong> Gefahr e<strong>in</strong>er<br />
neuerlichen Straftat <strong>in</strong> Luhmanns<br />
Term<strong>in</strong>ologie e<strong>in</strong> Risiko, das im<br />
Gegensatz zu den „schicksalhaften“<br />
Gefahren verantwortet werden muss.<br />
Deshalb wird <strong>der</strong> therapeutische<br />
Vollzug – im Vergleich zum kustodialen<br />
Vollzug – weit mehr daran<br />
gemessen, wie sich die Insassen nach<br />
<strong>der</strong> Entlassung bzw. während <strong>der</strong><br />
Vollzugslockerungen verhalten.<br />
Die Entwicklung des therapeutischen<br />
Vollzugs ist somit auch <strong>in</strong> Zusammenhang mit<br />
dem Auftreten e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />
unserem Fall <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, zu sehen, die<br />
sich anbietet, mit Hilfe ihrer fachspezifischen Theorie<br />
das Risiko zu konzeptualisieren und abzuschätzen. Die<br />
adäquate epistemologische Fundierung dieser fachspezifischen<br />
Theorien soll nach <strong>der</strong> Konzeptualisierung des<br />
<strong>in</strong>stitutionellen Kontextes mit Hilfe Luhmanns Theorie<br />
<strong>der</strong> funktional differenzierten Gesellschaft als zweite<br />
Ebene von Systemkompetenz diskutiert werden.<br />
B) ERKENNTNISTHEORETISCHE KOMPETENZ<br />
IM UMGANG MIT FACHSPEZIFISCHEN THEORIEN<br />
Da auch psychotherapeutisch geschulte Fachdienste <strong>in</strong><br />
die regelmäßig erfor<strong>der</strong>liche Risikoe<strong>in</strong>schätzung im<br />
Zusammenhang mit Freigängen, Lockerungen o<strong>der</strong> Entlassungen<br />
e<strong>in</strong>gebunden s<strong>in</strong>d, fließen hier auch verschiedene<br />
schulenspezifische Theorien e<strong>in</strong>. Therapeuten<br />
strukturieren ihre Überlegungen entsprechend psychotherapeutischer<br />
Konzepte und formulieren sie <strong>in</strong> Begriffen,<br />
die sich aus den komplexen und günstigen Falls<br />
empirisch abgesicherten therapeutischen Theoriengebäuden<br />
ableiten.<br />
Auf diese Weise werden e<strong>in</strong>zelne Ereignisse, z.B.<br />
„gefährliche Drohungen“ im Rahmen verbaler Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en kl<strong>in</strong>isch-biographischen und<br />
diagnostischen Rahmen gestellt und differentiell beurteilt.<br />
Was bei e<strong>in</strong>em als aggressiv-gehemmt e<strong>in</strong>geschätzten<br />
Patienten als Fortschritt gesehen werden kann, mag<br />
bei e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>e unerfreuliche Wie<strong>der</strong>holung<br />
e<strong>in</strong>es pathologischen Musters darstellen. Bereits dieses<br />
triviale Beispiel macht den Unterschied zum kustodialen<br />
WAS BEI EINEM ALS AGGRESSIV-GEHEMMT<br />
EINGESCHÄTZTEN PATIENTEN ALS FORT-<br />
SCHRITT GESEHEN WERDEN KANN, MAG<br />
BEI EINEM ANDEREN EINE UNERFREULICHE<br />
WIEDERHOLUNG EINES PATHOLOGISCHEN<br />
MUSTERS DARSTELLEN.<br />
Vollzugswesen deutlich, wo Regelverstöße e<strong>in</strong>deutig<br />
def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d und vorhersagbare Folgen nach sich ziehen.<br />
Die Beurteilung von Verhalten vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />
e<strong>in</strong>er psychotherapeutischen Theorie erhöht<br />
zunächst Komplexität durch das E<strong>in</strong>führen <strong>der</strong> Dimension<br />
„Bedeutung“ (vgl. Parfy, Wagner 1999).<br />
Dadurch muss es freilich noch nicht zu „besseren“ Entscheidungen<br />
kommen; gegenüber e<strong>in</strong>er fixen Kopplung<br />
von e<strong>in</strong>zelnen Verhaltensweisen an konkrete Entscheidungen<br />
wird zunächst e<strong>in</strong> Mehr an Variabilität e<strong>in</strong>ge-<br />
16 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
führt, wodurch <strong>der</strong> Entscheidungsspielraum und damit<br />
<strong>der</strong> Argumentationsbedarf erhöht wird. Wenn Entscheidungen<br />
nicht willkürlich o<strong>der</strong> zufällig getroffen werden<br />
sollen, ist zu for<strong>der</strong>n, dass das <strong>der</strong> Entscheidung zugrundeliegende<br />
Verständnis psychosozialer Zusammenhänge<br />
(evtl. vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es psychotherapeutischen<br />
Konzeptes) expliziert werden kann. Diese Argumentation<br />
muss auch <strong>für</strong> Außenstehende nachvollziehbar und<br />
darüber h<strong>in</strong>aus geeignet se<strong>in</strong>, die Problemlage differenzierter<br />
darzustellen. Insbeson<strong>der</strong>e nach Fehlentscheidungen<br />
kann dies von großer Wichtigkeit se<strong>in</strong>, da so <strong>der</strong><br />
Vorwurf, es habe Schlamperei und Willkür geherrscht,<br />
durch e<strong>in</strong>e klare und theoriegeleitete Begründung entkräftet<br />
und gegenüber <strong>der</strong> Fachöffentlichkeit die Rationalität<br />
<strong>der</strong> getroffenen Entscheidung begründet werden<br />
kann.<br />
E<strong>in</strong>e auf psychotherapeutische Vorstellungen gestützte<br />
Argumentation verlässt allerd<strong>in</strong>gs auch den Boden alltagspsychologischer<br />
o<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>ischer Verb<strong>in</strong>dlichkeiten<br />
und betritt das Feld <strong>der</strong> teils konkurrierenden<br />
psychotherapeutischen Modellbildungen – und<br />
zwar meist, ohne die alternativen Strukturierungsmöglichkeiten<br />
<strong>in</strong> Betracht zu ziehen, die sich aus an<strong>der</strong>en<br />
Konzepten ableiten lassen würden.<br />
Ich weise auf diesen Punkt h<strong>in</strong>, weil hier nicht mehr<br />
nach dem Analogieschluss entschieden („gute Führung<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Anstalt erlaubt Ausgang“) son<strong>der</strong>n auf<br />
fachliche E<strong>in</strong>schätzungen zurückgegriffen wird, die<br />
e<strong>in</strong>er bestimmten theoretischen Konzeptualisierung von<br />
Menschen, Störungen o<strong>der</strong> Krankheiten und <strong>der</strong> damit<br />
verbundenen Gefährlichkeit entspr<strong>in</strong>gen. Es ist e<strong>in</strong><br />
Unterschied, ob me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung von Gefährlichkeit<br />
das Konzept „Aggressionstrieb“ o<strong>der</strong> „maligner Narzißmus“<br />
zugrunde liegt, o<strong>der</strong> ob ich e<strong>in</strong>e Gewalttat <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em zirkulären Verständnis als Teil e<strong>in</strong>er Interaktionssequenz<br />
verstehe.<br />
Es gibt also im Bereich <strong>der</strong> forensischen <strong>Psychiatrie</strong><br />
neben <strong>der</strong> Aufgabe, therapeutisch zu handeln, auch die<br />
Aufgabe, aus dieser Expertenposition Entscheidungen,<br />
die nicht die Therapie im engeren S<strong>in</strong>ne, son<strong>der</strong>n die<br />
„Lebenswelt“ des Patienten betreffen, mitzuformulieren<br />
und rational zu begründen. Das Verfügbarmachen e<strong>in</strong>er<br />
rationalen Entscheidungsgrundlage, die letztlich auf dem<br />
Erahnen künftigen Verhaltens e<strong>in</strong>es Menschen beruht,<br />
erwächst jedoch ke<strong>in</strong>eswegs direkt aus <strong>der</strong> therapeutischen<br />
Kompetenz, zum<strong>in</strong>dest nicht aus <strong>der</strong> Kompetenz<br />
e<strong>in</strong>er systemischen Therapeut<strong>in</strong>, <strong>der</strong>en kl<strong>in</strong>ische Theorie<br />
von autopoietischen Systemen und <strong>der</strong>en funktionaler<br />
Geschlossenheit ausgeht und damit eher die Nicht-Voraussagbarkeit<br />
menschlichen Verhaltens impliziert.<br />
Wenn es darum geht, auf <strong>der</strong> Basis e<strong>in</strong>er ausdifferenzierten<br />
kl<strong>in</strong>ischen Theorie über den Patienten sprechen und<br />
ihn betreffende Entscheidungen begründen zu können,<br />
bietet das Theoriengebäude <strong>der</strong> Systemischen Therapie<br />
weniger Hilfestellung als e<strong>in</strong>e pathologie- und konfliktorientierte<br />
Theorie, die neben <strong>der</strong> <strong>in</strong>itialen Diagnostik<br />
auch die Beschreibung von Therapiefortschritten<br />
erlaubt. Die Ausbildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Therapieschule<br />
kann als Sozialisationsprozess begriffen werden,<br />
<strong>der</strong> dazu befähigt, die Komplexität kl<strong>in</strong>ischer Phänomene<br />
mit Hilfe bestimmter Modellbildungen zu reduzieren<br />
(vgl. Wagner 1996). Therapeuten verschiedener Schulen<br />
unterscheiden sich dann dar<strong>in</strong>, <strong>für</strong> die Erkennung welcher<br />
Muster sie e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Sensibilität entwickelt<br />
haben. So wie Ressourcenorientierung dabei hilft,<br />
Ressourcen aufzuspüren und diese im therapeutischen<br />
Prozess zu nützen, darf man wohl davon ausgehen, dass<br />
Konfliktorientierung e<strong>in</strong>e ähnliche Sensibilität <strong>für</strong> nicht<br />
offen thematisierte Konflikte schafft. Ohne die Ressourcenorientierung<br />
und das „Gehör <strong>für</strong> Lösungsmelodien“<br />
(vgl. de Shazer 1992) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit mit geistig abnormen<br />
Rechtsbrechern missen zu wollen, sche<strong>in</strong>t mir hier e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Expertise betreffend (Persönlichkeits-)Pathologie<br />
doch unabd<strong>in</strong>gbar, um verantwortungsvolle Entscheidungen<br />
mitgestalten zu können.<br />
Wenn nun die Systemische Therapeut<strong>in</strong> durch das Fehlen<br />
e<strong>in</strong>er pathologieorientierten kl<strong>in</strong>ischen Theorie <strong>für</strong><br />
die genaue diagnostische Erfassung von psychopathologischen<br />
Phänomenen, <strong>für</strong> die differenzierte Beschreibung<br />
von <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen und die daraus abgeleitete<br />
Prognose schon auf Expertenwissen an<strong>der</strong>er Diszipl<strong>in</strong>en<br />
zurückgreifen muss, bietet doch die durch die<br />
Systemtheorie vermittelte erkenntniskritische Grundhaltung<br />
e<strong>in</strong> hohes Maß an Sensibilität da<strong>für</strong>, wie mittels<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 17
WAGNER ><br />
e<strong>in</strong>er spezifischen psychotherapeutischen o<strong>der</strong> kl<strong>in</strong>isch –<br />
psychologischen Theorie und ihrer Leitdifferenzen<br />
jeweils spezifische Unterschiede und damit Realitäten<br />
erzeugt werden. „Die Theorie bestimmt, was wir sehen<br />
können“ – im Falle <strong>der</strong> Systemtheorie, als e<strong>in</strong>er Metatheorie<br />
des Beobachtens, gel<strong>in</strong>gt häufig das Sichtbarmachen<br />
<strong>der</strong> getroffenen Unterscheidungen und damit auch<br />
die Identifikation <strong>der</strong> „bl<strong>in</strong>den Flecke“ verschiedener<br />
Theorien. Damit soll die Nutzung von Expertenwissen,<br />
von kl<strong>in</strong>ischen Theorien verschiedener Provenienz ke<strong>in</strong>eswegs<br />
<strong>in</strong> Frage gestellt werden: Entsprechend e<strong>in</strong>em<br />
Verständnis von Systemtheorie als e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong><br />
Beobachtung zweiter Ordnung ist die Nutzung von<br />
solch spezifischem „Wissen“ solange legitim, als e<strong>in</strong>e<br />
exakte, logische Buchhaltung sicherstellt, dass Beobachtungen<br />
erster und zweiter Ordnung unterschieden werden.<br />
Expertenwissen kann es immer nur bei <strong>der</strong> Beobachtung<br />
erster Ordnung geben. Der wertvolle Beitrag,<br />
den systemische TherapeutInnen <strong>in</strong> solchen Fachdiskussionen<br />
leisten können, ist weniger die Formulierung<br />
e<strong>in</strong>er zusätzlichen kl<strong>in</strong>ischen Theorie als die Anregung<br />
jener Reflexionsleistung, die nachzeichnet, <strong>in</strong> welcher<br />
Art <strong>der</strong> vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er bestimmten Theorie<br />
erhobene Befund von <strong>der</strong> Theorie und damit vom Beobachter<br />
und nicht vom Beobachteten bee<strong>in</strong>flusst wird.<br />
Wichtig ist dabei, dass es gel<strong>in</strong>gt, dies nicht als Entwertung<br />
<strong>der</strong> fachspezifischen Theorien im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Radikal<strong>in</strong>fragestellung<br />
von Erkenntnismöglichkeit, son<strong>der</strong>n<br />
als Methode zur selbstreflexiven Vertiefung des Erkenntnisaktes<br />
zu formulieren.<br />
C) SYSTEMKOMPETENZ IM UMGANG<br />
MIT DEN KONTEXTABHÄNGIGEN SCHWIERIGKEITEN<br />
DES MASSNAHMENVOLLZUGS<br />
Bei diesen kontextabhängigen Schwierigkeiten handelt<br />
es sich vor allem um die Vermischung <strong>der</strong> Therapeutenrolle<br />
mit Aspekten <strong>der</strong> sozialen Kontrolle und das Teilhaben<br />
des Therapeuten an <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Macht<br />
<strong>der</strong> Vollzugsanstalt.<br />
Es sche<strong>in</strong>t nahezuliegen, das Problem <strong>der</strong> Rollenverquickung<br />
aus sozialer Kontrolle und Therapie zu lösen,<br />
<strong>in</strong>dem man externe (<strong>in</strong>stitutionsfremde) o<strong>der</strong> semi-<strong>in</strong>tegrierte<br />
Therapeuten mit <strong>der</strong> psychotherapeutischen Versorgung<br />
beauftragt. Gleichzeitig würde man aber auf diese<br />
Weise auf die Vorteile verzichten, die e<strong>in</strong>e therapeutische<br />
Institution bietet: <strong>der</strong> Therapeut verliert se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />
auf das Geschehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Institution, es können die<br />
an<strong>der</strong>en Mitarbeiter nicht <strong>in</strong> den therapeutischen Prozess<br />
mite<strong>in</strong>bezogen werden, wodurch das Risiko <strong>in</strong>konsistenten<br />
Verhaltens verschiedener Berufsgruppen wächst.<br />
Gleichzeitig werden Spaltungsprozesse bei den Insassen<br />
(„guter Therapeut“, „böse Anstalt“) geför<strong>der</strong>t.<br />
In <strong>der</strong> systemischen Literatur hat die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit therapeutischen Institutionen e<strong>in</strong>e erst kurze<br />
Tradition. Die Übernahme von Kontrollfunktion wird<br />
dabei kontroversiell beurteilt. Während e<strong>in</strong>ige Autoren<br />
an ihrer Expertenschaft <strong>für</strong> Kommunikation festhalten<br />
und sich dementsprechend als Gäste im Zwangskontext<br />
def<strong>in</strong>ieren, sprechen sich an<strong>der</strong>e <strong>für</strong> die explizite Übernahme<br />
e<strong>in</strong>er parentalen Funktion aus (vgl. Pleyer 1996).<br />
Die Pioniere auf dem Gebiet <strong>der</strong> therapeutischen Institutionen<br />
– August Aichhorn, Fritz Redl, Edward Glover<br />
o<strong>der</strong> Tilman Moser – stehen e<strong>in</strong>em psychodynamischen<br />
Therapieverständnis nahe und prägten Begriffe wie<br />
„therapeutisches Milieu“, „hygienische Atmosphäre“<br />
(<strong>für</strong> die Ausschaltung aller krankmachenden Umweltfaktoren)<br />
und „aufgeteilte Übertragung“ <strong>für</strong> Übertragungsphänomene,<br />
die sich unter mehreren Mitglie<strong>der</strong>n<br />
des therapeutischen Teams aufteilten. Für die genannten<br />
Autoren war e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nige Zusammenarbeit von Psychotherapeuten<br />
und Betreuungspersonal e<strong>in</strong>e conditio s<strong>in</strong>e<br />
qua non therapeutischer Institutionen.<br />
Die Implikationen <strong>der</strong> dabei auftretenden Rollenkonfusion<br />
von sozialer Kontrolle und Therapie <strong>für</strong> den Therapieauftrag<br />
und die therapeutische Beziehung, vor allem<br />
aber die Möglichkeiten, damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er systemischen<br />
Perspektive konstruktiv umzugehen, ist Inhalt me<strong>in</strong>er<br />
weiteren Ausführungen.<br />
Laut Ludewig führt nur explizites Hilfesuchen bei <strong>der</strong><br />
Lösung e<strong>in</strong>es verän<strong>der</strong>ungswürdigen und verän<strong>der</strong>baren<br />
Problems zu Therapie. Für Psychotherapie im Zwangskontext<br />
ist h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>e „gemischte Auftragslage“ charakteristisch.<br />
Aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> familientherapeutischen<br />
Praxis ist das Ideal <strong>der</strong> völlig freiwilligen Therapie mit<br />
18 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
hoher Eigenmotivation aller Beteiligten nicht immer<br />
gegeben. Häufig kommen K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Jugendliche o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Partner nur auf Bestreben e<strong>in</strong>es Familienmitgliedes.<br />
In an<strong>der</strong>en Fällen besteht nur e<strong>in</strong> diffuser Leidensdruck,<br />
und die Klienten gelangen durch Überweisung<br />
<strong>in</strong> die Therapie. Ludewig (1992) unterscheidet<br />
daher Anleitung, Beratung, Therapie und Begleitung,<br />
was dem „Helfer“ erleichtern soll, im Interesse des Hilfesuchenden,<br />
also „auftragsgerecht“ zu arbeiten. Ludewig<br />
berücksichtigt damit die offensichtlich nicht nur<br />
im Maßnahmenvollzug relevante Tatsache, dass <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em therapeutischen Kontext von Klienten nicht ausschließlich<br />
(o<strong>der</strong> nicht e<strong>in</strong>mal überwiegend?) „Therapieaufträge“<br />
im engeren S<strong>in</strong>n geäußert werden. Auch<br />
PSYCHOTHERAPIE WIRD AUCH IM MASSNAH-<br />
MENVOLLZUG KEINESWEGS ALS ZWANGS-<br />
MASSNAHME IM ENGEREN SINN – WIE Z.B.<br />
EIN UMERZIEHUNGSPLAN – GESEHEN.<br />
die Unterscheidung von Besuchern, Klägern und Kunden,<br />
wie sie de Shazer (1993) vornimmt, zielt nicht auf<br />
e<strong>in</strong>e Motivationstypologie ab, son<strong>der</strong>n beschreibt<br />
aktuelle Beziehungsmuster, die sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
än<strong>der</strong>n können. Der S<strong>in</strong>n dieser Unterscheidung<br />
besteht dann nicht dar<strong>in</strong>, die „guten“ – weil gut motivierten<br />
– von den „schlechten“ – weil schlecht motivierten<br />
– Klienten zu trennen, son<strong>der</strong>n dar<strong>in</strong>, dem Therapeuten<br />
bei <strong>der</strong> Auswahl geeigneter Interventionen zu<br />
helfen.<br />
Auch <strong>der</strong> Insasse e<strong>in</strong>er Vollzugsanstalt wird <strong>in</strong> vielen<br />
Phasen Besucher o<strong>der</strong> Kläger se<strong>in</strong>, doch ist auch damit<br />
zu rechnen, dass er <strong>in</strong> Bezug auf gewisse Ziele zum Kunden<br />
werden kann, <strong>der</strong> explizit Hilfe <strong>für</strong> die Lösung verän<strong>der</strong>ungswürdiger<br />
und verän<strong>der</strong>barer Probleme sucht.<br />
Aus diesem Grunde ersche<strong>in</strong>t es mir wie auch an<strong>der</strong>en <strong>in</strong><br />
diesem Kontext Arbeitenden (vgl. Drewes, Krott 1996)<br />
nicht hilfreich, den „Therapiestatus“ <strong>in</strong> diesem Kontext<br />
radikal <strong>in</strong> Abrede zu stellen, da dies auch den Therapeuten<br />
von <strong>der</strong> Verantwortung befreien würde, sich immer<br />
wie<strong>der</strong> um e<strong>in</strong>en Therapieauftrag bzw. e<strong>in</strong>e therapeutische<br />
Haltung zu bemühen. Gefor<strong>der</strong>t wäre h<strong>in</strong>gegen<br />
e<strong>in</strong>e hohe Sensibilität <strong>in</strong> bezug auf das jeweils aktualisierte<br />
Beziehungsmuster, wobei im beson<strong>der</strong>en die<br />
Aspekte sozialer Kontrolle berücksichtigt werden müssen.<br />
Neben <strong>der</strong> potentiell zu weiteren Beschränkungen<br />
führenden E<strong>in</strong>schätzung des Therapeuten wird gerade <strong>in</strong><br />
Maßnahmenvollzugsanstalten <strong>der</strong> Therapeut häufig als<br />
Fürsprecher o<strong>der</strong> Anwalt des Klienten wahrgenommen –<br />
und zwar sowohl von den an<strong>der</strong>en Bediensteten als auch<br />
von den Insassen selbst.<br />
Psychotherapie wird auch im Maßnahmenvollzug also<br />
ke<strong>in</strong>eswegs als Zwangsmaßnahme im engeren S<strong>in</strong>n wie<br />
z.B. e<strong>in</strong> Umerziehungsplan gesehen. Häufig besteht e<strong>in</strong>e<br />
ambivalente Haltung – entwe<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong> latentes Misstrauen o<strong>der</strong>,<br />
noch typischer, e<strong>in</strong> Schwanken<br />
zwischen Idealisierung („Sie s<strong>in</strong>d<br />
me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Gesprächspartner“<br />
und den damit verbundenen<br />
Hoffnungen „Sie helfen mir da<br />
raus“ o<strong>der</strong> „Mit Ihrer Hilfe werde<br />
ich e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Mensch“) und tiefstem Misstrauen<br />
und Entwertung.<br />
Es gilt hier also zunächst e<strong>in</strong>mal <strong>für</strong> sich selbst, dann<br />
aber auch mit dem Klienten, die Auftragslage zu klären:<br />
Welchen Auftrag hat <strong>der</strong> Gesetzgeber an die Institution,<br />
welchen Auftrag hat die Institution an den Therapeuten?<br />
In manchen Institutionen soll <strong>der</strong> Umgang mit<br />
Insassen erleichtert werden, <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en erwartet man<br />
sich vom Psychotherapeuten Verständnis- und Entscheidungshilfen.<br />
Es muss nicht je<strong>der</strong> Auftrag angenommen<br />
o<strong>der</strong> gar erfüllt werden, doch sollte das Feld nach mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger explizit formulierten Erwartungen (o<strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>schätzungen von Erwartungen) abgetastet werden.<br />
Dieses Vorgehen wird dem Umstand gerecht, dass therapeutische<br />
Beziehungen im Zwangskontext als triadisch<br />
zu konzeptualisieren s<strong>in</strong>d: <strong>der</strong> „Auftraggeber“ als machtvolle<br />
Instanz, die den Zwang ausübt, muss berücksichtigt<br />
werden (vgl. Peyer 1996).<br />
Gerade hier bieten die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Systemischen Therapie<br />
üblichen Fragen zur Auftragsklärung gegenüber an<strong>der</strong>en<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 19
WAGNER ><br />
Therapieschulen e<strong>in</strong>en erheblichen Startvorteil bezüglich<br />
Transparenz und Kontextsensitivität:<br />
Was erwartet x?<br />
Woran würde x merken, dass se<strong>in</strong> Auftrag erfüllt ist?<br />
Woran würde x merken, dass wir an se<strong>in</strong>em Auftrag (nicht)<br />
arbeiten?<br />
Welches Bild hat x von Ihrem Problem, dass er e<strong>in</strong>e Therapie<br />
empfiehlt?<br />
All diese Fragen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bezug auf die relevanten Entscheidungs<strong>in</strong>stanzen<br />
(Anstaltsleiter, Sachverständigengutachter,<br />
Richter, Angehörige) aber auch <strong>in</strong> Bezug auf<br />
die eigenen verschiedenen Rollen und die daraus<br />
erwachsende „gemischte Auftragslage“ anzuwenden:<br />
Woran würde <strong>der</strong> Gutachter/<strong>der</strong> Richter merken, dass Ihre<br />
Gefährlichkeit abgebaut ist?<br />
Welches Bild hat <strong>der</strong> Richter von Ihrer Störung, dass er e<strong>in</strong>e<br />
Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er therapeutischen Institution veranlasste?<br />
Was müssten Sie mir als Therapeut<strong>in</strong> Ihrer Me<strong>in</strong>ung nach<br />
erzählen, damit ich zu <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung komme, dass Ihre<br />
Gefährlichkeit abgebaut ist?<br />
Was müssten Sie mir Ihrer E<strong>in</strong>schätzung nach erzählen,<br />
damit ich von Vollzugslockerungen abrate?<br />
Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass Gefängnis<strong>in</strong>sassen<br />
mehrheitlich die<br />
Überzeugung hegen, dass<br />
Psychotherapie geeignet ist,<br />
ihre Probleme zu lösen.<br />
Wären sie dieser Überzeugung,<br />
hätten sie eventuell<br />
schon vor <strong>der</strong> Inhaftierung<br />
versucht, auf diesem Weg<br />
Verän<strong>der</strong>ungen zu erzielen.<br />
Es ist daher zumeist Aufgabe<br />
des Therapeuten, statt<br />
den vielfach fatalistischen Weltentwürfen <strong>der</strong> Insassen<br />
Problemdef<strong>in</strong>itionen zu entwickeln, die den Klienten<br />
und erst dadurch auch den Therapeuten handlungsfähig<br />
machen. Die Konzeptualisierung von „Therapiemotivation“<br />
als e<strong>in</strong>dimensionale Personeneigenschaft<br />
wi<strong>der</strong>spricht nicht nur systemischem Denken, son<strong>der</strong>n<br />
ist vor allem im Bereich <strong>der</strong> Forensik, wo antitherapeutische<br />
Strukturen e<strong>in</strong>er entsprechenden Selbstdef<strong>in</strong>ition<br />
<strong>der</strong> Betroffenen entgegenwirken, durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teraktives<br />
Person-Angebot-Konzept zu ersetzen (vgl. Steller 1994).<br />
Als Nicht-Gefängnis-Insasse könnte man vermuten,<br />
dass <strong>der</strong> wesentliche Auftrag des Klienten lautet: „Hilf<br />
mir, dass ich so schnell wie möglich entlassen werde“.<br />
Me<strong>in</strong>er Erfahrung nach haben Insassen jedoch ke<strong>in</strong>eswegs<br />
zw<strong>in</strong>gend die Tendenz, die Therapie laufend <strong>in</strong><br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> Entlassung zu sehen. „Was<br />
muß hier geschehen, damit ich entlassen werde“ wird<br />
zum<strong>in</strong>dest explizit kaum gefragt. Der Klient wechselt<br />
von e<strong>in</strong>em „Was werden o<strong>der</strong> können Sie <strong>für</strong> me<strong>in</strong>e<br />
Entlassung tun“ am Anfang <strong>der</strong> Therapie häufig unerwartet<br />
schnell zu e<strong>in</strong>em sche<strong>in</strong>bar absichtslosen<br />
„Wenigstens Sie verstehen mich“, um dann eventuell<br />
wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Zorn und bittere Enttäuschung darüber zu<br />
verfallen, dass <strong>der</strong> Therapeut nicht genug <strong>für</strong> die Entlassung<br />
getan hat.<br />
Man kann sich als Therapeut also ke<strong>in</strong>eswegs darauf verlassen,<br />
dass <strong>der</strong> Klient konsequent die Therapie im H<strong>in</strong>blick<br />
auf die Entlassung nützt. Häufig neigen Insassen<br />
dazu, sich als Opfer ihrer Tat bzw. des Justizsystems zu<br />
fühlen und schreiben sich selbst wenig Verän<strong>der</strong>ungsmöglichkeiten<br />
zu. Die Therapie dient dann eher dazu,<br />
HÄUFIG NEIGEN INSASSEN DAZU, SICH ALS<br />
OPFER IHRER TAT BZW. DES JUSTIZSYSTEMS ZU<br />
FÜHLEN UND SCHREIBEN SICH SELBST WENIG<br />
VERÄNDERUNGSMÖGLICHKEITEN ZU. DIE THE-<br />
RAPIE DIENT DANN EHER DAZU, DIE WIDRIGEN<br />
UMSTÄNDE DER HAFT BESSER ZU ERTRAGEN.<br />
die widrigen Umstände <strong>der</strong> Haft besser zu ertragen, was<br />
e<strong>in</strong> typisches Beispiel <strong>für</strong> „Begleitung“ darstellen würde.<br />
Auch diesen Auftrag kann man ernst- und annehmen.<br />
Bei allem Respekt <strong>für</strong> diesen Auftrag thematisiere ich<br />
aber immer wie<strong>der</strong> den Unterschied zwischen dem, was<br />
dann hier geschieht und den Erwartungen <strong>der</strong> „Überweiser“.<br />
20 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04
Das kann dann z.B. so kl<strong>in</strong>gen:<br />
„Ich verstehe, dass Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sehr schwierigen Situation<br />
s<strong>in</strong>d und Hilfe brauchen, um all diese Belastungen<br />
besser auszuhalten,....ich frage mich nur, wie sich diese<br />
Art von Hilfestellung <strong>für</strong> den Gutachter o<strong>der</strong> den Richter<br />
darstellt, die ja mit dieser E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e therapeutische<br />
E<strong>in</strong>richtung des Strafvollzuges deutlich<br />
gemacht haben, dass sie von Ihnen e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<br />
erwarten.........<br />
Es kann aber auch so kl<strong>in</strong>gen:<br />
„Ich verstehe, dass Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sehr schwierigen Situation<br />
s<strong>in</strong>d und am liebsten diese Stunden verwenden<br />
würden, um über die Probleme zu sprechen, die erst<br />
durch die Inhaftierung auf Sie zugekommen s<strong>in</strong>d. Aber<br />
an<strong>der</strong>erseits ist die Therapie hier ke<strong>in</strong>e Abmachung zwischen<br />
uns beiden, bezahlt werde ich vom Staat – und<br />
zwar nicht da<strong>für</strong>, – würde <strong>der</strong> Richter sagen, Ihnen die<br />
Haft erträglich zu machen, son<strong>der</strong>n da<strong>für</strong>, dass diese<br />
Stunden etwas dazu beitragen, dass ihre Gefährlichkeit<br />
abgebaut wird. Glauben Sie, dass es dazu kommen kann,<br />
wenn wir nur über Ihre Schwierigkeiten hier im Gefängnis<br />
sprechen?“<br />
Diese Berufung auf den Kontext, das Thematisieren <strong>der</strong><br />
triadischen Auftragslage kann so an ungeliebte (unbewußte?)<br />
ausgeblendete Themen heranführen und bietet<br />
damit e<strong>in</strong>e pragmatische und mit systemischen Konzepten<br />
kompatible Alternative zu dem, was an<strong>der</strong>e Therapieschulen<br />
als „Arbeit am Wi<strong>der</strong>stand“ bezeichnen.<br />
Auch wenn im obengenannten Beispiel <strong>der</strong> Therapeut<br />
durch zirkuläres Fragen die Kontrollfunktion auf Gutachter<br />
und/o<strong>der</strong> Richter überträgt und dadurch <strong>für</strong> die<br />
therapeutische Arbeit e<strong>in</strong>e neutrale Reflexionsposition<br />
sichert, muss <strong>in</strong> diesem Kontext die Vermengung von<br />
Psychotherapie mit Elementen sozialer Kontrolle doch<br />
auch offen thematisiert werden. In <strong>der</strong> systemischen<br />
Literatur wird dieses Thema <strong>für</strong> den ambulanten Bereich<br />
(z.B. K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutz) breit diskutiert. Vielfach wird dabei<br />
e<strong>in</strong>e Trennung von Kontrolle und Hilfe postuliert, aber<br />
auch die Gegenposition ist bekannt: Tom Levold (1993)<br />
hält diese Trennung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Sche<strong>in</strong>lösung – besser sei<br />
e<strong>in</strong> offener (o<strong>der</strong> offensiver) Umgang mit <strong>der</strong> Kontrollfunktion<br />
und <strong>der</strong> damit vere<strong>in</strong>barten Machtposition,<br />
welche mit <strong>der</strong> „Selbstbescheidung als Experte <strong>für</strong> Kommunikation“<br />
nicht auszufüllen ist. Levold for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e<br />
„parentale Position“: Die reale Machtposition muss<br />
offen thematisiert werden.<br />
Der Rückzug auf die therapeutische Verschwiegenheit<br />
kann häufig als Etikettenschw<strong>in</strong>del entlarvt werden,<br />
wenn z.B. Therapeuten ke<strong>in</strong>e Stellungnahmen schreiben,<br />
aber ihrem Vorgesetzten unter dem Titel „Supervision“<br />
die da<strong>für</strong> nötigen Informationen geben. Ich bevorzuge<br />
hier e<strong>in</strong> Modell <strong>der</strong> „doppelten Transparenz“, wie<br />
es auch von Vertretern <strong>der</strong> Mailän<strong>der</strong> Schule (Cirillo et<br />
al 1992) vorgestellt wurde: Ich b<strong>in</strong> als Therapeut<strong>in</strong><br />
transparent gegenüber <strong>der</strong> Institution, <strong>in</strong>dem ich über<br />
wesentliche Faktoren des Therapieverlaufes berichte, b<strong>in</strong><br />
aber <strong>in</strong> dieser Transparenz wie<strong>der</strong> gegenüber dem<br />
Patienten transparent, <strong>in</strong>dem ich ihm alle Stellungnahmen<br />
vorlese und mit ihm bespreche.<br />
Auch Virg<strong>in</strong>ia Goldner (1993) hält die Trennung von<br />
systemischer Arbeit und sozialer Kontrolle <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Illusion<br />
und die „formalistische Spaltung <strong>in</strong> moralische und<br />
kl<strong>in</strong>ische Kategorien <strong>für</strong> theoretisch bedeutungslos und<br />
psychologisch unglaubwürdig. Die Alternative besteht<br />
dar<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Therapie moralische Fragen aufzuwerfen,<br />
z.B. auf die psychischen Aspekte moralischer Konflikte<br />
und auf die moralischen Aspekte psychischer Konflikte<br />
h<strong>in</strong>zuweisen.“<br />
E<strong>in</strong> wesentlicher Faktor ist dabei natürlich <strong>der</strong> Umgang<br />
mit Lüge und Verleugnung. Der Aspekt sozialer Kontrolle<br />
äußert sich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Therapie nicht dar<strong>in</strong>,<br />
dass man Detektiv spielen muß, um die Wahrheit ans<br />
Licht zu br<strong>in</strong>gen son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berücksichtigung <strong>der</strong><br />
Tatsache, dass <strong>der</strong> Klient häufig gute Gründe hat zu<br />
lügen, was wie<strong>der</strong>holt thematisiert werden sollte:<br />
Gesetzt den Fall, das ist die Wahrheit, was erwarten Sie,<br />
was ich mit dieser Information anfange?<br />
Was würde passieren, wenn ich Ihnen nicht glaube?<br />
Gesetzt den Fall, das ist nicht die Wahrheit, was erwarten<br />
Sie von mir, wie ich mit dieser Information umgehe?<br />
Wie würde es sich auf Ihr Bild von mir auswirken, wenn<br />
ich Ihnen trotzdem glaube: Würde Sie das <strong>für</strong> mich e<strong>in</strong>nehmen<br />
o<strong>der</strong> würde ich <strong>in</strong> Ihrem Ansehen s<strong>in</strong>ken?...<br />
Es wäre e<strong>in</strong> Mißverständnis systemisch-konstruktivisti-<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 21
WAGNER ><br />
scher Arbeit, jede Aussage, jede Selbstbeschreibung als<br />
subjektive Realitätskonstruktion unh<strong>in</strong>terfragt stehen zu<br />
lassen. Es geht <strong>in</strong> <strong>der</strong> systemischen Therapie ja gerade<br />
und sehr explizit um das H<strong>in</strong>terfragen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />
Wirklichkeitsbeschreibungen. Dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Fragestellung<br />
<strong>der</strong> Kontext berücksichtigt wird, liegt nahe.<br />
Statt von Lügen und Verleugnung könnte man dann<br />
auch – weniger wertend und schuldzuschreibend - von<br />
kontextspezifischen Interessen des Klienten sprechen.<br />
Diese kontextspezifischen Interessen können als Störung<br />
des therapeutischen Prozesses wahrgenommen werden –<br />
hier empfiehlt es sich, diese „Störung“ zum Thema zu<br />
machen – denn das Reden über e<strong>in</strong>e Störung ist etwas<br />
an<strong>der</strong>es als die Störung.<br />
RESUMÉE<br />
<strong>„Systemkompetenz“</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Forensischen</strong> <strong>Psychiatrie</strong><br />
besteht neben e<strong>in</strong>er angemessenen Konzeptualisierung<br />
des <strong>in</strong>stitutionellen Kontextes also auf theoretischer<br />
Ebene dar<strong>in</strong>, die Kontextabhängigkeit von Verhalten<br />
und die Beobachterabhängigkeit von Beschreibungen im<br />
Bewußtse<strong>in</strong> zu halten und <strong>für</strong> die Leitdifferenzen und<br />
damit auch <strong>für</strong> die bl<strong>in</strong>den Flecken an<strong>der</strong>er kl<strong>in</strong>ischer<br />
Konzepte zu sensibilisieren. Auf e<strong>in</strong>er praktischen Ebene<br />
ermöglicht Systemkompetenz e<strong>in</strong>e therapeutische Haltung,<br />
die das explizite Thematisieren von Rollenverquickungen<br />
nahelegt und <strong>in</strong> <strong>der</strong> damit verbundenen<br />
Offenheit und Transparenz (nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> unkritischen<br />
Akzeptanz je<strong>der</strong> Selbstbeschreibung) auch Respekt<br />
gegenüber dem zur Therapie Gezwungenen ausdrückt.<br />
Literaturverzeichnis<br />
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GOLDNER, V- (1993): Sowohl als auch. In: Familiendynamik 18 (3),<br />
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219–247<br />
DR. ELISABETH WAGNER ist Fachärzt<strong>in</strong> <strong>für</strong> <strong>Psychiatrie</strong> und<br />
Neurologie, Psychotherapeut<strong>in</strong> <strong>in</strong> systemischer Familientherapie<br />
<strong>in</strong> freier Praxis, Lehrtherapeut<strong>in</strong> <strong>für</strong> systemische Familientherapie<br />
i.A.; sie leitet die psychiatrische Abteilung <strong>der</strong> Justizanstalt<br />
Favoriten und hat langjährige Erfahrung <strong>in</strong> <strong>in</strong>stutiioneller<br />
Psychotherapie.<br />
22 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04