„Systemkompetenz“ in der Forensischen Psychiatrie - Lehranstalt für ...
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führt, wodurch <strong>der</strong> Entscheidungsspielraum und damit<br />
<strong>der</strong> Argumentationsbedarf erhöht wird. Wenn Entscheidungen<br />
nicht willkürlich o<strong>der</strong> zufällig getroffen werden<br />
sollen, ist zu for<strong>der</strong>n, dass das <strong>der</strong> Entscheidung zugrundeliegende<br />
Verständnis psychosozialer Zusammenhänge<br />
(evtl. vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es psychotherapeutischen<br />
Konzeptes) expliziert werden kann. Diese Argumentation<br />
muss auch <strong>für</strong> Außenstehende nachvollziehbar und<br />
darüber h<strong>in</strong>aus geeignet se<strong>in</strong>, die Problemlage differenzierter<br />
darzustellen. Insbeson<strong>der</strong>e nach Fehlentscheidungen<br />
kann dies von großer Wichtigkeit se<strong>in</strong>, da so <strong>der</strong><br />
Vorwurf, es habe Schlamperei und Willkür geherrscht,<br />
durch e<strong>in</strong>e klare und theoriegeleitete Begründung entkräftet<br />
und gegenüber <strong>der</strong> Fachöffentlichkeit die Rationalität<br />
<strong>der</strong> getroffenen Entscheidung begründet werden<br />
kann.<br />
E<strong>in</strong>e auf psychotherapeutische Vorstellungen gestützte<br />
Argumentation verlässt allerd<strong>in</strong>gs auch den Boden alltagspsychologischer<br />
o<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>ischer Verb<strong>in</strong>dlichkeiten<br />
und betritt das Feld <strong>der</strong> teils konkurrierenden<br />
psychotherapeutischen Modellbildungen – und<br />
zwar meist, ohne die alternativen Strukturierungsmöglichkeiten<br />
<strong>in</strong> Betracht zu ziehen, die sich aus an<strong>der</strong>en<br />
Konzepten ableiten lassen würden.<br />
Ich weise auf diesen Punkt h<strong>in</strong>, weil hier nicht mehr<br />
nach dem Analogieschluss entschieden („gute Führung<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Anstalt erlaubt Ausgang“) son<strong>der</strong>n auf<br />
fachliche E<strong>in</strong>schätzungen zurückgegriffen wird, die<br />
e<strong>in</strong>er bestimmten theoretischen Konzeptualisierung von<br />
Menschen, Störungen o<strong>der</strong> Krankheiten und <strong>der</strong> damit<br />
verbundenen Gefährlichkeit entspr<strong>in</strong>gen. Es ist e<strong>in</strong><br />
Unterschied, ob me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung von Gefährlichkeit<br />
das Konzept „Aggressionstrieb“ o<strong>der</strong> „maligner Narzißmus“<br />
zugrunde liegt, o<strong>der</strong> ob ich e<strong>in</strong>e Gewalttat <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em zirkulären Verständnis als Teil e<strong>in</strong>er Interaktionssequenz<br />
verstehe.<br />
Es gibt also im Bereich <strong>der</strong> forensischen <strong>Psychiatrie</strong><br />
neben <strong>der</strong> Aufgabe, therapeutisch zu handeln, auch die<br />
Aufgabe, aus dieser Expertenposition Entscheidungen,<br />
die nicht die Therapie im engeren S<strong>in</strong>ne, son<strong>der</strong>n die<br />
„Lebenswelt“ des Patienten betreffen, mitzuformulieren<br />
und rational zu begründen. Das Verfügbarmachen e<strong>in</strong>er<br />
rationalen Entscheidungsgrundlage, die letztlich auf dem<br />
Erahnen künftigen Verhaltens e<strong>in</strong>es Menschen beruht,<br />
erwächst jedoch ke<strong>in</strong>eswegs direkt aus <strong>der</strong> therapeutischen<br />
Kompetenz, zum<strong>in</strong>dest nicht aus <strong>der</strong> Kompetenz<br />
e<strong>in</strong>er systemischen Therapeut<strong>in</strong>, <strong>der</strong>en kl<strong>in</strong>ische Theorie<br />
von autopoietischen Systemen und <strong>der</strong>en funktionaler<br />
Geschlossenheit ausgeht und damit eher die Nicht-Voraussagbarkeit<br />
menschlichen Verhaltens impliziert.<br />
Wenn es darum geht, auf <strong>der</strong> Basis e<strong>in</strong>er ausdifferenzierten<br />
kl<strong>in</strong>ischen Theorie über den Patienten sprechen und<br />
ihn betreffende Entscheidungen begründen zu können,<br />
bietet das Theoriengebäude <strong>der</strong> Systemischen Therapie<br />
weniger Hilfestellung als e<strong>in</strong>e pathologie- und konfliktorientierte<br />
Theorie, die neben <strong>der</strong> <strong>in</strong>itialen Diagnostik<br />
auch die Beschreibung von Therapiefortschritten<br />
erlaubt. Die Ausbildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Therapieschule<br />
kann als Sozialisationsprozess begriffen werden,<br />
<strong>der</strong> dazu befähigt, die Komplexität kl<strong>in</strong>ischer Phänomene<br />
mit Hilfe bestimmter Modellbildungen zu reduzieren<br />
(vgl. Wagner 1996). Therapeuten verschiedener Schulen<br />
unterscheiden sich dann dar<strong>in</strong>, <strong>für</strong> die Erkennung welcher<br />
Muster sie e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Sensibilität entwickelt<br />
haben. So wie Ressourcenorientierung dabei hilft,<br />
Ressourcen aufzuspüren und diese im therapeutischen<br />
Prozess zu nützen, darf man wohl davon ausgehen, dass<br />
Konfliktorientierung e<strong>in</strong>e ähnliche Sensibilität <strong>für</strong> nicht<br />
offen thematisierte Konflikte schafft. Ohne die Ressourcenorientierung<br />
und das „Gehör <strong>für</strong> Lösungsmelodien“<br />
(vgl. de Shazer 1992) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit mit geistig abnormen<br />
Rechtsbrechern missen zu wollen, sche<strong>in</strong>t mir hier e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Expertise betreffend (Persönlichkeits-)Pathologie<br />
doch unabd<strong>in</strong>gbar, um verantwortungsvolle Entscheidungen<br />
mitgestalten zu können.<br />
Wenn nun die Systemische Therapeut<strong>in</strong> durch das Fehlen<br />
e<strong>in</strong>er pathologieorientierten kl<strong>in</strong>ischen Theorie <strong>für</strong><br />
die genaue diagnostische Erfassung von psychopathologischen<br />
Phänomenen, <strong>für</strong> die differenzierte Beschreibung<br />
von <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen und die daraus abgeleitete<br />
Prognose schon auf Expertenwissen an<strong>der</strong>er Diszipl<strong>in</strong>en<br />
zurückgreifen muss, bietet doch die durch die<br />
Systemtheorie vermittelte erkenntniskritische Grundhaltung<br />
e<strong>in</strong> hohes Maß an Sensibilität da<strong>für</strong>, wie mittels<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 17