(Notizen Juni) - Lehranstalt für systemische Familientherapie
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sten neutral. Wir „glauben“ eben nicht, wir halten <strong>für</strong><br />
möglich.<br />
Der Klient ist der Experte <strong>für</strong> Stimmigkeit und Gültigkeit,<br />
nicht der Therapeut.<br />
Aber die tatsächlich erfahrene Realität ist anders. Die<br />
Überzeugungen des (<strong>systemische</strong>n) Therapeuten und die<br />
Erwartungen, zumindest die Hoffnungen und Sehnsüchte,<br />
der Klienten gehen manchmal auseinander.<br />
Wir kennen z.B. in unserem Alltagsleben die großen<br />
ergreifenden Übergänge nicht mehr, sie sind in der Vieldeutigkeit<br />
modernen Lebens verschwunden – man<br />
braucht da nur an die Kompliziertheit des jugendlichen<br />
Heranwachsenden denken und an die vielen, komplexen<br />
DER THERAPEUT WEISS DIE WAHRHEIT NICHT<br />
MEHR, MACHT NUR UNTERSCHIEDSVORSCHLÄGE<br />
UND IST ANSONSTEN NEUTRAL. WIR „GLAUBEN“<br />
EBEN NICHT, WIR HALTEN FÜR MÖGLICH.<br />
Übergänge ins Erwachsenenalter: Führerschein, Bundesheer,<br />
Matura, eigene Wohnung, eigenes Geld, eigene<br />
Waschmaschine etc. etc. Wer sehnt sich da nicht nach<br />
der Eindeutigkeit der Übergangsrituale zurück, die van<br />
Genepp geschildert hat. Trotzdem: Wir finden sie realiter<br />
nicht und Kopien sind eher peinlich als nützlich,<br />
aber die Sehnsucht nach dieser Eindeutigkeit, Klarheit<br />
und definitiven Unterscheidung ist nur zu verständlich.<br />
Die wenigen großen Erzählungen sind zwar zugunsten<br />
vieler und vielfältiger kleiner zurückgetreten (s. K. Grossmann),<br />
aber der Traum von großer und klarer Erzählung<br />
ist geblieben und offenbar auch die Vorstellung, der<br />
Psychotherapeut könnte der Autor, der Verkünder und<br />
Regisseur dieser Erzählung sein.<br />
Wir unterscheiden uns ja zumindest offiziell strikt von<br />
jeglicher Guruhaftigkeit – Simon und Retzers Ahndung<br />
Bert Hellingers sind hier ein Beispiel.<br />
Die Annäherungen des Psychotherapeuten an seinen<br />
Klienten sind zurückhaltend und postmodern geworden.<br />
Das ist an sich gut, alles Andere empfinden wir als<br />
peinlich, aufdringlich und unpassend.<br />
Das Pathetische ist aus der Psychotherapie verschwunden<br />
– was hätte es auch dort zu suchen, wir sehen es<br />
eher im Privaten, in der Freundschaft, in der Liebe, im<br />
Kinderkriegen. Glaubensdingen im öffentlichen und gar<br />
professionellen Rahmen gegenüber sind wir misstrauisch.<br />
Aber das ist, wie gesagt, die eine Seite der Geschichte.<br />
Wir leben nicht nur in einer Zeit des Entbehrens großer<br />
Gesten und Rituale, wir sehen uns auch – seitens der<br />
Klienten zumindest – dem Verlangen ausgesetzt, es<br />
möge jemand die dazugehörige Rolle einnehmen, tatsächlich<br />
ein wissender Seelenführer sein wie der Priester<br />
oder zumindest so klar und eindeutig wie der Arzt.<br />
Wenn der Klient uns<br />
gegenüber steht mit seiner<br />
Sehnsucht nach dem<br />
Wunderbaren, nach Lossprechung<br />
oder Heilung,<br />
dann sehen wir uns, angesichts<br />
des Klientenwunsches,<br />
einerseits mit unserem<br />
Unvermögen der Einflussnahme konfrontiert, aber<br />
anderseits auch der Versuchung ausgesetzt, die pathetische<br />
Pose trotzdem einzunehmen. Wobei allerdings<br />
angeführt werden soll, dass diejenigen, die zur bedeutsamen<br />
Pose bereit sind, nicht immer alle ihre Folgen tragen<br />
wollen – ein Priester oder Schamane wäre man nämlich<br />
immer, 24 Stunden am Tag und jeden Tag des Jahres,<br />
nicht nur zu den Praxisöffnungszeiten oder wenn<br />
wir bei „Energie“ sind.<br />
NOCH EINMAL zusammengefasst – manchmal vermissen<br />
wir das Pathetische allerdings, auch in unserem therapeutischen<br />
Vollzugsrepertoire:<br />
Auch wenn die anderen damit so großen Erfolg haben –<br />
zumindest momentan – und wir glauben, dass das auch<br />
den Klienten gegenüber eine unfaire Konkurrenz darstellt:<br />
Wir sehen hier das Große durch die Hintertür,<br />
ohne korrekte Legitimation wiedergekommen – etwa<br />
wenn der esoterische Lebensberater sich aufführt wie ein<br />
Hoher Priester.<br />
Oder wenn wir Bedeutsamkeit in der Therapie aus-<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 07