(Notizen Juni) - Lehranstalt für systemische Familientherapie
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estehen: Die Erfahrung des Pathetischen reduziert Möglichkeiten<br />
und legt Bedeutung fest. Noch einmal deutlich:<br />
Das Pathetische stellt eine Erfahrung dar, keine<br />
Reflexion oder Erzählung von Erfahrung, ist eindeutig<br />
und bedeutsam, bedient sich schließender Metaphorik,<br />
hat multisinnlichen Charakter, ist seitens des Klienten<br />
nicht neutral, wird riskiert und erlebt und kann keinesfalls<br />
mehr rückgängig gemacht werden. Genau betrachtet<br />
weist die Erfahrung des Pathetischen (man denke noch<br />
einmal an die Erfahrung der Initiation, könnte aber auch<br />
an das Ritual der Hochzeit denken) durchaus einige Charakteristika<br />
des Traumatischen auf, es gibt meist keine<br />
(würdigen) Möglichkeiten der Abwehr oder der Entfernung,<br />
die Erfahrung wird als gefühlsmäßig überwältigend<br />
erlebt. (Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“<br />
könnte als Beispiel misslungener und verantwortungsloser<br />
Pathetik und ihrer verzweifelten Abwehr gelesen<br />
werden.) Das alles legt dem Psychotherapeuten eine<br />
gewisse Verantwortung auf. Theatralisch gesprochen: Mit<br />
der Ermöglichung des Pathetischen treten Therapeut und<br />
Klient aus der „Auszeit“ der Therapiesituation heraus und<br />
hinein in das Leben des Klienten.<br />
WANN ALSO ist denn eine derartige Interventionsform<br />
überhaupt angebracht? Hier einfach einmal eine mögliche<br />
Liste von, wie ich glaube, verantwortungsvoller Anwendung:<br />
■ die „Klage“ mit dem Therapeuten als würdigendes und<br />
würdiges Gegenüber wäre die erste Kategorie, das<br />
Unabwendbare – das Unveränderliche im Leben oder<br />
Erleben des Klienten da<strong>für</strong> der Anlass. Damit ist natürlich<br />
nicht Steve de Shazers Kategorie vom Klienten,<br />
Kläger, Besucher gemeint, sondern jene grundsätzliche<br />
Verzweiflung angesichts unabwendbaren und unbeeinflussbaren<br />
Unglücks – diese Äußerung ist unmittelbar<br />
und total. Groß gesagt könnten wir ein Menschenrecht<br />
auf die Äußerung des Schmerzes postulieren und auf<br />
Gelegenheiten <strong>für</strong> diese Äußerungen. In öffentlichen<br />
und sozialen Zusammenhängen ist diese Gelegenheit<br />
oft verlorengegangen, nicht nur Rituale des Übergangs,<br />
auch Möglichkeiten, Verzweiflung zu äußern, sind verloren.<br />
Wer nicht ‚gut drauf’ ist, gilt als lächerlich,<br />
schwarze Kleidung signalisiert Coolness und Dynamik,<br />
nicht mehr Verlust und Trauer. Der Therapeut<br />
hat hier durchaus die Aufgabe, diese Äußerung zu<br />
ermöglichen (zum „Wie“ s.u.).<br />
Damit hier kein Missverständnis aufkommt, häufig,<br />
vielleicht sogar meistens, ermöglicht derartige Klage<br />
im Weiteren dann auch eine neue Sichtweise, die<br />
wiederum noch nicht gekannte Einflussmöglichkeiten<br />
wahrnehmen lässt und dann unsere übliche Vorgangsweise<br />
von Problem und Lösung zulässt (Steve de<br />
Shazers Vorgehen angesichts der Klage). Das ist gut,<br />
aber nicht die eigentliche Absicht. Die Klage ist nicht<br />
nur ein Mittel zum Zweck späterer Lösungsideen. Sie<br />
hat zuerst und an sich Recht. Lösungsneutralität<br />
heißt hier <strong>für</strong> den Therapeuten zuerst einmal, seinerseits<br />
das Unabwendbare zumindest am Leben des<br />
Klienten aushalten zu können. Es klammheimlich<br />
positiv zu konnotieren, etwa als Wachstumsmöglichkeit,<br />
halte ich <strong>für</strong> einen Verrat am Klienten. Wer Therapeut<br />
sein will, muss auch bereit sein <strong>für</strong> die Begegnung<br />
mit dem Unglück und dem Scheitern, egal ob es<br />
sich ändern lässt oder nicht.<br />
■ Dann scheint mir das Pathetische angebracht bei den<br />
großen Wendungen im Leben, als Ersetzung fehlender<br />
Übergangsrituale, wenn man will. Hier sollte der<br />
Therapeut darauf achten, welche Rolle er einnimmt.<br />
Zuerst sollte nur ersetzt werden, was wirklich nötig<br />
ist. Wenn jemand in einem neuen Lebensabschnitt<br />
Verantwortung und Freiheit gewonnen hat sollte das<br />
mit allen Sinnen erfahren werden, und alle Beteiligten<br />
sollten davon Kenntnis haben, klare Unterschiedssetzung<br />
im Sinne von Erweiterung aber auch Reduktion<br />
von Möglichkeiten (Modi der Verantwortung) ist hier<br />
das Ziel. Aber wenn der Klient einen runden<br />
Geburtstag hat, ist das in diesem Zusammenhang<br />
meist weniger wichtig.<br />
■ V.a. sollte sich der Therapeut klar sein, welche Prozesse<br />
er beim Klientensystem anregt, welche Abläufe er<br />
inszeniert oder welche Rollen er sogar selbst übernimmt.<br />
Ein Zeremonienmeister oder gar ein Anleiter<br />
<strong>für</strong> irgendeine Initiation kann schwer in die variante<br />
und neutrale Rolle des Therapeuten zurückschlüpfen,<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/04 09