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Theater Nordhausen

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Kai Günther und Opernchor<br />

wird zu einem Anführer der Revolution.<br />

Gegen das System, das sich dann<br />

aufbaut, das System des Terrors, tut<br />

er nichts, er verschließt wohl auch ein<br />

bisschen die Augen davor, denn als er<br />

sieht, was da entstanden ist, da ist es<br />

nicht mehr zu stoppen. Gérard scheitert<br />

letzten Endes nicht am revolutionären<br />

System und der Gesellschaft,<br />

sondern er ist ein Mensch, der an sich<br />

scheitert: Er scheitert nicht an seinen<br />

Idealen, sondern daran, dass er nichts<br />

gegen seine Begierde tun kann, gegen<br />

seine Gefühlsregung. Sein Verstand<br />

sagt, „lass es“, aber er ist besessen<br />

von Maddalena und missbraucht seine<br />

Macht, um sie zu besitzen. Er kommt<br />

nicht dagegen an, ein Gefühlswesen<br />

zu sein und verliert am Ende alles. Wir<br />

fragen mit unserer Inszenierung auch:<br />

Wie kann man mit so einem Scherbenhaufen<br />

leben? Ohne die Geschichte von<br />

Chénier und Maddalena schmälern zu<br />

wollen, Gérard ist die spannendste exemplarische<br />

Figur für die Gesellschaft,<br />

und deshalb haben wir den Zugang<br />

zur Inszenierung auch über diese Figur<br />

gefunden.<br />

Gibt die Revolution in Frankreich, die<br />

es so ja in Deutschland nie gegeben<br />

hat, heute mehr als eine spannende<br />

Opernkulisse ab?<br />

Wenn das Gebilde um ihn herum nicht<br />

in Ordnung ist, dann geht der Mensch<br />

auf die Barrikaden. Da sind wir wieder<br />

bei meinem Lieblingssatz, dass der<br />

Mensch viel mehr ein Gefühlswesen als<br />

ein Verstandeswesen ist. Selbst wenn<br />

er bei klarem Verstand weiß, was im<br />

Prinzip richtig und logisch wäre für die<br />

Gesellschaft, wenn ihm das Gefühl etwas<br />

anderes sagt, dass er etwa Hunger<br />

hat oder Durst, dann kümmert er sich<br />

drum, wie er was zu essen in den Bauch<br />

bekommt! So erklären sich dann auch<br />

die Brüche, die wir in revolutionären<br />

Bewegungen immer beobachtet haben,<br />

damit erklärt sich auch die Revolutionsmüdigkeit,<br />

die immer wieder zu beobachten<br />

ist. In der Französischen Revolution<br />

ist genau zu sehen, wie die<br />

Bewegung abflaute, weil die Leute nicht<br />

zufrieden waren mit dem, was da war.<br />

Daraus hat sich dann das Terrorregime<br />

entwickelt: Man musste mit Terror<br />

Brigitte Roth, Hugo Mallet<br />

gegen die Menschen vorgehen, um die<br />

politischen Ziele durchzusetzen. Damit<br />

setzte man die Leute unter Druck und<br />

konnte davon ablenken, dass auch das<br />

neue System nicht in der Lage war, die<br />

Probleme zu lösen. 1793 wurde noch<br />

genauso gehungert wie 1789.<br />

Das sind Abläufe, die es nicht nur in<br />

der Französischen Revolution gab, das<br />

sind allgemeine Mechanismen. Die Entstehung<br />

des Stalinismus verlief nach<br />

dem gleichen Prinzip: Die Oktoberrevolution<br />

wurde mit hehren Zielen durchgeführt,<br />

aber irgendwann hat Stalin die<br />

Abweichler beseitigt oder in Arbeitslager<br />

gesteckt, ein System des Drucks,<br />

der Diktatur errichtet. Oder was ist aus<br />

der kubanischen Revolution geworden,<br />

wie sie Fidel Castro und Che Guevara<br />

begonnen haben? Oder Ägypten. Wie<br />

waren die Leute außer sich und haben<br />

auf dem Tahrir-Platz gejubelt für Mursi.<br />

Nur ein paar Monate später versammeln<br />

sie sich auf demselben Platz – gegen<br />

Mursi! Heute hat man Danton zugejubelt,<br />

morgen Robespierre und Dantons<br />

Tod, und übermorgen dem Tod Robespierres.<br />

Das ist es, was ich mit dem<br />

Gefühlswesen meine.<br />

Die Hinrichtungen in der Französischen<br />

Revolution waren nicht nur Drohung,<br />

sie haben auch dazu gedient, die Leute<br />

zu bespaßen. Abgesehen davon, dass<br />

Hinrichtungen generell etwas Widerliches<br />

sind, es gab dazu jubelnde Massenaufläufe!<br />

Das erzählt viel über die<br />

Menschen von damals – und heute.<br />

Heute läuft so etwas vielleicht „domestizierter“<br />

ab, aber es kann sich immer<br />

wiederholen. Es ist insofern auch nicht<br />

abwegig, hier über den Nationalsozialismus<br />

zu sprechen. Es heißt zwar,<br />

„was zu jener Zeit passiert ist, lässt sich<br />

mit anderem nicht vergleichen“, und<br />

das stimmt auch. Aber die Mechanismen,<br />

auf deren Basis der Wahnsinn<br />

entstand, sind gar nicht so verschieden<br />

von den Mechanismen, die man auch<br />

in anderen Systemen beobachten kann.<br />

Es heißt „Machtergreifung“, aber<br />

die Macht hätte Hitler nicht ergreifen<br />

können, hätte es nicht eine entsprechende<br />

gesellschaftliche Ausgangslage<br />

gegeben. Hitler hat es verstanden,<br />

das Gefühlswesen zu packen und die<br />

Menschen in einen rauschhaft-euphorischen<br />

Taumel zu versetzen. Anders<br />

sind die jubelnden Menschenmassen<br />

nicht zu erklären. Viele sind einem<br />

Gefühl gefolgt und waren sich kaum<br />

bewusst, was vorging. Der Mensch<br />

fühlt seine Bedürfnisse eher, als dass<br />

er darüber nachdenkt, auf welche<br />

politische Schiene er gerät.<br />

Erst später, losgelöst von dem Gefühl,<br />

ist es leicht, die Frage zu stellen „Wie<br />

konntet ihr das mitmachen?“<br />

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