ZESO 04/13
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<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>04</strong>/<strong>13</strong><br />
JUNGE ERWACHSENE ZUNEHMENDE BELASTUNG FÜR DIE SOZIALHILFE<br />
GROSSRAUMBÜRO HERAUSFORDERUNGEN GUT GEMEISTERT SOZIALVERSICHERUNGEN<br />
GABRIELA RIEMER-KAFKA ERKLÄRT IM <strong>ZESO</strong>-INTERVIEW, WESHALB EINE REFORM NÖTIG IST
SCHWERPUNKT14–25<br />
Junge erwachsene<br />
Die gesellschaftlichen Bedingungen für den<br />
Aufbau einer selbständigen und verantwortungsbewussten<br />
Erwachsenenexistenz sind schwieriger<br />
geworden. Jugendliche, die den Übergang Schule-<br />
Ausbildung-Arbeitswelt nicht aus eigener Kraft<br />
bewerkstelligen können, werden mit Hilfestellungen<br />
wie dem Case Management Berufsbildung<br />
oder Mentoring-Projekten unterstützt. Trotzdem<br />
kommen junge Erwachsene in Kontakt mit der<br />
Sozialhilfe und bekunden Mühe, sich wieder<br />
abzulösen.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />
in dieser Ausgabe Catherine Arber, Monika Bachmann, Barbara<br />
Beringer, Dominique Dorthe, Heinrich Dubacher, Miryam Eser<br />
Davolio, Regine Gerber, Andreas Hammon, Matthias Kuert, Peter<br />
Mösch Payot, Johannes Muntwyler, Dorothee Schaffner, Daniela<br />
Tschudi Titelbild Rudolf Steiner layout mbdesign Zürich,<br />
Marco Bernet Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />
Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />
Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.–<br />
(für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 2. Dezember 20<strong>13</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2014.<br />
2 ZeSo 4/<strong>13</strong> inhalt
INHALT<br />
5 Die Eindämmung der Altersarmut<br />
nicht gefährden. Kommentar von<br />
Matthias Kuert, Travailsuisse<br />
6 <strong>13</strong> Fragen an Johannes Muntwyler<br />
8 Praxis: Wie lange wird bei einem Auslandsaufenthalt<br />
Sozialhilfe bezahlt?<br />
9 Recht: Das Bundesgericht bestätigt<br />
die Pflicht, eine zumutbare Arbeit<br />
anzunehmen<br />
10 «Es ist eine Raison d’être der Sozialversicherung,<br />
dass sie die Sozialhilfe<br />
entlastet»: Interview mit Gabriela<br />
Riemer-Kafka<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
junge erwachsene<br />
16 Der Übergang in die Erwerbsarbeit<br />
fordert erhöhte Bewältigungsleistungen<br />
19 Belastende familiäre Situation,<br />
psychische Probleme oder im<br />
Konflikt mit dem Gesetz<br />
21 «Ich stand da – ohne Lehrstelle und<br />
ohne Wohnung»<br />
22 Viel Zeit und Energie für unsichere<br />
Erfolgsaussichten<br />
24 Die Validierung von Kompetenzen<br />
stärkt das Selbstvertrauen<br />
Der zirkusdirektor<br />
Die renoviererin<br />
gelebte partizipation<br />
Johannes Muntwyler leitet seit 2005 den<br />
von seiner Familie gegründeten Circus<br />
Monti, mit dem er jedes Jahr während acht<br />
Monaten durch die Deutschschweiz tourt.<br />
20<strong>13</strong> hat er als erster Zirkus überhaupt<br />
den Innovationspreis der Schweizer<br />
Kleinkunstszene (KTV) erhalten.<br />
6<br />
Gabriela Riemer-Kafka hat das Schweizer<br />
Sozialversicherungssystem umfassend<br />
analysiert und wird in nächster Zeit<br />
Vorschläge für eine Strukturreform<br />
präsentieren. Im Gespräch erläutert sie<br />
ihre Beweggründe und wo sie dringenden<br />
Handlungsbedarf sieht.<br />
10<br />
Der Umzug der Sozialen Dienste der Stadt<br />
Winterthur in Grossraumbüros stellt Planer<br />
und Mitarbeitende vor grosse räumliche<br />
und betriebliche Herausforderungen.<br />
In Workshops wurden die Bedürfnisse<br />
überprüft und die Innenarchitektur des<br />
Gebäudes darauf ausgerichtet.<br />
26 Strategien gegen schwierige<br />
Situationen der Zusammenarbeit<br />
28 «Jetzt müssen wir uns neu<br />
erfinden»: Sozialarbeit im<br />
Grossraumbüro<br />
30 Reportage: Aus dem Trott herausfinden<br />
und das Lächeln zurückgewinnen<br />
32 Plattform: Sozialinfo.ch verbreitet<br />
Informationen und Fachwissen<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Metzger Peter Glanzmann<br />
stellt auch Langzeitarbeitslose an<br />
zeigen, was man kann<br />
28<br />
Für die Kundschaft ist Nestor Services<br />
ein normaler Cateringdienstleister. Für die<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist Nestor<br />
mehr als das: eine soziale Einrichtung, die<br />
Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehenden<br />
bezahlte Arbeitseinsätze in der<br />
Gastronomie ermöglicht.<br />
30<br />
inhalt 4/<strong>13</strong> ZeSo<br />
3
Wie lange muss die Sozialhilfe bei<br />
einem Auslandsaufenthalt bezahlen?<br />
Eine unterstützte Frau will für vier Monate im Ausland die Pflege ihrer schwer kranken Mutter<br />
übernehmen. Grundsätzlich stehen ihr aber nur vier Wochen Auslandsaufenthalt zu, ohne dass sie<br />
ihren Sozialhilfeanspruch verliert.<br />
Frage<br />
Frau Belucci, eine alleinerziehende Mutter<br />
mit einem 14 Monate alten Kind, informiert<br />
den Sozialdienst, dass sie sich während<br />
der nächsten vier Monate im Ausland<br />
aufhalten wird, weil ihre Mutter schwer<br />
krank sei. Als einzige Tochter werde von ihr<br />
erwartet, dass sie sich um die Pflege kümmere.<br />
Muss die Gemeinde das akzeptieren<br />
oder kann sie die Leistungen einstellen?<br />
Grundlagen<br />
Ein vorübergehender Auslandsaufenthalt<br />
verändert oder unterbricht den Unterstützungswohnsitz<br />
nicht und führt nicht automatisch<br />
zu einem Verlust des Anspruchs<br />
auf wirtschaftliche Sozialhilfe. Hält sich eine<br />
unterstützte Person vorübergehend im<br />
Ausland auf, hat sie also grundsätzlich Anspruch<br />
auf Fortführung der Unterstützung,<br />
sofern sie ihren Wohnsitz nicht aufgibt<br />
und sich nicht einer Erwerbstätigkeit<br />
oder einer Sozialhilfemassnahme entzieht<br />
(vgl. Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts<br />
WBE.2007.254 vom 20. Februar<br />
2008 und Urteil des Berner Verwaltungsgerichts<br />
21279U vom 27. Mai 2002).<br />
Sozialhilfebeziehende sind allerdings<br />
verpflichtet, Änderungen in ihren persönlichen<br />
Verhältnissen zu melden, soweit sie<br />
budgetrelevant sind. Längere Ortsabwesenheiten<br />
können budgetrelevant sein, da<br />
trotz Pauschalisierung des Grundbedarfs<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Intranet<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
für den Lebensunterhalt das Individualisierungsprinzip<br />
gilt. Das Ausmass der Hilfe<br />
muss dem individuellen und aktuellen<br />
Bedarf der bedürftigen Person Rechnung<br />
tragen. Wenn die materiellen Bedürfnisse<br />
aufgrund ausserordentlicher Umstände<br />
weniger als gewöhnlich kosten, ist es zulässig<br />
und angebracht, den Grundbedarf<br />
anzupassen. Weitere Reduktionen ergeben<br />
sich allenfalls, wenn die Verpflegung<br />
im Ausland unentgeltlich erfolgt. (Zu den<br />
Lebenshaltungskosten im Ausland siehe<br />
www.swissemigration.ch >Dienstleistungen<br />
>Leben im Ausland >Auswandern >Lebenshaltungskosten).<br />
Wenn der Auslandsaufenthalt vorgängig<br />
nicht abgesprochen wurde, ist eine<br />
Kürzung zulässig, sofern die betroffene<br />
Person zuvor über die Meldepflicht und die<br />
Konsequenzen schriftlich informiert wurde.<br />
Eine Kürzung, die sich lediglich auf die<br />
allgemein geltende Meldepflicht abstützt,<br />
wird von den Gerichten unter Umständen<br />
nicht gestützt. Wenn der betroffenen Person<br />
mehr Sozialhilfe ausbezahlt wurde, als<br />
ihr bei rechtzeitiger Information ausgerichtet<br />
worden wäre, kann die Rückerstattung<br />
des unrechtmässigen Bezugs verfügt und<br />
in Raten mit der laufenden Sozialhilfe verrechnet<br />
werden (SKOS-Richtlinien, E.3.2).<br />
Da Personen, die auf Stellensuche<br />
sind oder eine Integrationsmassnahme<br />
absolvieren, nicht besser gestellt werden<br />
sollen als Personen, die regulär arbeiten<br />
oder Arbeitslosentaggeld beziehen, wird<br />
in Anlehnung an die Ferienregelung im<br />
Obligationenrecht ein Auslandsaufenthalt<br />
von maximal vier Wochen pro Jahr als zulässig<br />
erachtet. In Opposition zu einzelnen<br />
Verwaltungsgerichten vertritt die SKOS<br />
die Meinung, dass sich auch Personen,<br />
die aus unterschiedlichen Gründen nicht<br />
verpflichtet sind, eine Stelle zu suchen<br />
oder an einer (Arbeits-)Integrationsmassnahme<br />
teilzunehmen, grundsätzlich nicht<br />
länger im Ausland aufhalten dürfen, ohne<br />
ihren Sozialhilfeanspruch zu verlieren. Der<br />
tatsächliche Aufenthalt in der Schweiz ist<br />
zwar nicht explizite Anspruchsvoraussetzung<br />
für den Sozialhilfebezug. Allerdings<br />
richtet sich die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />
nach dem Bundesgesetz über<br />
die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />
Bedürftiger (ZUG, SR 851.1), das nur<br />
Geltung für sich in der Schweiz aufhaltende<br />
Personen beansprucht (Art. 1 Abs. 1<br />
ZUG). Auch auf Art. 12 der Bundesverfassung<br />
kann sich nur berufen, wer sich in der<br />
Schweiz aufhält.<br />
Und schliesslich lässt sich das Ziel der<br />
Sozialhilfe, die berufliche und soziale Integration,<br />
bei längeren Auslandsaufenthalten<br />
nur schwer verwirklichen. Die Kantone<br />
beziehungsweise die Gemeinden sind also<br />
nicht zur Unterstützung von Personen im<br />
Ausland verpflichtet (vgl. Botschaft zum<br />
ZUG, Bundesblatt vom 20. Dezember<br />
1976, Bd.3, S.1201).<br />
Antwort<br />
Obwohl die alleinerziehende Mutter aktuell<br />
keine Auflagen zu befolgen hat, die ihre<br />
Anwesenheit zwingend erforderlich machen,<br />
steht ihr grundsätzlich bloss ein Auslandsaufenthalt<br />
von höchstens vier Wochen<br />
pro Jahr zu. Ob die spezielle Familiensituation<br />
eine Ausnahmeregelung rechtfertigt,<br />
hat die Behörde im Einzelfall zu entscheiden.<br />
Während des grundsätzlich zulässigen<br />
vierwöchigen Auslandsaufenthalts ist in der<br />
Regel ordentliche Sozialhilfe auszurichten.<br />
Eine Anpassung an die örtlichen Lebenshaltungskosten<br />
rechtfertigt sich bei ausnahmsweise<br />
zugebilligtem längerem Auslandsaufenthalt<br />
oder bei besonders augenfälligen<br />
Einsparungen.<br />
•<br />
Heinrich Dubacher<br />
Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen der SKOS<br />
8 ZeSo 4/<strong>13</strong> praxis
Der Übergang zur Erwerbsarbeit erfordert<br />
erhöhte Bewältigungsleistungen<br />
Die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang in eine selbständige und verantwortliche<br />
Erwachsenenexistenz haben sich verändert. Die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in der<br />
Sozialhilfe stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte auf den Prüfstand.<br />
Besorgniserregend hohe Zahlen von arbeits- und ausbildungslosen<br />
jungen Menschen in europäischen Ländern lassen aufhorchen. Die<br />
Arbeitslosenquote in Europa ist infolge der Wirtschaftskrise von<br />
2008 massiv angestiegen und der Trend hält an: 2011 wiesen Statistiken<br />
von Eurostat in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen eine<br />
durchschnittliche Arbeitslosenquote von 21 Prozent aus. Als besonders<br />
problematisch wird die Lage der jungen Erwachsenen eingeschätzt,<br />
die weder über eine schulische oder berufliche Ausbildung<br />
verfügen noch in Erwerbsarbeit sind – die so genannten NEETs (not<br />
in education, employment or training). Dem gegenüber weisen die<br />
gesamtschweizerischen Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistiken<br />
weit geringere Zahlen aus. Dennoch steht die Gruppe der jungen<br />
Erwachsenen seit 2000 auch in der Schweiz vermehrt im Fokus<br />
der Aufmerksamkeit. Die Quote der Arbeitslosen in der Gruppe<br />
der 20- bis 24-Jährigen lag im September 2011 bei 3,8 Prozent,<br />
die Sozialhilfequote in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen bei<br />
3,7 Prozent. Zudem zeigen Vergleiche mit der Gesamtbevölkerung<br />
eine überdurchschnittliche Belastung dieser Gruppe von Arbeitslosigkeit<br />
und Armut.<br />
Sozialhilfebezug als Ausdruck von Veränderungsprozessen<br />
Als Folge weitreichender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen<br />
lassen sich ab Mitte der 1990er-Jahre neue Herausforderungen<br />
im Übergang in die Erwerbsarbeit erkennen. Neue Risikogruppen<br />
rückten ins Bewusstsein: Schulabgängerinnen und<br />
Schulabgänger ohne Anschlusslösungen, Benachteiligte im Wettbewerb<br />
um Ausbildungsplätze, Lehrabbrechende, Arbeitslose und<br />
junge Erwachsene in der Sozialhilfe. Dies führte in der Folge zu einer<br />
Vielzahl bildungs-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Massnahmen<br />
und zur Anpassung des dualen Berufsbildungssystems an<br />
die neuen Anforderungen. Gleichzeitig entstanden neue Risiken<br />
durch erhöhte Anforderungen und den starken Wettbewerb um<br />
Klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />
lösen sich auf und<br />
die zentralen Passagen im<br />
Übergang ins Erwachsenenalter<br />
verschieben sich nach<br />
hinten.<br />
Ausbildungsplätze. Zwischenjahre, Lehrabbrüche und Umorientierungen<br />
nahmen zu und führten bei vielen Jugendlichen zu erhöhter<br />
Diskontinuität und einer Individualisierung des Bildungsverlaufs.<br />
Insgesamt lösen sich klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />
zunehmend auf und zentrale Statuspassagen im Übergang ins Erwachsenenalter<br />
verschieben sich zeitlich nach hinten. Die Bewältigung<br />
dieser offeneren und zugleich riskanteren Übergänge erfordert<br />
erhöhte individuelle Bewältigungsleistungen.<br />
Auch die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang<br />
in eine selbständige und verantwortliche Erwachsenenexistenz<br />
haben sich verändert. Die Bedingungen des Aufwachsens<br />
von Kindern und Jugendlichen sind anspruchsvoller und die Erziehungs-<br />
und Entwicklungsprozesse sind grundsätzlich krisenanfälliger<br />
geworden. Insbesondere Jugendlichen mit wenig sozialen<br />
Ressourcen oder hohen Belastungen in der Herkunftsfamilie fehlen<br />
häufig die nötigen Ressourcen für die Bewältigung der Anforderungen<br />
im Übergang in die Selbstständigkeit. Bei der Beurteilung<br />
der Situation von jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe ist<br />
dies miteinzubeziehen.<br />
Heterogene Gruppe<br />
Für eine schnelle und zielführende Bearbeitung der Sozialfälle<br />
wird die Klientel in der Regel in Typen eingeteilt. Häufig findet<br />
man grobe Unterscheidungen zwischen Gruppen, die sich nach einer<br />
kurzen Überbrückung schnell ablösen, und «jenen, die auf längerfristige<br />
Unterstützung angewiesen sind». Aus empirischer Sicht<br />
sind solche Typisierungen weniger einfach. Vielmehr zeigen Studien<br />
zu jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe, dass es sich um eine<br />
sehr heterogene Gruppe handelt. Häufig werden vielfältige Problemkonstellationen<br />
in unterschiedlichen Lebensaspekten<br />
kumulierend wirksam. Für deren Bewältigung fehlen aber die nötigen<br />
Ressourcen.<br />
Die Lebenslagen der jungen Erwachsenen weisen dennoch einige<br />
typische Merkmale auf, die als Ausdruck entstandardisierter,<br />
verlängerter Übergänge ins Erwachsenenalter verstanden werden<br />
können: Die jungen Erwachsenen leben zu einem hohen Anteil alleine<br />
und kommen häufig direkt von der Herkunfts-familie oder<br />
aus Kinder- und Jugendschutzmassnahmen in die Sozialhilfeunterstützung.<br />
Problematische familiäre Beziehungen, insbesondere<br />
in Schweizer Familien, wirken sich negativ auf die Ablösungsprozesse<br />
und die biografischen Verläufe aus. Mit dem Erreichen des<br />
Mündigkeitsalters lösen sich diese Jugendlichen oft frühzeitig<br />
mittel- und ausbildungslos aus ihren Bezugssystemen ab. Im Kontext<br />
von Migration zeigt sich dagegen, dass die Eltern ihre Jugendlichen<br />
häufig aus anderen Gründen ungenügend unterstützen<br />
können.<br />
16 ZeSo 4/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
Berufseinstieg als Balanceakt: Trotz Leitplanken und unterstützenden Massnahmen gelingt er nicht allen.<br />
Bild: Ruedi Flück<br />
Die Bewältigung der Herausforderungen, die mit dem meist<br />
abrupten Übergang in die Selbstständigkeit verbunden sind, fällt<br />
schwer. Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlen finanzielle<br />
Ressourcen, der soziale Rückhalt, Erfahrungen und Orientierungen.<br />
Ihre Bewältigungsstrategien führen oft zu weiteren biografischen Risiken,<br />
beispielsweise zu Verschuldung, Frühschwangerschaft, Verhaltensauffälligkeit<br />
oder gesundheitlichen Problemen. Unter den<br />
gegebenen Bedingungen gelingt es den jungen Erwachsenen kaum,<br />
ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern und zu einer befriedigenden<br />
Lebensführung zu gelangen. Gleichzeitig zeigt die biografische Untersuchung,<br />
dass viele junge Menschen im Alter zwischen zirka 20<br />
und 23 Jahren nochmals bereit wären für eine Veränderung. Mangels<br />
geeigneter Unterstützung und aufgrund vieler Frustrationen resignieren<br />
sie schliesslich. In der Folge scheint sich eine Gewöhnung<br />
an das Leben zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt einzustellen.<br />
Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Gruppe sind die ungenügenden<br />
Bildungsvoraussetzungen und Arbeitsmarktchancen.<br />
Problem der fehlenden Ausbildung<br />
Knapp zwei Drittel der Fälle hat die Schulzeit in der Schweiz verbracht,<br />
ein gutes Drittel immigrierte im Lauf der Schulzeit oder<br />
später. Mehr als die Hälfte der Fälle verfügt über keine Berufsausbildung<br />
und steht nicht in einer Ausbildung. Rund ein Fünftel befindet<br />
sich – meist verspätet – in einer Ausbildung. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass eine Ausbildung später nachgeholt wird, sinkt<br />
mit zunehmendem Alter (Drilling 20<strong>04</strong>).<br />
Trotz vielfältiger Massnahmen verpassen die Betroffenen den<br />
Einstieg in die Berufsausbildung überwiegend bereits an der ersten<br />
Schwelle der Berufsintegration. Dahinter lassen sich biografische<br />
Entscheide, kritische Lebensereignisse oder jugendtypische Bewältigungsprobleme<br />
erkennen. Nur jede fünfte junge erwachsene<br />
Person, die Sozialhilfe bezieht, verfügt über eine abgeschlossene<br />
Ausbildung. Allerdings gelingt es auch ihnen offensichtlich nicht,<br />
ihre Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt gewinnbringend zu verwerten.<br />
Sie erfahren trotz ihrer Ausbildung kaum Vorteile gegenüber<br />
den Ungelernten. Einerseits weil einige von ihnen Arbeit in einem<br />
Bereich suchen, für den sie nicht ausgebildet sind, andererseits,<br />
weil ihr Ausbildungsniveau den Anforderungen nicht entspricht.<br />
Die betroffenen jungen Erwachsenen sind deshalb generell über<br />
längere Zeit immer wieder oder dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen.<br />
Ein Teil löst sich zwar relativ schnell wieder ab, die Gefahr des<br />
Drehtüreffekts ist aber hoch. Insgesamt erfolgt die Reintegration<br />
eher prekär als stabil, viele sind verschuldet. Junge Erwachsene<br />
haben noch keine eigenen Ersparnisse, um Ausbildungsphasen,<br />
Such- und Orientierungsphasen und damit verbundene Phasen<br />
der Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Auch in Bezug auf die Arbeitslosenentschädigung<br />
sind sie häufig im Nachteil. Sie sind oft bereits<br />
wenige Wochen nach der Arbeitslosigkeit auf finanzielle Hilfe angewiesen.<br />
Eine weitere Problematik besteht in prekären Anstellungsverhältnissen<br />
und zu niedrigen Entschädigungen.<br />
Dass Ausländerinnen und Ausländer in der Gruppe der Dauerbeziehenden<br />
gegenüber Schweizerinnen und Schweizern stärker<br />
SCHWERPUNKT 4/<strong>13</strong> ZeSo<br />
<br />
17<br />
Die Sozialhilfe muss die<br />
besondere Lebenslage<br />
der jungen Erwachsenen<br />
anerkennen.<br />
vertreten sind, kann zum einen durch die schlechteren Bildungsvoraussetzungen<br />
und Benachteiligungen im Arbeitsmarkt erklärt<br />
werden, zum anderen durch frühere Familiengründungen.<br />
Viele Unterstützungsmassnahmen – neue Risiken<br />
Dynamische Betrachtungen von Verläufen und Armutslagen lenken<br />
den Blick auf die Verflechtung von individuellen und strukturellen<br />
Bedingungen und darin eingelagerte Risiken und Entwicklungspotenziale.<br />
Sie zeigen, dass das gelingende Zusammenspiel<br />
zwischen den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialhilfe<br />
und dem Bildungs- und Ausbildungssystem über den Erfolg<br />
sozialer Mobilität entscheidet. Die Erfolglosigkeit der jungen Erwachsenen<br />
stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte gegenwärtig<br />
auf den Prüfstand.<br />
Zweifellos haben die zahlreichen Unterstützungsmassnahmen<br />
in den letzten Jahren zur Abmilderung der Probleme beigetragen.<br />
Für einen Teil der Jugendlichen zeigen sich allerdings auch neue<br />
systembedingte Risiken. So hat die starke Ausdifferenzierung von<br />
Angeboten im Übergang auch zu Orientierungsschwierigkeiten<br />
beigetragen. Sie erschwert sowohl Jugendlichen wie Fachpersonen<br />
die Übersicht, was eine kohärente Zusammenarbeit behindert und<br />
zur Fragmentierung der Prozesse beiträgt. Schnittstellenprobleme,<br />
unklare Zuständigkeiten, zu kurz ausgelegte Angebote führen<br />
bei den jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe häufig dazu, dass<br />
sie zwischen Stuhl und Bank fallen.<br />
Gleichzeitig führt der Ausbau der Angebote im Übergang zu<br />
einer «Engführung» der Jugendlichen. So sind die Angebote in der<br />
Tendenz an institutionellen Normalitätsmustern orientiert und oft<br />
ausschliesslich auf eine schnelle Erfassung von Kompetenzen, die<br />
Suche nach einer Passung und die Vermittlung in entsprechende<br />
Anschlusslösungen im Berufs- oder Ausbildungsmarkt ausgerichtet.<br />
Bei dieser Konzentration auf «das Wesentliche» bleibt oft keine<br />
Zeit für die Unterstützung bei lebenslagen- und entwicklungsbedingten<br />
Schwierigkeiten. Die Jugendlichen werden häufig von<br />
Angebot zu Angebot geschoben, und Alternativen und Spielräume<br />
für individuelle Verläufe werden ihnen kaum zugestanden. Deshalb<br />
können die jungen Erwachsenen oft auch keine Kohärenz in<br />
ihrer Handlung herstellen, die sich durch Sinnhaftigkeit, Machbarkeit<br />
und Verstehbarkeit auszeichnen würde. Vielmehr fühlen<br />
sie sich als Objekt eines Sozialisierungs- und teilweise auch eines<br />
Disziplinierungsprozesses des Sozialstaats. Dies führt bei einigen<br />
zum bewussten Ausstieg aus Unterstützungsangeboten.<br />
Für die Sozialhilfe bedeutet das, dass sie als Ziel nicht nur die Integration<br />
in den Arbeitsmarkt und die Überwindung der ökonomischen<br />
Notlage haben darf. Vielmehr muss sie die besondere Lebenslage<br />
der jungen Erwachsenen anerkennen, ihr Suchen nach<br />
Sinn und Identität und ihre biografischen Erfahrungen mitberücksichtigen.<br />
Junge Menschen in schwierigen Übergängen müssen<br />
darin unterstützt werden, ihre Erfahrungen zu reflektieren,<br />
Ressourcen zu erkennen und ihre Bewältigungsstrategien weiterzuentwickeln.<br />
Hierbei sind Unterstützungsangebote zielführend,<br />
die jungen Menschen Möglichkeiten zur Partizipation, Spielräume<br />
für eigene Erfahrungen, Teilhabechancen und soziale Netze<br />
bieten und sie in ihren ganzheitlichen Entwicklungsprozessen<br />
ernst nehmen und unterstützen. Zunehmend erhalten Sozialhilfeund<br />
Arbeitslosenprogramme daher die Funktion von Unterstützungs-<br />
und Vermittlungsagenturen an der Scharnierstelle im<br />
Übergang in die Erwerbsarbeit unter erschwerten Bedingungen.<br />
So gesehen kann Sozialhilfeabhängigkeit – so widersprüchlich dies<br />
klingen mag – eine Chance sein: als Interventionszeitpunkt für eine<br />
umfassende Standortbestimmung mit darauf folgender Anbahnung<br />
verschiedener Massnahmen. In Zusammenarbeit mit Bildungs-,<br />
Arbeitsmarkt- und Jugendhilfeorganisationen sollte die<br />
Sozialhilfe junge Erwachsene in ihren komplexen Lebensverläufen<br />
kontinuierlicher unterstützen.<br />
•<br />
Dorothee Schaffner<br />
Institut Kinder- und Jugendhilfe<br />
Hochschule für Soziale Arbeit Basel<br />
Literatur<br />
Dorothee Schaffner, Matthias Drilling, Junge Erwachsene in der<br />
Sozialhilfe – Folgen veränderter Bedingungen am Übergang in die<br />
Erwerbsarbeit, in: Edith Maud Piller, Stefan Schnurr (Hrsg.), Kinder-<br />
und Jugendhilfe in der Schweiz, Springer-Verlag, Wiesbaden,<br />
20<strong>13</strong>.<br />
Dorothee Schaffner, Junge Erwachsene zwischen Sozialhilfe und<br />
Arbeitsmarkt – Biographische Bewältigung von diskontinuierlichen<br />
Bildungs- und Erwerbsverläufen. Hep-Verlag, Bern, 2007.<br />
Matthias Drilling, Young urban poor – Abstiegsprozesse in den<br />
Zentren der Sozialstaaten, Verlag für Sozialwissenschaften,<br />
Frankfurt, 20<strong>04</strong>.<br />
BFS und Büro BASS, Junge Erwachsene in der Sozialhilfe,<br />
Neuchâtel, 2009.<br />
Jürg Krummenacher, Integrationsprobleme von jungen Erwachsenen,<br />
Bern, 2009. Im Auftrag von SODK, BBT, BFM, SKOS, Seco und<br />
der Städteinitiative Sozialpolitik.<br />
18 ZeSo 4/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
Die Validierung von Kompetenzen<br />
stärkt das Selbstvertrauen<br />
Der Kanton Waadt geht bei der arbeitsmarktlichen Integration von jungen erwachsenen<br />
Sozialhilfebeziehenden einen eigenen Weg. Der alternative Ansatz hat seine Wurzeln in der<br />
Vermittlungsstrategie für Lehrstellen und Arbeitsplätze der kantonalen IV-Stelle.<br />
Die Besorgnis über die stetige Zunahme des Sozialhilfebezugs von<br />
jungen Erwachsenen hat die Waadtländer Sozialbehörden bereits<br />
im Jahr 2006 dazu bewogen, dieser Klientengruppe und deren<br />
beruflicher Integration grössere Aufmerksamkeit zu schenken. Die<br />
Behörden wandten sich in der Folge an die kantonale Invalidenversicherungs-Stelle<br />
in Vevey, die über viel Know-how und Erfahrung<br />
auf dem Gebiet der Rehabilitation und der Vermittlung von Lehrstellen<br />
und Arbeitsplätzen verfügt. Bei der Unterstützung von<br />
Menschen auf Arbeitssuche orientiert sich die IV-Stelle an einer<br />
Methode, die auf die Validierung von Restkompetenzen und die<br />
Stärkung des Selbstvertrauens von verunsicherten Menschen setzt.<br />
Dieser Ansatz lässt sich auch bei anderen Personengruppen mit beruflichen<br />
Schwierigkeiten anwenden und eignet sich insbesondere<br />
auch sehr gut für die Klientengruppe junge Erwachsene in der<br />
Sozialhilfe. Der IV-spezifische Aspekt «gesundheitliche Beeinträchtigung»<br />
wird dabei einfach ausgeklammert.<br />
Das eigentliche Projekt «Intégration professionnelle des jeunes<br />
adultes en difficulté» (IPJAD), mit dem dynamische Strukturen<br />
für die Reintegration der genannten Personengruppe geschaffen<br />
werden sollte, begann mit der Einstellung des Arbeitssoziologen<br />
Marco Nigro im April 2009. Nigro, der auch über eine technische<br />
Ausbildung verfügt, stellte gleich zu Beginn die Hypothese auf,<br />
dass das Fehlen einer soliden Schuldbildung kein absolutes Hindernis<br />
für eine Wiedereingliederung ist. Das erlaubte es ihm, die<br />
sehr unterschiedlichen Ausbildungsniveaus der von ihm angetroffenen<br />
Kandidatinnen und Kandidaten in seinen Arbeitsansatz zu<br />
integrieren. Effektiv stellte sich heraus, dass sich unqualifizierte<br />
Menschen teilweise sehr leicht in die Arbeitswelt integrieren lassen,<br />
während andere mit besserer Schulbildung dies nicht schaffen.<br />
Dies erklärt sich über ihre sozialen Kompetenzen respektive<br />
auch durch ihre Fähigkeit, eine Stellensuche lebendig zu gestalten<br />
und einen Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Das grösste Hindernis<br />
bei den einzelnen Integrationsprojekten liegt hingegen oft<br />
im Umstand, dass die Berufsberatung den Wünschen der Jungen<br />
und ihren schwierigen Lebensläufen nicht gebührend Rechnung<br />
tragen kann.<br />
«Was die Jungen nicht<br />
selbst können, machen<br />
wir an ihrer Stelle»<br />
Nigro stützt seine Arbeit auf ein Prinzip, das den herrschenden<br />
Trends in Sachen Eingliederung – Stärkung der Autonomie der<br />
Kandidatinnen und Kandidaten – diametral entgegengesetzt ist:<br />
«Was die Jungen nicht selbst können, machen wir an ihrer Stelle»,<br />
so seine Devise. Er hilft ihnen, konkrete Projekte aufzubauen und<br />
durchzuziehen – von der Suche nach unqualifizierten Stellen bis<br />
zu vollständigen Ausbildungen. Zwei Kriterien, die die jungen Erwachsenen<br />
selber mitbringen müssen, sind dabei allerdings unerlässlich:<br />
Freude an einer Tätigkeit und Zuverlässigkeit, sei es am<br />
Arbeitsplatz oder in der Ausbildung.<br />
Pragmatisch und effizient<br />
Heute besteht das Team von IPJAD aus fünf Personen. Die Methodologie<br />
orientiert sich nach wie vor am pragmatischen Ansatz, der<br />
auf die Lust und das Potenzial des jungen Erwachsenen abstützt.<br />
Eine weitere wichtige Komponente ist der enge Einbezug der Partnerinstitutionen:<br />
Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin an den<br />
Service IPJAD verwiesen wird, geschieht dies immer mit einer ausführlich<br />
dokumentierten Beschreibung der Problematik und der<br />
Lebensumstände der jungen erwachsenen Person sowie der institutionellen<br />
Erwartungen der vermittelnden regionalen Sozialzentren<br />
und anderer Partner der Sozialhilfe.<br />
Die Vorgehensstrategie sieht vor, als erstes eine starke Bindung<br />
zum jungen Erwachsenen herzustellen. Dann beginnt der<br />
kontinuierliche Aufbau des Vertrauens, das am Anfang eines<br />
Projekts oft defizitär ist. Vertrauen ist für die enge Zusammenarbeit<br />
in sämtlichen Phasen der Projektumsetzung zentral, und<br />
es muss gegenseitig sein. Der Berater darf sich beispielsweise<br />
nicht erlauben, ein nicht besonders realistisches Projekt abzuqualifizieren.<br />
Er wird vielmehr versuchen, es als Ausgangspunkt<br />
zu nehmen für den Aufbau eines Plans, der den Ressourcen der<br />
Person besser gerecht wird.<br />
Die traditionellen Methoden für die berufliche Eingliederung<br />
suchen in erster Linie ein Netz von Unternehmen, die regelmässig<br />
mit der Eingliederungsinstitution zusammenarbeiten. Nigro<br />
geht auch hier anders vor: Er bewirbt den Stellenmarkt intensiv<br />
mit dem gemeinsam mit dem jungen Erwachsenen erarbeiteten<br />
Projekt. Wenn nötig, bezieht er diesen sehr aktiv mit ein und geht<br />
mit ihm beispielsweise bei den Unternehmen hausieren. Der Erfolg<br />
dieser Strategie hängt natürlich auch ab von der Person und<br />
dem anvisierten Berufszweig. Grundsätzlich wird eine durchaus<br />
Taylor'sche Effizienz angestrebt: «The right man at the right place»<br />
– hier eben auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Der Ansatz ist durchaus wirksam. So konnte ein Klient, der aufgrund<br />
einer schwierigen Vaterbeziehung ein gestörtes Verhältnis<br />
zu Autoritäten hatte, wieder eine Vertrauensbeziehung erfahren,<br />
24 ZeSo 4/<strong>13</strong> SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
Der Junge, der eine<br />
prestigeversprechende<br />
Arbeit wollte, fand die<br />
gesuchte Anerkennung<br />
in einer industriellen<br />
Beschäftigung bei einer<br />
grossen Holding.<br />
Mit Selbstvertrauen findet sich leichter ein Arbeitsplatz.<br />
Bild: Keystone<br />
nachdem ein Vorgesetzter ihn wie ein grosser Bruder ernst genommen<br />
hatte und ihn seine Wertschätzung spüren liess. Ein anderer,<br />
der für seine Weiterentwicklung einen strengen Rahmen braucht,<br />
fand sein Glück in einer Konditorei, wo am Vormittag während der<br />
Arbeit nicht gesprochen werden durfte. Ein drittes Beispiel: Der<br />
Junge, der sich für eine prestigeversprechende Arbeit interessierte,<br />
dem sein tiefes intellektuelles und schulisches Niveau eine höhere<br />
Ausbildung aber verunmöglichte, fand die gesuchte Anerkennung<br />
in einer eher monotonen industriellen Beschäftigung – bei einer<br />
grossen Holding.<br />
Integration nicht um jeden Preis<br />
2011 fanden von 149 Personen, die vom Dienst IPJAD betreut<br />
wurden, 81 eine Stelle in einem Unternehmen, und 2012 waren<br />
es 96 von 151. Diese Resultate unterstreichen die Effizienz dieses<br />
individuellen und realitätsnahen Vorgehens. Dank dem erfolgten<br />
Ausbau des Dienstes konnten zudem auch weit mehr duale Ausbildungen<br />
vermittelt werden als im Vorjahr (76 im Jahr 2012 gegenüber<br />
49 im Jahr 2011). Der Service IPJAD integriert jedoch nicht<br />
um jeden Preis. Dass er die Kandidatinnen und Kandidaten mit<br />
der Realität konfrontiert, kann auch zu Schwierigkeiten und zu<br />
Blockaden führen, die mit den Anforderungen der Arbeitswelt<br />
nicht zu vereinbaren sind. Die Klienten, die nicht vermittelt werden<br />
konnten, weisen im Allgemeinen eine für die Wiedereingliederung<br />
zu komplexe Problematik auf und werden von anderen Unterstützungsinstanzen<br />
betreut.<br />
Für die IV-Stelle des Kantons Waadt ist die Einbindung des<br />
Dienstes IPJAD eine Quelle der Kreativität. Die IV-Berater erhalten<br />
dadurch Einblick in alternative methodische Ansätze. Und das ist<br />
die verdiente Belohnung für eine Institution, die ihre Kompetenzen<br />
für das Entstehen dieses Prozesses zur Verfügung gestellt hat. •<br />
Dominique Dorthe<br />
IV-Stelle Kanton Waadt<br />
Aus dem Trott herausfinden und<br />
das Lächeln zurückgewinnen<br />
Für die Kundschaft ist Nestor Services ein normaler Cateringdienstleister. Für die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter ist Nestor aber mehr als das: eine soziale Einrichtung, die Erwerbslosen und<br />
Sozialhilfebeziehenden bezahlte Arbeitseinsätze in der Gastronomie ermöglicht.<br />
Sie steht hinter dem Buffet, gerade Haltung,<br />
schwarze Kleidung und eine lange,<br />
grüne Schürze. Sie schenkt geduldig Orangensaft<br />
ein und entlässt den Kunden mit<br />
einem «Voilà, Monsieur» und einem Lächeln.<br />
Sandra Nanchen macht ihre Arbeit<br />
gut, und sie macht sie gern. Doch zum Lachen<br />
war ihr in den vergangenen Monaten<br />
nicht immer zu Mute. Vor einem Jahr wurde<br />
sie arbeitslos und hat seither trotz vielen<br />
Bewerbungen noch keine Vollzeit-Anstellung<br />
gefunden. «Sie stellen lieber jüngere,<br />
billigere Arbeitskräfte ohne Berufsdiplom<br />
ein, die bereit sind, Teilzeit zu arbeiten»,<br />
stellt die 42-Jährige fest. Sie räumt rasch<br />
ein paar leere Gläser weg und giesst frischen<br />
Orangensaft in die sauberen. Für<br />
den Kopf sei es gut gewesen, dass da Nestor<br />
war. Nestor ist eine im Kanton Wallis tätige<br />
Stiftung, die Menschen eine Beschäftigung<br />
bietet, die Mühe auf dem Arbeitsmarkt<br />
haben. Die Bedingung: Sie müssen<br />
sich fürs Gastgewerbe interessieren.<br />
Zusammenarbeit mit lokalen<br />
Anbietern<br />
Denn eigentlich ist Nestor ein Cateringservice<br />
– von sozialer Einrichtung merken<br />
die Kundinnen und Kunden an diesem<br />
Mittwochmorgen im Suva-Zentrum in Sion<br />
nichts. Die 300 Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter von Spitalnetz Wallis besuchen<br />
hier eine Weiterbildung und erholen<br />
sich in der Pause vom Zuhören, bei Kaffee,<br />
Gipfeli, Saft und Früchten. Ob für<br />
zwanzig oder für tausend Personen, ob<br />
Betriebs- oder Familienanlass: Nestor<br />
kümmert sich nebst dem Kulinarischen<br />
auch um die Saalsuche, die Dekoration<br />
oder eine musikalische Unterhaltung – je<br />
nach Wunsch der Kundschaft. Das Essen<br />
fürs Bankett oder Buffet wird nicht selber<br />
produziert, es wird von lokalen Anbietern<br />
aus der Region bezogen. «Die Qualität der<br />
Produkte hat bei uns einen hohen Stellenwert»,<br />
sagt Fabienne Theytaz, die bei Nestor<br />
für die Koordination und Organisation<br />
verantwortlich zeichnet.<br />
Nichts von geschützte Werkstatt<br />
Auch dem eigentlichen Service, dem Bedienen<br />
der Gäste, wird ein hoher Stellenwert<br />
beigemessen. Simon Darioli, bis Ende Jahr<br />
Chef der kantonalen Dienststelle für Sozialwesen<br />
und innerhalb der Stiftung verantwortlich<br />
für die Projektentwicklung, betont,<br />
dass es sich bei Nestor nicht um eine<br />
geschützte Werkstatt handle. Im Gegenteil:<br />
«Wir schenken den Angestellten nichts.»<br />
Sie sollen aus ihrem Trott, der sich bei Arbeitslosen<br />
oder Ausgesteuerten einstellen<br />
kann, wieder herausfinden und zu neuer<br />
Schmutzige Gläser verschwinden in die Kisten.<br />
Motivation und zu Selbstvertrauen finden.<br />
Manchmal sei es so, dass ein Arbeitsloser<br />
nach ein bis zwei Jahren fernab seines Berufs<br />
eine gebrochene Person sei. Er brauche<br />
eine Anlehre, um das wieder zu lernen, was<br />
er eigentlich könne. Im Idealfall würden<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
durch die Arbeit beim Cateringservice ihr<br />
Selbstvertrauen und ihr Lächeln zurückgewinnen.<br />
Einige brauchten dafür ein wenig<br />
mehr Zeit als andere, sagt Fabienne Theytaz.<br />
Das sei in Ordnung. Wichtig sei, dass<br />
sie die Bereitschaft zu einer guten Zusammenarbeit<br />
spüre. Denn die Kunden zahlen<br />
die gleichen Ansätze wie bei einem anderen<br />
Cateringservice auch und wollen folglich<br />
die gleiche Leistung, sagt Darioli.<br />
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
von Nestor wiederum werden via Arbeitslosenkasse,<br />
Sozialhilfe oder – in seltenen<br />
Fällen – Invalidenstelle vermittelt. Entlöhnt<br />
werden sie im Stundenlohn, nach<br />
Gastro-Suisse-Ansätzen. «Wir zahlen keine<br />
Dumping-Löhne», betont Darioli. Nach<br />
jedem Arbeitseinsatz werden die Mitarbeitenden<br />
auf einem Evaluationsbogen beurteilt.<br />
Nestor finanziert sich zu 60 Prozent<br />
selber. Die anderen 40 Prozent kommen<br />
durch Beiträge der Dienststelle für Sozialwesen,<br />
von privaten Gönnern und durch<br />
die Unterstützung der Loterie Romande<br />
zusammen.<br />
Die Mitarbeitenden müssen sich immer<br />
wieder auf neue Situationen einstellen,<br />
denn jeder Ort und jede Kundschaft ist<br />
anders. Von Gross- und Privatbanken oder<br />
Versicherungen etwa wurde der Service<br />
schon gebucht, aber auch von Gemeinden<br />
und Privaten. Bis Ende Jahr wird Nestor<br />
zwischen <strong>13</strong>0 und 140 mal ausgerückt<br />
sein, schätzt Darioli. Nestor existiert seit<br />
Mai 2012. Die Stiftung greift bei ihren<br />
Einsätzen auf einen Mitarbeiterpool zurück.<br />
Bei jedem Mal würden aber nebst<br />
den eingearbeiteten auch neue Mitarbeite-<br />
30 ZeSo 4/<strong>13</strong> reportage
Das Nestor-Team bereitet das Mittagessen für 300 Personen vor. <br />
Bilder: Pia Neuenschwander<br />
rinnen und Mitarbeiter berücksichtigt, um<br />
auch ihnen eine Chance zu geben, erklärt<br />
Fabienne Theytaz.<br />
«Das zeigen, was ich kann»<br />
Das Stimmengewirr vor der Cafeteria der<br />
Klinik ist verstummt, die Kursteilnehmerinnen<br />
und Kursteilnehmer befinden<br />
sich wieder in den Seminarräumen. Sandra<br />
Nanchen, ihre Kollegin sowie die beiden<br />
festangestellten Nestor-Mitarbeiterinnen<br />
räumen in Windeseile schmutzige Gläser<br />
und Kaffeetassen in die Kisten. Dann stellen<br />
sie die Tische um und rollen das weisse<br />
Papiertischtuch aus. Ein kleiner Fleck auf<br />
dem Tischtuch stört, ein neues muss her.<br />
Sie zählen Gläser ab und ordnen sie symmetrisch<br />
an. Die Tellertürme müssen<br />
gleich hoch sein. Das Nestor-Team bereitet<br />
jetzt das Mittagessen für 300 Personen vor.<br />
Dabei legt es Wert auf kleine Details wie<br />
die kleinen Blumensträusschen und die<br />
adrett zurechtgelegten Servietten in Lila<br />
und Grün. Sofia Lourenço ist diplomierte<br />
Kellnerin und seit Mai arbeitslos. «Bei Nestor<br />
habe ich die Möglichkeit zu zeigen, was<br />
ich kann», sagt die 32-Jährige, die sich derzeit<br />
mit einer Teilzeitanstellung in einer<br />
Bäckerei über Wasser hält.<br />
Es ist bald zwölf Uhr. Zwei weitere Mitarbeiter<br />
sind zum Team gestossen und helfen<br />
bei den Vorbereitungsarbeiten. Alles<br />
ist parat, jetzt fehlt nur noch das Essen,<br />
das bald von einem lokalen Traiteur angeliefert<br />
wird. Sofia Lourenço und Sandra<br />
Nanchen, die seit dem Morgen im Einsatz<br />
sind, stehen kurz etwas abseits des Buffets<br />
und gönnen sich ein Gipfeli und einen<br />
Schluck Kaffee. Fabienne Theytaz blickt<br />
auf ihre Uhr, das Essen wurde noch nicht<br />
angeliefert, sie wird langsam nervös. Eine<br />
Viertelstunde später hält der Lieferwagen<br />
vor der Klinik und die Häppchen werden<br />
gut verpackt auf einem Wagen angerollt.<br />
Jetzt wird Fabienne Theytaz noch nervöser:<br />
Als sie zusammen mit ihren Mitarbeitenden<br />
die warmen Speisen in die Platten<br />
auf dem Buffet legen will, merkt sie, dass<br />
diese nicht gewärmt werden können – die<br />
Rechauds wurden ohne Brennsprit angeliefert.<br />
Die Nestor-Leute improvisieren.<br />
Schnell werden die Häppchen in die<br />
Klinik-Küche gebracht und dort am Warmen<br />
gehalten. Währenddessen läuft ein<br />
Mitarbeiter schnell zum nächstgelegenen<br />
Supermarkt, um ein paar Flaschen Brennsprit<br />
zu kaufen. Kurze Zeit später wird das<br />
Buffet eröffnet. Die 300 Gäste laden köstliche<br />
Häppchen auf ihre Teller. Und die<br />
Nestor-Mitarbeitenden stehen hinter dem<br />
Buffet. Lächeln, gerade Haltung, schwarze<br />
Kleidung und lange, grüne Schürze. So, als<br />
wäre nichts gewesen.<br />
•<br />
Catherine Arber<br />
reportage 4/<strong>13</strong> ZeSo<br />
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