23.12.2013 Aufrufe

Andrzej Stasiuk - Instytut Książki

Andrzej Stasiuk - Instytut Książki

Andrzej Stasiuk - Instytut Książki

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das Buchinstitut (<strong>Instytut</strong> Książki) ist eine staatliche Kultureinrichtung,<br />

die vom Kulturminister der Republik Polen ins Leben<br />

gerufen wurde. Seit Januar 2004 ist das Institut in Krakau angesiedelt,<br />

2006 entstand auch ein Büro in Warschau. Die Hauptdas<br />

Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten so-<br />

ziele des Institutes liegen darin, die Lesebereitschaft zu fördern,<br />

wie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele<br />

werden umgesetzt durch:<br />

» Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher<br />

und ihre Autoren<br />

» ÜBERSETZUNGSPROGRAMM © POLAND<br />

» Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten<br />

Umgang mit dem Buch als Medium verdeutlichen<br />

» Informationszentrum für Kinderbücher<br />

» Programm zur Leseförderung<br />

Tu Czytamy!<br />

/Hier wird gelesen!<br />

» jährlicher Literaturfestival-Zyklus<br />

4 Pory<br />

Książki / Die vier Jahreszeiten<br />

des Buches<br />

» Informationsportal zur<br />

polnischen Literatur<br />

www.bookinstitute.pl<br />

» Übersetzerkolleg<br />

» Seminare für Verleger<br />

» Präsentation der polnischen Literatur im Ausland<br />

» einen leichteren Zugang für ausländische Interessenten<br />

zu Informationen über das polnische Buch und den Buchmarkt.<br />

Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen<br />

Auftritten auf in- und ausländischen Buchmessen, bereitet Le-sungen<br />

polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals oder im<br />

Rahmen seiner PR-Maßnahmen für die internationale Verbreitung<br />

polnischer Kultur vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE<br />

BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen<br />

präsentiert werden, organisiert Studien- und Fortbildungsmaßnahmen<br />

sowie Treffen und Seminare für Übersetzer<br />

polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und<br />

verleiht auch den PREIS TRANSATLANTYK für den besten Vermittler<br />

polnischer Literatur im Ausland.<br />

DAS PROGRAMM TU CZYTAMY! besteht aus einer Reihe<br />

von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs<br />

richten. Dazu gehören u.a.: Bildungsprogramme, Vermittlung der<br />

zeitgenössischen polnischen Literatur für Jugendliche, Vorbereitung<br />

und Publikation eines polnischen Literaturatlas, Organisation<br />

von Buchdiskussionsklubs. Ein Teil des Programms ist auch<br />

der jährliche Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki.<br />

FESTIVAL 4 PORY KSIĄŻKI ist das größte Literaturfestival in<br />

Polen. Es findet parallel in mehreren Städten statt. Das Festival<br />

besteht aus vier Events: Pora poezji / Lyrikzeit (Februar), POPLIT<br />

(April), Pora prozy / Prosazeit (Oktober), Festiwal kryminału /<br />

Krimifestival (November). Gäste des Festivals waren bisher u.a.:<br />

Jonathan Caroll, Eduardo Mendoza, Boris Akunin, Alexandra Marinina,<br />

Michael Faber, Paulo Lins, Pedro Juan Gutierrez.<br />

www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen<br />

Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland,<br />

präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt<br />

auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet dort außerdem<br />

über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren,<br />

die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente,<br />

Essays, Anschriften der Verleger. Alles über polnische Bücher<br />

– auf Polnisch, Englisch und Deutsch.<br />

Direktorin des Buchinstituts: Dr. Magdalena Ślusarska


2<br />

Olga Tokarczuk<br />

Läufer<br />

6<br />

<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong><br />

Dojczland<br />

10<br />

Włodzimierz Kowalewski<br />

Die Exzentriker<br />

14<br />

Henryk Waniek<br />

Der Fall Hermes<br />

18<br />

Eustachy Rylski<br />

Die Insel<br />

22<br />

<strong>Andrzej</strong> Bobkowski<br />

Dämmerung<br />

26<br />

Jerzy Pilch<br />

Der Zug ins ewige Leben<br />

30<br />

Janusz Rudnicki<br />

Kommt, wir gehen<br />

34<br />

Agata Tuszyńska<br />

Vorübungen zum Verlust<br />

38<br />

Joanna Rudniańska<br />

Brygidas Kätzchen<br />

42<br />

Mariusz Sieniewicz<br />

Die Rebellion<br />

46<br />

Hubert Klimko-Dobrzaniecki<br />

Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

50<br />

Michał Witkowski<br />

Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa<br />

54<br />

Grzegorz Kopaczewski<br />

Huta<br />

58<br />

62<br />

66<br />

Marek Kochan<br />

Hanna Kowalewska<br />

Wacław Holewiński<br />

Spielplatz<br />

Die Maske des Harlekins<br />

Der Weg nach Putte<br />

Inhalt<br />

1<br />

70<br />

Lidia Amejko<br />

Viten der Heiligen der Siedlung<br />

74<br />

Adam Zagajewski<br />

Der Dichter spricht mit dem Philosophen<br />

78<br />

Marek Bieńczyk<br />

Durchsichtigkeit<br />

82<br />

Agnieszka Taborska<br />

Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus<br />

86<br />

Bianka Rolando<br />

Italienische Gesprächsbücher<br />

90<br />

Ignacy Karpowicz<br />

Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)<br />

94<br />

Jerzy Jarzębski<br />

Alles über Lem<br />

98<br />

Julia Hartwig<br />

Dank für die Gastfreundschaft<br />

100<br />

Jacek Antczak<br />

Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall<br />

102<br />

Ryszard Legutko<br />

Traktat über die Freiheit<br />

104<br />

Piotr Matywiecki<br />

Tuwims Gesicht<br />

106<br />

Krzysztof Kłosiński<br />

Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres<br />

110<br />

Adressen der Verlage und Agenten


Olga Tokarczuk Läufer<br />

2<br />

Photo: Danuta Węgiel<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Auf den ersten Blick wirkt Olga Tokarczuks neues Buch wie<br />

eine Sammlung längerer, kürzerer und ganz kurzer Erzählungen,<br />

doch in Wirklichkeit bildet es ein durchdachtes, sehr kunstvoll<br />

konstruiertes Ganzes. Thema dieser Geschichten ist eine Form<br />

des menschlichen Seins auf der Welt, die im unablässigen Reisen<br />

besteht. Der Reisende findet sich damit ab, daß die von ihm<br />

wahrgenommene Welt in eine Fülle nicht unbedingt logisch verbundener<br />

Fragmente zerfällt. Diese Fragmentarisierung spiegelt<br />

sich dementsprechend in der Konstruktion des Buchs, das aus<br />

einer Vielzahl scheinbar unzusammenhängender Fabeln besteht.<br />

Doch allen sind bestimmte Eigenschaften gemein. Zum einen<br />

kreisen sie alle um Situationen von Verlust, Defekt, körperlicher<br />

Behinderung, zum anderen geht es immer wieder um die Erforschung<br />

der Geheimnisse des menschlichen Körpers, die Technik<br />

der Kategorisierung und Aufbewahrung anatomischer Präparate<br />

oder ganzer Leichen.<br />

Das Buch geht auf die persönliche<br />

Geschichte der Autorin ein, auf ihr<br />

privates „ich bin“, wie zwei Fragmente,<br />

jeweils am Anfang und am Ende der Sammlung, lauten.<br />

Gleichzeitig jedoch ist es eine tiefgehende Auseinandersetzung<br />

mit der Menschheitsgeschichte und Mythologie – in erster Linie<br />

der griechischen – sowie eine eindringliche Betrachtung<br />

des Phänomens von Leben und Tod. Zwei Vorstellungen von<br />

Zeit treffen hier aufeinander: auf der einen Seite die zyklische<br />

Sicht der ewigen Wiederkehr, wie sie Mythen und Religionen<br />

eigen ist, auf der anderen die linear-progressive Sicht, wie<br />

sie dem menschlichen Leben in seinem Hinstreben zu Geheimnis<br />

und Tod eigen ist, eine Sicht, der es am Glauben an<br />

den Kreislauf der ewigen Wiederkehr und an der damit verbundenen<br />

Linderung existentieller Ängste mangelt. Es gibt in<br />

diesem Buch keine leichten Antworten auf schwierige Fragen,<br />

auf Schritt und Tritt stoßen wir auf Rätsel, die sich nicht lösen<br />

lassen. Anstelle solcher Antworten können wir überraschende<br />

Spiegelungen und Entsprechungen zwischen unterschiedlichen<br />

Erscheinungen beobachten. Das ist jene uns zugängliche Versi-<br />

on der Wiederholbarkeit der Welt, die eine schwache Hoffnung<br />

auf einen Sinn und eine Ordnung in der Welt aufkeimen läßt.<br />

Es ist ein kluges Werk einer reifen Schriftstellerin, vielleicht sogar<br />

das beste Buch, das Olga Tokarczuk bisher geschrieben hat.<br />

Jerzy Jarzębski<br />

Olga Tokarczuk (geb. 1962), Romanschriftstellerin<br />

und Essayistin, ihre Bücher wurden bereits<br />

in 18 Sprachen übersetzt.<br />

Olga Tokarczuk Läufer<br />

3<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Olga Tokarczuk Läufer<br />

4<br />

Meine<br />

Eltern waren nicht von einem<br />

ganz und gar seßhaften Stamm.<br />

Sie zogen viele Male um, von einem<br />

Ort zum anderen, bis sie sich schließlich für längere<br />

Zeit in einer Provinzschule niederließen, weitab von jeder<br />

richtigen Straße und Eisenbahnstation. Jedes Überschreiten<br />

der Gartengrenze, jeder Ausflug in die kleine Stadt war schon<br />

eine Reise. Einkäufe, Papiere, die im Gemeindeamt eingereicht<br />

werden mußten, immer derselbe Friseur am Markt vor<br />

dem Rathaus, der immer denselben erfolglos gewaschenen<br />

und gebleichten Kittel trug, auf dem die Färbemittel für die<br />

Haare seiner Kundinnen kalligraphische Flecken hinterlassen<br />

hatten, chinesische Schriftzeichen. Mama ließ sich die<br />

Haare färben, der Vater wartete an einem der beiden Tische<br />

draußen vor dem Café Nowa auf sie. Er las die Lokalzeitung,<br />

in der die Rubrik „Kriminalfälle“ mit Berichten über<br />

Marmeladen- und Gewürzgurkenraub aus irgendwelchen<br />

Kellern immer das interessanteste war.<br />

Und dann ihre touristischen Ferienausflüge, schüchtern,<br />

mit einem bis unters Dach vollgepackten Skoda. Lange vorbereitet,<br />

an Vorfrühlingsabenden geplant, wenn der Schnee<br />

gerade getaut, die Erde aber noch nicht wieder zu sich gekommen<br />

war, noch länger nicht ihren Körper den Pflügen<br />

und Hacken hingeben, sich befruchten lassen und ab dann<br />

die Zeit der Menschen vom Morgen bis zum Abend in Anspruch<br />

nehmen würde.<br />

Sie gehörten zu einer Generation, die mit Wohnwagen<br />

unterwegs war, einen Hausersatz hinter sich herzog. Einen<br />

kleinen Gasherd, Klappstühle, einen Klapptisch. Eine Plastikschnur<br />

zum Aufhängen der Wäsche, wo man Halt machte,<br />

hölzerne Wäscheklammern. Wasserfestes Wachstuch für<br />

den Tisch. Ein Picknick-Set für Touristen bestehend aus<br />

bunten Tellern, aus Besteck, Salzfäßchen und Gläser – alles<br />

aus Plastik.<br />

Irgendwo unterwegs, auf einem Flohmarkt, wie ihn er<br />

und meine Mutter besonders gerne besuchten (wenn sie sich<br />

nicht zufällig gerade gegenseitig vor Kirchen und Denkmälern<br />

fotografierten) hatte mein Vater einen Teekocher aus der<br />

Armee erstanden, ein Gerät aus Kupfer, ein Gefäß mit einem<br />

Rohr in der Mitte, in das man eine Handvoll kleingebroche-<br />

nes Reisig legen und es anzünden konnte. Obwohl es auf den<br />

Campingplätzen Stromanschlüsse gab, kochte er das Wasser<br />

immer in diesem qualmenden langsamen Teekessel. Er kniete<br />

über dem heißen Gefäß und lauschte stolz auf das Bullern<br />

des kochenden Wassers, das er dann auf die Teebeutel goß<br />

– ein echter Nomade.<br />

Sie hielten an den dafür bestimmten Orten, auf Campingplätzen,<br />

immer in Gesellschaft anderer Leute ihres Schlags,<br />

und hielten Schwätzchen mit den Nachbarn über die Socken<br />

hinweg, die an den Zeltschnüren trockneten. Mit Hilfe des<br />

Reiseführers wurden Reiserouten festgelegt, wobei die Sehenswürdigkeiten<br />

sorgfältig aufgelistet wurden. Bis Mittag<br />

Baden im Meer oder einem See, am Nachmittag ein Ausflug<br />

zu den Ruinen und Überresten von Städten, zum Abschluß<br />

das Abendessen, meistens aus Eingewecktem bestehend: Gulasch.<br />

Frikadellen, Klopse in Tomatensauce. Dazu brauchte<br />

man nur noch Reis oder Nudeln zu kochen. Ewiges Sparen,<br />

der Zloty steht schlecht, das ist der rote Heller der Welt.<br />

Orte suchen, wo es Stromanschluß gibt, dann wieder unwillig<br />

packen um weiterzureisen, jedoch immer im metaphysischen<br />

Bereich des eigenen Hauses. Sie waren keine echten<br />

Reisenden, denn sie reisten, um zurückzukehren. Und sie<br />

kehrten immer erleichtert heim, mit dem Gefühl eine Pflicht<br />

gut erfüllt zu haben. Sie kamen zurück, um einen großen<br />

Stapel Briefe und Rechnungen von der Kommode zu nehmen.<br />

Um große Wäsche zu machen. Die heimlich gähnenden<br />

Freunde mit ihren Fotos zu Tode zu langweilen. Das<br />

sind wir in Carcassone. Und hier ist meine Frau, vor dem<br />

Hintergrund der Akropolis.<br />

Dann führten sie das ganze Jahr ein seßhaftes Leben, ein<br />

Leben, in dem man morgens da weitermacht, wo man am<br />

Abend aufgehört hat, in dem die Kleidung ganz vom Geruch<br />

der eigenen Wohnung durchdrungen ist und die Füße rastlos<br />

ihren Pfad auf dem Teppich austreten.<br />

Das ist nichts für mich. Offenbar fehlt mir irgendein Gen,<br />

das beim Menschen Wurzelbildung bewirkt, sobald dieser<br />

einige Zeit an einem Ort ist. Ich habe es oft versucht, aber<br />

meine Wurzeln waren flach, jeder beliebige Windstoß konnte<br />

mich ausreißen. Ich konnte nicht sprießen, diese Pflanzenfähigkeit<br />

fehlt mir. Ich ziehe keine Säfte aus der Erde, ich<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


in ein Anti-Anteus. Meine Energie schöpft sich aus der Bewegung<br />

– aus dem Ruckeln von Autobussen, dem Dröhnen<br />

von Flugzeugen, dem Schaukeln von Fähren und Zügen.<br />

Ich bin handlich, klein und kompakt. Mein Magen ist anspruchslos,<br />

meine Lungen kräftig, mein Bauch fest, meine<br />

Armmuskeln stark. Ich nehme weder Medikamente noch<br />

Hormone und trage keine Brille. Alle drei Monate einmal<br />

rasiere ich mir die Haare mit dem Apparat, ich benutze so<br />

gut wie keine Schminke. Ich habe gesunde Zähne, vielleicht<br />

nicht ebenmäßig doch ganz, nur eine alte Plombe ist da, ich<br />

glaube im Sechser links unten. Leberwerte normal. Bauchspeicheldrüsenwerte<br />

normal. Die Nierenfunktion rechts und<br />

links hervorragend. Meine Bauchschlagader in der Norm.<br />

Meine Harnblase genau richtig. Hämoglobin:12.7; Leukozyten:<br />

4.5; Hematokrit: 41.6; Thrombozyten: 228; Cholesterol:<br />

204; Kreatinin: 1,0; Bilirubin: 4,2; und so weiter. Mein<br />

IQ – wenn man an so etwas glaubt – ist 121, das reicht. Ich<br />

habe eine außergewöhnlich gut entwickelte räumliche Vorstellungskraft,<br />

die fast eidetisch ist, dafür eine schlechte Lateralisierung.<br />

Persönlichkeitsprofil instabil, wahrscheinlich<br />

wenig vertrauenswürdig. Alter: psychologisch. Geschlecht:<br />

grammatisch. Bücher kaufe ich lieber im Taschenbuch, um<br />

sie ohne Bedauern auf Bahnsteigen liegenzulassen, für die<br />

Augen anderer. Ich sammle nichts.<br />

Ich habe mein Studium abgeschlossen, aber im Grunde<br />

habe ich keinen Beruf erlernt, was ich sehr bedauere: Mein<br />

Großvater war Weber, er bleichte die gewebte Leinwand, indem<br />

er sie auf einem Hang ausbreitete und dem hellen Sonnenlicht<br />

aussetzte. Es würde mir Spaß machen, Kette und<br />

Schuß mit einander zu verweben, aber es gibt keine transportablen<br />

Webrahmen, die Weberei ist eine Kunst für seßhafte<br />

Menschen. Unterwegs stricke ich. Leider ist es neuerdings<br />

bei manchen Fluggesellschaften verboten, Strick- oder Häkelnadeln<br />

mit an Bord zu nehmen. Ich habe wie gesagt kein<br />

Fach gelernt, dennoch habe ich, ungeachtet der Warnungen<br />

meiner Eltern, überleben können, indem ich auf Reisen alle<br />

möglichen Arbeiten ausgeübt habe und keineswegs unter die<br />

Räder gekommen bin.<br />

Aus dem Polnischen von Esther Kinsky<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

Cracow 2007<br />

123 × 197 • 364 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-08-03986-1<br />

Translations rights: De Geus<br />

Olga Tokarczuk Läufer<br />

5<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> Dojczland<br />

6<br />

Photo: Piotr Janowski AG<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die Handlung dieses – amüsanten und zugleich melancholischen<br />

– Büchleins ist einfach gestrickt: seit gut zehn Jahren absolviert<br />

<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> als Autor Lesereisen durch die deutschsprachigen<br />

Länder. Er liest, beantwortet Fragen, kehrt ins Hotel zurück,<br />

steigt morgens in den Zug, geht zur Lesung, liest, beantwortet<br />

Fragen, kehrt ins Hotel zurück...<br />

Mit Hilfe dieser Reflexionen ordnet <strong>Stasiuk</strong> die kulturelle Landkarte<br />

Europas, richtet Europa nach seinem eigenen Zentrum aus.<br />

Doch setzt er alles daran, dass trotz der vieljährigen Vergleiche<br />

zwischen Ost und West seine Heimat immer noch das vertraute<br />

Kuhdorf bleibt. Er idealisiert Polen nicht – na ja, vielleicht ein<br />

biss-chen. Sein Buch ist eine Art Überlebensratgeber für alle,<br />

die in ein ähnliches Abenteuer geraten sollten – das heißt, die<br />

radikale Konfrontation der heimischen Rückständigkeit mit der<br />

fremden Moderne. Es ist eher eine<br />

Erfahrung der Persönlichkeitspsychologie<br />

als der Geografie. Wie<br />

der Autor sagt: „Nach Deutschland<br />

fahren, das ist Psychoanalyse.“<br />

Um sich nicht „zum Deutschen“ machen zu lassen, also zu einem<br />

Anhänger der Höherwertigkeit westlicher über die östliche<br />

Kultur, muss man, erstens, Deutschland als ein Land behandeln,<br />

in das man zum Geldverdienen fährt. Dort gibt es Geld, Arbeit<br />

und gute Verhältnisse; hier, in Polen, das heißt in Rumänien<br />

– Menschen, mit denen man sich unterhalten, zusammen sein,<br />

gemeinsam etwas erleben kann. Zweitens muss man die Armut<br />

als die wahre Beziehung zwischen Mensch und Ding betrachten.<br />

Wenn uns das gelingt, werden wir sehen, dass in der Welt des<br />

Überflusses die Menschen zu Sklaven der Gegenstände werden<br />

– die ihren Status symbolisieren und die alte Ahnenherrlichkeit<br />

ersetzen. In der Welt der Armut ist es anders: hier landen die abgenutzten<br />

Autos des Westens, hier können die Menschen Dinge<br />

verwenden, die nicht mehr zu gebrauchen sind, und sie beurteilen<br />

sich nicht nach ihrem Besitz, denn sie wissen, dass alle Dinge<br />

nur geliehen und vergänglich sind. Außerdem muss man Sehnsucht<br />

haben, und wenn wir uns nach Polen, also nach Rumänien,<br />

sehnen, dann kann kein Bayern oder sonstiges Westfalen unsere<br />

Sehnsucht stillen, soviel ist klar. <strong>Stasiuk</strong> zwinkert uns aber bisweilen<br />

zu und sagt, dieser Text über die „Zigeuner des vereinten<br />

Europa“ sei nur ein Gag für das westliche Publikum.<br />

Przemysław Czapliński<br />

<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> (geb. 1960), Prosaist,<br />

Dichter, Essayist, Literaturkritiker. Seine Bücher<br />

wurden in fast alle europäischen Sprachen<br />

übersetzt.<br />

<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> Dojczland<br />

7<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> Dojczland<br />

8<br />

Na<br />

ja. Da sind wir wieder bei der Politik gelandet,<br />

das wollte ich eigentlich vermeiden. In der letzten<br />

Zeit hat sich der politische Druck in Polen<br />

ein bisschen verstärkt. Die Leute, die da regieren, glauben<br />

nicht an ein Leben jenseits der Politik. Auf sie selbst mag das<br />

sogar zutreffen. Die tun ganz pfiffig und mutig, aber kaum<br />

sollten sie einmal nach Deutschland fahren, haben sie sich<br />

vor Angst in die Hosen gemacht. Ich glaube, der Präsident<br />

war’s. „Magen-Darm-Beschwerden“, so erklärte man das dem<br />

Volk in Fernsehen und Zeitungen. Zum Glück verschwinden<br />

die von der Politik meist bald irgendwo in der Versenkung,<br />

wir aber, das Volk, wir bleiben, denn das Volk kriegt nicht<br />

einfach so Dünnschiss. Jedenfalls wollte ich sagen, dass zu<br />

meinen Lesungen, auch wenn ich Pole bin, vermutlich andere<br />

Leute kommen als die aus den Meinungsumfragen. Nur<br />

ein paarmal war es so, dass jemand aufstand und dramatisch<br />

fragte: „Wann werden eure Homosexuellen endlich gleichberechtigt<br />

sein?“. Ich antwortete ebenso dramatisch: „Der Tag<br />

ist nah.“ Oder es wurde gefragt: „Wann hört ihr endlich auf,<br />

unsere Autos zu klauen?“ Ich erwiderte nach bestem Wissen<br />

und Gewissen: „Das wird wohl noch eine Weile dauern.“ Ja,<br />

sollen wir vielleicht die russischen klauen? Aber das waren<br />

Einzelfälle. Meist ging es meinem Publikum um die Literatur.<br />

Die Menschen kamen zum Zuhören und fragten danach<br />

nicht mehr nach Homosexualität, Feminismus und all<br />

dem. Sie fragten nicht einmal nach Jedwabne. Sie lauschten<br />

wirklich auf den Text. Sie hörten, wie die Gedanken eines<br />

Fremden in ihrer eigenen Sprache klangen, und ich überlegte,<br />

wie weit diese Gedanken auch ihre eigenen sein konnten.<br />

Ich fragte mich, ob mich das Deutsche ihnen näherbringt<br />

oder von ihnen entfernt, ob meine Worte und Gedanken auf<br />

Deutsch ebenso seltsam und unbekannt sind wie mein Land,<br />

oder gerade umgekehrt. Da saßen sie fast eine Stunde ruhig<br />

und reglos. Ihr Zuhören hatte etwas Unnachgiebiges, etwas<br />

Endgültiges. Damit war nicht zu spaßen. Hier hatte Luther<br />

die Bibel übersetzt. In Deutschland hat das Wort Gewicht.<br />

Vielleicht hat dieser Ernst sogar auf mich abgefärbt? Vielleicht<br />

nahm ich selbst das, was ich geschrieben hatte, ernster,<br />

zumal es in der deutschen Übersetzung ein Viertel länger<br />

war. In Freiburg durfte keine slawische Unbeschwertheit an<br />

den Tag gelegt, in Friedrichshafen musste die Selbstironie gezügelt<br />

werden. An manchen Orten wurde Eintritt verlangt.<br />

Sie alle, diese Menschen aus Städten, Kleinstädten, manchmal<br />

sogar vom Land, Frauen und Männer, Alte und Junge,<br />

kamen her, um etwas zu lernen, etwas zu erfahren, sich eine<br />

Meinung zu bilden. Nicht ausgeschlossen, dass sie nachsehen<br />

wollten, ob ich lüge. Oder prüfen, ob mein Menschsein<br />

ihrem Menschsein ähnlich ist. Oder sie wollten ihr Bedürfnis<br />

nach Umgang mit dem Andersartigen befriedigen. Wir<br />

musterten uns interessiert, doch auch verunsichert. Für viele<br />

von ihnen, vielleicht die meisten, war ich der erste Pole im<br />

Leben. Dazu war ich weder Landarbeiter noch Bauarbeiter<br />

noch der mythische Autodieb, der ihre BMWs und Mercedes<br />

in den Osten verschob. Auch sie waren die ersten Deutschen<br />

für mich. Schließlich sind meine Leser die einzigen<br />

Deutschen, die ich kenne. Außer meinen Lesern habe ich<br />

niemand kennengelernt. Abgesehen natürlich von den Zugreisenden,<br />

den Passagieren auf Bahnhöfen und Flughäfen.<br />

Davon habe ich mehr gesehen als Leser, und häufiger, aber<br />

wir wussten nicht viel voneinander. Ich hatte den Vorteil,<br />

dass ich wusste, wer sie sind. Wer ich bin, wussten sie dagegen<br />

nicht. Sie mochten ahnen, dass ich keiner von ihnen<br />

war, sie mochten sich vorstellen, ich sei ein großgewachsener<br />

Türke, aber sie konnten nicht herausfinden, wer ich wirklich<br />

war. Ich dagegen sah sie an und wusste: ihr seid Deutsche.<br />

Alle, fast alle in den Zügen und auf den Bahnhöfen. Ich hatte<br />

dieses elementare, grundsätzliche Wissen über sie, das sie<br />

von mir nicht haben konnten. Ich fühlte mich wie ein Spion.<br />

Ich beobachtete sie, dachte über sie nach und machte<br />

mir – wenn mir danach war – sogar Notizen. Ich drang in<br />

ihr Deutschsein ein. Ich fuhr mit dem silbernen ICE von<br />

Dortmund nach Berlin, schlückelte meinen Jim Beam, kritzelte<br />

etwas ins Notizbuch, sah die grünen Ebenen, die waldigen<br />

Höhen des Harz und konnte nach Belieben über das<br />

Deutsche sinnieren. […] Auf der Fahrt von Heilbronn nach<br />

Frankfurt kann ich im kosmischen ICE-Waggon darüber<br />

nachdenken und gleichzeitig zusehen, wie die Passagiere ihre<br />

Rollkoffer hinter sich herziehen und konzentriert die elektronischen<br />

Reservierungsanzeigen mustern. Sie bewegen sich<br />

vorsichtig, mit drollig gereckten Köpfen. Manchmal schließe<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


ich die Augen halb, dann verschwimmen ihre Silhouetten.<br />

Auf dem Platz neben mir lege ich, wenn er nicht reserviert<br />

ist, Sachen ab, denn ich will nicht, dass jemand sich dorthin<br />

setzt. Ihre Nähe ersehne ich keinesfalls. Ich will, dass ihre<br />

Gestalten sich mit meinen Gedanken vermischen, mit den<br />

Erinnerungen an die Autos des Onkels und die Erzählungen<br />

meiner Großmutter: Sie sollte schon sterben, stand schon<br />

an der Wand, da hat der Offizier es sich aus irgendeinem<br />

Grunde anders überlegt, die Pistole eingesteckt und ist weitergegangen.<br />

Ich will, dass sich die vom Tempo verschmierte<br />

Landschaft mit den pfeilgeraden Türmen am Horizont und<br />

die undeutlichen Bilder alter Städtchen mit roten Dächern<br />

darüber legen, will, dass sich das alles vermischt und am<br />

Ende ein verständliches Bild ergibt: Meine Großmutter an<br />

der Wand des eigenen Hauses, der silberne ICE, Axel mit<br />

der Thermoskanne am Dresdner Bahnhof, Klaus Kinski in<br />

Fitzcarraldo, Bruno S. in Stroszek, Brot für warme, frisch<br />

gemolkene Milch, fünfhunderttausend gebrauchte Golf auf<br />

polnischen Straßen, die Schlacht bei Grunwald, alte Leute<br />

in Polen, die mechanisch wiederholen: „Wissen Sie, unter<br />

den Deutschen war Ordnung“, die Graffiti auf den Mauern<br />

meiner Kreisstadt: „Wenn Hitler lebte, hätten wir Arbeit“,<br />

und dazu noch „Mein lieber Augustin“ und „Der Tod ist ein<br />

Meister aus Deutschland“...<br />

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl<br />

Czarne<br />

Wołowiec 2007<br />

125 × 195 • 112 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-7536-005-9<br />

Translation rights: Czarne<br />

<strong>Andrzej</strong> <strong>Stasiuk</strong> Dojczland<br />

9<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker<br />

10<br />

Photo: Privatarchiv<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ciechocinek, ein verfallener polnischer Kurort im Jahre 1957.<br />

Die Zahnärztin Wanda erhält zwei Nachrichten: eine schlechte<br />

und eine gute. Sie erfährt, dass sie unheilbar krank ist, aber<br />

auch, dass ihr geliebter Bruder Fabian aus Großbritannien zurückkehrt,<br />

wohin er als Soldat der Anders-Armee kam. Fabian<br />

kehrt im Zuge des „Tauwetters“ nach Polen zurück, der politischen<br />

Entspannung, die in Polen nach Stalins Tod einsetzte. Die<br />

Heimreise ist für ihn keine leichte, frohgemute Entscheidung,<br />

denn die Begegnung mit der Schwester bedeutet die Konfrontation<br />

mit der noch nahen Kriegsvergangenheit und dem Verlust<br />

seiner Lieben. Nur das Geschwisterpaar hat überlebt. Wanda<br />

verharrt immer noch in Trauer, Fabian jedoch scheut vor ihr<br />

zurück. Der König des Lebens und Meister des Swings sucht<br />

in dem Trost, was er immer liebte.<br />

In der Musik. Die vor Jahren auch<br />

Wanda viel bedeutete, als sie in der<br />

Jazzband ihres Bruders brillierte. Es<br />

mag den Anschein haben, dass es in<br />

dem in Hoffnungslosigkeit versunkenen Städtchen keine Chance<br />

gibt, eine Band zu gründen. Dennoch geschieht das Wunder,<br />

und bei Fabian melden sich mehr und mehr Musiker. Zu<br />

ihnen gehört der Stadtmiliziant Stypa, der Sanatoriumsarzt Vogt<br />

und die schöne Englischlehrerin Modesta. Als auch Wanda ihre<br />

Skepsis überwindet, ist schon sicher, dass das Wunder wahr<br />

werden kann. Und währen, solang die Staatsmacht es zulässt.<br />

Die Erzählung über das Entstehen einer Jazzband bietet Kowalewski<br />

die Gelegenheit, nicht nur die polnische Wirklichkeit der<br />

späten fünfziger Jahre nachzubilden, sondern auch die Atmosphäre<br />

der Vorkriegszeit aufleben zu lassen. Zu deren Leitfigur<br />

der letzteren wird Reichmann, einstiger Kurgast in Ciechocinek<br />

und Autor bekannter Liedtexte. Er erscheint im Roman dank eines<br />

Tagebuchs, dass Fabian auffindet. Aber auch die lebenden<br />

Protagonisten zitieren den Geist ihrer Jugend. Diese „Exorzismen“<br />

lassen sie vergessen, was sie durchgemacht haben, und<br />

sie ihre Lebensfreude wiederfinden.<br />

Marta Mizuro<br />

Włodzimierz Kowalewski (geb. 1956),<br />

Schriftsteller, Essayist, mit etlichen Literaturpreisen<br />

ausgezeichnet. Die Exzentriker ist bereits sein fünfter<br />

Prosaband.<br />

Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker<br />

11<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker<br />

12<br />

Je<br />

tiefer es ins Landesinnere ging, desto mehr Schnee<br />

gab es. Sie jagten die schmale, fast völlig leere Straße<br />

zwischen den Spalieren nackter Bäume entlang,<br />

passierten nur dann und wann einen Fuhrwagen mit in Pelze<br />

geschlagenen Kutschern, kümmerliche Lastwagen und himmelblaue,<br />

durch den trüben Tag gräuliche PKS-Autobusse<br />

des Typs „Krasula“, die lange Rauchschleier von Abgasen<br />

hinter sich her zogen. Der Vauxhall preschte vor, ringsum<br />

entrollte sich eine ungesäuerte und groblinnene Landschaft.<br />

Die sumpfigen Tümpel waren noch nicht gefroren, ringsum<br />

Büschel von Gestrüpp, Felder unter einer dünnen Schneeschicht,<br />

einsame Katen. In den Dörfern Schweine auf Leiterwagen,<br />

Kinder, die unterwegs in große Brotlaibe bissen,<br />

in den Städtchen Schlamm und Kopfsteinpflaster, Schlangen<br />

vor den Läden mit Fleisch und Wurst. Das Radio spielte,<br />

zwischen den Nachrichten und „Wissenswertem für die<br />

Landwirtschaft“ Kujawiaks und Obereks, dann das Mandolinenensemble<br />

Ciukszas, Wicharys Tanzorchester, Gesang<br />

– Hanna Rek, Kurtycz, Koterbska.<br />

„Sie müssen gestern Geld wie Heu rausgeworfen haben.<br />

Vor allem, als sie später unbedingt diesen französischen<br />

Champagner trinken mussten. Sauer wie Gurkensaft.“ Modesta<br />

verzog das Gesicht.<br />

„Was heißt hier Champagner. Schaumwein, nichts anderes.<br />

Von der Marke habe ich noch nie gehört.“<br />

„Tausend haben sie verpulvert. Ganz sicher.“<br />

„Gleich kann es mehr werden, schauen Sie nur genau zu.“<br />

In der völlig menschenleeren Gegend standen zwei Milizianten<br />

mit einem Motorrad mit Beifahreranhänger, der in<br />

einer Schneewehe versank. Einer sah aus wie ein Luftlöscher<br />

eines Küsters – lang, mit Hakennase, der andere hatte den<br />

Hals bandagiert. Beide fuchtelten mit ihren Lutschern. Fabian<br />

fuhr an den Straßenrand. Der mit der Sperbernase ging<br />

um das Auto herum und klopfte auf Modestas Seite gegen<br />

die Scheibe.<br />

„Führerschein, Ausweis, Fahrzeugpapiere, Benzinkarte,<br />

Reiseerlaubnis“, rezitierte er, als sie das Fenster herunterdrehte,<br />

dann verbog er sich bis zur Hälfte und versuchte,<br />

den Schädel ins Innere zu pressen, und blieb dabei mit dem<br />

Helm am Dach hängen. Es verschlug ihm die Sprache, seine<br />

Züge längten sich vor Staunen.<br />

„Ahhh... wo ist denn hier das Lenkrad? Womit lenken Sie<br />

denn den Wagen, Genossin?“<br />

„Zyggy! Das ist doch ein englischer Wagen, alles für die<br />

linke Linke!“, röchelte der Bandagierte, bevor Modesta überhaupt<br />

irgendetwas antworten konnte.<br />

„Englisch? Englisch? In dem Fall wird ausgestiegen, sofort!“,<br />

kommandierte er und rückte seine Berichttasche<br />

zurecht. Er umkreiste das Auto nochmal in den winzigen<br />

Schritten einer Geisha, stand vor Fabian, deutete irgendwas,<br />

begann deutlich Silben zu artikulieren, ganz laut, fast schon<br />

brüllend:<br />

„Bit-te stei-gen Sie ...“<br />

Fabian stieg aus.<br />

„Sie sprechen Polnisch?“, freute sich der Miliziant.<br />

„Sehr gut.“ Es wäre nämlich dumm, gleich in einer Fremdsprache<br />

seiner Tätigkeit nachzugehen...<br />

Jetzt hatte er auch die Papiere vergessen, der Vauxhall nahm<br />

seine Aufmerksamkeit stärker in Anspruch, er sah sich im<br />

Fahrzeug um, machte sich an den Schaltknöpfen zu schaffen,<br />

prüfte, ob die Polster weich war, pfiff anerkennend.<br />

„Schau doch mal, Winiek“, sagte er erregt zu seinem bandagierten<br />

Kollegen, rupfte an der Lenkradschaltung „sogar<br />

den Schaltknüppel hat er links! Genosse Fahrer, wie fährt es<br />

sich damit auf polnischen Straßen? Unbequem, was?“<br />

„Aber das ist doch kinderleicht“, erwiderte Fabian. „Man<br />

muss sich nur daran gewöhnen, links ist rechts, und rechts<br />

ist links.“<br />

„Rechts ist links, links ist rechts. Kinderleicht“, sprach der<br />

Miliziant verständig nach.<br />

Sie kontrollierten gar nichts mehr, rissen Witzchen, fragten<br />

nach dem Motor, den PS, der Höchstgeschwindigkeit,<br />

dem Autofahren in England, den gefahrenen Strecken. Sie<br />

rieten noch, wegen des Wetters mit Licht zu reisen, gaben<br />

die Papiere zurück und salutierten höflich.<br />

Als die Rücklichter des Vauxhalls an der Linie zwischen<br />

Straße und Himmel verschwammen, hoben die beiden ihre<br />

Helme, wischten sich den Schweiß von den Stirnen, warfen<br />

die Lutscher, die Berichttaschen und die Gürtel mit den<br />

Halftern in den Motorradanhänger.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


„Schluss mit der Vorstellung. Jetzt schreibt ihr mir alles<br />

genau auf. Den Bericht morgen früh, vor der Lagebesprechung,<br />

8 Uhr fünfzehn“, befahl der Bandagierte trocken.<br />

Sie fuhren direkt zur Villa „Konstancja“, wo Modesta ein<br />

Zimmer mietete. Das war eine Pension mit einer sonderbaren<br />

Glaspyramide mitten auf dem Flachdach, gegenüber dem<br />

Kiefernpark, den jetzt Schneeflocken wie Watte bedeckten.<br />

Sie ließ ihn jedoch etwas weiter entfernt anhalten, erlaubte<br />

ihm nicht auszusteigen, rang selbst mit dem Koffer.<br />

„Ich gebe Ihnen die Hälfte für gestern zurück!“, rief sie<br />

zum Abschied.<br />

Aus dem Bayer-Schuppen, in dem einst die Britschka für<br />

Ausfahrten der Gäste in die Umgebung stand, rollte er ein<br />

Wägelchen auf quietschenden Rädchen heraus, fuhr zwei<br />

rostige Fahrräder ins Freie, warf die verschlissenen Gartenschläuche,<br />

eine Heugabel, Spaten und Harken zur Seite. Er<br />

fuhr hinein, und dann hob er mit dem Wagenheber das Vorderteil<br />

des Vauxhall an. Schnaufend und schnaubend robbte<br />

er unter dem Wagen hervor, zündete eine Taschenlampe<br />

an. Der Aufsatz auf der Ölwanne, die er beim Blechschmied<br />

Callender in Willersley in Auftrag gegeben hatte, war an Ort<br />

und Stelle, die darangelötete, von unten unsichtbare ehemalige<br />

Kakaodose auch, was er heute morgen noch hatte<br />

überprüfen können, blind tastend, vor dem Grand Hotel.<br />

Er drehte sechs Schrauben ab, danach den Blechdeckel, verschmierte<br />

sich die Hände mit Graphitöl, das er zur Tarnung<br />

drübergestrichen hatte. Dann stand er auf, mit einem Knäuel<br />

Lumpen polierte er das Blech, das einem Schildkrötenpanzer<br />

ähnelte, und endlich ließ sich die Dose öffnen. Er atmete<br />

auf. Es war nichts passiert. Der in mehrere Plastiktüten gewickelte<br />

und mit einem Band verklebte Inhalt hatte die Reise<br />

unbeschadet überstanden.<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 324 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-036-2<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker<br />

13<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Henryk Waniek Der Fall Hermes<br />

14<br />

Photo: Elżbieta Lempp<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Der Vorsitzende des Großen Konsistoriums Hermann Daniel<br />

Hermes wird eines Tages unvermittelt seines Amtes enthoben.<br />

Ohne Begründung und ohne die Möglichkeit Einspruch zu erheben,<br />

auch wenn er dies für den Rest seines Lebens versuchen<br />

wird. Seine Vergehen kommen erst nach seinem Tode ans Licht,<br />

als die höchsten Richter sich seines Falles annehmen: die Engel.<br />

Mithilfe von Unterlagen, die bis zur Geburt des Angeklagten zurückreichen,<br />

aber auch dank modernster Überwachungs- und<br />

Archivierungsmethoden sind sie in der Lage, jede einzelne seiner<br />

Handlungen genau zu durchleuchten. Doch das Urteil der<br />

Engel ist von einer starken Antipathie gegen den Angeklagten<br />

geprägt, die Dokumente sind unvollständig und erlauben keine<br />

eindeutige Interpretation. Die Richter sehen sich gezwungen,<br />

neue Zeugen aufzuspüren, die Lücken zu schließen und sich für<br />

die einzig richtige Version der Wahrheit über Hermes zu entscheiden.<br />

Die Untersuchungen im Fall Hermes haben den Charakter eines<br />

Lustrationsverfahrens und der gesamte<br />

Roman kann als eine Reaktion<br />

auf das heutige Lustrationsmodell,<br />

eine zeitgenössische Variante der<br />

mittelalterlichen Hexenjagd, verstanden werden. Mit all ihren<br />

Verdrehungen der Wahrheit und ihrem Mangel an Objektivität,<br />

der jegliche Zweifel an der Schuld eines Angeklagten einfach<br />

wegwischt. Die scherzhafte Darstellung ändert nichts am Wesen<br />

ihres Sachverhalts: In der eindeutigen Beurteilung menschlicher<br />

Handlungen – so suggeriert Waniek – wird es immer auch<br />

Missbräuche geben.<br />

Die Geschichte spielt in der Zeit vor der französischen Revolution<br />

und dem Aufkommen der antimonarchistischen Bewegung,<br />

die zu tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen führte.<br />

Hermes ist Freimaurer, Antimonarchist und ein Befürworter der<br />

sich anbahnenden Veränderungen, auch wenn er eher im Verborgenen<br />

wirkt. In seinen Ansichten und seinen Handlungen<br />

spiegelt sich die Einstellung zahlreicher „Verschwörer“ jener<br />

Zeit wieder. Darüber hinaus dienen sie dem Autor als Anlass zur<br />

Darstellung der verschiedenen Oppositionsgruppen und ihres<br />

Einflusses auf die Politik – in diesem Falle der preußischen.<br />

Henryk Wanieks Roman verbindet die Vorzüge des historischen<br />

Romans mit denen des politischen Traktats und der metaphysi-<br />

schen Abhandlung. Seine größte Stärke sind die Porträts seiner<br />

Protagonisten, sowohl der irdischen als auch der himmlischen,<br />

die in ihren Schwächen oft überaus „menschlich“ erscheinen.<br />

Auch die Balance zwischen Realismus und Fantastik gelingt ausgezeichnet.<br />

Marta Mizuro<br />

Henryk Waniek (geb. 1942), Maler, Prosaist,<br />

Essayist, Kunstkritiker, Übersetzer und Experte auf<br />

dem Gebiet der Esoterik.<br />

Henryk Waniek Der Fall Hermes<br />

15<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Henryk Waniek Der Fall Hermes<br />

16<br />

ENGEL:<br />

Ich möchte Ihnen allen eine<br />

langatmige Einleitung ersparen<br />

und sie gleich darauf<br />

hinweisen, dass ich mit Ihnen über die Bibliothek sprechen<br />

werde. Und da es sich hierbei um eine vertrauliche Angelegenheit<br />

handelt, bitte ich sie, nichts von dem, was hier gesagt<br />

werden wird, nach außen zu tragen. Ich danke Ihnen<br />

für ihr Kommen und zähle auf Ihre Unterstützung. Über<br />

Bibliotheken weiß ich so gut wie nichts. Selbstverständlich<br />

meine ich damit nicht die Regale, Kataloge und die ganze<br />

tote Ordnung der Bestände. Wie das aussieht, kann ich mir<br />

schon selbst vorstellen. Von Ihnen möchte ich etwas über<br />

die Geheimnisse hören, die sonst nicht in die Öffentlichkeit<br />

dringen, über die nur Eingeweihten vorbehaltene, tiefere<br />

Philosophie dieser bibliografischen Schatzkammern. Und da<br />

Herr Graf bereits die Augen geöffnet haben, frage ich Sie einfach<br />

zuerst. Über die Bedeutung der Bibliothek müssen Sie<br />

mir nichts erzählen. Es ist allgemein bekannt, dass sich dort<br />

die weltweit größte Sammlung von Hymnen befand. Warum<br />

eigentlich gerade Hymnen?<br />

GRAF:<br />

Entschuldigen Sie, dass ich so undeutlich spreche. Die Kälte<br />

macht meinem Unterkiefer irgendwie zu schaffen. Sehen<br />

Sie nur, wie er zittert. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen<br />

soll. Das alles ist schon so lange her und so verworren. Vor<br />

allem weil es mit so großen Kosten, Anstrengungen und Befürchtungen<br />

verbunden war. Eine Bibliothek bedeutet eine<br />

große Verantwortung. Des Nachts träumte ich von Feuersbrünsten;<br />

von Holzwürmern, monströsen Nagekäfern, die<br />

als Anobium punctatum bekannt sind und die sich durch<br />

die Seiten von Büchern fressen; von gemeinen Diebstählen<br />

der wertvollen Exemplare; von dreisten Fälschungen.<br />

Ich denke nur ungern daran zurück, aber für Sie, Herr Rat,<br />

mache ich selbstverständlich eine Ausnahme. Das Sammeln<br />

von Gesangbüchern – und anderen Büchern, über die ich<br />

später noch sprechen werde – ist eine Familientradition, die<br />

auf meinen Großvater zurückgeht. Heutzutage denkt jeder,<br />

Hymnen seien nichts weiter als Lieder für den gemeinen Pöbel.<br />

Vergessen sind die seligen Zeiten, als man in den Salons<br />

und den Gotteshäusern, auf den Exerzierplätzen und den<br />

Schlachtfeldern sang, im reinen Bestreben, die Herzen der<br />

Menschen und mit ihnen die ganze Welt zu läutern. Bereits<br />

zu Lebzeiten meines Vaters nahm das Unheil seinen Lauf.<br />

Der Kitsch griff um sich, eine Flut von Fälschungen raubte<br />

der Hymne ihre ursprüngliche Reinheit. Zuvor hätte niemand<br />

etwas Derartiges gewagt. Eine Hymne war etwas Heiliges!<br />

Ein römischer Soldat wäre lieber gestorben, als auch<br />

nur ein Wort seines Legionsliedes zu verändern. Der Gesang<br />

entschied über den Ausgang der Schlacht – über Sieg oder<br />

Niederlage. Zahlreiche entsprechende Hinweise finden sich<br />

bei Thukydides, noch mehr bei Sueton. Hätten die Klöster<br />

nicht damit begonnen, ihre Possen mit den Hymnen zu treiben,<br />

lägen nicht so viele von ihnen heute in Trümmern. Das<br />

Gleiche gilt für die so schmählich untergegangenen Staatswesen.<br />

Und je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde<br />

es. Die Hymne wurde in den Schmutz billiger Tanzbuden<br />

herabgezogen. Jeder erstbeste Zirkus brauchte seine Hymne.<br />

Und zur Zeit der Aufklärung erreichte der Skandal seinen<br />

Höhepunkt. Zu den traditionellen Melodien wurden jetzt<br />

moderne, rationalistische Texte verfasst. Irgendwo in Böhmen<br />

entstand eine geheime Hymenwerkstatt. Schleichhändler<br />

verkauften ihre Erzeugnisse zum halben Preis. Natürlich<br />

waren sie ohne jeden Wert. Die Leute sangen sich die Lunge<br />

aus dem Hals, doch es half nichts. Kein Heldenmut, keine<br />

göttliche Gnade und noch nicht einmal ein wenig Hoffnung.<br />

In dieser Welt sollte meine Bibliothek zu einer Arche Noah<br />

werden, einer Festung gegen den Ansturm der Barbarei.<br />

ENGEL:<br />

Und alle Falschheit sollte an Ihrer Bibliothek zerschellen!<br />

GRAF:<br />

Bereits in jungen Jahren betrachtete ich die Rettung der<br />

Hymne als meine Lebensaufgabe. Als ich mit zehn Jahren in<br />

die Schule kam, verfügte ich auf diesem Gebiet bereits über<br />

ein beträchtliches Wissen. Mit Entsetzen musste ich feststellen,<br />

dass alle meine Mitschüler und auch die meisten meiner<br />

Lehrer Gesangbücher von zweifelhaftem Wert verwendeten,<br />

sodass alles Lernen im Grunde für die Katz war. Als ich meinem<br />

Vater davon berichtete, nahm er mich aus der Schule<br />

und vertraute meine weitere Ausbildung dem Kaplan Mayer<br />

an. Dieser Mann besaß das außergewöhnliche Talent, in<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Sekundenschnelle zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden.<br />

Und eben diese Fähigkeit lehrte er mich, bis ich<br />

ein gewisses Alter erreichte. Dann öffnete er einen Schrank,<br />

den er bis dahin immer vor mir verschlossen gehalten hatte.<br />

Der Schlüssel allein reichte nicht, man musste auch die Zauberformel<br />

kennen: Makbenak. Er sprach sie, die Scharniere<br />

knarrten und was gab es dort nicht alles zu sehen! Und alles<br />

in tadellosem Zustand! Das Beste, was der menschliche Geist<br />

seit Entstehung der Welt hervorgebracht hatte. Die größten<br />

Schätze der Hymnologie. Mit der Zeit wies mich mein Lehrer<br />

in ihre Geheimnisse ein. Nach und nach erschlossen sich<br />

mir die Arkana des göttlichen Klangs.<br />

ENGEL:<br />

Ich habe gehört, dass sich dem Singenden manchmal die<br />

ganze unermessliche Macht der Hymne offenbart, die seinen<br />

Geist erleuchtet und ihn die Geheimnisse des Lebens schauen<br />

lässt. Ich habe auch gehört, dass der Hymne eine Kraft<br />

innewohnt, die, richtig angewandt, die Mauern belagerter<br />

Städte zum Einsturz bringt und die Herzen der Menschen<br />

entflammt. Sie haben vorhin von der Entstehung der Welt<br />

gesprochen, Herr Graf. Ich würde gerne wissen, was sie von<br />

der Legende halten, der Schöpfer habe weiter nichts getan,<br />

als nacheinander sieben Hymnen zu singen. Halten Sie es für<br />

möglich, dass, wie die Hymnologen behaupten, das Universum<br />

allein durch Gesang entstanden sein könnte?<br />

GRAF:<br />

Indem Sie diese alte Überlieferung als Legende bezeichnen,<br />

schmälern Sie eine wichtige Wahrheit und treffen doch<br />

gleichzeitig auch den Kern der Sache. Ganze vier dieser sieben<br />

Legenden befanden sich im Besitz unserer Bibliothek.<br />

Mein Vater hatte sie von einem levantinischen Händler erworben.<br />

Dieser wiederum hatte sie ebenjenem Kloster abgekauft,<br />

in dem Salomon selbst sie einst niedergelegt hatte.<br />

ENGEL:<br />

Genau das wollte ich von Ihnen hören. Nichts anderes habe<br />

ich erwartet.<br />

Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

Cracow 2007<br />

123 × 197 • 334 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-08-04090-4<br />

Translation rights:<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

Henryk Waniek Der Fall Hermes<br />

17<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Eustachy Rylski Die Insel<br />

18<br />

Photo: Świat Książki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die Stärke und die Zierde von Rylskis Schaffen liegt bekanntlich<br />

in der Gestaltung der Haupthelden (wenngleich es auch<br />

den Nebenfiguren an nichts mangelt). In allen vier Erzählungen<br />

des Bandes Die Insel finden wir untadelige Beispiele dafür. Wir<br />

begegnen gewöhnlichen wie außergewöhnlichen Gestalten: einem<br />

unglücklichen Buchhalter, einem sterbenden Großschriftsteller<br />

in der Emigration, der entfernt an Gombrowicz erinnert,<br />

einem Provinz-Gänschen, sowie einem Opfer einer Urlaubsromanze,<br />

einem herausragendem, rebellischem Geistlichen und<br />

Playboy, dem – zumindest bis zu einem bestimmten Augenblick<br />

– eine Karriere in Vatikan winkt (in der titelgebenden Erzählung).<br />

Jeder dieser Helden ist ungeachtet seiner sozialen Herkunft<br />

oder seiner geistig-moralischen Qualitäten ein, um den Titel<br />

eines Romans von Rylski zu benutzen, „Mensch im Schatten“,<br />

eine gebrochene Gestalt, düster, aller Illusionen beraubt, ein<br />

definitiver Verlierer. Das soll aber<br />

nicht heißen, daß Rylski bei der Gestaltung<br />

der Personen schematisch<br />

verfährt; so ist es nicht.<br />

Man beachte den sorgfältig durchdachten<br />

Aufbau des Bandes. Alle<br />

vier Erzählungen spielen am Meer: die erste und dritte an der<br />

Ostsee, die zweite und vierte am Mittelmeer (im Süden Frankreichs<br />

und auf der titelgebenden Insel vor der Nordküste Afrikas).<br />

In der ersten und dritten Erzählung ringen die Helden mit<br />

Gebilden ihrer eigenen Einbildung, in der zweiten und vierten<br />

haben wir es mit dem klassischen Verhältnis zu tun, das heißt<br />

mit einem Duell der Antagonisten. Die Helden von zwei Erzählungen<br />

sterben unter hochbedeutsamen, metaphorisch ausgedrückten<br />

Umständen, in den beiden anderen kommt es zu einem<br />

geheimnisvollen Rollentausch.<br />

Rylski verführt einerseits durch deftige Handlungsmotive voller<br />

Überraschungen, mit fein dosierter Spannung und meisterhaft<br />

eingesetzten Täuschungsmanövern, und andererseits arrangiert<br />

er fesselnde Debatten, in denen es hart auf hart geht. Er möchte,<br />

daß wir sowohl seinen Einfallsreichtum beim Erfinden der<br />

Fabel als auch sein – wenn man so sagen darf – dramaturgisches<br />

Talent. Daß in den Erzählungen, die sich auf den Dialog<br />

stützen, die Handlung nicht zu kurz kommt, versteht sich von<br />

selbst. Das jüngste Buch von Eustachy Rylski ist in jeder Hinsicht<br />

gelungen.<br />

Dariusz Nowacki<br />

Eustachy Rylski (geb. 1944), Schriftsteller,<br />

Theater- und Drehbuchautor. Nach langem<br />

Schweigen veröffentlichte er 2004 wieder einen<br />

Roman.<br />

Eustachy Rylski Die Insel<br />

19<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Eustachy Rylski Die Insel<br />

20<br />

Vom<br />

Leben eingeschüchtert, beschloß die<br />

Friseurpraktikantin aus Wągrowiec, etwas<br />

träge vom Schlaf, von der Süße und<br />

der ersten Jugend, gemeinsam mit ihrer Freundin, übrigens<br />

auf deren Zureden, den Urlaub in einem der modischen<br />

Orte am Meer zu verbringen.<br />

Der Kurort entsprach ihren Vorstellungen von der großen<br />

Welt, und als ein Mann von Welt erwies sich auch Sylwek,<br />

ein gut aussehender Mann von dreißig, der den Duft von<br />

Erfolg, Geld, Selbstsicherheit und Eau de Cologne Paco Rabanne<br />

um sich verbreitete.<br />

Sylwek und sein Kumpel Kapiszon waren Könige des Lebens.<br />

Markenklamotten, gute Zigaretten, teure alkoholische<br />

Getränke, Armbänder an den Handgelenken und das jeweils<br />

passende Dope.<br />

Monika war beeindruckt von den Jungs und der Welt, die<br />

sie vor ihr ausbreiteten, so daß sie sich, irgendwo am Strand<br />

angesprochen, ohne spezielle Absicht, ja sogar ohne Überzeugung,<br />

sehr wahrscheinlich in einem Augenblick der Langeweile<br />

oder des gedankenlosen Übermuts voll Leidenschaft<br />

der Urlaubsromanze hingab.<br />

Sie war allzu begierig aufs Glück, als daß die ostentative<br />

Straflosigkeit, mit der die jungen Männer und ihre Kumpane<br />

das Leben genossen, sie auch nur im geringsten verlockt<br />

hätte. Kneipenschlägereien, bravouröse Pirouetten auf den<br />

Waverunnern, ein riskantes Hasardspiel vor der Eröffnung<br />

des Kasinos, das schon verfaulte, ehe es reif war, nächtliche<br />

Fahrten durch die engen Straßen der erschrockenen Stadt,<br />

schließlich die zotige Vorstadtsprache, die wie eine vergiftete<br />

Quelle durch die dünne Oberfläche vorgetäuschter Korrektheit<br />

drang – das alles hielt das Mädchen nicht davon ab, sich<br />

verzaubern zu lassen.<br />

Im Gegenteil: Je ungestümer dieses Leben verlief – und das<br />

war von Tag zu Tag mehr der Fall –, desto größer wurde Monikas<br />

Appetit darauf. Es ließ sich nicht verhehlen: Das Mädchen<br />

war zu jung, dumm und unempfindlich, um in ihrer<br />

Faszination durch einen Hauch Nachdenklichkeit stören zu<br />

lassen. Umso mehr als sie selbst an Glanz gewann und sich<br />

aus einer grauen Maus in eine verliebte Frau verwandelte, die<br />

sich ihrer Reize bewußt wurde.<br />

An Glanz gewann auch der Kurort, der in den Augen des<br />

Mädchens zu Hollywood, Monaco, San Remo wurde, Orten,<br />

die sie bisher nur aus den Klatschspalten von Illustrierten<br />

kannte.<br />

Als deren Heldin fühlte sie sich ein wenig.<br />

Doch der Urlaub ging zu Ende, ehe er richtig auf Touren<br />

gekommen war, wie es einem mit allen Annehmlichkeiten<br />

ergeht.<br />

Die Verliebten gingen auseinander. Monika fuhr nach<br />

Wągrowiec, Sylwek natürlich nach Warschau.<br />

Sie versprachen einander, sich regelmäßig zu schreiben<br />

und so oft wie möglich zu besuchen. Monika kehrte nicht<br />

mehr an ihre Arbeitsstätte zurück, denn man kehrt nicht aus<br />

dem Paradies in einen provinziellen Friseursalon und von<br />

einem Märchenprinzen zu langweiligen Kundinnen zurück,<br />

die nicht wußten, was Lust ist. Worüber hätte sie auch mit<br />

ihnen sprechen sollen? Und Gespräche waren doch das Wesen<br />

und der Kern ihrer Arbeit.<br />

Sie hatte vor, sich nach etwas Passenderem umzusehen.<br />

Derweil verflog ihr die Zeit mit Träumen und Briefen. Von<br />

Chips und Coca-Cola wurde sie mächtig dick, und vom<br />

Zanken mit den Eltern nahm sie Schaden.<br />

Bisher nach außen hin unsicher, vorsichtig und zurückgezogen,<br />

kompensierte sie dies durch ein größeres Maß<br />

häuslicher Unabhängigkeit, als es dem Status eines unselbständigen<br />

Kindes entsprach. Jetzt vertieften sich die Abhängigkeiten,<br />

schon aus Mangel an Arbeit, doch die Autonomie,<br />

die sich sich willkürlich zuerkannt hatte, entartete durch ihre<br />

Dreistigkeit.<br />

Damit verletzte sie die Eltern, ohne Rücksicht auf die Umstände.<br />

Die Eltern, bisher stets offen und von nicht nachlassender<br />

Geduld, verschlossen sich in einem Schweigen, das Monika<br />

bald aus Langeweile, bald aus einer sich selbst steigernden<br />

Wut brutal brach. Nicht ohne Erfolg, wenn Roheit auf die<br />

Wehrlosigkeit einfacher, fleißiger, verantwortungsbewußter<br />

Leute trifft, die, über die Zeiten verwundert und von ihnen<br />

unabhängig, zu Gefühlen bereit sind.<br />

Was nun die Korrespondenz betraf, so war sie ganz einseitig.<br />

Auf ihre immer ungeduldiger werdenden Briefe erhielt<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Monika keine Antwort.<br />

An manchen Tagen dachte sie an Selbstmord, an anderen<br />

heiterten die Urlaubserinnerungen ihre Seele auf, aber das<br />

eine wie das andere ergoß sich durch denselben Bach fieberhafter<br />

Euphorie, so als führten Gedanken an den Tod wie<br />

solche an das Leben zu demselben Ziel.<br />

Hin und wieder – meistens am Telefon – sprach sie über<br />

ihren Zustand mit ihrer Freundin Ewa, die in ihren Hoffnungen<br />

mehr Mäßigung bewies, nicht ihre Arbeit aufgab,<br />

ihre Urlaubsromanze mit Kapiszon gegen ein intimes Verhältnis<br />

mit einem wohlhabenden verheirateten Mann vertauschte<br />

und es sich gut gehen ließ.<br />

Zwei Monate gingen dahin. Die Tage wurden grau und<br />

kurz. Schlimmere Gedanken häuften sich, bessere wurden<br />

rar. Die Freundin redete Monika zu, etwas zu unternehmen.<br />

Sie sollte der Ungewißheit ein Ende machen. Sie schadet<br />

dem Leben. Entweder kann sie sich sagen, es ist aus und<br />

vorbei, oder sie soll, wenn sie das nicht kann, Konsequenzen<br />

daraus ziehen.<br />

Auf Monikas Frage hin, worin diese Konsequenzen bestehen<br />

sollten, wurde Ewa von sich aus aktiv. Mit einiger Mühe<br />

machte sie den Freund von Sylwek ausfindig, und nachdem<br />

sie Monika ein bißchen im ungewissen gelassen hatte, teilte<br />

sie ihr die Adresse ihres schon vergessenen sommerlichen<br />

Liebhabers mit.<br />

Es fiel Monika nicht leicht, aber nach Allerseelen machte<br />

sie sich zurecht, hob die Ersparnisse vom Konto der Eltern<br />

ab, stieg in den Zug und fuhr nach Warschau.<br />

Kapiszon traf sich mit ihr in einem Klub, der an ein Rattenloch<br />

erinnerte und im übrigen auch nicht viel größer war,<br />

erfüllt von den Spasmen psychedelischer Musik.<br />

Dort hing ein Haufen schrecklicher junger Leute herum,<br />

die in einer schrecklichen Sprache über schreckliche Dinge<br />

sprachen, aber am allerschrecklichsten fand Monika Kapiszon<br />

mit seiner unverhohlenen Hoffnung, sie zu ficken, irgendwo,<br />

an der Bar, in der Toilette, im Auto, auf der Straße.<br />

Er hielt sie hin, beschwindelte sie, machte sich über sie<br />

lustig, bestellte immer wieder ein neues Bier, antwortete<br />

nicht auf ihre Fragen oder teilte ihr ungebeten etwas mit,<br />

aber nach zwei Stunden dieser Quälerei, die Monika wie eine<br />

Ewigkeit vorkamen, ließ er nach, wurde weich, setzte aus,<br />

diktierte ihr eine Adresse und verschwand.<br />

Aus dem Polnischen von Friedrich Griese<br />

Świat Książki<br />

Warsaw 2007<br />

130 × 210 • 240 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-247-0558-0<br />

Translation rights:<br />

Bertelsmann Media<br />

Eustachy Rylski Die Insel<br />

21<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


<strong>Andrzej</strong> Bobkowski Dämmerung<br />

22<br />

Photo: Institut Littéraire<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


<strong>Andrzej</strong> Bobkowski nimmt als Schüler von Joseph Conrad<br />

in der polnischen Literatur eine Sonderstellung ein. Józef Czapski<br />

schrieb in der „Kultura“ nach dem verfrühten Tod des Autors<br />

von Wehmut? Wonach zum Teufel?: „Dieser Sohn Conrads könnte<br />

sich als unentbehrlicher Begleiter für so manchen Polen erweisen,<br />

der von Abenteuern träumt, von einem Leben ohne Zensur<br />

und ohne Verrenkungen auf Geheiß einer morschen Ideologie,<br />

von einem Leben nach eigener Wahl, selbstverantwortlich und<br />

erfüllt“.<br />

So kam es auch, und man kann höchstens bedauern, daß die<br />

Entdeckung Bobkowskis durch die jungen Polen so spät erfolgte<br />

(an der Wende der achtziger und neunziger Jahre des vorigen<br />

Jahrhunderts) und daß eigentlich nur eine Generation daran<br />

teilhatte. Die soeben erschienene Ausgabe gesammelter Prosa<br />

mit dem Titel Dämmerung könnte eine gute Einführung in das<br />

literarische Werk Bobkowskis darstellen, dessen wichtigste<br />

Errungenschaft natürlich Wehmut? Wonach, zum Teufel? bleibt.<br />

In Dämmerung finden wir jedoch<br />

Erzählungen, die direkt mit diesem<br />

Werk korrespondieren: ein kollektives<br />

Porträt der Bewohner eines<br />

Pariser Wohnhauses, das die französischen<br />

nationalen Veränderungen<br />

in den Kriegsjahren zeigt, und natürlich eine Radtour durch<br />

Südfrankreich gleich nach dem Krieg.<br />

Ein besonderer Leckerbissen für Literaturfreunde ist auch das<br />

Gespräch Boris Pasternaks mit einem KGB-Beamten, der ihn<br />

zwingt, den Nobelpreis abzulehnen. Über einen solchen Pakt<br />

mit dem Teufel erzählt Bobkowski auch an anderer Stelle, wenn<br />

er sich direkt an die Schriftsteller von jenseits des Eisernen Vorhanges<br />

wendet: „Ihr habt in Ruhe gelebt, ihr hattet ein Heim,<br />

einen gut gefüllten Kühlschrank, einen Garten; ihr hattet euer<br />

eigenes Klima und eure Landschaft, euren Boden, eure Bäume<br />

und euren Himmel und gleichzeitig euren eigenen Kontinent im<br />

Inneren, in den ihr emigrieren konntet, wenn euch danach war.“<br />

In diesem Band finden wir auch ein Fragment des Romans Die<br />

Dämmerung, der darin, mehr noch als sonst, seinen ganzen Individualismus,<br />

seine schöpferische Andersartigkeit und Ausnahmestellung<br />

unter Beweis stellte.<br />

Krzysztof Masłoń<br />

<strong>Andrzej</strong> Bobkowski (1917-1961), Autor<br />

von Wehmut? Wonach zum Teufel?, das als „Hymne<br />

an die Freiheit und das Individuum“ gilt.<br />

<strong>Andrzej</strong> Bobkowski Dämmerung<br />

23<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


<strong>Andrzej</strong> Bobkowski Dämmerung<br />

24<br />

Man<br />

gelangt von einem großen Hof über eine<br />

Seitentreppe hierher. Dort, geradeaus, sind<br />

diese breiten Steine mit dem himmelblauen<br />

Teppich, der wie eine Kaskade vom fünften Stock herabfällt.<br />

Unsere Treppe ist ein hölzerner sechsstöckiger Korkenzieher.<br />

Jene führt zu den großen, soliden Wohnungen richtiger Mieter.<br />

Unsere windet sich steil empor, bis unters Dach, wo sie<br />

zum Labyrinth der Korridore und Kammern „derjenigen von<br />

oben“ führt, wie die Concierge sich abfällig ausdrückt.<br />

Jacques, ein lebhafter Mitarbeiter der Metro, sagte ihr einmal,<br />

wenn er von oben hinunterspucke, überflute das ihre<br />

Schwelle. Das kann sie ihm nicht verzeihen. Und wenn sie<br />

am Morgen den mit Kacheln ausgelegten Hof abspritzt, fragt<br />

M. de Saint-Esprit, ein Staatsbeamter, stets mit freundlichem<br />

Lächeln: Ca pousse bien? Das polnische Zimmermädchen<br />

des Grafen de Farges ist zu vornehm, um sich mit der Hausmeisterin<br />

zu unterhalten; das schickt sich für Magda nicht,<br />

die sie Mademoissele Madeleine nennen. Nicht zu reden davon,<br />

daß Magda die Comtesse de Farge, wenn diese verreist,<br />

in allem vertritt und mit M. le Comte angeblich nicht nur<br />

am selben Tisch ißt... Das weiße Hündchen mit verschiedenfarbigen<br />

Flecken von M. Guillou, von Beruf Färber von<br />

Heidekraut, Immortellen und anderen ewigen Blumen für<br />

haltbare Kränze und Kaminsimse, macht vor das Tor immer<br />

das, was es auf der Straße machen sollte. Die Concierge verdächtigt<br />

die beiden einer Verschwörung, doch M. Guillou<br />

lächelt bloß und sagt gedehnt unter seinem bretonischen<br />

Schnurrbart: Quelle méchante bête. Wenn er das sagt, denkt<br />

er gewiß nicht an seinen „Friquet“. Mit Eliane, einem Modell<br />

vom Modehaus „Ardanse“, sind die Beziehungen seit Jahren<br />

abgebrochen; Eliane unternahm einen Staatsstreich: sie holt<br />

keine Briefe mehr ab. Um der Zensur ihrer Korrespondenz<br />

zu entgehen, der man entnehmen könnte, daß das Vorführen<br />

von Kleidern bei Modeschauen bei „Ardanse“ nicht die<br />

einzige Quelle ihrer Einkünfte darstellt, holt sie ihre Briefe<br />

poste-restante ab. Daher kann man oft hören, wie die wachsame<br />

Madame la concierge im Bistro an der Ecke quäkt: „Sie<br />

ist heute nachmittag nach Hause gekommen, ohne daß sie<br />

am Morgen weggegangen wäre“, oder: „Solche erheben sich<br />

vom Bett, wenn sie sich ausruhen wollen.“ Es ist ein ewiger<br />

Krieg. Doch die Angriffe begegnen bloß Elianes Lächeln,<br />

unserem Lächeln von oben.<br />

Dort oben gibt es kein Gas, keine Elektrizität. Es gibt<br />

den Wind, die Sonne, den Mond und die Sterne. Der Blick<br />

schweift über das endlose Meer der Dächer. Wenn schönes<br />

Wetter herrscht, sind sie blau und ruhig; wenn Wolken aufziehen<br />

und der Wind mit gewaltigen Schlägen auf sie einzuhämmern<br />

beginnt, werden sie grau und kalt. Der Regen<br />

runzelt ihre glatte Oberfläche, und der Sturm treibt von<br />

ihren Kämmen, wie von Wellenkämmen, Wasserwolken,<br />

um sie mit Krachen gegen die verglasten Luken über uns<br />

zu schleudern. Das Spinnennetz des fernen Eiffelturms reißt<br />

in Stücke, Sacre-Cœur, weiß wie ein Zuckerhut, verschwindet<br />

im Nebel. Der Wind rüttelt an den Türen, tappt durch<br />

die Korridore; die reglosen, schwarzen Abdeckbleche der<br />

Schornsteine recken ihm in ruckartigen Drehungen ihre eiserne<br />

Brüste entgegen. Wenn dann wieder die Sonne scheint,<br />

wenn die blauen Flecken des Himmels sich in den glänzenden<br />

Flächen spiegeln, entsteht eine tiefe, gute Stille.<br />

Auch das Frühjahr kommt hierher oben rascher. Ehe noch<br />

die Schaufenster von Vilmorin auf dem Quai de Mégisserie<br />

in farbigen Samensäckchen erblühen und das „Samaritaine“<br />

sich in ein riesiges Arsenal von Gießkannen, Rechen und Käfigen<br />

mit Geflügel verwandelt; ehe auf dem Pont au Change<br />

zweimal die Woche Baumschulen ausschlagen und auf den<br />

Gehsteigen eine grüne Bürste von Gemüse- und Blumensetzlingen<br />

aufgeht, spüren wir schon sein Nahen. Von Tag<br />

zu Tag krümmt sich der Bogen der Sonne stärker, eine verschlafene<br />

Fliege rutscht in ersten Ausflügen über die Scheibe.<br />

Das Tschilpen der Spatzen klingt anders, wenn sie in den<br />

Dachrinnen baden, im Wasser geschmolzenen Raureifs.<br />

Hier vergingen helle Tage und ruhige Nächte; hier vergingen<br />

Winter und kurze Frühlinge. Die Sommersonne walzte<br />

das Blech der Dächer heiß und kühlte es im Herbst wieder<br />

ab. Die Neonlichter vom Montmartre, von den Boulevards<br />

und vom Montparnasse färbten die Dächer lange Zeit rosa.<br />

Jahr für Jahr zerstoben einundzwanzig Salven künstlichen<br />

Feuers über ihnen, in Vierzehnter-Juli-Buketts, von jenem<br />

Krieg. Dann brach neuerlich Finsternis herein, erleuchtet<br />

von den Fackeln von Bränden, von fernen Explosionen, vom<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Sternenhagel von Leuchtspurgeschoßen. Das einst gutmütige<br />

Lächeln von oben wurde bösartig und konspirativ.<br />

An den langen Abenden las M. Guillou das Evangelium auf<br />

Lateinisch noch lauter, wobei er die unverständlichen Worte<br />

schlecht aussprach. Bei den Prozessionen seiner Kongregation<br />

bewunderten seine Glaubensgenossen sein Latein noch<br />

mehr als die schöne Fahne, auf die er immer so stolz war.<br />

Er lief nun in irgendwelche geheimnisvolle Versammlungen<br />

und beriet sich lange mit Jacques. M. de Saint-Esprit wurde<br />

wortkarg und ging oft mit einer Aktentasche, vollgestopft<br />

mit allerlei Papieren, zur Arbeit. Bei Jacques versammelten<br />

sich junge Leute in Windjacken, die mit schweren Stiefeln<br />

über die Treppe polterten. Eliane las die uferlosen Werke<br />

Vom Winde verweht und Der große Regen, und wenn die Sirenen<br />

zu heulen begannen, lief sie mit Magda nach unten.<br />

Im tiefen Hof der Metrostation „Pigalle“ ging es oft fröhlich<br />

zu. Manchmal sah man dort spät abends die schlanke<br />

Silhouette eines großgewachsenen Jünglings in brandneuer,<br />

schlecht sitzender Kleidung über die große Treppe huschen.<br />

Magda sagte, sie habe einmal gehört, wie sich jemand mit einem<br />

von ihnen englisch unterhielt. Wir lächelten und Jacques<br />

sagte: „Dort unten gibt es auch anständige Leute.“ Die<br />

Sprache war die gleiche, der gleiche der Sinn der verbotenen<br />

Worte.<br />

Und dann wurde das Lächeln wieder gutmütig wie zuvor,<br />

als nach einigen Tagen des Schießens eines Augustabends<br />

die Motoren von GMCs durch alle Straßen heulten. M. de<br />

Saint-Esprit sah verächtlich auf seine Plantage paketierten<br />

Tabaks auf dem Balkon und rauchte, über die Trikolore gebeugt,<br />

eine „Lucky“, Eliane und Magda kauten Kaugummi,<br />

so wie Hunderttausende langer, grüner Burschen mit schweren<br />

Helmen, und sagten „ok“. Jacques erzählte mit dem<br />

Pathos eines Cyrano von seinen Kämpfen im Viertel Batignolles,<br />

und M. Guillou färbte konzentriert viele Blumen<br />

für viele Kränze. Ein gutes Lächeln aber hatten alle, sogar<br />

die Concierge.<br />

Aus dem Polnischen von Martin Pollack<br />

Biblioteka Więzi<br />

Warsaw 2007<br />

125 × 199 • 111 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-603-5630-2<br />

Translation rights:<br />

Institut Littéraire Kultura<br />

<strong>Andrzej</strong> Bobkowski Dämmerung<br />

25<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben<br />

26<br />

Photo: Olga Majrowska<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Seit dem Jahr 1994 publiziert Jerzy Pilch in etwa zweijährigen<br />

Abständen in Buchform seine ausgewählten Kolumnen und<br />

Feuilletons, die ursprünglich in Tageszeitungen und Magazinen<br />

erschienen waren. Der neueste Band Der Zug ins ewige Leben<br />

versammelt Texte, die in den Jahren 2002 bis 2006 erschienen<br />

sind. In der Verlagsinformation wurde angemerkt, dass der<br />

Autor absichtlich die Kolumnen über Fußball und Literatur ausgelassen<br />

hatte – zwei Phänomene, die für ihn von besonderer<br />

Wichtigkeit sind. Diese Texte sollen in einem extra Band publiziert<br />

werden.<br />

Im Zug ins ewige Leben kann man zwei dominierende Themen<br />

ausmachen. Das erste sind, sehr weit verstandene, gesellschaftliche<br />

Angelegenheiten; in diesen Texten geht es um die<br />

gegenwärtige polnische Politik und vor allem um die Parteienlandschaft<br />

– hier zeigt sich Pilch als<br />

ironischer Betrachter und bissiger<br />

Kommentator. Diese Art seiner feuilletonistischen<br />

Leidenschaft könnte<br />

man unelegant als ein schamloses<br />

Ausweiden der Fauxpas, Fehltritte und schlichter Dummheiten<br />

der politischen Klasse bezeichnen.<br />

Der zweite — und wohl wichtigere — dominierende Gegenstand<br />

sind im gewissen Sinne private Angelegenheiten, meist in<br />

einem erinnernd-nostalgischen Duktus wiedergegeben.<br />

Hier spricht Pilch am meisten über sein Befinden, über seine<br />

Lektüre, über kulturelle Ereignisse, die ihn beeindruckt hatten,<br />

über Begegnungen mit faszinierenden Menschen, die wichtig für<br />

ihn waren, über Dinge, die ihn als Privatmenschen bewegen.<br />

Jerzy Pilch gilt als ein unerreichter Meister der gegenwärtigen<br />

polnischen Feuilletonistik, ein scharfsinniger Autor, der mit<br />

feinem, raffinierten Witz von den Begebenheiten unserer Zeit<br />

berichtet. Die Texte, die im Band Der Zug ins ewige Leben versammelt<br />

sind, beweisen wieder einmal, dass dieser Autor den<br />

Meistertitel uneingeschränkt verdient.<br />

Dariusz Nowacki<br />

Jerzy Pilch (geb. 1952), Prosaiker und<br />

Publizist, Träger des Literaturpreises Nike (2001);<br />

veröffentlichte mehrere Bände mit erzählender<br />

und diskursiver Prosa.<br />

Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben<br />

27<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben<br />

28<br />

Ein<br />

weiteres Anzeichen des sich im polnischen Lande<br />

verbreitenden Gesundheits-Faschismus ist<br />

– das sich mit riesigen Schritten nähernde und<br />

mit Triumph in den Medien angekündigte – völlige Rauchverbot<br />

in den InterCity-Zügen. Aus den diesbezüglichen<br />

Fahrgast-Umfragen der polnischen Bahn PKP geht hervor,<br />

dass sich achtzig Prozent der Reisegäste für ein solches Verbot<br />

aussprechen.<br />

Für die Raucher ist es eine enorme Ehre, dass sie in dieser<br />

erbärmlichen Epoche des gesunden, und folglich ewigen<br />

Lebens, eine zwanzigprozentige Unterstützung erhalten haben.<br />

Nichtdestotrotz hat die gesunde Mehrheit einen niederschmetternden<br />

Vorsprung über der kranken Minderheit<br />

gewonnen. Die Nikotinsucht ist, wie allgemein bekannt,<br />

eine Krankheit, jedoch eine zweideutige, eine selbstverschuldete,<br />

eine exzentrische Krankheit; eine zwar im traditionellen<br />

Sinne des Wortes nicht ansteckende, und dennoch im<br />

wesentlichen Sinne viel schlimmere Krankheit! Der Qualm<br />

und der Gestank, die vom Raucher in die Umgebung entweichen,<br />

vergiften höchst effektiv alle in seiner Nähe. Mit<br />

einem Wort: es ist keine Krankheit, derer Opfer irgendeine<br />

Chance hätten, die Vorteile beziehungsweise den Status von<br />

Behinderten zu genießen. Im Gegenteil: der natürliche Raum<br />

des Rauchers wird überall immer mehr begrenzt, und in der<br />

Folge zerstört. Raucherzimmer nach alter Tradition wurden<br />

schon vor langer Zeit dem Erdboden gleich gemacht; und<br />

auch das, was es noch gibt, diese demütigenden „Raucherecken“,<br />

auch diese Orte, irgendwo in der Nähe der Aborte<br />

angesiedelt, verschwinden nach und nach.<br />

Wenn aus den InterCitys die Raucherabteile verschwunden<br />

sind, wird bei uns endlich die gelobte Gesundheits-<br />

Gleichschaltung Einzug halten. Ich werde mich in den Zug,<br />

von, sagen wir mal, Warschau nach Breslau setzen, und über<br />

fünf Stunden lang werde ich nicht qualmen, werde meinen<br />

mitfahrenden Nächsten nicht dem passiven Rauchen aussetzen<br />

– diesen gut gebauten netten Mann neben mir, der<br />

sich während der langen Reise mit gesundem Schmalzbrot<br />

und einem nach kräftigender ländlicher Wurst riechenden<br />

Brötchen stärken wird, der den Boden mit Schalen seiner<br />

hart gekochten Eier vollsauen wird, der mit der Glasur seiner<br />

Berliner Pfannkuchen die Sitzbezüge voll schmieren wird.<br />

Ich werde angesichts all dessen still und ruhig sitzen und mir<br />

sagen: Es ist ja nichts, passives Essen schadet doch niemandem,<br />

bisher haben ja die amerikanischen Wissenschaftler<br />

nichts darüber gesagt, und der psychische Druck, der zählt<br />

ja nicht, es ist alles gut, alles in Ordnung.<br />

Vielleicht werde ich aus Sehnsucht nach einer Kippe die<br />

Nase hochziehen, und mein nichtrauchender, vor Gesundheit<br />

strotzender, vor Empathie geradezu explodierender Mitreisender<br />

wird mir eine Knoblauchzehe anbieten, „Das ist<br />

doch das Beste gegen Schnupfen!“, wird er freundlich sagen,<br />

und wenn ich ablehne, wird er sich, „rein vorbeugend“, zwei<br />

davon genehmigen.<br />

Nachdem er dann seine Stärkung mit lebensspendender<br />

Fanta hinunter gespült, herzlich gerülpst, sich in den Zähnen<br />

gepolkt hat, wird er sich zur Ruhe betten wollen; er wird<br />

seine Schuhe ausziehen und seine Beine zur Entspannungszwecken<br />

auf den gegenüber liegenden Sitz legen – und dann<br />

könnte es geschehen (ich will niemandem etwas vormachen),<br />

dass ich einen Nervenzusammenbruch bekomme. Ich<br />

werde abwarten, bis er die Augen geschlossen hat, und mich<br />

dann verstohlen davon schleichen, in den Toilettenraum,<br />

und dort werde ich mein Zigarettenpäckchen hervorholen<br />

und mir eine anstecken – im vollkommenen Bewusstsein der<br />

Tatsache, dass ich ein Gesetz breche. Ich werde mit voller<br />

Verzweiflung qualmen, als wenn es um mein Leben ginge.<br />

Ich mache mir dabei keine Illusionen: kaum, dass der blaue<br />

Dunst aus meiner Zigarette seine feinen Nüstern reizen<br />

wird, wird mein vom Krebs bedrohter Abteilnachbar erwachen,<br />

den Zugführer rufen, und dann werden sie kommen.<br />

Sie werden kommen und an die Klotür trommeln und mich<br />

da heraus schleifen. Und meine Tabakorgie wird mich fünf<br />

Hundert Złoty kosten.<br />

Nein, es ist kein billiges groteskes Bild, das ich hier vor<br />

euch entstehen lasse – jeder von euch hat schon eine solche<br />

Reise hinter sich, alle seid ihr schon quer durch Polen gefahren<br />

mit einem Monster im Abteil. Wenn es kein monströser<br />

Fresssack war, dann ein niedliches Kindchen mit drei Stück<br />

Magnum-Eis und einer riesigen Tüte Chips in der Hand,<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


wenn es kein Psycho war, der Schweine totquatschen konnte,<br />

dann eine nach überaus sinnlichem „Masumi“-Wässerchen<br />

duftende Schönheit, die mit ihrem Stil und der Wahl der<br />

Kosmetik in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

hängen geblieben war.<br />

Die Raucher-Abteile, vor allem die in der Ersten Klasse,<br />

waren keine verkommenen Ghettos. Nein, es waren Paradiese,<br />

Oasen der Ruhe und der Freiheit! Und wie oft hatten<br />

die Nichtraucher, um anderen Gefahren zu entkommen, an<br />

diesen angeblich verseuchten Orten um Asyl gebeten? Wie<br />

oft hatten wir, Raucher, die Panik (Todesangst gar!) in den<br />

Augen eines nach stundenlanger Qual vollkommen erschöpften<br />

Mitreisenden gesehen und hatten ihn zu uns geholt, uns<br />

seiner angenommen – und verzichteten, solange er brauchte,<br />

um zu sich zu kommen, auf das Rauchen? Und dann reisten<br />

wir in Harmonie und Frieden weiter.<br />

Vor über zehn Jahren hielt ich mich im Herzen eines amerikanischen<br />

Staates auf, der aus einem einzigen riesigen Maisfeld<br />

bestand. Mitten in dem Maisfeld gab es einen mehrere<br />

Hektar großen Park, in den ich mich öfters des Abends begab,<br />

um, auf einer Bank sitzend, in Ruhe eine zu rauchen;<br />

aus dem am Horizont sichtbaren Wald tauchten Jogger auf,<br />

blieben bei meinem Anblick wie angewurzelt stehen, dann<br />

änderten sie ihre Route, um kilometerweit an mir vorbei zu<br />

laufen, um mir bloß nicht zu nahe zu kommen; ich konnte<br />

sie gar nicht mehr sehen, da hörte ich noch ihre panischen<br />

Rufe: „Smoke! Smoke! Smoke!“ Ich will nicht verraten, welche<br />

englische Formulierung sich mir als Antwort aufdrängte.<br />

Doch ich wusste Eines: ich vermisste mein Vaterland. Heutzutage<br />

allerdings ist es hier auch nicht besser; und man kann<br />

sein Vaterland zu Raucherzwecken nicht verlassen, es wäre<br />

sinnlos, da der Gesundheits-Faschismus mittlerweile in der<br />

ganzen Welt verbreitet ist.<br />

Aus dem Polnischen von Paulina Schulz<br />

Świat Książki<br />

Warsaw 2007<br />

124 × 200 • 320 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-247-0720-1<br />

Translation rights:<br />

Bertelsmann Media<br />

Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben<br />

29<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen<br />

30<br />

Photo: Krystof Kriz<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Der Protagonist von Janusz Rudnickis neuer Prosa kehrt aus<br />

Deutschland in seine Vaterstadt Koźle zurück, weiß nicht wirklich,<br />

was er mit sich anfangen soll, schmiert sich aus Langeweile<br />

das Gesicht mit schwarzer Schuhcreme ein, die Briefträgerin<br />

veranlasst ihn, ins Treppenhaus hinauszugehen, die Wohnungstür<br />

schlägt hinter ihm zu, eine Gasexplosion zerstört seinen<br />

Wohnblock, im übrigen steht es in ganz Polen nicht zum besten,<br />

denn immer wieder explodiert an den verschiedensten Orten<br />

Gas; der Held zieht mit anderen, die ebenfalls ihr Dach über<br />

dem Kopf verloren haben, durch Polen und Deutschland, erlebt<br />

die wunderlichsten Abenteuer… Rudnicki erfand eine Geschichte,<br />

die aus einer langen Reihe grotesker und absurder<br />

Situationen besteht, die mal lustig, mal furchterregend sind. Im<br />

Grunde handelt das Buch jedoch von zutiefst ernsthaften Dingen.<br />

Ein weiteres Mal greift der Autor<br />

von „Meine Wehrmacht“ das Problem<br />

der – ich gebrauche hier eine<br />

Bezeichnung Zbigniew Kruszyńskis<br />

– „verschobenen Menschen“, die ihr Land auf der Suche nach<br />

ihrem Ort auf Erden verließen und immer noch – wie Rudnicki<br />

behauptet – „im Spagat leben“, die ihrer Wurzeln und Gewissheiten<br />

verlustig gegangen sich mit einer ins Wanken geratenen<br />

Identität herumschlagen. „Kommt, wir gehen“ ist auch eine Erzählung<br />

über polnisch-deutsche Traumata, die Geschichte, die<br />

der Gegenwart immer noch ihren Stempel aufdrückt, Henker,<br />

die zu Opfern werden, Opfer, die zu Henkern werden. Rudnicki<br />

verfasste eine traurig-lustige, mitreißende und zudem stilistisch<br />

virtuose Prosa. Was gäbe es hier zu leugnen, kaum jemand vermag<br />

den Satzbau so kunstvoll zu verdrehen wie der Autor von<br />

„Kommt, wir gehen“.<br />

Robert Ostaszewski<br />

Janusz Rudnicki (geb. 1956) Prosaschriftsteller<br />

und politischer Emigrant. Lebt in Hamburg.<br />

Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen<br />

31<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen<br />

32<br />

Einkaufen<br />

gehen – oder nicht?<br />

Und wenn mich jemand<br />

erkennt? Aber<br />

wer? Wer sollte mich schon erkennen? Ich bin gerademal zurück<br />

und hab die Fenster ausgepackt, damit mir das Gesindel<br />

aus dem Nachbarblock nicht durch die Koffer glotzt, in<br />

die Gardinen. Und außerdem bin ich allein – wie jetzt meine<br />

weißen Zähne im Spiegel, die plötzlich zum ersten Mal den<br />

Kontext des Gesichts verloren haben, meines Gesichts.<br />

Deshalb wundere ich mich beim Türklingeln, zum Teufel.<br />

Ich öffne die Tür. Die Briefträgerin. Gebückt sucht sie etwas<br />

in der Tasche, mit dem Mund hält sie eine Blume fest.<br />

Und sagt schnaufend durch die Blume:<br />

„der Scheißaufzug ist schon wieder kaputt, gude!“<br />

„Gude“<br />

antworte ich, und sie steht plötzlich wie gebannt still, ihre<br />

Augen auch. Und die Blume plumpst runter, weil sich ihre<br />

Ober- und Unterlippe immer weiter voneinander entfernen.<br />

Was denn? Ich betrachte ihre Zähne voller Plomben und<br />

Drähte, denke erst an Türen, dann an Stacheldrahtsperren,<br />

dann an Güterwaggons, in denen ich gleich auf die bewusste<br />

Rampe gebracht werde, mit anderen Worten, ich gebe mich<br />

meinen Assoziationen hin wie ein willenloser Lump, und so<br />

kriege ich die Zeit irgendwie rum. Ich langweile mich nicht,<br />

wenigstens das nicht. Bis sie schließlich sagt:<br />

„Sind das Sie?!“<br />

Sie fragt, weil wir uns gestern schon gesehen haben, im<br />

Treppenhaus, ich habe mich vorgestellt, weil ich zurückgekommen<br />

bin und alleine lebe, meine Dame, ein einsames<br />

weißes Segel auf dreißig Quadratmeter Fläche. Ich sage,<br />

„Das bin ich, erkennen Sie mich denn nicht? Das weiße Segel...“<br />

Darauf sie:<br />

„Das nenne ich weiß“,<br />

und ich erinnere mich gleich an das, was ich vergessen hatte.<br />

„Ach, Sie meinen mein Gesicht? Das kommt vom Gas im<br />

Bad, ich wollte mir eine Zigarette am Boiler anstecken, und<br />

meine Frau hat gleichzeitig in der Küche das warme Wasser<br />

aufgedreht.“<br />

Darauf sie:<br />

„Sie sind verheiratet?“,<br />

und wie erstaunt sie war!<br />

Darauf ich:<br />

„Nein“,<br />

und erstaune über meine Worte noch mehr. Was für eine<br />

meine Frau?<br />

„Nein, nein“,<br />

sage ich wieder und wieder.<br />

„das ist natürlich ein Witz, ich habe das Wasser in der Küche<br />

selbst aufgedreht und mir in der Zeit im Bad am Boiler<br />

eine Zigarette angesteckt...“<br />

Die Sätze in die eine Richtung, ich in die andere. Kehlkopfverschluss,<br />

ein Stau, ein Wall. Ihre Augen starren mich<br />

staunend an und meine sie, weil ich mich genauso über mich<br />

wundere wie sie. Und so stehen wir da. Die Türschwelle trennt<br />

uns. Und die Blume, die heruntergefallen ist.<br />

Bis sie plötzlich das Gewicht von einem Bein auf das andere<br />

verlagert. Sie muss schließlich ganz schön laufen, sie tun ihr<br />

weh. Die Bewegung der Beine versetzt auch den übrigen Teil<br />

des Körpers in Bewegung, sie kommt wieder zu sich und sagt,<br />

„es riecht hier auch irgendwie nach Gas. Ich habe ein Paket<br />

für Ihren Nachbarn, aber er ist nicht zu Hause, könnten Sie<br />

als Nachbar das Paket Ihres Nachbarn annehmen, für Ihren<br />

Nachbarn?“<br />

„Könnte ich. Könnte ich gern. Ich nehme es an.“<br />

Ich soll unterschreiben, dass ich es angenommen habe,<br />

aber:<br />

„Wo? Worauf?“<br />

Darauf sie:<br />

„Vielleicht an der Wand?“<br />

Ich versuche es einmal, zweimal an der Wand, der Kugelschreiber<br />

will nicht.<br />

„Die Minenflüssigkeit läuft so weg. Sie müssen es senkrecht<br />

machen, schreiben, wissen Sie? Nicht waagrecht.“<br />

Ich komme ins Grübeln. Eine märchenhafte Einteilung<br />

des Schreibens. Ich komme so tief ins Grübeln, dass mir die<br />

Briefträgerin vor den Augen herumfuchteln muss, um mich<br />

wieder an die Oberfläche zurückzubringen.<br />

„Hallo! Guten Tag! Hier bin ich.“<br />

„Senkrecht, sagen Sie?“<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


„Klar.“<br />

„Dann kommen Sie vielleicht kurz rein, denn hier gibt es<br />

nichts, wo ich den Kugelschreiber senkrecht halten kann.“<br />

„Nein, nein, ich finde hier gleich...“<br />

Sie sieht sich um, ich sehe mich um, bis sie schließlich sagt<br />

„Unterschreiben Sie schnell, ich bücke mich“,<br />

sagt sie und bückt sich schon, worauf ich sage<br />

„Lieber bücke ich mich, dann bereite ich Ihnen keine<br />

Mühe.“<br />

Ihre Augen werden schon wieder groß.<br />

„Soll ich das Paket annehmen oder Sie? Wollen Sie auf Ihrem<br />

eigenen Rücken unterschreiben?“,<br />

sagt sie langsam zu mir, unsicher und starrt mich so an, dass<br />

ich mich fühle, als stünde ein anderer vor ihr. Und nicht ich.<br />

„Na, dann bücken eben Sie sich“,<br />

sage ich, also bückt sie sich, irgendwie mit dem Rücken zu<br />

mir, und der Nachbar zu meiner Linken – als wir uns vorher<br />

begrüßt haben, hatte er mir erzählt, er erinnere sich noch an<br />

mich, wie ich in den Sandkasten pinkelte – dieser Nachbar<br />

verließ also dann auch seine Wohnung, ich machte dann eine<br />

so wollüstige Miene, als würde ich bis zum Hals in dieser<br />

Briefträgerin stecken, hic et nunc, daraufhin verwandelte sich<br />

der Nachbar in ein Fragezeichen, woraufhin die Briefträgerin<br />

mir den Kopf zudrehte, dann fauchte sie wild, als sie mich so<br />

wollüstig sah, war beleidigt, worauf sie sich aufrichtete, aber<br />

von der Stelle weg! Und dem Nachbarn fiel die Einkaufstasche<br />

aus der Hand, und aus der Tasche fielen Pfandflaschen,<br />

direkt auf den Boden, und zerbrachen. Und der Nachbar bekam<br />

keine Luft mehr, bis er endlich welche bekam, und fragt:<br />

„Wer sind Sie?“<br />

Dann erinnere ich mich wieder an das, was ich vergessen<br />

habe, dass ich mir das Gesicht mit Schuhcreme vollgeschmiert<br />

habe, den Hals auch, und die Ohren, und ich sage:<br />

„Ach, Sie meinen mein Gesicht?“<br />

Ich sage:<br />

„Das kommt vom Gas im Bad, ich wollte mir am Boiler<br />

eine Zigarette anstecken, und meine Frau hat in der Zeit das<br />

warme Wasser in der Küche aufgedreht.<br />

Darauf er:<br />

„Sie sind verheiratet?“,<br />

und wie erstaunt er war!<br />

„Nein, nein, das ist natürlich ein Witz, ich habe das Wasser<br />

in der Küche selbst aufgedreht...“<br />

Daraufhin die Briefträgerin, dass sie genug hat, sie jetzt<br />

geht und dem Nachbarn eine Benachrichtigung wegen des<br />

Pakets an der Tür hinterlässt, und sie ging, und der Nachbar?<br />

Nichts, er steht nur mit vor Staunen offenem Mund da, und<br />

Plomben hypnotisieren mich doch, also trägt es mich wieder<br />

weg zu den Waggons... Ach, was für eine Unordnung, hier!<br />

Das Glas liegt da, er steht da, ich stehe da, vielleicht gehe ich<br />

einen Besen holen?<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 192 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-332-5<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen<br />

33<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust<br />

34<br />

Photo: Agnieszka Herman<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Diese Geschichte hat wirklich stattgefunden: das Buch von Agata<br />

Tuszyńska ist ein tief bewegendes Dokument von Krankheit<br />

und Tod ihres Mannes. Texte wie diese schreibt man widerstrebend:<br />

Soll man schon jetzt, frisch, vor der literarischen Öffentlichkeit<br />

etwas enthüllen, das ein hochgradig intimes Erlebnis ist,<br />

das für keinen Außenstehenden in seinem Schrecken zugänglich<br />

ist? Die Antwort auf diese Frage gibt die Autorin selbst wie ihre<br />

Vorgänger und sie klingt scheinbar banal: Schreib darüber, denn<br />

du bist Schrifstellerin! Daraus spricht die Überzeugung, dass<br />

der Schriftsteller jemand sei, dessen Pflicht es gerade dies ist:<br />

Das Enthüllen und in Worte Kleiden von Extrem- und Grenzerfahrungen.<br />

Die Beschreibung der tödlichen Krankheit von Henryk Dasko, ist<br />

also ein Buch das für diejenigen geschrieben worden ist, die an<br />

solchem Geschehen teilnehmen werden – sowohl in der Rolle<br />

der Kranken, so wie in der Rolle<br />

derjenigen, die den Sterbenden am<br />

nächsten sind. Es ist ein Reiseführer<br />

durch die Hölle, und zugleich eine<br />

Aufforderung, nicht die Waffen zu<br />

strecken und nicht aufzugeben, um jede weitere Lebenswoche<br />

oder jeden Lebensmonat zu kämpfen. Man kann fragen, ob das<br />

Sinn hat, wenn doch der Kampf aussichtslos ist und das Durchhalten<br />

in der Krankheit mit Leiden und Erniedrigung verbunden<br />

ist. Auf diese Frage gibt die Autorin keine eindeutige, weil persönliche<br />

Antwort. Es geht hier nicht um die einfache Verlängerung<br />

des Lebens um weitere Tage, sondern darum anzustreben,<br />

dass das Leben in einer möglichst vollen und sinnvollen Form<br />

abschliesst). Nach einem Abschluss verlangt auch die Geschichte<br />

der Liebe, die erst dann erfüllt ist, wenn sie die höchste Prüfung<br />

besteht, wenn sie extreme Aufopferung verlangt.<br />

Und noch eins. Henryk Dasko war polnischer Jude, der nach<br />

der antisemitischen Kampagne vom März 1968 aus Polen verbannt<br />

wurde. Diese Verbannung empfand er — neben der tödlichen<br />

Krankheit als die größte Tragödie seines Lebens. An allen<br />

Stationen seines Leidens können wir beobachten, wie unerhört<br />

nah ihm die polnische Literatur und Kultur war. Das Buch ist also<br />

ein nicht aufdringlicher, aber außerordentlich starker Akt der<br />

Anklage gegen diejenigen, die den letzten großen Exodus der<br />

Juden aus Polen verursacht haben.<br />

Jerzy Jarzębski<br />

Agata Tuszyńska (geb. 1957), Dichterin,<br />

Prosaikerin, Reporterin, Literatur- und Theaterhistorikerin.<br />

Ins Französische und Englische<br />

übersetzt.<br />

Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust<br />

35<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust<br />

36<br />

Die<br />

Welt der Krankheit, das Imperium der<br />

Krankheit. So sollte ich sie beschreiben. Ein<br />

Planet. Die Krankheit als unbekanntes Land.<br />

Ein Ort zwischendurch. Immer sind wir gesund geworden.<br />

Schwer krank, gestorben waren immer nur andere.<br />

Ich wiederhole. Wir waren gesund und wir konnten und<br />

wollten uns nie den Luxus erlauben, krank zu sein. Jetzt<br />

ist die Krankheit ein Urteil. Ein Aussetzen des vorherigen<br />

Lebens, vielleicht des Lebens überhaupt. Die Krankheit ist<br />

Verlust, Leid. Sie widerspricht UNS, der Willenskraft, der<br />

Kraft zu lieben.<br />

Gleichzeitig gehören wir der Welt der Gesunden und Kranken<br />

an, schrieb Susan Sontag. In unsere irdischen Reisepässe<br />

sind beide Visa eingestempelt. Den einen hat man das Privileg<br />

verliehen, den Planeten der Gesunden zu bewohnen. Für<br />

sie ist das natürlich. So war es mit uns. Von Zeit zu Zeit besuchten<br />

wir das Land der Krankheit, aber selten, notgedrungen<br />

und eilig – um so schnell wie möglich wieder heraus zu<br />

kommen. Jede Heimsuchung durch Krankheit, und sei sie<br />

auch kurz und mit Perspektive auf Heilung, erschien uns als<br />

Demütigung. Die Körper versagten ihren Dienst. Uns quälten<br />

Fieber, Husten, Ausschlag und gebrochene Gliedmaßen.<br />

Wir wollten fliehen. Fliehen zurück zu uns, ins Vaterland der<br />

Gesunden, wo alles möglich ist.<br />

Wir blieben nie für länger im Land der Krankheit, wir<br />

mussten es nicht. Wir wurden dorthin nicht deportiert, vertrieben.<br />

Solch eine Eventualität hatten wir nie in Betracht<br />

gezogen – die Zwangsemigration in die Welt der Kranken.<br />

Das Leben überwuchert vom Gewebe der Krankheit. Ihre<br />

Attacke zerstört alles. Explosion. Dynamit. Kein Platz für<br />

Umwege. Es zerstörte unser unerfülltes Schicksal von Innen.<br />

Und alles was wir hatten, haben, wurde endgültig. Mehr wird<br />

es nicht, und es wird nicht wie es war. Reisen, Kleidung,<br />

Versprechen wiederholen sich nicht in der Form, wie vor<br />

der Diagnose. Der Song von Cohen „I am your Man“, die<br />

Krawatte von Armani, die Porsche-Ledersitze, das Buch von<br />

Konwicki, Rollschuhe am See, gelbe Tulpen, berauschende<br />

Lilien zur Begrüßung, alles andere, anders. Nicht mehr dieser<br />

Geschmack. Der Beigeschmack von Asche.<br />

Das Krankenhaus ist nun zum Lebensmittelpunkt geworden,<br />

nicht wie bisher der Ort schneller, heimlicher Besuche<br />

anderer.<br />

Krankheiten gehen vorbei, so lehrte die Erfahrung. Hier<br />

ist es anders. Noch immer kann (und will) ich die Diagnose<br />

nicht akzeptieren, mich zu diesem Unterschied bekennen.<br />

Wir widersprechen der Krankheit. Wir glauben, sie wäre<br />

heilbar. Willenskraft soll uns Lebenskraft geben.<br />

Die durchschnittliche Größe unseres Gehirns sind 1400<br />

Kubikzentimeter (eineinhalb Liter Milch, genauso viel<br />

Whiskey oder Sauerkrautsuppe?). Das Gehirn eines Mannes<br />

wiegt von 1250 bis 1750 Gramm. Das macht aus dem<br />

raffiniertesten Organ eineinhalb Kilogramm Kartoffeln oder<br />

genau so viel Schweinenacken? Angeblich hatte der Autor<br />

von Rudnin, Iwan Turgenjew das schwerste Gehirn – über<br />

zwei Kilogramm.<br />

Die stark gefaltete Obefläche des Gehirns ermöglicht es,<br />

im Schädel die größte Anzahl von Nervenzellen zu „verpacken“.<br />

Ihre wichtigste Schicht ist die Rinde (Cortex) mit einer<br />

Dicke von nur 2-3 Millimetern, die Hauptzone für Informationsverarbeitung,<br />

besonders der Prozesse, die mit bewusster<br />

Repräsentation verbunden sind. Die Rinde hat eine große<br />

Oberfläche (wie ein riesiges Feld), und damit sie im Schädel<br />

Platz findet, muss sie gepresst werden, daher die Faltung und<br />

die Furchen. Das was in uns am wichtigsten ist, sieht aus<br />

wie ein zerknülltes Stück Papier. Es ist einmalig, sowie die<br />

Papillarlinien in der Hand.<br />

In die Operation gingen wir blind. Wir wollten nicht zu<br />

viel wissen.<br />

Der vordere Teil des Gehirns, also der Stirnlappen nimmt<br />

etwa 40% von der Gesamtheit ein, er ist für die Eigenschaften<br />

zuständig, die uns als Menschen charakterisieren. Hier<br />

also ist der Sitz der Ambitionen von H. und seiner inneren<br />

Kraft, sein Zauber und seine Überzeugungskraft.<br />

Hier wird das Wissen gespeichert – in Gestalt von Begriffen<br />

in Verbindung mit der Sprache. Das alles soll unangetastet<br />

bleiben. So wie alle Arten des Gedächtnisses – das episodische,<br />

semantische, prozedurale und deklarative Gedächtnis.<br />

Die Panik nahm mir die Erinnerung. Über Wochen funktionierte<br />

ich wie betäubt. Wie eine Marionette aus Papier,<br />

bewegt von der Notwendigkeit, dem Kranken zu dienen.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ich führte konkrete Tätigkeiten aus, Aufgaben, Bewegungen,<br />

Gespräche, ich handelte, holte, zog ihn um, kaufte<br />

ein, wusch, fütterte. Als die Zeit kam, sprach ich mit dem<br />

Rabbiner über die Bestattung, und vorher mit Onkel Janek<br />

und Martin über Geld und die Trauerfeier. Ob er verbrannt<br />

werden möchte? Juden werden nicht kremiert. Ob ich das<br />

wüsste? Nein, ich wusste es nicht. Ich wusste, dass er einige<br />

Fotografien im Sarg haben wollte. Ein Sarg, wenn ein Sarg,<br />

dann wird es keine Asche geben. Welche Fotos – und wer<br />

macht die Abzüge? Auf den Friedhof, auf dem Esters Eltern<br />

bestattet sind. Ich weiss nicht, wo sie bestattet sind. Fragen.<br />

Im Norden der Stadt. Mit anderen Juden.<br />

Aufschreiben. Aufschreiben, um es nicht zu verlieren. Das<br />

riet Miłosz. Warum nicht verlieren? Vielleicht sollte man vergessen,<br />

vielleicht wäre es besser so? Vielleicht rettet mich das<br />

Vergessen? H. will nicht zu diesem Zustand zurück, er will<br />

nicht wieder die Krankheit durchleben. Er tut alles, um die<br />

Hoffnung zu stärken. Er ist sich sicher. Dass das Schlimmste<br />

schon hinter uns liegt, das nichts endgültiges uns erwartet.<br />

Er spottet über die Diagnosen und Statistiken. Zwei Jahre?<br />

Warum nennen sie nur die schlechtesten Prognosen? Was<br />

für eine außerordentliche Kraft muss man haben, um an<br />

die Überwindung des unüberwindbaren zu glauben? Woher<br />

nimmt H. sie? Von mir jetzt sicher nicht mehr. Aus mir kann<br />

man nur Angst schöpfen.<br />

Aus dem Polnischen von Bernd Karwen<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

Cracow 2007<br />

145 × 207 • 240 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-08-04099-7<br />

Translation rights:<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

(except English rights)<br />

English rights: Agata Tuszyńska<br />

Contact:<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust<br />

37<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen<br />

38<br />

Photo: Elżbieta Lempp<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Warschau im Sommer 1939. Die 6-jährige Helena, ihre Eltern,<br />

Brauereibesitzer, und ein recht leichtsinniges Kindermädchen<br />

führen ein glückliches Leben. Das einzige Problem des Mädchens<br />

ist das Fehlen von Geschwistern, sie freut sich also, als sie<br />

eines Tages ein herrenloses Kätzchen findet. Obwohl ihre neue<br />

Spielgefährtin klug ist und sprechen kann, kommt sie zu einem<br />

anderen Mädchen, Brygida, der Schwester eines Brauereimitarbeiters.<br />

Helenas Vater hat auch deutsche Geschäftspartner,<br />

gleichzeitig unterhält er gute nachbarschaftliche Beziehungen<br />

zu allen, auch zu Juden. So mancher von ihnen arbeitet in seiner<br />

kleinen Fabrik. Der Kriegsausbruch und die antisemitische<br />

Hetze sind nicht imstande, den alten Freundschaften Abbruch<br />

zu tun. Als Freunde der Familie ins Ghetto gesperrt werden, organisieren<br />

Helenas Eltern Hilfe. Die Aktion dauert den ganzen<br />

Krieg und gilt nicht nur Menschen,<br />

die sie kennen.<br />

Helenchen wächst heran und hört<br />

allmählich auf, sich über alles zu<br />

wundern. Mit dem Vater besucht sie<br />

das Ghetto, kommt mit dem Tod und<br />

Todesgefahren unmittelbar in Berührung,<br />

intuitiv spürt sie die Intensität einer Gefahr und lehnt<br />

Erscheinungen eines polnischen Antisemitismus angewidert ab.<br />

Sie berichtet über die Tragödie auf ihre eigene, kindliche Weise:<br />

naiv, aber getreu, ohne ein drastisches Detail auszulassen. In<br />

ihre Erzählung wird jedoch ein magisches Element eingeflochten,<br />

die Katze, die Brygida aus dem Ghetto führt. Die ganze Geschichte<br />

findet ihren Nachkriegsepilog, in dem die Schicksale<br />

der Figuren weitererzählt werden, unter anderem eine Begegnung<br />

Helenas und Brygidas in fortgeschrittenem Alter und der<br />

Tod der Hauptfigur.<br />

Joanna Rudniańska bedient sich einer recht selten verwandten<br />

Technik, indem sie Krieg und Holocaust aus der Perspektive eines<br />

Kindes erzählt, das die Massenvernichtung nicht unmittelbar<br />

betrifft, zu deren Augenzeugen es aber wird. Die kindliche Perspektive<br />

dient vor allem dazu, dieses Heldentum alltäglich zu<br />

machen, es als Reflex natürlicher Menschlichkeit und Treue gegen<br />

sich selbst zu zeigen. Dass sich die Botschaft des Romans an<br />

erwachsene Leser richtet, beweist auch das dramatische Ende<br />

der erzählten Geschichte.<br />

Brygidas Kätzchen ist ein Appell, weder die Tragödie zu vergessen<br />

noch diejenigen, die ihr nicht gleichgültig zusahen.<br />

Marta Mizuro<br />

Joanna Rudniańska (geb. 1948), von der<br />

Ausbildung her Mathematikerin. Sie begann mit<br />

Science-fiction-Erzählungen für Kinder und erhielt<br />

den Internationalen Janusz-Korczak-Preis.<br />

Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen<br />

39<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen<br />

40<br />

Helena<br />

wachte mitten in der Nacht<br />

auf. Sie bekam keine Luft,<br />

und ihr war schlecht. Sie hörte<br />

ein fürchterliches Tröten. Dann erinnerte sie sich, dass sie im<br />

Bunker war. Und das Tröten war das Schnarchen von Oma<br />

Istman, die sich nie hinlegte, sondern die Nächte in dem alten<br />

Sessel, der in einer Kellerecke stand, verbrachte. Es war absolut<br />

finster. Helena streckte die Hand aus. Neben ihr hätte auf<br />

dem Strohsack Stańcia liegen müssen. Aber Stańcia war weg.<br />

Helena krabbelte auf allen vieren über Stańcias Strohsack<br />

und gelangte, ohne aufzustehen, zur Tür. Im Dunkeln kam<br />

man wie ein Hund oder eine Katze besser voran, auf Händen<br />

und Füßen, fast wie auf vier Pfoten. Man kann nicht stolpern<br />

und hinfallen, und mit dem Kopf spürt man die Hindernisse<br />

besser. Helena stand erst bei der Tür auf. Langsam drückte sie<br />

die Klinke herunter und verließ den Bunker. Erst dann hörte<br />

sie die Flugzeuge. Das dumpfe Röhren kam näher, entfernte<br />

sich wieder. Hier war es auch dunkel. Helena ließ sich wieder<br />

auf ihre vier Pfoten fallen und kletterte nach oben, zu dem<br />

kleinen Flur, von dem aus man auf den Hof hinauskam. Sie<br />

schloss die Tür fest und trat ins Freie.<br />

Der Morgen musste bald grauen, denn der Himmel war<br />

viel heller als die Finsternis unten. Kein einziges Licht brannte.<br />

Der Mond, der sich hinter die Wolken schob, tauchte<br />

alles in einen fahlen Glanz. Helenas Haus und das Mietshaus<br />

nebenan waren schwarze Felsen. Helena ging zu ihrem<br />

Maulbeerbaum. Auf ihn konnte sie mit geschlossenen Augen<br />

klettern. Und das tat sie auch.. Sie öffnete die Augen erst, als<br />

sie weit oben war. Sie hörte Flugzeuge. Sie flogen von der<br />

Weichselseite heran, vier große, schwere Vögel. Sie warfen<br />

Bomben. Vor den vom Mond durchstrahlten Wolken konnte<br />

man deutlich kleine Päckchen aus den Flugzeugbäuchen<br />

fallen sehen. Helena bekam Angst, dass so ein Päckchen auf<br />

sie oder ihr Haus fallen könnte. Trotzdem sah sie hin. Und<br />

die Flugzeuge kamen immer näher. Irgendwo weit weg, vielleicht<br />

sogar in der Altstadt, war roter Feuerschein zu sehen.<br />

Das waren Brandbomben, hoffentlich fallen sie nur nicht auf<br />

mein Haus, dachte Helena.<br />

„Geht weg! Geht weg!“, schrie sie laut.<br />

Aber vier Flugzeuge kamen langsam genau hierher, zu Helenas<br />

Hof, immer größer und fürchterlicher. Helena sah von<br />

oben auf ihr Haus. Es schien ihr so klein neben dem hohen<br />

Mietshaus. Und plötzlich sah sie jemanden auf dem Dach.<br />

Und die Flugzeuge waren schon ganz nah. Dann lief die Gestalt<br />

auf dem Dach zwei Schritte. Es war Stańcia, Helena<br />

erkannte sie. Stańcia hatte einen Besen in der Hand. Auf das<br />

Dach fiel eine Bombe. Stańcia holte aus und fegte die Bombe<br />

mit einem Ruck vom Dach. Dann fiel eine zweite, und<br />

Stańcia fegte sie wieder runter, auf den Hof. Noch eine Bombe<br />

fiel auf das schräge Dach des Mietshauses und kullerte direkt<br />

auf das Dach von Helenas Haus. Die fegte Stańcia auch<br />

runter. Drei Bomben lagen rotglühend im Hof. Die Flugzeuge<br />

flogen weg. Auf dem Hof erschien Stańcia, schaufelte<br />

Sand aus der Truhe, die bei der Brauerei stand, und bedeckte<br />

die Bomben damit. Sie blickte in den Himmel und ging ins<br />

Haus. Helena kam vom Baum runter. Der Hof war leer. Es<br />

war schon fast völlig hell. Helena sah Vater und Herrn Kamil.<br />

Sie standen auf dem Fabrikdach. Herr Kamil rauchte<br />

eine Zigarette. Sie sprachen, stützten sich auf die Stöcke, die<br />

sie in den Händen hielten. Helena lief ins Haus. Ganz leise<br />

ging sie in den ersten Stock, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Das<br />

war sehr angenehm – den Kopf an sein Kissen schmiegen<br />

und sich in die eigene Decke kuscheln. Mama hatte Recht,<br />

dass sie nachts nicht in den Bunker ging. Ich würde das auch<br />

gern tun, dachte Helena. Sie schlief sofort ein.<br />

Es war morgen. Helena betrat genau in dem Augenblick<br />

die Küche, als Stańcia die Milch warm machte. Stańcia<br />

schaute angespannt in den Topf, die Milch konnte jeden Augenblick<br />

überkochen.<br />

„Du warst heute nacht auf dem Dach. Ich habe dich gesehen.<br />

Beim nächsten Mal komme ich mit aufs Dach und<br />

werde Bomben wegfegen“, sagte Helena.<br />

Stańcia drehte sich zu Helena um. Und genau da kochte<br />

die Milch über. Zischend lief sie über die heißen Herdringe,<br />

und die Küche durchdrang ein unangenehmer Gestank.<br />

„Jessesmaria!“, schrie Stańcia und schob den Topf zur Seite.<br />

„Das hast du geträumt. Ich auf dem Dach? Was du dir so<br />

ausdenkst.“<br />

Wie war das also, dachte Helena. Habe ich das geträumt<br />

oder nicht? Wie war es wirklich? [...]<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ein paar Tage später kam Róża, Mamas beste Freundin.<br />

Helena mochte sie sehr. Sie sprach sie mit dem Vornamen<br />

an, weil Róża das so wollte. Róża und Mama waren die<br />

schönsten auf der ganzen Welt. Róża hatte schwarzes Haar,<br />

und Mama goldenes, und zusammen sahen sie aus wie zwei<br />

Märchenprinzessinnen. An diesem Tag schien Róża anders<br />

zu sein als sonst. Sie gab Helena nicht einmal einen Begrüßungskuss.<br />

Sie setzte sich in die Küche und holte Zigaretten<br />

aus der Handtasche.<br />

„Frau Róża! Sie haben doch nie geraucht! Ich habe Dzidzia<br />

immer gesagt, dass sie sich an Ihnen ein Beispiel nehmen<br />

soll!“, rief Stańcia aus.<br />

„Was ist passiert? Warum rauchst du?“, fragte Mama und<br />

nahm sich auch eine Zigarette aus Różas Schachtel.<br />

„Und du, warum rauchst du?“, fragte Róża trübsinnig und<br />

zündete die Zigarette an.<br />

„Seit wann rauchst du?“, fragte Mama weiter.<br />

„Seit letzten Sonnabend. Seit unser Haus niederbrannte.“<br />

„Mein Gott! Wie konnte ich das nicht wissen! Dein Haus?<br />

In der Wilcza?“<br />

„Ich habe immer geschlafen, wenn Luftangriff war“, sagte<br />

Róża. „Ich steckte den Kopf unter die Decke und dachte, es<br />

wäre am besten, wenn ich einschlafe und nach dem Luftangriff<br />

aufwache. Dann würde nichts passieren. Um nichts in<br />

der der Welt wollte ich in den Bunker runter, obwohl Vater<br />

mich deswegen furchtbar anbrüllte.“<br />

„Oh, Gott! Ihr wohnt doch im letzten Stock, direkt unterm<br />

Dach!“<br />

„Wir wohnen nicht mehr. Ich hatte sehr fest geschlafen,<br />

aber sie hatten mich geweckt. Sie zerrten an mir und schrieen,<br />

dass es brannte. Ich warf einen Mantel übers Nachthemd<br />

und lief runter. Stand auf der Straße und sah zu, wie die<br />

Gardine in meinem Zimmer Feuer fing. Weißt du, die rosa<br />

Gardine. Ich weinte. Ein Mann stand neben mir. Beruhigen<br />

Sie sich, sagte er. Ich habe noch eine Zigarette, zünden Sie<br />

sie sich an. Und ich zündete sie an. Die erste in meinem<br />

Leben, obwohl Mama nicht weit weg stand. Schließlich bin<br />

ich erwachsen, dachte ich.“<br />

„Schön erwachsen“, brummte Stańcia.<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

Wydawnictwo Pierwsze<br />

Lasek 2007<br />

130 × 180 • 160 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 83-923288-8-9<br />

Translation rights:<br />

Syndykat Autorów<br />

Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen<br />

41<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Mariusz Sieniewicz Die Rebellion<br />

42<br />

Photo: Grzegorz Czykwin<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Mariusz Sieniewicz hat sich bereits zu erkennen gegeben als ein<br />

Schriftsteller mit einer originellen und ungezügelten Phantasie,<br />

möglicherweise ist er neben Jacek Dukaj der einzige Prosaist<br />

der jüngeren Generation, der imstande ist, in seinen Texten<br />

vollkommen neue Welten zu erschaffen. Im neuesten Roman,<br />

Die Rebellion, hat sich Sieniewicz jedoch selbst übertroffen.<br />

Das Buch ist eine Dystopie, in der in überzeichneter Form die<br />

Ängste und Probleme der Moderne gezeigt werden. Sieniewicz<br />

beschreibt „die Zivilisation des Großen Knirpses“, in der<br />

der Terror der Jugend, Schönheit und Gesundheit herrscht und<br />

das Alter verfolgt und ausgeschlossen wird. Die Handlung des<br />

Romans spielt vor allem auf der imaginären „Insel der Alten“,<br />

wo die Alten unter der Aufsicht von metrosexuellen „Mädgen-<br />

Jungels“ (die Insel funktioniert ein bisschen wie ein Arbeitslager)<br />

die Leichen junger, schöner Menschen einbalsamieren, die<br />

im Mausoleum zur Ehre der Jugend<br />

ausgestellt werden sollen. Aber die<br />

Herrschaft der sich als Gebieter<br />

aufspielenden Jugend ist nicht gottgegeben,<br />

die verzweifelten Alten bereiten<br />

eine „geriatrische Revolution“ vor, an deren Spitze Błażej<br />

Kolumbus steht, der etwas von den Erlösern des Alters, etwas<br />

von Neo aus dem Film Matrix (Sieniewicz mischt im Roman<br />

Bezüge zu „Texten“ verschiedenster kultureller Register) hat…<br />

Sieniewicz hat sich bereits mehrfach mit dem Problem des Ausschlusses<br />

und der Marginalisierung von Menschen und ganzen<br />

Gesellschaftsgruppen beschäftigt, auch häufiger schon hat er mit<br />

seinen Texten bewiesen, dass man über diese Dinge in einer<br />

Sprache schreiben kann, die mit dem Stil von Propaganda wenig<br />

gemein hat. Sieniewicz schreibt nicht nur über die Rebellion der<br />

Alten, die Rebellion findet auch in der Sprache seines Romans<br />

statt, in dem verschiedene Sprachvarianten aufeinanderprallen,<br />

Klischees der Gegenwartssprache wechseln sich mit einer poetischen,<br />

symbolgeladenen Metaphorik ab. Fast jeder Satz von<br />

Die Rebellion wird für den Leser zu einem sprachlichen Abenteuer.<br />

Würde Witkiewicz heute leben, er würde sicherlich wie<br />

Sieniewicz schreiben!<br />

Robert Ostaszewski<br />

Mariusz Sieniewicz (geb. 1972),<br />

Prosaschriftsteller, Feuilletonist, wurde ins<br />

Deutsche, Litauische, Russische, Kroatische<br />

und Slowenische übersetzt.<br />

Mariusz Sieniewicz Die Rebellion<br />

43<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Mariusz Sieniewicz Die Rebellion<br />

44<br />

Das<br />

gigantische Bauwerk erinnerte an ein Gotteshaus<br />

der Neorenaissance, das man in einen<br />

kosmischen Meteoriten gehauen hatte.<br />

Das dem galaktischen Erz innewohnende Sakrale war hier<br />

sicherlich am besten aufgehoben. Risse gleich länglichen<br />

Glasfenstern zersprengten die Steinmauer, während die mit<br />

Ornamenten verzierte Kuppel – die an manchen Stellen von<br />

Moos überwachsen und von jedem Winkel der Insel zu sehen<br />

war – wie der Panzer einer futuristischen Schildkröte<br />

aussah. Vom oberen Teil der Fassade schielte das gigantische<br />

Auge eines Mandalas. Darunter eine anonyme Inschrift:<br />

jugend währt ewig, ist ein ewiger jungbrunnen –<br />

niemand vergisst sie, und jeder bleibt ihr treu.<br />

Zum gusseisernen Eingangstor führte ein über drei Steinstufen<br />

gelegtes Brett, vor dem die Spur der Lastwagen abbrach.<br />

Kaktus sah nach links und rechts und flüsterte,<br />

nachdem er die hoch angebrachte Klinke über seinem Kopf<br />

gedrückt hatte:<br />

„Hilf mir, Błażej, verdammt noch mal! Du solltest größer<br />

sein als ich, da du auf einer höheren Stufe stehst.“<br />

„Mann, du hast aber einen Leiterkomplex“, gab Kolumbus<br />

zurück.<br />

Sie schoben das Tor auf. Es knarrte fürchterlich. Brrr… der<br />

reinste Horror! Eisige Kälte umfing sie – frostiger als in einem<br />

Kühlhaus. Es fehlte nur noch, dass vom fäuligen Friedhof<br />

her ein Wolf heulte und der Schatten einer Hand mit<br />

einem Messer über die Mauern huschte. Kolumbus bereute<br />

seine Neugier. Er hörte Orgelmusik. Jemand war am Spielen,<br />

jedoch die Reinheit und der Fluss der Musik ließen sehr zu<br />

wünschen übrig. Die Töne brachen ab, klangen falsch, waren<br />

flach und unregelmäßig. Passender wäre die Feststellung<br />

gewesen, dass jemand erst dabei war, sich die Geheimnisse<br />

der Noten, Oktaven und Violinschlüssel anzueignen, ohne<br />

jedoch den richtigen Schlüssel zu dieser unzugänglichsten<br />

aller Künste zu finden.<br />

„Ganz ruhig. Der Große Knirps müht sich am Keyboard<br />

mit Bach ab. Matthäuspassion“, antwortete Kaktus sofort,<br />

als sie das Innere des Gotteshauses betraten, das in fluoreszierendes<br />

Licht getaucht war. „Hab keine Angst. Außer seinem<br />

Spiel hört und sieht er nichts. Manchmal glaube ich, dass er<br />

taub und blind ist. Der faschistische Narziss!“<br />

Aber Kolumbus’ Miene war bereits der Beweis für die unter<br />

Philosophen beliebte These, dass allein die Fähigkeit, sich zu<br />

wundern, den denkenden vom gedankenlosen Geist unterscheidet.<br />

Er stand mit offenem Mund da, wie ein Geschöpf,<br />

das sich seiner Erbärmlichkeit bewusst ist, vor dem „etwas“<br />

auftaucht, was menschliches Maß und Verstehen übersteigt...<br />

Sich die verschiedensten Wachsfigurenkabinette der<br />

Welt zugleich vorzustellen, hieße, sich nichts vorzustellen.<br />

Gedanklich alle nur möglichen Magazine und Garderoben<br />

auf der Erdkugel mit ihren unzähligen Puppen, Marionetten<br />

und Mannequins zu erfassen, hieße, nur den Schatten des eigenen<br />

Gedankens zu erfassen. Mit enormer Willensanstrengung<br />

sämtliche Geheimlabors, in denen mithilfe chemischer<br />

Formeln der fortgeschrittenen Wissenschaft die Zucht des<br />

modernen Homunkulus betrieben wird, an einem Ort zu<br />

versammeln, hieße, den Willen eines Hohltiers zu haben.<br />

Denn auf Sockeln und Podesten, Untersätzen und Postamenten<br />

standen hier mumifizierte Körper, die man auf Stangen<br />

aufgespießt hatte. Nicht enden wollende Legionen von<br />

Körpern! Von nackten und jungen Körpern. Körpern, die<br />

man zu Paaren verbunden hatte oder die in ihrer Einsamkeit<br />

über die Monaden grübelten.<br />

„Wir haben das Beste aus der Geschichte des vergangenen<br />

Hundertgartens und aus der heutigen Zeit gesammelt“, teilte<br />

Kaktus mit, wobei eine kleine dichte Dampfwolke aus seinem<br />

Mund entwich. „Natürlich ist es das Beste gemäß dem<br />

Großen Knirps und den Jungels. Wenn ich etwas zu sagen<br />

hätte, würde ich ganz andere verewigen“, schränkte er ein.<br />

„Wenn du willst, schau dich um. Obwohl das Museum noch<br />

nicht fertig ist und erst für die zukünftigen Generationen<br />

vorbereitet wird.“<br />

Kolumbus war etwas eingeschüchtert, wie sollte man hier<br />

auch nicht eingeschüchtert sein, wenn die angeblich berühmtesten<br />

Exponate der Vergangenheit, die schließlich, wäre<br />

nicht Kolumbus’ Gedächtnisschwund gewesen, ein Dokument<br />

seiner Vergangenheit sein könnten, von ihren Sockeln<br />

auf einen heruntersahen. Mut machte ihm Juanita Loslobos.<br />

Sie stand, als hätte jemand die Tänzerin während eines Walzers<br />

verzaubert. Worobiow hat das gut wiedergegeben, ur-<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


teilte er und ging weiter. Diese ersten menschlichen Götter,<br />

von der Tür aus gezählt, schienen ihm recht gewöhnlich und<br />

durchschnittlich zu sein, selbst auf den Kärtchen stand nicht<br />

viel. Irgendein „Max Coldwey. DJ. US“ mit einem Plattenspieler<br />

in der Hand, ein „Otto Schmidt. Designer. D“ mit<br />

erhobenem Haupt oder ein „James Peadlow. Snowboarder.<br />

GB“, der ein gekrümmtes Stück Brett unter dem Arm hatte.<br />

Je weiter er aber in die mumifizierte Welt der Körper, Köpfe<br />

und Hände eintauchte, die in den raffiniertesten Posen<br />

erstarrt war, desto größer wurde seine Neugier und Begeisterung,<br />

und das Pantheon der Unsterblichen schien kein Ende<br />

zu haben. Zunächst blickte er verstohlen auf das Kärtchen,<br />

um zu wissen, mit wem er die Ehre hatte, dann bewunderte<br />

er die fachmännische Arbeit der Juvenilarbeiter. Bei allen<br />

Mumien fielen die meisterhaft vollendete Haut, das atemberaubende<br />

Spiel der Muskeln sowie das ideale Verhältnis<br />

von Gliedern und Oberkörper ins Auge. Körper ohne Makel<br />

und Falten lockten mit ihrer polierten Glätte. Die Perfektion<br />

rühmte sich ihrer selbst – von Fuß bis Kopf, von einem Gott<br />

zum nächsten. Die Betagtesten waren nicht älter als dreißig<br />

Gärten. Der vergangene, obwohl noch nicht abgeschlossene<br />

Hundertgarten musste eine fürchterlich jugendliche Zeit gewesen<br />

sein.<br />

Oh, wer war denn der Junge mit dem apollinischen,<br />

schokoladenbraunen Körper und den schalkhaften Fransen<br />

anstelle von Haaren? Das Täfelchen lieferte sogleich die<br />

Antwort: „Bob Marley. Musiker“. In der Hand hielt er eine<br />

Gitarre, die Kolumbus an die Worte eines alten Liedes erinnerten:<br />

ein Junge mit ‘ner Gitarr, wäre für mich ein Paar, ein<br />

Pararar-rara-ra... Nach ihm eine Mumie mit großen Rehaugen<br />

– „Kurt Cobain. Musiker.“ Und die Blondine, die Gold<br />

und Rouge aufgelegt hatte, das war sicherlich Miss Mausoleum<br />

– „Barbara Handler. Barbie.“ Daneben, die schlanken<br />

Hände ihr entgegengestreckt: „Ken Handler. Ken“. Ein<br />

merkwürdiger Beruf, „Barbie“ oder „Ken“ zu sein.<br />

Aus dem Polnischen von Andreas Volk<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 376 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-332-5<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Mariusz Sieniewicz Die Rebellion<br />

45<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

46<br />

Photo: Gunnar<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Wiegenlied für einen Galgenvogel ist eine kurze Erzählung über<br />

Freundschaft und Wahnsinn. Die Fabel dieses kleinen, stimmungsvollen<br />

Werks ist deutlich autobiografisch gefärbt. Klimko-<br />

Dobrzaniecki lebte bis zum Juni 2007 zehn Jahre lang in Reykjavík,<br />

wo er zunächst ein Studium der isländischen Philologie<br />

begann und später in verschiedenen Berufen arbeitete, am längsten<br />

als Pfleger in einem Heim für Alte und geistig Behinderte.<br />

Einen Teil dieser Erfahrungen verarbeitete er in einer der Erzählungen,<br />

aus denen sein im vorigen Jahr erschienenes Diptychon<br />

Rosas Haus. Krýsuvík besteht.<br />

Die Ereignisse, von denen im Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

die Rede ist, sind eine eigentümliche Ergänzung der früheren Erzählung<br />

und erweitern das Feld der Personen und Dinge. Hier<br />

erscheinen Gestalten, die wir aus Krýsuvík kennen (der autobiografische<br />

Erzähler und Held, seine Frau Agnieszka, der exzentrische<br />

Kroate Boro), sowie die wichtigste Figur, der Musiker Szymon.<br />

Das Wiegenlied ist eine Hommage an einen Freund, der in<br />

jungem Alter Hand an sich gelegt hat.<br />

Die Erzählung ist ein Versuch, seine<br />

außergewöhnliche Persönlichkeit,<br />

von der Kunst und Wahnsinn gleichermaßen<br />

Besitz ergriffen hatten, zu fassen und zu erklären.<br />

Die Fragen nach den Gründen für den Selbstmord des Freundes<br />

werden hier nur mit größter Zurückhaltung gestellt. Der Erzähler<br />

vermeidet es, den scheinbar offensichtlichen Zusammenhang<br />

zwischen der Krankheit und der Verzweiflungstat herauszustellen.<br />

In der Welt dieser im Grunde realistischen und in der<br />

Wirklichkeit stark verwurzelten Erzählung ist die Grenze zwischen<br />

der sogenannten Normalität und dem Wahnsinn weniger<br />

verwischt als vielmehr höchst problematisch. Szymon war – wie<br />

alle Personen im Wiegenlied für einen Galgenvogel – ein außergewöhnlicher<br />

und doch zugleich ganz gewöhnlicher Mensch,<br />

jemand, von dem man sagt: „ein guter Kumpel“. Warum er sich<br />

das Leben nahm, muss ein Geheimnis bleiben.<br />

Hubert Klimko-Dobrzaniecki (geb. 1967),<br />

Schriftsteller, Autor von vier Prosabänden.<br />

Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

47<br />

Dariusz Nowacki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

48<br />

Der<br />

Ozean wuchs, schwoll an und füllte den<br />

Meniskus zwischen dem Ende der Halbinsel<br />

und den Ufern der zeitweiligen Insel.<br />

Erst jetzt sehe ich mit aller Klarheit, dass das alles nur<br />

Schein ist, denn jedes Mal fehlt ein Element. Allmählich<br />

wird das Puzzle unvollständig. Unwiederholbarkeit. Sätze,<br />

Wörter, Bilder, Noten, auf Notenlinien geschrieben, die<br />

Art, eine Zigarette zu rauchen, ein Maßkrug mit Lücken<br />

in seinem Rand. Die Unwiederholbarkeit lebt, verwandelt<br />

sich in Erinnerungen, wird von Generation zu Generation<br />

weitergegeben, verzerrt, aufgeblasen oder verkleinert. Mündliche<br />

Überlieferungen, mein persönliches Dilemma mit der<br />

Bibel… Ich beschloss, nicht zweihundert Jahre zu warten.<br />

Vielleicht hat die Sache mit Gott wirklich erst einmal ruhen<br />

müssen. Ich habe das unwiderstehliche Bedürfnis, die<br />

Geschichte einer Freundschaft aufzuschreiben, eines kleinen<br />

Abschnitts des Lebens. Szymon ist weggegangen. Er ist jetzt<br />

nicht in der Stadt. Man kann ihm nicht auf der Straße begegnen.<br />

Das fehlt mir am meisten…<br />

Ein Streifen in den Wolken, zurückgelassen, bis er sich auflöst<br />

oder ein anderes Flugzeug ihn kreuzt. Ein paar Worte,<br />

dahingeworfen im Bus auf der Fahrt ins Zentrum, eine Zugreise.<br />

Kennengelernt haben wir uns weder im Bus noch im<br />

Flugzeug noch im Zug. Ohne Nebengeräusche, das Brummen<br />

des Motors, das Rattern der Räder, ohne Schaukeln<br />

und Turbulenzen. Der uns miteinander bekanntmachte,<br />

hieß Boro und war ein „freigelassener“ Irrer, der weiterhin<br />

in der Abteilung wohnte. Von Zeit zu Zeit drehte er durch.<br />

Vor allem im Sommer, wenn alles grün war. Er hatte einen<br />

ganzen Satz von Tabletten gegen das Grün. Die Ärzte waren<br />

zu dem Schluss gekommen, er sei bereits in Ordnung und<br />

man müsse ihn nicht wegschließen. Er müsse nur Medikamente<br />

nehmen. Einmal schien es mir, als würden in meinem<br />

Auto gleich Blätter aus ihm sprießen, als würde er sich gleich<br />

in Grünzeug verwandeln. Ich sah, wie er schwitzt und dann<br />

nach den Tabletten greift und zu schreien beginnt: Jetzt,<br />

jetzt, jetzt. Er schrie, er verwandele sich in ein Moosfeld und<br />

dann in eine große Rasenfläche. Ich weiß auch nicht, vielleicht<br />

war es die Gesellschaft geistesgestörter Menschen, die<br />

es mir erlaubt hat, normal zu bleiben… Vielleicht hat die<br />

Tatsache, dass ich eine Rasenfläche, ein Moosfeld, eine große<br />

Gurke oder Wassermelone durch die Gegend fuhr, mich davor<br />

bewahrt, Napoleon zu werden oder die Heilige Teresa.<br />

Boro durfte weiterhin im Irrenhaus wohnen, auch wenn<br />

die Ärzte darauf drängten, er solle ausziehen. Essen bekam<br />

er nicht mehr. So fuhr ich immer wieder zu ihm und nahm<br />

ihn mit zu Ikea, wo es in der Stadt die billigsten Hot Dogs<br />

gab. Gemeinsam stopften wir uns mit ihnen voll und tranken<br />

Fanta dazu. Eines Tages sagte er, in der Abteilung sitze<br />

ein Pole, ein Geiger. Er fügte ein paar Fucks hinzu, denn er<br />

fluchte für sein Leben gern auf Englisch, er sagte, erst wenn<br />

er ein paar Kraftausdrücke ausgestoßen habe, spüre er, dass<br />

er lebe, und er tat es am laufenden Band.<br />

Im hiesigen Psychiaterslang galt Szymon als ein Kaninchen<br />

aus dem Hut. Kaninchen sind Patienten, die für einige Zeit<br />

auftauchen und dann verschwinden, wieder auftauchen und<br />

so weiter. Halbwegs geheilt und ab ins Leben. Dann ein Tief<br />

und wieder in die Abteilung. Abteilung und Leben, Leben<br />

und Abteilung. Ein Kaninchen … Ich sagte Boro, er solle<br />

mal mit dem Pfleger reden und dieser mit Szymon und<br />

dem Arzt, vielleicht könnten wir zusammen zu Ikea fahren,<br />

Würstchen essen. Und eines Tages verdeckte diese riesige<br />

Gestalt, diese menschliche Eiche ohne Zähne, Boro, mit seinem<br />

Schatten eine schmächtige Gestalt mit Drahtbrille. Ihr<br />

silbernes Brillengestell warf den Lichtstrahl des Autoscheinwerfers<br />

zurück, und Boro wurde in einer Sekunde zu jener<br />

slawischen Eiche, die vom Blitz getroffen wird und um die<br />

sich die Ansässigen versammeln, um sich magischen Tänzen<br />

hinzugeben. Die Gestalt mit der silbernen Brille schritt um<br />

ihn herum, den Kopf künstlich in die Höhe gereckt, und<br />

schaute ihm in die Augen, diesem Stück Kroatien, diesem<br />

Stück mythischen Waldes, diesem Baum, dieser Eiche, diesem<br />

Verrückten. Plötzlich schaltete der Oberarzt der Psychiatrie<br />

das Auto aus, und die Scheinwerfer verloschen. Szymon<br />

blieb in Boros Schatten stehen und blickte zum roten Volvo<br />

hin. Der Arzt stieg aus dem Auto und fragte. Zu Ikea, ja?<br />

Nur zu Ikea, Würstchen essen, ja. Darauf wackelten sie einmütig<br />

mit den Köpfen und kamen zu mir.<br />

Der Mann, der äußerlich an Korczak, Maximilian Kolbe<br />

und Gandhi erinnerte und hinter einer Brille verborgen war,<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


die bei gutem Wetter ein Kornfeld oder eine große Scheune<br />

hätte in Brand setzen können, stellte sich vor. Ich bin<br />

Szymon Kuran. Freut mich sehr, antwortete ich. Nein, ich<br />

habe die Freude, entgegnete er, und dir scheint es nur so. Ja,<br />

vielleicht hatte er recht, vielleicht freute es ihn tatsächlich<br />

und mir schien es nur so, aufgrund der angelernten Erwiderung.<br />

Das nennt man wohl gute Erziehung. Ein Gemisch<br />

von Verboten und klimatischen Bedingungen. Szymon aß<br />

gerade einen Hot Dog, ich wollte ihn wohl etwas fragen, da<br />

schaltete sich Boro ein. Also was ist mit diesen Steinen, lispelte<br />

er. Ganz normal, erwiderte ich. Du musst wie die Hühner<br />

oder Strauße, die haben auch keine Zähne, und damit<br />

die Verdauungsprozesse richtig ablaufen, schlucken sie kleine<br />

Steinchen, die das Essen wie Zähne zerkleinern. Szymon<br />

hörte mein kurzes Referat zur Gastrologie und war erstaunt<br />

darüber, wie ich den Gedankengang verkürzt und das Thema<br />

so unsinnig und von der Mitte her angefasst hatte, er legte<br />

das Wurstpapier auf den Tisch und begann leise zu lachen,<br />

während Boro und mir ja bewusst war, dass das die Fortsetzung<br />

unseres unvollendet gebliebenen Gesprächs aus dem<br />

vorigen Monat war, über den Kauf eines künstlichen Kiefers<br />

oder eines Sacks mit Steinchen. Als Boro seine Reaktion sah,<br />

beendete er den Satz so wie immer. Auf Englisch und kurz.<br />

Fuck you, sagte er und aß den Hot Dog auf, wobei er sich<br />

das große Ende ostentativ in den Mund stopfte.<br />

Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck<br />

Czarne<br />

Wołowiec 2007<br />

145 × 170 • 96 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7536-003-5<br />

Translation rights: Czarne<br />

Rights sold to:<br />

France/Editions Belfond<br />

Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel<br />

49<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa<br />

50<br />

Photo: Kasia Kobel<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Der neue Roman von Michał Witkowski ist eine weitere „Beichte<br />

eines Kindes des (vergangenen) Jahrhunderts“ in unserer Literatur.<br />

Aber dieses Kind ist wie man vom Autor von Lubiewo<br />

erwarten durfte nicht etwa irgendeines, es ist ein besonderes.<br />

Erzähler des Romans ist Hubert, ein Mann im besten mittleren<br />

Alter, der seine chaotischen Erinnerungen – voll von Rückblenden<br />

und plötzlichen Zeitsprüngen – erzählt. Und zu erinnern hat<br />

er genug! Hubert ist ein kleiner Fisch in der kriminellen Halbwelt<br />

der Bergarbeiterstadt Jaworzno-Szczakowa. Er handelt mit allem<br />

Möglichen, betreibt ein halblegales Kino, in dem er Filme<br />

von Videokassetten abspielt, ist Besitzer eines Leihhauses, geht<br />

der Schuldeneintreiberei und Hehlerei nach.<br />

Aus dem, was ich bisher geschrieben habe, könnte hervorgehen,<br />

daß Witkowski eine Geschichte erzählt, wie es sie in unserer Literatur<br />

bereits viele gegeben hat, von der verrückten Wendezeit,<br />

von dem Ende der VR Polen und den Anfängen der 3. Republik<br />

Polen. Dennoch ist im Grunde die<br />

Figur des Hubert die wichtigste im<br />

Roman. Woher also stammt diese<br />

Barbara Radziwiłłówna im Buchtitel?<br />

Hubert identifiziert sich mit jener<br />

kontroversen früheren Königin<br />

Polens, genau so wird er in seiner kleinen Welt genannt. Der<br />

Erzähler von Witkowskis Roman ist ein Träumer und Phantast,<br />

ein Mensch, der von Widersprüchen hin- und hergerissen wird;<br />

einerseits denkt er nüchtern, ist fest in der Gegenwart verankert,<br />

schaut aber gleichzeitig sehnsüchtig in die Vergangenheit und<br />

versucht, eine Familiengenealogie aufzubauen bzw. zu erfinden,<br />

er spielt sich als rücksichtsloser Mafioso auf, ist dabei jedoch<br />

„weich“, sentimental und zartfühlend, er glaubt ebenso fest an<br />

Gott wie an Weissagungen und Horoskope. Hubert empfindet<br />

sich als anders, was zur Folge hat, dass er unglücklich ist, „gefangen<br />

in seinem Leben wie in einem Gefängnis“. Den Roman<br />

des Autors von Lubiewo muss man vor allem als Geschichte eines<br />

Sonderlings lesen, der verzweifelte Versuche unternimmt,<br />

seine Träume zu verwirklichen, er sucht Liebe (er ist unglücklich<br />

in seinen Angestellten Sascha, einen ukrainischen Muskelprotz,<br />

verliebt), Glück und Akzeptanz.<br />

Robert Ostaszewski<br />

Michał Witkowski (geb. 1975), Prosaschriftsteller,<br />

Feuilletonist, Autor des viel<br />

beachteten, in zahlreiche Sprachen übersetzten<br />

Romans Lubiewo.<br />

Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa<br />

51<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa<br />

52<br />

Genau.<br />

Ich seufze. Der Brünette. Brünet-te.<br />

Den örtlichen Laubenpieper<br />

nicht mitgezählt, der<br />

sich im Komitee was zusammengeklaut und an die zwanzig<br />

Gewächshäuser errichtet hatte, war ich der Reichste in ganz<br />

Jaworzno. Er aber hatte einen Gemüseladen. Und Gemüseladen<br />

bedeutete damals nicht: ein Laden mit Gemüse, sondern<br />

mit allem! Mit Kaugummi, mit saurer Mehlsuppe in der Flasche<br />

(bäh!), sogar solche Einmal-Schuhe, aus Papier, konnte<br />

man dort kaufen. So sah also auch sein Gemüse aus. Jeden<br />

Sonntag fuhr er mit seinem Peugeot bei der Kirche vor, im<br />

schwarzen Pelzmantel, mit Pelzmütze aus der UdSSR, total<br />

eingemummt, zum Schreien! Gelobt sei der Herr! Hatte sich<br />

goldene Zähne besorgt, Jogginganzug, oh ja, dem geht es<br />

gut! Ich konnte mich nicht konzentrieren, spielte unter der<br />

Bank nervös mit den Autoschlüsseln. Schlimmer noch: ich<br />

sandte frevlerische Gebete an die Ewige Jungfrau Maria, sie<br />

möge ihm Krebs schicken! Ich bin ein tief gläubiger Mensch,<br />

ich liebe Gott – und besonders die Muttergottes. Also: Krebs<br />

für ihn und meiner Tante Aniela, von der ich mir eine Erbschaft<br />

erhoffe, den Tod. Aber der hatte keine Angst vor Gott!<br />

Hatte seine Finger in diese ganze Mafia getunkt, in die Diskothek<br />

„Kanty“, in die „Retro“-Bar, das Café „Jaworznianka“,<br />

dann, einige Jahre später, tunkte er seine schmutzigen<br />

Finger in diese Night-Clubs, den Stangentanz an der Autobahn.<br />

Praktisch die ganze Kabel-Straße war von ihm aufgekauft<br />

worden, aber sagt selbst, ist das Jagiellonen-Geschlecht<br />

nicht besser als diese kabelnden Laubenpieper?<br />

Ich konnte mir nicht einmal einen Gemüseladen leisten,<br />

aber wozu hab ich denn meinen Kopf? Ich fuhr nach Niewiadów,<br />

Hitze, ich gehe, überreiche Kaffee, um zum Direktor<br />

vorgelassen zu werden. Nur dass der eine Zuteilung von<br />

Lochziegeln wollte, nun fahre ich wieder zum Direktor der<br />

Baumaterialien-Fabrik, parke meinen Kleinen, gehe, überreiche<br />

Kaffee, um zu ihm vorgelassen zu werden. Hitze. Und<br />

der sagt: nix, Scheiße, hab ich nicht. Aber ich hatte Beziehungen<br />

im Bereich Bobo-Kinderoveralls und sage zu ihm, es<br />

ist soundso, ich hab’ Kinderoveralls. Ach herrje! Da wird die<br />

Frau sich aber freuen! Für diese Overalls wiederum musste<br />

ich eine Badewanne schwarz, außerhalb der Zuteilung,<br />

beschaffen. Und so hab ich schließlich meinen Wohnanhänger<br />

N 126 gekauft, den kann der Kleine ziehen. Statt fand<br />

dies bereits Mitte der achtziger Jahre. Als Zdzisława Guca<br />

im „Panorama“ angekündigt hatte, uns stehe lang anhaltend<br />

schlechtes Wetter bevor, und die Gruppe „Lombard“<br />

hatte hinzugefügt, „eisiges Wetter“. Als sie im „Panorama“<br />

die Ankunft des Winters angekündigt hatte, die Ankunft<br />

der Nacht, der schwarzen Nacht der achtziger Jahre. Damals<br />

fingen die Menschen an, sich mit Siphons, Wohnanhängern<br />

und DDR-Plastikwannen zum Baden von Säuglingen einzudecken.<br />

All dies häuften sie an und begannen, sich eine<br />

Arche zu bauen. Um abzuwarten.<br />

Meine Bekannten hatten mich gefragt, was denn, Hubert,<br />

bei diesem lang anhaltend schlechten Wetter hast du vor, mit<br />

dem Wohnanhänger in die Ferien nach Jugoslawien zu fahren?<br />

So schwere Zeiten, und du machst Ferien-Zeit? Ha, ha,<br />

ha! Was für Ferien, wer hat denn was von Ferien gesagt? Ein<br />

Lokal! Lo-kal, sagt euch das was? Ein gastronomisches Lokal<br />

dritter Klasse, eine so genannte kleine Gastronomie, überbackene<br />

Baguettes, Fritten, Hot Dogs bei der Radziwiłłówna<br />

gibt es, wie man weiß, die besten. (Mit gerösteten Zwiebeln<br />

drüber gestreut?) Der oberste Grundsatz im Überbackenes-<br />

Geschäft? Den Leuten altes, verbrauchtes Öl andrehen, im<br />

Toaster aufgefrischte längliche Brötchen, geriebenen Käse,<br />

über den sich nichts Gutes sagen lässt, hier und da platt gedrückte,<br />

mit (mit Wasser verdünntem) Ketchup überzogene<br />

Champignons – all das gegen echtes Geld eintauschen. (Drei<br />

achtzig sind angemessen.) Was die Champignons angeht, so<br />

würde ich auch dafür nicht meinen Kopf hinhalten, aber der<br />

Mensch ist kein Schwein – der isst alles. Und dass das Geld<br />

bis vor kurzem so echt auch wieder nicht war, und was noch<br />

schlimmer ist, jeden Augenblick anfangen konnte, einem<br />

vor den Augen wegzuschmelzen – das war ja noch nicht die<br />

Endstation des Geschäftes. Denn das Geld wiederum musste<br />

man so schnell wie möglich in Goldbarren umtauschen<br />

und in einer sorgsam bewachten Kassette aus echtem Stahl<br />

verschließen. (Welche Sauce darf’s denn sein? Knoblauch-,<br />

pikant, mild, Ketchup, Senf?)<br />

Und sich die Hände reiben!<br />

Erst Stahl und Gold erlaubten zumindest einen Moment<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


lang, einen Wert zu sichern. Einen, der unruhig von Wasser<br />

und Champignons über Geld zu sichereren Erzen läuft.<br />

Denn der Wert, das ist Strom, das ist Wasser: ohne Futter,<br />

ohne Kabel irrt er träge umher, von irgendeiner ureigenen<br />

inneren Unruhe getragen. Und weshalb sollte er nicht in den<br />

sicheren Hafen unserer Kassette einlaufen? (Haben Sie vielleicht<br />

zwanzig Groschen?)Alles in allem ist doch jedes Geschäft<br />

von ähnlicher Natur – Scheiße verkaufen, irgendwas,<br />

wenig dafür bekommen, aber in solchen Mengen, dass man<br />

dieses Wenig, dieses „fast Nichts“ in zumindest ein bisschen<br />

Wert umtauschen kann, einen Barren Gold oder einen Barren<br />

gleichmäßig in einer Schatulle gestapelter Dollar. Die<br />

man sich des Nachts hervorholen kann, betrachten, eventuell<br />

liebkosen, küssen, dran schnuppern et cetera. (Darf’s<br />

noch etwas sein für die gnädige Frau?)<br />

Aus dem Polnischen von Marie Hauptmeier<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 256 pages<br />

paperback<br />

ISBN 978-83-7414-328-8<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa<br />

53<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Grzegorz Kopaczewski Huta<br />

54<br />

Photo: Johanna Möller<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Wir schreiben das Jahr 2008. Die Sonderzone Huta ist zu einem<br />

Modellbezirk des postmodernen Polens, vielleicht sogar Europas,<br />

geworden. Das ehemalige Industriegebiet wurde (nach<br />

dem Vorbild eines real existierenden Kattowitzer Bezirks) in ein<br />

elegantes Kondominium umgewandelt, in einen wunderschönen<br />

Bezirk, der von erfolgreichen Geschäftsleuten und Kulturschaffenden,<br />

Wissenschaftlern und Künstlern bewohnt wird.<br />

Der Bezirk Huta ist im Roman eine Verbindung aus Silicon Valley<br />

und Greenwich Village. Hier haben die internationalen Hightech-<br />

Konzerne ihre Hauptquartiere, es wimmelt von Künstlerclubs<br />

und Galerien. Mehr noch – in Huta scheinen sämtliche Utopien<br />

der Bürgergesellschaft Wirklichkeit geworden zu sein, alle<br />

Bewohner sind glückliche, kreative und von jeglichem Konsumzwang<br />

befreite Menschen. Das Fantastische (Futurologische)<br />

vermischt sich mit Elementen der Dystopie. Huta ist nämlich<br />

auch ein Ghetto, eine künstliche Ministadt, die von einer hohen<br />

Mauer umgeben ist und von hunderten von Kameras überwacht<br />

wird. Außerhalb der Umzäunung liegt jenes Oberschlesien, beziehungsweise<br />

Polen, das es nicht<br />

geschafft hat.<br />

In dieser Szenerie begegnet der<br />

Leser dem Protagonisten Tomasz,<br />

einem jungen Doktoranten der Soziologie, der einer Universitätsverschwörung<br />

auf die Spur kommt, später Mitarbeiter eines<br />

geheimnisvollen Instituts wird und an Duellen der Geheimdienste<br />

teilnimmt.<br />

Das Gesellschaftsexperiment Huta ist wissenschaftlich fundiert.<br />

Alles nahm seinen Anfang mit den Schriften des Philosophen<br />

und Soziologen Kaspar Kuhn, einem Zeitgenossen Hegels, der<br />

nicht nur eine alternative Theorie zur marxistischen Lehre über<br />

die dialektische Entwicklung von Gesellschaften, sondern auch<br />

die Grundlagen der prognostischen Statistik, die unerlässlichen<br />

Algorithmen usw. schuf. Was, nebenbei gesagt, Fiktion in der<br />

Fiktion ist: Denn einerseits hat Kopaczewski Kuhn samt seinem<br />

stürmischen Lebenslauf und seinem umstürzlerischen wissenschaftlichen<br />

Werk erfunden, andererseits ist der deutsche Philosoph<br />

– wie sich zum Schluss des Romans herausstellt – auch<br />

eine Erfindung der Romanfiguren, und zwar einer Gruppe von<br />

genialen, rebellischen und exzentrischen Gelehrten der Universität<br />

Schlesien. Kopaczewski, und mit ihm der Leser, amüsiert<br />

sich köstlich über den wissenschaftlichen Diskurs. Und eben das<br />

ist die Stärke des Romans, und das Einmalige an ihm.<br />

Dariusz Nowacki<br />

Grzegorz Kopaczewski (geb. 1977),<br />

Prosaschriftsteller. Autor von zwei Romanen.<br />

Grzegorz Kopaczewski Huta<br />

55<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Grzegorz Kopaczewski Huta<br />

56<br />

Mein<br />

Umzug von Chorzów nach Huta dauerte<br />

zwei Stunden. Kleider und Bücher<br />

transportierte ich mit dem Taxi. Meine<br />

ganzen Besitztümer passten in einen Opel Astra Kombi hinein.<br />

Eigentlich besitze ich auch heute nicht mehr. Seit dieser<br />

Zeit habe ich mir nichts Neues angeschafft. Besitz ist out in<br />

Huta. Schlecht. Besitz ist überflüssig in Huta. Wozu brauchst<br />

du eine Waschmaschine, wo es doch Cleanicum gibt, wozu<br />

einen Fernseher, wenn es Teledromat gibt, was machst du<br />

mit einem DVD-Player, wenn du ein Abo fürs Casablanca<br />

hast, was mit einer Kaffeemaschine, wenn du über dem<br />

Kaffeeholiker wohnst? Wozu brauchst du ein Auto, wo du<br />

in Huta wohnst?<br />

Gegen Abend als ich in der neuen Wohnung meine Sachen<br />

schon ausgebreitet hatte, klopfte der Nachbar. Das Gesicht<br />

kannte ich. Von der Versammlung. Schriftsteller – Sozialaktivist;<br />

er war es gewesen, der mit immer neuen Anträgen<br />

Joachim den letzten Nerv geraubt hatte.<br />

„Hallo“, begann er schüchtern, während er sich misstrauisch<br />

umschaute. „Ich bin der Nachbar. Von gegenüber. Ich<br />

wollte mal Hallo sagen.“<br />

Er hatte zwei Bier bei sich, das eine war schon angefangen.<br />

Ich ließ ihn hinein.<br />

„Gefällt es dir in Huta?“, bereits nach den ersten Worten<br />

konnte man sich denken, dass er nicht gekommen war, um<br />

sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Wir setzten uns<br />

aufs Sofa. Er gab mir das andere Bier. Es war warm.<br />

„Ganz okay. Und dir?“<br />

„Immer weniger. Dafür machen sie immer mehr Druck.<br />

Sie sagen, für meine Wohnung gäbe es sechs Interessenten.<br />

Mit Preisen für Filme, Bücher und anderem Gedöns.<br />

Aber das ist erstunken und erlogen, wie man weiß ist für<br />

dieses Jahr das Wohnungskontingent für Künstler bereits erschöpft.“<br />

Ich machte ein verdutztes Gesicht. „Ja. Sie haben<br />

Kontingente für alle erwünschten Gesellschaftsgruppen. Ich<br />

weiß das, weil ich eine Bekannte im Bezirksrat habe. Selbst<br />

die Stipendien sind schon verteilt worden, wozu also diese<br />

Drohungen? Angeblich ist alles völlig transparent, wird alles<br />

öffentlich diskutiert, aber wenn es drauf ankommt, erpressen<br />

sie dich. Alles ist angeblich ganz offen und tolerant,<br />

aber wozu haben sie eine Mauer gebaut? Angeblich ist sie ein<br />

Denkmal und musste restauriert werden, dabei weiß jeder,<br />

dass es von Załęże bis hierher einen Zaun gegeben hat, aber<br />

keine Mauer. Und was ist mit der Fußgängerbrücke zum Silesia<br />

Center? Sie hatten Angst, dass die Leute zum Shoppen<br />

ins Einkaufszentrum gehen, weil es billiger ist, also haben sie<br />

keine Genehmigung erteilt. Angeblich haben die Bewohner<br />

per Volksentscheid den Bau abgelehnt, aber was ist das für<br />

eine Abstimmung vom Homecomputer aus. Wenn jemand<br />

keinen hat, stimmt er nicht ab. Und ihnen ist es egal, ob du<br />

einen hast. Ich aber hatte zu der Zeit gerade Probleme und<br />

musste meinen weggeben. Und dann sagen sie, ich würde<br />

nicht zur Verbesserung des Images von Huta beitragen. Sie<br />

würden keine Waise aushalten, die außerstande sei, etwas<br />

Neues zu schreiben.“<br />

„Hast du Arbeit in Huta bekommen?!“ Ich nickte. „Wo?“<br />

„Im Institut für Geschichte.“<br />

„Der Chef des Instituts ist auch im Rat. Du hast es gut<br />

getroffen.“ Er begann unruhig hin und her zu rutschen,<br />

schließlich stand er auf. „Okay, es ist Zeit für mich. War nett,<br />

den Nachbarn kennen zu lernen. Auf Wiedersehen.“<br />

Er verließ die Wohnung. Er hatte sich nicht vorgestellt.<br />

Noch hatte ich ihm meinen Namen genannt. Als ich schon<br />

im Bett lag, klopfte er erneut. Wieder mit Bier. Wieder war<br />

es warm.<br />

„Weißt du, wie sie es machen, dass Huta so eine gute Presse<br />

hat?“, sagte er, als er sich auf das Sofa fläzte.<br />

„Nein. Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“<br />

„Sie stellen dem Fernsehen Räumlichkeiten zur Verfügung.<br />

Das heißt den beliebteren Journalisten sogar Wohnungen.<br />

Alle wollen in Huta wohnen. Und diese Lumpen vom<br />

Fernsehen und der Presse sind sogar bereit, dafür zu zahlen.<br />

Und zwar doppelt so viel wie die normalen Bewohner. Wie<br />

du und ich. Jeder möchte ein Künstler sein oder zumindest<br />

wie ein Künstler leben. Ich weiß nicht, wie Künstler leben,<br />

aber die, die ein paar tausend für die Wohnung zahlen, wissen<br />

es sicherlich. Nur die von den Boulevardzeitungen und<br />

national-katholischen Blättern bekommen keine Wohnungen.<br />

Aber trotzdem schreiben sie Eingaben. Huta kommt<br />

ihre Kritik gelegen. Das unterstreicht die Richtung, in die<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


sich der Bezirk entwickelt. Und weißt du, wieso wir jetzt den<br />

skandinavischen Monat haben?“<br />

„Haben wir den skandinavischen Monat?“<br />

„Hörst du nicht den Kauderwelsch auf der Straße?“<br />

„Stimmt, als würde man mehr germanische Sprachen<br />

hören.“<br />

„Vor zwei Monaten hat man von Balice und Pyrzowice<br />

eine neue Verbindung nach Skandinavien eröffnet. Dass<br />

Musik und Filme von jenseits der Ostsee angesagt sind,<br />

kommt nicht von ungefähr. Die Strindberg-Retrospektive<br />

auch nicht. Natürlich alles gut dosiert, in kleinen Portionen,<br />

damit es nicht entwertet wird. Um die Snobs anzulocken.<br />

Sogar mir hat man vorgeschlagen, ein Stück zu schreiben.<br />

Die Handlung sollte zwischen Freunden beim gemeinsamen<br />

Zusammenschrauben von Ikea-Möbeln stattfinden.“<br />

„Eine gute Idee.“ Ich musste sogar lächeln. „Und? Hast du<br />

es geschrieben?“<br />

„Naaaa…“, begann er sich mit dem ganzen Körper zu winden,<br />

„zuerst wollte ich nicht. Dann dachte ich, das wäre ein<br />

guter Hintergrund. Aber sie begannen Druck zu machen.<br />

Wer bin ich denn! Der Texter von diesem Arsch vom Gangende?<br />

Wie heißt er noch gleich?“<br />

„Wer?“<br />

„Na der, letzte Tür auf unserer Etage. Er singt im Fernsehen,<br />

jetzt hat er einen ganz bekannten Hit. „Ich fliege hoch<br />

ins Blaue hinein“, irgendwie so. Und er spielt in einer Soap<br />

mit. Meine Freundin Justyna sagt, dass sie ihm eine Wohnung<br />

vermietet haben, weil der Junge unbedingt ein Künstler<br />

sein wollte, so ein richtiger, hat er gesagt, und sie zocken<br />

ihn hier ganz schön ab, aber ihm gefällt es. Und da er fast<br />

jeden Tag in „Fakt“ ist, macht er Huta kostenlos Reklame.<br />

Das ist ein einfacher Junge.“<br />

Er blieb sitzen bis die Dose leer war. Er hatte sich nichthutagerecht<br />

beschwert, in nichthutagerechten Erinnerungen<br />

geschwelgt und zog einen nichthutagerechten Pessimismus<br />

hinter sich her.<br />

Aus dem Polnischen von Andreas Volk<br />

Czarne<br />

Wołowiec 2007<br />

125 × 195 • 185 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-7536-014-1<br />

Translation rights: Czarne<br />

Grzegorz Kopaczewski Huta<br />

57<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Marek Kochan Spielplatz<br />

58<br />

Photo: Privatarchiv<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Spielplatz ist ein zeitgenössischer Gesellschaftsroman mit satirischem<br />

Einschlag. Thema sind die Krise der Männlichkeit und die<br />

Umkehrung der Rollen in der modernen Familie.<br />

Der Roman hat drei Hauptfiguren. Zwei von ihnen sind Männer,<br />

die im Schatten ihrer Ehefrauen – Macherinnen, die an ihrer beruflichen<br />

Karriere basteln – stehen. Der dritte Mann ist ein Single<br />

und Playboy, ein Held der Medien und notorischer Aufreißer.<br />

Auf verschiedene Weise durchleben alle drei eine Krise ihrer<br />

männlichen Identität. Letzterer inszeniert, um als Supermann<br />

zu gelten, lustige und zugleich klägliche Verführungsschauspiele.<br />

Seine Männlichkeit ist immer konstruiert, immer zur Schau<br />

gestellt. Die zwei „Männer ihrer Frauen“ wiederum erleben die<br />

weibliche Dominanz auf unterschiedliche Art. Der eine ist einfach<br />

ein geistig beschränkter Versager<br />

und freiwilliger Arbeitsloser. Die<br />

Betreuung des kleinen Kindes, das<br />

Putzen und Kochen sind verantwortungsvolle<br />

Aufgaben, die ihn fast schon überfordern. Allerdings<br />

sollte er auf keinen Fall nach „Höherem“ streben, denn es scheint<br />

seine Bestimmung zu sein, das männliche Hausmütterchen zu<br />

spielen. Der andere ist ein träger Wissenschaftler, der, obwohl<br />

hoch qualifiziert, sich nicht rechtzeitig um seine eigene Karriere<br />

gekümmert hat. Er hat sich für ein bequemes Leben an der Seite<br />

seiner sehr gut verdienenden Frau entschieden. Nach Jahren des<br />

inneren Zwiespalts begreift er jedoch seinen Fehler. Er besinnt<br />

sich und findet seinen Platz in der Welt – er wird Schriftsteller.<br />

Kochan moralisiert nicht, ergreift für keinen seiner Helden Partei,<br />

spielt geschickt die kulturellen Stereotype durch und ist ein<br />

guter Beobachter des gesellschaftlichen Wandels, der in den<br />

letzten Jahren stattgefunden hat.<br />

Dariusz Nowacki<br />

Marek Kochan (geb. 1969), Prosaschriftsteller,<br />

Autor von Fernsehdrehbüchern und Bühnentexten.<br />

Marek Kochan Spielplatz<br />

59<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Marek Kochan Spielplatz<br />

60<br />

NEUN<br />

uhr. um diese uhrzeit sollte der<br />

meister kommen. Schon fast eine<br />

Viertelstunde macht sich Kätzchen<br />

in der Wohnung zu schaffen, klopft ab, misst nach. Davon<br />

absehen, es gut sein lassen, die Fenster schon fertig haben.<br />

Was solls, dass sie schief sind. Wer wird das schon bemerken,<br />

wer wird klopfen, um zu sehen, ob darunter Gips oder<br />

Hohlräume sind. Na, wer schon? Vater. Ja, Opa Witek wird<br />

klopfen, und es sofort bemerken. Aber was geht ihn unsere<br />

Wohnung an, soll er sich um seine kümmern. Wir werden<br />

hier wohnen. Helenka hat das Geld verdient, ich renoviere.<br />

Finger weg! Er, Kätzchen, lebt schließlich nicht, um die Erwartungen<br />

seines Vaters zu erfüllen, sondern nur für sich. Er<br />

hat sein eigenes Leben. Wegen irgendwelcher Fenster. Soll<br />

er sich zanken, wegen einer x-beliebigen Lappalie, Energie<br />

verschwenden. Er wird sagen, dass seine Frau es sich abends<br />

angeschaut habe und gemeint habe, auf keinen Fall aber ihretwegen.<br />

Das ist eine Notlösung, ein Hintertürchen, um<br />

das Gesicht zu wahren. So denkt Kätzchen von Punkt neun<br />

Uhr bis neun Uhr fünf, neun Uhr zehn. Selbst um neun Uhr<br />

fünfzehn ist das noch sein Standpunkt. Er ruft Helenka an.<br />

Er sei nicht gekommen, der Meister. Hat er dich vielleicht<br />

angerufen? Er hat meine Nummer ja gar nicht. Nein, gib sie<br />

ihm nicht. Sprich überhaupt nicht mit ihm. Heb nicht einmal<br />

ab, wenn er anruft. Ich erledige das, mit dem werde ich<br />

schon fertig. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Zumal<br />

der Meister nicht kommt. Dafür überkommt Kätzchen Wut,<br />

mit steigender Tendenz zwischen neun Uhr sechzehn und<br />

zwanzig vor zehn, mit dem Höhepunkt um halb. Was denkt<br />

er sich, der Vollidiot. Dieses Ledermännchen. Bildet er sich<br />

etwa ein, Helenka und er würden so lange auf ihn warten?<br />

Und Helenka allein schon gar nicht. Wo sie mit Geschäften<br />

beschäftigt ist, soll sie ihre wertvolle Zeit mit dem Meister<br />

verschwenden? Und das als zahlender Kunde. Immer größerer<br />

Hass steigt in ihm hoch, dann, kurz vor zehn, wird dieser<br />

allmählich schwächer, klarer und erstarrt. Zum Schluss<br />

verhärtet er sich. Warte nur Freundchen, dir werde ich es<br />

zeigen, du wirst dein blaues Wunder erleben. Er sieht sich<br />

den Auftrag durch, prüft, was er für Paragrafen hat. Ruhig,<br />

fast schon fröhlich ist Kätzchen, als es an der Tür klingelt, es<br />

ist fünf vor zehn. Habe ich es doch noch pünktlich geschafft,<br />

sagt der Meister selbstzufrieden. Und wo ist ihre Frau, ist sie<br />

nicht da? Na gut, dann erledige ich das mit Ihnen. Also, hier<br />

habe ich alles vorbereitet, hier die Rechnung, er händigt sie<br />

aus. Wir erledigen das, wird alles erledigt, antwortet Kätzchen,<br />

er lächelt. Nur halt heute noch nicht. Wieso das? Na<br />

ja, es müssen noch ein paar Kleinigkeiten verbessert werden.<br />

Verbessert werden? Wissen Sie, Herr, Kätzchen schaut auf die<br />

Rechnung, auf ihr ein Stempel mit einem Nachnamen, Herr,<br />

ja, Adrian, stimmts, von mir aus wäre das sogar okay gewesen.<br />

Ich habe es mir tagsüber angesehen, und alles in allem<br />

wäre das noch gegangen, ginge es nach mir. Aber meine Frau!<br />

Meine Frau, Herr Adrian, hat einen Wutanfall bekommen.<br />

Sie kommt um zwei vor neun, schaut es sich an und sagt zu<br />

mir, ein Skandal ist das, eine Pfuscherei, so nicht. Sie werden<br />

alle Fenster neu einsetzen, hat sie gesagt, oder wir wechseln<br />

gleich ganz die Firma, verfällt halt die Anzahlung, da kann<br />

man nichts machen. Jemand anderes wird das ordentlich machen.<br />

Ich konnte sie gerade noch so beruhigen, Herr Adrian,<br />

gib ihnen eine Chance, habe ich gesagt, im Grunde sind das<br />

gute Handwerker, sie haben sich bemüht, das muss in der<br />

Eile passiert sein, sie kommen nochmal und verbessern das<br />

in aller Ruhe. Sie haben Glück gehabt, dass Sie nicht früher<br />

gekommen sind. Sie hätte es Ihnen gegeben. Bis fünf nach<br />

hat sie gewartet und ist dann gegangen, Sie wären ganz schön<br />

unter die Räder gekommen, wenn Sie ihr zufällig über den<br />

Weg gelaufen wären. Sie kennen sie nicht, sie sieht nur so<br />

aus, aber in Wirklichkeit, Herr Adrian, ist sie ein Taifun. Sie<br />

hat ihre eigene Firma, in der Immobilienbranche, die Angestellten<br />

kommandiert sie herum, dass sie einem manchmal<br />

Leid tun können. Und dazu kennt sie sich noch aus. Rechtsanwältin.<br />

Von Verträgen versteht sie was. Sie hat mir gleich<br />

gesagt, dass Sie nur der Subunternehmer sind, dass Sie einen<br />

Vertrag mit der Firma haben, die die Fenster herstellt. Ist<br />

doch so, oder, Herr Adrian? Eben. Sie sagte, wenn irgendetwas<br />

nicht in Ordnung sein sollte, werde sie dort zur Geschäftsführung<br />

gehen und Sie so in die Pfanne hauen, dass<br />

Sie sich vor Schadenersatzforderungen nicht mehr retten<br />

können. Die Frau ist rachsüchtig, das können Sie mir glauben.<br />

Einmal hat ein Bauunternehmer einem ihrer Kunden<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


einen Bauplan für den Ausbau eines Dachbodens angefertigt,<br />

und als etwas nicht stimmte, ist sie vor Gericht gegangen, sie<br />

hat Gutachten vorgelegt, dass das Dachgeschoss eingestürzt<br />

wäre, sie haben seinen Gewerbeschein eingezogen, ihn aus<br />

der Gewerkschaft ausgeschlossen. Sie hat den Mann zerstört.<br />

Und Kontakte, die hat sie. Vorläufig nehme ich Sie in Schutz,<br />

sollte sie es aber auf Sie abgesehen haben, dann werden Sie in<br />

keiner seriösen Firma in Warschau mehr Arbeit bekommen.<br />

Mit den Adressen aus dem Computer würde sie Sie überall<br />

anschwärzen. Sie würden eine Zeitlang kämpfen, aber das<br />

muss ja nicht sein, wozu die Schwierigkeiten. Sie kommen<br />

doch aus Płońsk, dort ist Arbeit Mangelware, während es<br />

hier einen gesunden, großen Markt gibt. Wozu ein Risiko<br />

eingehen? Besser seine Sachen machen, Geld verdienen,<br />

reich werden. Und wenn sie erst zufrieden ist, wird sie Sie<br />

weiterempfehlen. Sowohl für Fenster als auch für größere Arbeiten.<br />

Wozu, glauben Sie, machen wir das wohl. Wir haben<br />

ein paar von diesen Mietwohnungen. Und sind gerade dabei<br />

weitere Wohnungen zu kaufen. Für uns sind das Peanuts!<br />

Er schnippt mit den Fingern. Ich beschäftige mich ausschließlich<br />

damit, kümmere mich um die Renovierungen,<br />

nehme das Geld in Empfang. Meine Aufgabe ist es, die Arbeiten<br />

zu beaufsichtigen. Schließlich geht es doch um Kleinigkeiten.<br />

Ja, aber was hilft es, dass es für mich okay ist,<br />

wenn sie nicht zufrieden ist. Ich kenne sie, Herr Adrian, wir<br />

leben jetzt fünf Jahre zusammen, und in der Zeit habe ich<br />

gelernt, dass man besser nachgibt, es so macht, wie sie es will,<br />

und dann ist es gut.<br />

Aus dem Polnischen von Andreas Volk<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 428 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-295-3<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Marek Kochan Spielplatz<br />

61<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins<br />

62<br />

Photo: Agnieszka Herman<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die Maske des Harlekins ist nach Polnische Sonate und Der Berg<br />

der schlafenden Schlangen der dritte Teil eines Romanzyklus<br />

von Hanna Kowalewska. Den Zyklus verbinden die Hauptfigur<br />

Matylda, ein Häuschen in Zawrocie als Ort der Handlung,<br />

das Tagebuch als Erzählform und die verstorbene Großmutter<br />

als Adressatin der Bekenntnisse. In den einzelnen Teilen wird<br />

das wechselvolle Schicksal der Hauptfigur erzählt (vor allem in<br />

Herzensdingen), doch zugleich steht immer auch – und das unterscheidet<br />

die einzelnen Romanakte voneinander – ein neues<br />

Geheimnis aus der Vergangenheit im Zentrum der Handlung.<br />

Der Besitz in Zawrocie ist eine Art Katalysator für Matyldas detektivische<br />

Neigungen, hier liegen die Spuren verborgen, die zu<br />

den Geheimnissen ihrer Familie führen, und hier „materialisieren<br />

sich“ auch die Geister der Vergangenheit.<br />

Ein solches Gespenst ist Olga, eine ehemalige Kommilitonin<br />

und Rivalin der Hauptfigur. Olga und Filip „der Verrückte“, Matyldas<br />

späterer Ehemann, waren ein<br />

Paar gewesen. Zwar hatte Olga den<br />

Kampf um ihn verloren, gleichzeitig<br />

war sie die einzige Zeugin von Filips<br />

tragischem Tod. Nach zehn Jahren,<br />

die seit jenem Ereignis verstrichen sind, kehrt sie nach Polen zurück<br />

und provoziert die Heldin zu einer neuen Ermittlung. Um die<br />

Wahrheit zu erfahren, wird sich Matylda der traumatischsten Erfahrung<br />

ihres Lebens stellen müssen. Und sich bei dieser Gelegenheit<br />

auf einen sadomasochistischen Entscheidungskampf mit<br />

einer Frau einlassen, die sie zutiefst hasst. Die Zeit wird jedoch<br />

zeigen, welche der beiden Protagonistinnen stärker leidet..<br />

Hanna Kowalewska bestätigt in diesem Roman ihr Talent für den<br />

Aufbau einer spannenden Romanhandlung und die Konstruktion<br />

einer Intrige. Sie ist auch eine ausgezeichnete Kennerin menschlicher<br />

Charaktere. Die Maske des Harlekins changiert also zwischen<br />

einem Thriller und einem psychologischen Roman.<br />

Hanna Kowalewska (geb. 1960), sie<br />

schreibt Gedichte, lyrische Prosa, Romane,<br />

Erzählungen, Hörspiele und Dramen.<br />

Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins<br />

63<br />

Marta Mizuro<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins<br />

64<br />

„Europa!“,<br />

fauchte sie und<br />

begutachtete den<br />

nächsten Kratzer<br />

im Leder ihrer italienischen Pumps. „Elendes Geschluder!<br />

Noch schlimmer als zu Zeiten der Kommune. Damals wusste<br />

der Mensch wenigstens, was ihm widerfahren konnte. Er<br />

war geistig darauf vorbereitet. Und jetzt hofft man auf werweißwas!“<br />

Vor zehn Jahren hatte Olga noch keine Highheels getragen,<br />

keine hautfarbenen Nylonstrümpfe und luftigen Gewänder.<br />

Sie hatte kein gefärbtes Haar auf dem Kopf, keine<br />

mit grellem Nagellack bepinselten langen Fingernägel und<br />

nicht Tonnen von Wimpertusche aufgelegt. Und sie bewegte<br />

sich nicht wie ein Dämchen, sondern stand mit beiden<br />

Beinen fest auf der Erde, trug solides Schuhwerk mit dicker,<br />

flacher Sohle. Warum hatte sie darauf beharrt, auf bürotauglichen<br />

Absätzen, in denen man stundenlang in der Nähe des<br />

Arbeitszimmers des Chefs am Schreibtisch sitzen konnte,<br />

die alte, neue Welt kennenzulernen, und das zu Fuß? Wozu<br />

brauchte sie Unbequemlichkeit und Schmerz? Warum hatte<br />

sie beschlossen, sich so furchtbar zu quälen? Wollte sie mir<br />

und sich beweisen, dass man diese Stadt in die Mülltonne<br />

klopfen konnte? Musste sie sie unbedingt so kleinmachen?<br />

Aber warum? Um ihr eigenes gegenwärtiges Leben zu erhöhen?<br />

Das Berliner? Das elegante? Das Highheelleben?<br />

Das alles hatte keinen Sinn, jedenfalls konnte ich keinen<br />

finden. Sie stöckelte, ich ging in meinem alten Schritt, in<br />

bequemen, nicht schlecht geschnittenen Schuhen. Also passten<br />

wir wie schon vor Jahren nicht zueinander, wenn auch<br />

damals aus völlig anderen Gründen.<br />

Nicht nur die Stadt, sondern die ganze Welt war in Olgas<br />

Gegenwart irgendwie anders. Es regnete, obwohl es nicht<br />

hatte regnen sollen. Zumindest war Olga davon überzeugt,<br />

dass es an genau diesem Tag nicht hätte regnen dürfen. Es<br />

hätte Hitze geben sollen, doch es gab keine. Olga stapfte in<br />

leichten Sachen in die Tiefe kalter Straßen, mit Gänsehaut,<br />

durchgefroren, kalt erwischt von der plötzlichen Kälte, die ihr<br />

durch Mark und Bein ging. Es sah aus, als verstünde sie diese<br />

Stadt und dieses Klima nicht mehr, nichts, was ihr früher so<br />

vertraut war wie mir. Sie beharrte zudem auf ihrer Ansicht,<br />

als müsste sich die Stadt und alles andere ihren Vorstellungen<br />

und Erinnerungen anpassen, nicht sie den Umständen.<br />

In der Nähe der Centrum-Kaufhäuser, in einer Seitenstraße<br />

– wo Olga einen winzigen Teeladen suchte, den es hier<br />

einmal gegeben haben sollte und der sich jetzt einfach nicht<br />

finden wollte – trafen wir Jakub. Er trug unter dem Arm einen<br />

bunten Karton, dessen Aufkleber der ganzen Welt kund<br />

taten, dass er nicht nur ein fürsorglicher, sondern auch ein<br />

großzügiger Papi war. Ein Fernglas! Ein Geschenk für seinen<br />

Sohn! Nun ja, was sonst hätte ihn in der Innenstadt, die er<br />

nicht mochte, aus dem Auto bewegen können.<br />

„Jakub? Soll heißen wer?“, fragte Olga provokativ, als wir<br />

uns gemeinsam unter die Schirme eines kleinen Cafés setzten.<br />

„Ein Bekannter? Ein guter Bekannter? Ein Freund? Der<br />

Liebhaber? Der Freund?“<br />

Jakub war einen Augenblick lang verlegen. Er wusste selbst<br />

nicht, wer er für mich war.<br />

„Ein Bekannter“, sagte ich für ihn, und er protestierte<br />

nicht.<br />

„Die Bezeichnung behagt ihm offensichtlich nicht besonders“,<br />

bemerkte Olga ironisch. Sie nahm sich gleich eine Zigarette,<br />

wartete, bis Jakub ihr Feuer gegeben hatte, und setzte<br />

dann zu ihrem Monolog an. „Entweder wäre er gerne mehr,<br />

oder du hast nicht die Wahrheit gesagt.“ Sie hatte die unerträgliche<br />

Manier, so zu sprechen, dass immer jemand vom<br />

eigentlichen Gespräch ausgeschlossen wurde. Diesmal war es<br />

Jakub. „Lass mich raten, Liebhaber. Ich weiß nur nicht, ob<br />

ehemaliger, gegenwärtiger oder auch nur potentieller.“<br />

„Achte nicht auf sie“, brummte ich Jakub zu. „Sie ist so.<br />

Ihr scheint, dass das Menschenprovozieren der einfachste<br />

Weg ist, um sie zu enträtseln. Deshalb schießt sie so blindlings<br />

drauf los.“<br />

„Manchmal trifft sie dabei ins Schwarze“, erwiderte Jakub,<br />

obwohl er wusste, dass mir das nicht gefallen würde.<br />

„Na bitte!“, lachte Olga triumphierend auf. „Schießen wir<br />

weiter?“<br />

„Hör auf!“, protestierte ich.<br />

„Wie du wünschst.“ Einen Augenblick lang widmete sie<br />

sich dem Zigarettenqualm. Aber sie hörte nicht auf, uns zu<br />

beobachten.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Um dem ein Ende zu setzen, griff ich nach der Speisekarte.<br />

„Sie haben hier eine ziemlich gute Auswahl, vor allem<br />

an Tee. Jasmintee, tropischen, Preiselbeer, mit Ingwer, mit<br />

Walderdbeeren.“<br />

„Das ist also heute dein Geschmack“, sagte Olga und<br />

schenkte meiner Aufzählung keinerlei Beachtung. Es war ihr<br />

gleichgültig, dass ihre Worte, vor allem aber ihr Ton Jakub<br />

verletzen konnte. „Schau...“, wandte sie sich an ihn, „Matylda<br />

und ich haben uns fast zehn Jahre nicht gesehen. Eine<br />

lange Zeit, nicht wahr?“ Sie klopfte die Asche ab. Jakub nickte.<br />

„Ich entdecke sie ganz neu. Alles an ihr ist anders. Du<br />

erinnerst auch in nichts an den Kerl, den sie damals liebte.<br />

Ihr Mann... Das klingt seltsam, wenn man über jemanden<br />

wie Matylda spricht.“<br />

Sie sah ihn mit einem ironischen Lächeln an, sie wollte<br />

sehen, welchen Eindruck das auf ihn machte. Jakub trug<br />

jedoch bereits die Maske der Gleichgültigkeit. Er stieß Zigarettenrauch<br />

aus und beobachtete das graue Wölklein gelassen,<br />

als beträfe die ganze Ansprache gar nicht ihn.<br />

„Zehn Jahre?“, fragte er einen Augenblick später und gestattete<br />

auch sich einen Anflug von Ironie. „Ausland, Gefängnis<br />

oder Nervenheilanstalt?“<br />

Olga lachte auf.<br />

„Erraten. Jetzt muss man nur noch ‚oder’ herauslassen“,<br />

sagte sie, „es hat sich doch gelohnt, sich von hier für eine<br />

Weile loszureißen, um jetzt euch beide und all das ringsherum<br />

zu sehen. Ein gar nicht übles Irrenhaus. Vielleicht auch<br />

ein Wanderzirkus. Ja, das ist wohl der bessere Ausdruck. Und<br />

die da“, sie deutete auf mich, „immer auf dem Hochseil, mit<br />

dem Schirmchen. Früher hat sie sich darauf herumgetrieben,<br />

weil sie glaubte, die Erdanziehungskraft gäbe es für sie nicht,<br />

jetzt weiß, dass das nicht stimmt, aber sie möchte sich an<br />

diesen Zustand erinnern, als sie sich täuschte. Vielleicht ist<br />

der Grund auch ein anderer? Vielleicht sucht sie da oben<br />

Seilakrobaten? Wer kennt sich schon bei ihr aus? Und du,<br />

was denkst du dazu?“<br />

„Ich denke, dass es dir auf solchen Absätzen schwer fiele,<br />

auf dem Seil zu gehen.“<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

Zysk i s-ka<br />

Poznań 2007<br />

125 × 195 • 318 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-7506-062-1<br />

Translation rights:<br />

Hanna Kowalewska<br />

Contact: Zysk i s-ka<br />

Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins<br />

65<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Wacław Holewiński Der Weg nach Putte<br />

66<br />

Photo: Włodzimierz Wasyluk<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ein Buch wie Der Weg nach Putte hat es in der polnischen Literatur<br />

der letzten Jahre nicht oft gegeben. Holewiński entwirft eine<br />

faszinierende Geschichte über die Biographie eines der führenden<br />

flämischen Maler des Barock, Jacob Jordaens (1593-1678).<br />

Die Handlung des Romans setzt im Jahr 1640 ein. Zu diesem<br />

Zeitpunkt ist Jordaens bereits ein gereifter, anerkannter und<br />

vermögender Maler: Er hat eine liebende Frau, wohlgeratene<br />

Kinder und ein prächtiges Haus. Doch wie so viele Künstler ist<br />

auch Jordaens von einer schöpferischeren Unruhe erfüllt. Sein<br />

Verhältnis zu Rubens, mit dem er sich immer wieder vergleicht,<br />

trägt deutlich zwanghafte Züge. Er ist nicht sicher, ob er wirklich<br />

ein künstlerisches Genie oder nur ein überaus begabter Handwerker<br />

ist. Doch Holewińskis Roman erzählt nicht nur von den<br />

Höhen und Tiefen einer Künstlerbiografie,<br />

vom Leben eines unermüdlichen<br />

Arbeiters, der alles andere<br />

der Malerei unterordnete. Im Hintergrund<br />

entwirft er auch ein detailliertes Bild des Alltagslebens<br />

im Antwerpen des siebzehnten Jahrhunderts, einer ehemals<br />

blühenden Handelsmetropole, die zunehmend im Verfall begriffen<br />

ist und von politischen und religiösen Konflikten geschüttelt<br />

wird. Der Weg nach Putte ist aber auch – und vielleicht vor allem<br />

– ein Roman über das Leiden an der Vergänglichkeit und über<br />

die Auseinandersetzung mit dem Tod. Nicht zufällig erwähnt der<br />

Autor im Titel des Romans den Ort, an dem Jordaens und seine<br />

Angehörigen beigesetzt wurden. Für den Maler selbst war der<br />

titelgebende „Weg nach Putte“ ein überaus schmerzvoller: Da er<br />

selbst ein sehr hohes Alter erreichte, musste er sich mit Tod fast<br />

aller seiner Angehörigen abfinden. Doch Jordaens überließ sich<br />

nie seiner Verzweiflung, immer fand er Trost in der Malerei.<br />

Wacław Holewiński (geb. 1956), Romanschriftsteller,<br />

Dramatiker, Herausgeber und<br />

Redakteur.<br />

Wacław Holewiński Der Weg nach Putte<br />

67<br />

Robert Ostaszewski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Wacław Holewiński Der Weg nach Putte<br />

68<br />

– Rubens<br />

– warf jemand von<br />

der Seite ein.<br />

Ein anderer erblickte<br />

eine vorzügliche Ähnlichkeit zwischen der Gestalt auf dem<br />

Bild und dem seligen Frederik Hendrik, der allen noch lebhaft<br />

vor Augen stand.<br />

Nur Beck, ein reicher Kaufmann aus Den Haag, erlaubte<br />

sich eine spitze Bemerkung:<br />

– Wenn das Rubens sein soll, wie glücklich können wir<br />

uns da schätzen, dass wir unseren Rembrandt haben.<br />

Jordaens lauschte diesen Urteilen anfangs noch mit einer<br />

gewissen Befangenheit, doch mit jedem weiteren Lob hellte<br />

sich seine Miene auf und wuchs sein Selbstbewusstsein. Ihm<br />

selbst schien es, als ermangele es dem Bild an jenem pulsierenden<br />

Rhythmus, jener Intensität, die er in anderen Szenen,<br />

auf anderen Bildern mitunter eingefangen hatte. Da dies jedoch<br />

keinem der Anwesenden weiter auffiel...<br />

– Meister – die Fürstin hakte sich bei ihm ein und schritt<br />

neben ihm vom einen Ende des riesigen Gemäldes zum anderen<br />

– wenn die beiden anderen Bilder genauso schön werden...<br />

Ich werde stolz sein, solche Werke zu besitzen.<br />

Sie ließ Wein kommen. Einen Augenblick später brachte<br />

sie einen Toast aus, jedoch nicht auf ihn, sondern auf die<br />

Zukunft.<br />

– Auf dass dieses Haus in Zukunft möglichst oft Künstler<br />

von eurem Rang zu Gast haben möge.<br />

Der Klang zerbrechenden Glases, der auf die Unaufmerksamkeit<br />

einer der Damen zurückzuführen war, löste allgemeine<br />

Heiterkeit aus.<br />

– Ein gutes Zeichen – rief einer der anderen Maler und<br />

wandte sich gleich darauf an Jordaens, um ihm die verdiente<br />

Ehre zu erweisen.<br />

Die Fürstin überließ ihn seiner Obhut und unterhielt sich<br />

eine Weile mit dem jungen Jacob. Sie bat ihn, ihr zu zeigen,<br />

worin sein Anteil an dem Werk bestanden hatte. Anschließend<br />

lauschte sie einer lebhaften Unterhaltung zweier Maler,<br />

die mit ihren sachkundigen Bemerkungen über die Originalität<br />

des Kolorits und die unterschiedliche Farbdichte in<br />

den hellen und dunklen Bildpartien eine vielköpfige Zuhörerschaft<br />

um sich geschart hatten.<br />

Der Maler, der neben dem Auslöser dieses Aufruhrs stand,<br />

Egbertus Kuipt, wollte Jacob unbedingt in sein Atelier einladen.<br />

Er selbst malte keine großen Gemälde, wie Jordaens,<br />

sondern, in der Art seines entfernten Vetters Gerard<br />

ter Borch, kleinere Bilder, auf denen er reiche Bürger mit<br />

ihrer Dienerschaft darstellte. Mit großer Sorgfalt arbeitete<br />

er an jeder einzelnen Feder, jeder Portiere und jeder Spitzenmanschette,<br />

und eben daher rührte seine Bewunderung<br />

für Jacob, der auf einem so großen Gemälde nicht nur die<br />

Details erfasste, sondern auch scheinbar mühelos gewisse Figuren<br />

mit dem Hintergrund verschmelzen ließ, ein Gefühl<br />

für den Raum vermittelte, seine Verbundenheit mit der Tradition<br />

ausdrückte, etwas in sie einfließen ließ, das als „glatte<br />

Malerei“ bezeichnet wurde, und obendrein durch gezielten<br />

Einsatz des Lichts keinen Zweifel daran ließ, welche der Figuren<br />

die wichtigste war.<br />

Jacob, den es aus heiterem Himmel am ganzen Körper zu<br />

jucken begann, nahm Kuipts Einladung an und drückte ihm<br />

die Hand. Mit einem Mal spürte er, wie alles von ihm abfiel:<br />

die Aufregung, die Sorge, eine gewisse Angst. Er hatte<br />

gewusst, dass dieser Moment kommen würde, in dem andere<br />

ein Urteil über seine Kunst fällen würden, doch er hatte<br />

nicht geahnt, wie abhängig er noch immer von diesem Urteil<br />

war. Nur gut, dass die Fürstin zu dieser unangekündigten<br />

Vorführung Menschen wie ihn eingeladen hatte, Künstler,<br />

die Talent und unermüdlichen Fleiß besaßen und die die<br />

Welt mit anderen Augen sahen. Und wie ein Kind freute er<br />

sich über ihre Anerkennung.<br />

Jacob nahm an diesem Tag noch viele Gratulationen<br />

entgegen. Er zweifelte nicht an ihrer Aufrichtigkeit, einen<br />

Moment lang glaubte er sogar, dass niemand anders als er<br />

selbst... Hochmut – erkannte er freilich noch im selben Augenblick<br />

– Rüstzeug des Teufels... Schnell kam er wieder zur<br />

Besinnung. Nachdem alle gegangen waren, setzte er sich auf<br />

eines der Podeste und betrachtete lange sein Werk. Und als<br />

er lange genug gesessen hatte, griff er nach seinem Pinsel und<br />

warf ihn auf den Boden.<br />

Der junge Jacob war den Tränen nahe, als er sah, wie sein<br />

Vater zerstörte, was andere für ein Meisterwerk gehalten<br />

hatten.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


– Warum? – stieß er hervor.<br />

– Warum? – wiederholte Jordaens die Worte seines Sohnes.<br />

– Du hast einmal gesagt, dies würde mein bedeutendstes<br />

Werk werden, weißt du noch? – erinnerte er ihn an<br />

ein früheres Gespräch. – Ich möchte nicht, dass irgendjemand<br />

denkt, zu mehr sei ich nicht imstande. Aber mach dir<br />

keine Sorgen – versuchte er ihn zu trösten. – Du kannst mit<br />

dem zweiten Bild beginnen. Mit diesem werde ich schon allein<br />

fertig.<br />

Und bis zum Abend sprach er kein Wort mehr. Jetzt malte<br />

er, wie sein Herz es ihm eingab, und nicht nach einem<br />

bestimmten Plan. Die Kartons konnte er beiseite legen, sie<br />

zerreißen und verbrennen lassen, er brauchte sie nicht mehr.<br />

Der allgemeine Ausdruck des Bildes blieb in etwa der gleiche,<br />

doch jetzt erfasste er in den Umrissen der Figuren etwas,<br />

das zuvor niemand dort erahnt hätte. Frederik und Maurits<br />

erschienen nun als Inbegriff von Entschlossenheit, Stärke<br />

und Mannhaftigkeit. Die Frauengestalt – jener über ihnen<br />

schwebende Engel – war nicht mehr nur eine Dekoration,<br />

ein abschließendes Ornament, plötzlich wurde sie zu einem<br />

Objekt der Begierde, zum Gegenstand lüsterner Blicke und<br />

Seufzer. Sie war Mutter und Geliebte, Heilige und Hure. Sie<br />

schaute in ihre Gesichter, martialischen Mienen, die doch<br />

nicht für sie, sondern für den Feind bestimmt waren. Jacob<br />

wusste, dass er sich etwas näherte. Noch konnte er es nicht<br />

berühren, doch er näherte sich jenem Bereich, jenem Ort, an<br />

dem die Fantasie eins wurde mit dem, was unter seiner Hand<br />

auf der Leinwand entstand.<br />

Er ging zu seinem Sohn, nahm ihn bei der Hand und führte<br />

ihn zu dem Gemälde. Er stellte sich hinter ihn und wartete<br />

auf seine Reaktion. Der junge Jacob besah sich lange die Veränderungen.<br />

Als er sein Schweigen schließlich brach, klang<br />

das, was er sagte, wie ein Seufzer der Erleichterung.<br />

– Ich wollte es dir gegenüber zuvor nicht erwähnen – sagte<br />

sein Sohn ohne sich umzudrehen, ohne ihm in die Augen<br />

zu schauen. – Ich habe gesehen, wie du dich gequält hast.<br />

Ich hoffte, glaubte fest daran, dass du eine Methode finden<br />

würdest... Vielleicht habe ich heute als Einziger hier gewusst,<br />

dass kein Lob in der Lage sein würde, dich zu täuschen. Mir<br />

scheint, die nächsten beiden Bilder werden dir keine Schwierigkeiten<br />

mehr bereiten. Ich möchte nur wissen, was die anderen<br />

zu den Änderungen sagen werden.<br />

Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau<br />

Wydawnictwo Dolnośląskie<br />

Wrocław 2007<br />

160 × 230 • 270 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 83-7384-603-6<br />

Translation rights:<br />

Wacław Holewiński<br />

Contact:<br />

Wydawnictwo Dolnośląskie<br />

Wacław Holewiński Der Weg nach Putte<br />

69<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung<br />

70<br />

Photo: Danae Ribbitsch<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Lidia Amejko trägt in ihrem Buch Antworten auf die Frage zusammen:<br />

Wie erklärt man sich die programmatische Tatenlosigkeit<br />

der Bewohner einer großstädtischen Plattenbausiedlung? Vor<br />

allem derer, die keinen Schritt aus der Schlafzimmer-Vorstadt<br />

tun – der Säufer, die sich um den einzigen Laden in der Siedlung<br />

herumdrücken, der Hausfrauen, die wie angenagelt an den<br />

Fenstern und den Fernsehern hängen, und der Rentner, die aus<br />

dem von Arbeit erfüllten Lebensrhythmus herausgefallen sind.<br />

Ihre täglichen Rituale sind leicht zu beobachten, aber was geht<br />

in ihrer Seele vor? Worüber debattieren sie, wie nehmen sie ihre<br />

Existenz und ihren Platz im göttlichen Heilsplan wahr – sofern sie<br />

sich einen solchen überhaupt zuschreiben? Indem die Autorin<br />

diese Menschen zur Aktivität, nämlich zur Selbstreflexion zwingt,<br />

gewinnt sie dem scheinbaren Marasmus einen philosophischen<br />

Sinn ab.<br />

Nicht auf ein Lob des kleinen Realismus, nicht auf ein Lob der<br />

Armen im Geiste will Amejko hinaus. Die surrealen Betätigungen<br />

und die metaphysische Reflexion, die<br />

die einzelnen „Heiligen“ beschäftigt,<br />

sind pure Erfindung. Sie hat etwas<br />

Komisches. Komisch ist, wie das,<br />

was nicht nur scheinbar nutzlos und gedankenlos ist, zum Erhabenen<br />

wird. Amejko schöpft aus der Bibel, aus der Geschichte<br />

der Philosophie, der Kunst und der Literatur, und zugleich<br />

übersetzt sie diese zur Hochkultur gehörenden Elemente in eine<br />

Art biblia pauperum. Sie paßt sie so an, daß sie zum selbstverständlichen<br />

Bestandteil einer plebejischen Erzählung werden. An<br />

dieser sind die Viten der Heiligen der Siedlung sprachstilistisch<br />

ausgerichtet.<br />

Sowohl die Stilisierung als auch der Rückgriff auf hochkulturelle<br />

Bezüge sind hier mit meisterhafter Konsequenz ausgeführt.<br />

Fremde, übergestülpte Ornamente springen natürlich ins Auge,<br />

sind aber gleichzeitig so vollkommen in die Erzählung eingeschmolzen,<br />

als gehörten sie zu ihr. Durch die Integration des<br />

Widerspruchs erreicht Lidia Amejko ein Ergebnis, das von Anhängern<br />

des Realismus oder Reportage-Autoren mit anderen<br />

Mitteln erreicht wird – das, was einem weniger sensiblen Beobachter<br />

trivial und nicht beachtenswert erscheinen könnte,<br />

wird von ihr geadelt.<br />

Marta Mizuro<br />

Lidia Amejko (geb. 1955), Schriftstellerin<br />

und Dramatikerin. Ihre Stücke wurden in mehrere<br />

Sprachen übersetzt.<br />

Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung<br />

71<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung<br />

72<br />

Dazu<br />

sage ich euch: Kyrill starb täglich aus<br />

Angst vor dem Tod!<br />

„Was soll denn das?!“ ruft ihr. „Jeder<br />

hat doch Angst vor dem Tod (solange er nicht getrunken<br />

hat), aber aus Angst wird man kein Heiliger! (Allein aus<br />

großem Mut, wovon dann den Kindern in Religion erzählt<br />

wird). Wieso sollen wir einen feigen Waschlappen zu den<br />

Heiligen zählen?“<br />

„Haltet einen Moment die Klappe, verdammich, und<br />

hört zu!“<br />

Es fiel Kyrill nicht leicht, aus Angst vor dem Sterben zu<br />

sterben, und so kam er eines Tages auf die Idee, sich vielleicht<br />

ein bißchen mit dem Tod vertraut zu machen und zu<br />

sterben, aber nur ein ganz klein bißchen, eine Prise auf der<br />

Fingerspitze, versuchsweise. Um zu sehen, ob es wirklich so<br />

schrecklich ist.<br />

Er legte sich aufs Sofa und drückte auf die Fernbedienung,<br />

um sich nicht während seines Sterbens zu verzetteln, denn es<br />

ist bekanntlich blöde, mit einem Auge zu sterben und mit<br />

dem anderen in die Röhre zu glotzen. (Das ist, Mann, die<br />

bewegendste Frage in der Siedlung: wie man sein endgültiges<br />

ENDE mit der Serie abstimmt, die sich bis in alle EWIG-<br />

KEIT hinzieht.)<br />

Kyrill drückte also, der Bildschirm wurde blaugrau, wie<br />

eine Leiche, in der Mitte glühte noch für einen Moment das<br />

helle Pünktchen wie eine Seele, und dann ging mit einem<br />

leisen Klick der Fernseher aus.<br />

Kyrill machte also die Augen zu und starb.<br />

So schlimm war es gar nicht!<br />

Am nächsten Tag wachte er zufrieden auf und schaute<br />

voller Freude in die Welt – wie bekanntlich ein jeder nach<br />

dem Tod! Er briet er sich ein Rührei mit Speck und sang<br />

dabei fröhlich vor sich hin, aber gegen Abend beschlich ihn<br />

die Furcht, daß er bei seinem Sterben etwas vergessen haben<br />

könnte, daß es irgendwie zu reibungslos gelaufen war, daß er<br />

es auf alle Fälle noch einmal nachprüfen sollte!<br />

So starb er am zweiten Tag.<br />

Am dritten Tag aß er sich satt, aber am Abend wurde er<br />

wieder unruhig und kreiste wie ein Hündchen, das Gassi gehen<br />

muß. Er wußte inzwischen, daß er nicht auf den Film<br />

nach der Tagesschau warten würde, sondern der Ewigkeit, die<br />

ihn in Schrecken versetzt, erneut ins Auge schauen wollte.<br />

Und so ging es von nun an Tag für Tag.<br />

Kyrill starb, dann stand er wieder auf von den Toten und<br />

machte sich das Frühstück.<br />

Anfangs war er sogar glücklich, aber bald kam es ihm blöde<br />

vor, daß er eigensüchtig vor sich hin starb, nur für sich<br />

allein, ohne an die anderen zu denken. Denn wenn ihm dieses<br />

Sterben schon so gut von der Hand ging, warum sollte er<br />

dann nicht für einen anderen sterben, der nicht eine solche<br />

Übung darin hatte wie er?<br />

Er hängte im Laden eine Bekanntmachung aus: „Sterbe<br />

kostenlos. Bestellungen unter Telefon 3452861, Kyrill<br />

Damasceński.“<br />

Als erste rief Frau Hapiór an, ob er nicht für sie sterben<br />

wollte, sie hätte vor den Feiertagen so viel zu tun und wüßte<br />

gar nicht, wo sie anfangen soll, und mit dem Tod, da könnte<br />

sie sich nicht mehr entsprechend vorbereiten. Sie würde zu<br />

einem späteren Termin sterben, wenn sie mehr freie Zeit hätte.<br />

Und für Kyrill würde sie einen Käsekuchen backen.<br />

Dann rief Herr Kruczek an, der während der Besatzung<br />

hundertmal um ein Haar getötet worden wäre und den Tod<br />

ganz und gar nicht fürchtete; jetzt aber brauchte er nur an<br />

ihn zu denken, und schon würde er blaß, weichlich und zittrig<br />

und müßte pausenlos weinen. Gar nicht mannhaft. Janina<br />

O., Dienerin des Saums, hätte ihm zwar den Übergang<br />

zum Nichts hübsch umsäumt, und Herr Kruczek würde<br />

auch Nacht für Nacht in dieses Loch gaffen, aber irgendwie<br />

hätte er Angst, ins Jenseits hinüberzukriechen. Ob Kyrill also<br />

nicht, als Nachbar, für ihn sterben wollte – als Dank dafür<br />

würde Herr Kruczek ihm den Abfluß reparieren.<br />

Verschiedene Leute wandten sich an ihn.<br />

Einer, der zu ihm kam, war gerade auf Entzug, wollte<br />

ein neues Leben beginnen und hatte keine Lust, dabei zu<br />

sterben; ein anderer wollte bei der Hochzeit seiner Tochter<br />

dabeisein, und wieder andere hatten sich einen billigen Auslandsurlaub<br />

gekauft, als sich plötzlich herausstellte, daß für<br />

sie selbst die last minute gekommen war!<br />

Kyrill war glücklich, weil er jetzt für andere starb!<br />

Und es ging ihm gut, denn jeder bedankte sich bei ihm mit<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


einem Geschenk. (Was sagt ihr nun? Kommt ihr euch nicht<br />

dumm vor, daß ihr übel über ihn hergezogen seid? Zeigt mir<br />

einen Heiligen, der für so viele sein Leben geopfert hätte wie<br />

Kyrill!)<br />

Nur im Himmel stieß die Sache auf Mißfallen.<br />

Bei einer Kontrolle stellte sich ein Fehlbetrag heraus: In der<br />

Siedlung sterben Leute, gut, aber Oben kommt keiner an!<br />

In der Rubrik „Tod“ ist bei Frau Hapiór ein Vogel vermerkt,<br />

während sie selbst durch die Siedlung geistert, als<br />

wenn nichts wäre, und für die Leute auch noch Käsekuchen<br />

backt!<br />

„Was ist denn das?“ entrüstete sich der Herr. „Das ist<br />

mir von Anbeginn der Welt noch nicht vorgekommen. Ich<br />

weiß, ich weiß, die Menschen sind durchtrieben und haben<br />

den Tod seit jeher betrügen wollen! Was sie sich nicht alles<br />

ausgedacht haben: Betten haben sie umgedreht, mit dem<br />

Vorderteil zum Fenster, und Namen haben sie vertauscht.<br />

Einer, Nondum, hätte es fast geschafft: er war dermaßen<br />

leer, daß zum Sterben gar nichts da war, und daher mußte<br />

Psychopompa zu ihm geschickt werden, um ihn zunächst<br />

mit sinnlichem Leben auszustopfen und ihn anschließend<br />

auf die andere Seite zu schubsen. Und dann war da noch<br />

dieser Schlauberger Farrago! Er hat mich dermaßen angekohlt,<br />

daß ich ihn wieder vom Himmel zur Erde zurückgeschickt<br />

habe.“<br />

Der Engel Buchhalter flog in die Siedlung hinunter, um<br />

der Sache auf den Grund zu gehen. Bei Jericho machte er<br />

Station, trank ein Bier, schwätzte mit den Leuten und fühlte<br />

sich gleich wie zu Hause.<br />

Zu Kyrill begab er sich mit provokativer Absicht: ob Kyrill<br />

nicht für ihn sterben wolle. Kyrill war einverstanden, nahm<br />

die Knete, für den Engel wollte er sterben. Aber dann ging<br />

es nicht weiter.<br />

Kyrill traten nur die Augen aus den Höhlen, er röchelte,<br />

rasselte, der Tod war ihm mittendrin ins Stocken geraten,<br />

steckte ihm wie eine Gräte im Hals – es ging weder vor noch<br />

zurück. Derweil legte der Engel ihm Fesseln an und brachte<br />

ihn vor das Gericht Gottes.<br />

So endeten die guten Zeiten in der Siedlung, als die Leute<br />

überhaupt nicht starben.<br />

Der Herr in seiner Barmherzigkeit sah sogar von einer Bestrafung<br />

Kyrills ab und befahl ihm lediglich, die Seelen zurückzugeben,<br />

damit die Bücher im Himmel stimmten.<br />

Aus dem Polnischen von Friedrich Griese<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

123 × 195 • 232 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-340-0<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung<br />

73<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen<br />

74<br />

Photo: Danuta Węgiel<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ein neuer Essayband Adam Zagajewskis über die Natur des<br />

Schreibens, das Verhältnis der Literatur zu Philosophie und<br />

Geschichte, über sich und andere, über Miłosz und Herbert,<br />

Gombrowicz und Cioran, Márai und Kertész. Der Titel des<br />

Bandes – Der Dichter spricht mit dem Philosophen – entstammt<br />

einem Text über den Briefwechsel zwischen Zbigniew Herbert<br />

und Henryk Elzenberg. „Ein ausgezeichneter Titel für das<br />

ganze Buch“, schreibt eine begeisterte Rezensentin, „denn die<br />

Aura des Gesprächs erfüllt alle hier versammelten Texte. Sie<br />

sind Rechenschaftsberichte über Lektüren und Reflexionen,<br />

Niederschrift der Verblüffung, des Staunens. Gesprächsanlass<br />

sind Betrachtungen über das Schreiben, vor allem aber über die<br />

Poesie“. Zagajewski interessiert die Poesie, die „den Katastrophen<br />

zum Trotz registrierte und damit den Fortbestand unseres<br />

geistigen Lebens aufrechterhielt, mitgestaltete, mitschuf – jener<br />

unausgesetzten, von vergangenen Generationen ererbten Kontemplation,<br />

die in der Erfahrung des<br />

Schönen und Bösen kulminiert, der<br />

Zeit und des Guten, der Transzendenz<br />

oder – für andere – des Nichts,<br />

der Meditation, etwas in Art einer<br />

permanenten Nachtwache in der Notaufnahme, ohne die das<br />

Menschentum in der uns bislang bekannten Form ernsten Schaden<br />

nähme“.<br />

„Ich weiß nicht, wie der Platz überschrieben werden wird, den<br />

Adam Zagajewski letztlich in der polnischen Kultur einnehmen<br />

wird“, schreibt Irena Grudzińska-Gross. „Er passt unter keine<br />

Formel, obwohl er als Dichter und Schriftsteller in der unmittelbaren<br />

Mitte der polnischen und europäischen Literaturtradition<br />

steht. Vielsprachig, hochgebildet schreibt er in seinen Gedichten<br />

über Musik und Philosophie, über andere Dichter, Architektur<br />

und Kunst. Dennoch ist das keine klassische Dichtung, die vom<br />

heutigen Tag losgerissen wäre; ganz im Gegenteil, sie berührt<br />

das Alltägliche, die Menschen greifen in Augenblicken der Angst<br />

nach ihr. Sie bringt Linderung, von dieser Poesie sprach Susan<br />

Sontag, obwohl sie keine Trostdichtung ist. Der Dichter Zagajewski<br />

trägt keinen Zorn, keine Besessenheit in sich, er ist jedoch<br />

entschieden und unbeugsam. Ihn zu lesen ist kein Kampf,<br />

sondern eine Art Gespräch, das abhängig macht.“<br />

Adam Zagajewski (geb. 1945), Dichter,<br />

Erzähler, Essayist, Preisträger renommierter<br />

Literaturpreise, in zahlreiche Sprachen übersetzt.<br />

Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen<br />

75<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen<br />

76<br />

Auf<br />

dem Computer schreiben. Ändert das etwas?<br />

Mit einem Gänsekiel schreiben, einem<br />

kostbaren Füllfederhalter, einem Bleistift...<br />

Die ersten Schreibmaschinen: riesige, schwarze Dinosaurier,<br />

mit goldenen Schriftzügen verziert, heute Schmuck von Restaurants<br />

und Bankräumlichkeiten. Meine Entdeckung der<br />

Schreibmaschine: Mein Vater, Ingenieur und Professor am<br />

Politechnikum, benutzte diese Maschine häufig. Bisweilen<br />

bat er, wenn er ein wissenschaftliches Buch (zu technischen<br />

Fragestellungen) oder ein Lehrbuch für den Druck vorbereitete,<br />

Mama um Hilfe, die den für sie völlig unverständlichen<br />

Text mühselig abtippte. Ich sah ihr dann gerne zu — mit<br />

Brille, voller Konzentration, war sie jemand völlig anderes<br />

als normalerweise. Aber die mathematischen Formeln, die<br />

kompliziert waren wie ein Genomnotat, fügte Vater selbst<br />

mit dem Bleistift ein.<br />

Die Entdeckung der Schreibmaschine meines Vaters war<br />

für mich etwas Epochales. Vater erlaubte, dass ich von Zeit<br />

zu Zeit auf seiner Maschine das Schreiben übte. Anfänglich<br />

gelang mir das nur sehr holprig, ich benutzte nur einen Finger,<br />

dann zwei. Oft verhakten sich die Typenhebel ineinander,<br />

blockierten sich, ich musste sie dann aus diesen kleinen<br />

Katastrophen befreien. Trotzdem erschien mir die Schreibmaschine<br />

als eine außergewöhnliche technische Errungenschaft:<br />

der Schlitten, die Zahnräder, vor allem aber die Walze,<br />

die eine schwarze, glatte Substanz überzog, deren Wesen weiche<br />

Passivität war, das Entgegennehmen der Typenschläge,<br />

die Walze, die sich gehorsam drehte und das eingespannte<br />

Blatt Papier zum selben Gehorsam zwang — all das weckte<br />

meine höchste Bewunderung. Das hatte die Menschheit<br />

im Zuge der mechanischen Erfindungen erreicht, die sich<br />

allmählich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hatten.<br />

Und endlich entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts diese<br />

fantastische Maschine. Das trockene Knallen der Typen gegen<br />

die Walze gehört zu den edlen und rhythmisierten Lauten.<br />

Bis heute bin ich eigentlich davon überzeugt, obwohl<br />

dem Anschein nach nichts diese Überzeugung stützt, dass<br />

die Schreibmaschine eine komplexere Apparatur ist als der<br />

Computer. Ihr tadelloses Benehmen... Der Klingelton, wenn<br />

man zum Blattrand gelangt — als führe man Schlitten, im<br />

Winter. Der chromblitzende Schreibmaschinenschllitten...<br />

Der leichte Duft von Maschinenöl... Nur eines störte mich:<br />

die Notwendigkeit unablässigen Reinigens der Typen, auf<br />

denen sich der Staub sammelte, der sich auf das schwarze<br />

Farbband gelegt hatte.<br />

Als ich die Kunst des Maschineschreibens mehr oder weniger<br />

beherrschte, machte ich die nächste Entdeckung: Vor<br />

mir lag nicht mehr die blutarme Schlangenlinie meiner ungeschickten<br />

Handschrift, sondern nur gleichmäßige, runde<br />

oder spitze Buchstaben in einer idealen Reihe, die einander<br />

nicht auf die Fußzehen traten, immer denselben Abstand<br />

zueinander einhielten wie die Ehrenkompanie eines kleinen<br />

Landes. Diese Lettern, die ich alle liebte, waren ein Meisterwerk<br />

der Grafik; das war schon fast ein Buch, ein Druck. Auf<br />

diese Weise schlug die Schreibmaschine die Brücke zwischen<br />

Seele und äußerer Welt, zwischen Privatestem und Öffentlichem,<br />

und das blitzartig, sofort, ohne die Vermittlung von<br />

Lektoren, Verlagen, Literaturagenten.<br />

Baut der Computer auch eine ähnliche Brücke? Ja, natürlich.<br />

Am Anfang aber irritierte mich die Lautlosigkeit des<br />

Computers. Die Nachtarbeiter segneten sie, einer meiner<br />

Freunde musste schon vor vielen Jahren auf die Arbeit mit<br />

dem Computer ausweichen, weil seine Nachbarn in einem<br />

Pariser Wohnhaus gegen den nächtlichen Lärm protestierten.<br />

Sie konnten nicht schlafen.<br />

Das Hämmern der Schreibmaschine tat der gesamten Umgebung<br />

kund, dass hier Wichtiges geschah: dass hier Energie<br />

unseres geistigen Lebens freigesetzt wurde und sich auf<br />

weißem Papier materialisierte. Die Kanonade der Typen, die<br />

aufs Papier hämmerten, waren Triumphsalven; die Geburt<br />

eines neuen Satzes (denn oft schrieb ich direkt in die Maschine,<br />

sogar Gedichte – nur ihre ersten Fassungen notierte<br />

ich mit einem Füller, einem Bleistift oder einem Kugelschreiber)<br />

begleiteten Schüsse, fast schon Feuerwerke. Jetzt gehe<br />

ich, wenn ich den Computer gebrauche, fast immer gleich<br />

vor: Die ersten Fassungen eines Gedichts entstehen im Notizbuch<br />

oder auf einem Blatt Papier, erst dann überführe ich<br />

sie auf den Bildschirm. Und der Computer schweigt mit der<br />

ihm eigenen Diskretion, oder er schweigt fast. Wir hören<br />

das sanfte Klackern der Tastatur, aber gewöhnlich nur dann,<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


wenn es um einen anderen geht. In der Bibliothek oder einem<br />

ruhigen Café (wenn es ruhige Cafés noch gibt) wird uns<br />

das Morsealphabet einer fremden, nicht unserer eigenen Tastatur<br />

stören. Die eigene stört uns nie. Da wir früher nichts<br />

gegen die Marschmusik einer Remington oder Olivetti einzuwenden<br />

hatten...<br />

Ändert das etwas? Ändert sich etwas an der Natur des<br />

Schreibens dadurch, dass wir anstelle des Gänsekiels den<br />

Computer verwenden? Für jemanden, dessen Jugendliebe<br />

der Schreibmaschine galt, ändert das mit Sicherheit bedeutend<br />

weniger als für alle diejenigen, die nur mit der Feder<br />

begannen, mit dem handschriftlichen Schreiben. Im allgemeinen<br />

ist man der Ansicht, dass die Erfindung des Computers<br />

für die Literatur eine nicht allzu glückliche Vergrößerung<br />

der Produktion bedeute, eine Vielwörterei, eine übermäßige<br />

Leichtigkeit des Schaffens. Die stummen Tage oder Wochen,<br />

in denen es mir nicht gelingt zu schreiben, sind heute genauso<br />

stumm, wenn mein Laptop auf mich wartet, wie sie früher<br />

stumm waren, als eine Schreibmaschine auf dem Schreibtisch<br />

stand und neben ihr Feder, Kugelschreiber, Bleistift<br />

und Notizbuch lagen. Die guten oder vollkommenen Tage<br />

sind nicht noch großartiger geworden. Die mittleren Tage<br />

sind genauso durchschnittlich wie in früheren Jahren. Es hat<br />

sich nicht viel verändert.<br />

Der menschliche Geist, unsichtbar, fragil und zugleich<br />

unbesiegbar, muss mit verschiedenen Materialien und Techniken<br />

arbeiten und kommt mit ihrer unablässigen Weiterentwicklung<br />

hervorragend zurecht. Da er auch mit unserem<br />

so fehleranfälligen Körper zurechtkommt, mit den Fingern,<br />

Alter und Krankheit, Rheuma und Neurose, da er abends<br />

einschläft und morgens erwacht und im Traum werweißwohin<br />

reist — was sollte er den Computer fürchten?<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

Zeszyty Literackie<br />

Warsaw 2007<br />

210 × 135 • 145 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-60046-85-2<br />

Translation rights:<br />

Adam Zagajewski<br />

Contact: Zeszyty Literackie<br />

Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen<br />

77<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit<br />

78<br />

Photo: Elżbieta Lempp<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Was verbindet die Poesie und Architektur mit den Herrschaftskonzepten<br />

der letzten beiden Jahrhunderte? Marek Bieńczyks<br />

Antwortet lautet: die Idee der Durchsichtigkeit. Die zweihundertjährige<br />

Geschichte der Moderne, die Bieńczyk rekapituliert<br />

und von der er Abschied nimmt, bezog ihre Dynamik aus dem<br />

Projekt, die Welt sichtbar zu machen. Es begann mit Jean-Jacques<br />

Rousseau, der in seinen Schriften die Idee der Durchsichtigkeit<br />

als Ideal zwischenmenschlicher Beziehungen vertieft<br />

und erweitert. Jeremy Bentham ging in die entgegengesetzte<br />

Richtung – sein Ausgangspunkt war das Konstruieren von zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen. Das 19. Jahrhundert und die<br />

erste Hälfte des 20. Jahrhunderts entschieden sich für Bentham.<br />

Die gesellschaftlichen Institutionen strebten danach, das Leben<br />

transparent zu machen. Nach den totalitären Systemen kam es<br />

zu einer Abkehr von der Durchsichtigkeit als Vorstellung, die die<br />

Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesellschaft prägt. Aber<br />

die Ideologie der Transparenz überlebte...<br />

Woher kommt nach dem<br />

Ende der Moderne die Durchsichtigkeit<br />

– die doch ein Kind der Moderne<br />

ist? Die Antwort auf diese Frage ist eines der interessantesten<br />

Themen des Buches. Bieńczyk vertritt die Ansicht, dass<br />

die Durchsichtigkeit – die zur einzigen allgemein anerkannten<br />

Ideologie aufgestiegen ist – ein unrechtmäßiges Erbe der Moderne<br />

ist. Die Modernisierung versuchte nämlich, Bedingungen<br />

zur vollständigen gesellschaftlichen Kontrolle zu erarbeiten,<br />

und zwar mittels einer perfekten Organisation. Dagegen ist die<br />

heutige Durchsichtigkeit ein merkwürdiges Schutzschild gegen<br />

die Unvollkommenheit unserer Institutionen. Aber Marek<br />

Bieńczyk beschränkt sich nicht darauf, vom Wandel des politischen<br />

Denkens zu berichten. In seinem Buch skizziert er auch<br />

die Geschichte der Durchsichtigkeit in der europäischen Poesie<br />

und Architektur und erzählt von der Bedeutung dieser Idee in<br />

Konzepten des öffentlichen Raums. Und noch eines: Bieńczyks<br />

Buch ist ein existentieller Essay; das heißt in seinem Schreiben<br />

sind die eigenen Erlebnisse ein Element der Erzählung und Argumente<br />

der Ausführungen.<br />

Przemysław Czapliński<br />

Marek Bieńczyk (geb. 1956), Prosaschriftsteller,<br />

Essayist, Literaturhistoriker, Übersetzer aus dem<br />

Französischen.<br />

Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit<br />

79<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit<br />

80<br />

Über<br />

die Durchsichtigkeit und Durchschaubarkeit<br />

wollte ich schon seit vielen<br />

Jahren wenigstens ein paar Seiten<br />

schreiben. Die Durchsichtigkeit, sagte ich mir, ruft mich,<br />

bohrt in mir wie eine Sonde, ist mein Thema. In fremden<br />

Städten wählte ich zum Mittagessen Restaurants mit Panoramafenstern,<br />

abends blieb ich vor beleuchteten Schaufenstern<br />

stehen, die Freunde begannen sich über mich lustig<br />

zu machen und mir Glaskugeln zu schenken, es entstand<br />

eine ordentliche Sammlung. Ich hatte einen Glastick, ich<br />

betrat Zoohandlungen, um in die Aquarien zu starren, ich<br />

kehrte zu den Museen zurück, in denen Exponate (in Bozen<br />

dieser seltsame Ötzi, ein eingefrorener Schneemensch,<br />

Urahn, der mit einem Köcher voller Pfeile im Gletscher aufgefunden<br />

wurde) hinter Panzerglas ausgestellt wurden; ich<br />

zog es vor, Lenin und Mao Tse-tung in ihren gläsernen Särgen<br />

zu vergessen. Arbeitete ich an irgendeinem Text, dünnte<br />

ich unwillkürlich dessen konkreten Gehalt aus, die Wörter<br />

mieden die Bedeutungen, den Metaphern gingen die Ideen<br />

verloren, alles bewegte sich unvermeidlich auf die Abstraktion<br />

zu, hinter den Sätzen schimmerte das Weiß hervor. Es<br />

klingt lächerlich, aber ich mochte klare Suppen, Essen mit<br />

Gelatine, Fisch oder Fleisch in Sülze, in Aspik, und ähnliche<br />

Speisen. In der Wohnung hängte ich Reproduktionen der<br />

Gemälde Edward Hoppers auf, sie glänzten hinter Glas wie<br />

zu kitschige Heiligenbildchen.<br />

Ich mochte Hopper, so wie andere Erinnerungen mögen.<br />

Ich hatte das einst erlebt, so war es schon einmal gewesen;<br />

in Fantasien und Gedichten wurde ich der Held verschiedener<br />

Bilder, der Typ in der Glasveranda, der in den endlosen<br />

Horizont starrt, jener Cafébesucher, der aus dem Fenster auf<br />

die leere Straße schaut. Manchmal zog ich Olga in diese Fantasien<br />

mit hinein; wenn ich ihr davon erzählte, wurde sie<br />

ärgerlich, also verstummte ich schnell. Natürlich (stellte ich<br />

mir vor) waren wir vor allem Nighthawks, Nachthabichte,<br />

Vögel der Dunkelheit, Nachtschwärmer und Nachtfalter,<br />

wenn wir in verglasten Bars saßen, die sich um Mitternacht<br />

wie die Nester nach dem Frühling leerten; wir nippten an<br />

unseren Drinks mit amerikanischen Namen, Bronx, Manhattan,<br />

und beim letzten Whisky waren wir schon alleine,<br />

versunken in die feierliche Stille nach dem Leben, das ausgeflogen<br />

war. Sie füllte uns aus wie Helium; wir schwebten<br />

leicht über der Erde, über uns selbst, geflügelte Wächter des<br />

Planeten, dessen Emissäre in der kosmischen Nacht. Wir<br />

fühlten uns frei und obdachlos; unsere Gemeinschaft, Olgas<br />

und meine, konnte irgendwo über der Stadt fortbestehen<br />

und musste nicht in ihren Mauern sterben, sondern war verurteilt<br />

zum ziellosen Umherirren durch die Himmelsalleen,<br />

über die Felder an der Weichsel, durch die Stadtteilparks,<br />

wo auch immer. Nighthawks, das berühmteste Bild von Edward<br />

Hopper, tauchte immer häufiger auf Buchumschlägen,<br />

Ansichtskarten, ja sogar auf Werbetüten auf, von denen James<br />

Dean und Marlon Brando, manchmal Marilyn Monroe<br />

– deren Köpfe die anonymen Gesichtszüge der Barbesucher<br />

ersetzten – stumpf in ihre eigene Einsamkeit starrten. Das<br />

verunsicherte und irritierte mich etwas, meine Vorstellung,<br />

die Lieblingsfotografie von uns selbst, derart banal vervielfältigt<br />

und auf glänzende Laminatteilchen verteilt, mein<br />

Wunschtraum gemeinsam mit dem Plattencover von der Abbey<br />

Road oder dem Bild vom Bau des Chrysler Towers in ein<br />

Gelini Puzzle verwandelt, das in jedem Warenhaus erhältlich<br />

ist, in Erzählungen überschrieben, die aus dem Bild Hoppers<br />

wachsen wie Pilze aus dem Erdboden. Davon gab es viel,<br />

etwas zu viel, zu oft erschien „mein“ Bild auf Umschlägen<br />

von Büchern und Deckblättern von Kalendern, kostenlos<br />

Zeitschriften beigefügt, die man ohnedies nicht mehr kaufen<br />

wollte, jedoch fand ich mich auch mit dieser allgemeinen<br />

Begeisterung ab; da es sie nun einmal gab, da sich in ihr eine<br />

unausgesprochene Sehnsucht der Menschen regte, da sie von<br />

einer ihnen gemeinsamen Matrize von Wünschen zeugte, gewann<br />

sie an Gewicht. Wenn auch banalisiert und stereotyp,<br />

erzählte sie von einem Wunsch, der wie der Hunger jeden<br />

befallen kann. Ich existierte also (stellte ich mir vor), um die<br />

Verantwortung für ihn zu übernehmen, ihn zu durchleuchten<br />

im Namen aller bei einem Schnapsgläschen, bei Gläsern<br />

mit klirrenden Eiswürfeln an Juliabenden, bei einem Glas<br />

Grog (was zum Teufel ist Grog?), wenn der Frost auf den<br />

Fenstern den Dampf überwältigte, ihn aus den Mündern<br />

der Passanten ausstieß wie den Weißen Rauch für eine neue<br />

Winterreligion.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ich kannte die Deklamationen der anderen. So viele bebende<br />

Stimmen, die versuchten, Hoppers Bild auf den schmalen<br />

Schultern der Gedichte zu tragen, sein zerbrechliches Kügelchen<br />

über sie zu rollen. Sie zerschmolzen in den Halbschatten<br />

dieser Nacht, verklangen schnell, wobei sie einzelne<br />

Wörter wie Blickspuren zurückließen. „Der billige Duft der<br />

Gardenien“, den Sue Standing am Hals der Frau im roten<br />

Kleid herausgerochen hatte; „Patrone des Lebens“ sah Samuel<br />

Yellen in den drei Besuchern; die Nachricht über einen<br />

weiteren Sieg der Alliierten, die Ira Sadoff im Radio, das auf<br />

dem Bild nicht zu sehen ist, hörte; Fetzen von Gesprächen<br />

an der Bar über den Krieg, Hemingway und Fitzgerald, die<br />

Susan Ludwigson aufgeschnappt hatte, als sie ihr Gedicht<br />

schrieb mit der für die amerikanische Poesie charakteristischen<br />

Aufzählung alltäglicher Details, der kalt werdende<br />

Kaffee, die vier Salzstreuer auf der Theke, das sicherlich in<br />

der Nähe geparkte Auto, ach, und schließlich, dort, an dieser<br />

Bar, das sind ihre Eltern, jetzt streiten sie sich über den American<br />

Dream... Alle diese Gedichte, und mehr, ganze Romane<br />

(französische, englische) entsprangen den Nighthawks,<br />

wurden auf deren Flügeln in die Höhe getragen, waren auf<br />

rührende Weise nebensächlich wie die Erde vom Mond aus<br />

gesehen; jemand sah aus ihrem Inneren auf das Café Phillies,<br />

auf dessen durchsichtigen Körper und versuchte, sich<br />

den Anblick einzuprägen; nach irgendetwas sagte er etwas,<br />

flüsterte etwas, erzählte sein eigenes kleines Leben, seinen<br />

Nachtfaltertanz vor dem gelben Licht des Inneren. Er schaute;<br />

das Licht hinter der Glasscheibe, die sanfte Medusa, fesselte<br />

den Blick, brachte einen um die Augen, so wie man um<br />

den Verstand gebracht werden kann; die Scheibe trennte die<br />

Wörter vom Ich, sie fielen auf dieser Seite ab und verschwanden<br />

in der Dunkelheit.<br />

Aus dem Polnischen von Andreas Volk<br />

Znak<br />

Cracow 2007<br />

124 × 195 • 260 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-240-0838-4<br />

Translation rights: Znak<br />

Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit<br />

81<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus<br />

82<br />

Photo: Marcin Giżycki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die Essays des Bands Verschwörer der Phantasie bieten<br />

keine aktuelle Synthese des Surrealismus, auch wenn sie sich<br />

diesem Anliegen verdanken. In der Anreicherung um neue Fakten<br />

– sowohl solche zu weniger bekannten oder nach Jahren<br />

wieder neu entdeckten Vertretern der Kunstrichtung wie auch<br />

solche, die den fortwährenden Einfluss des Surrealismus auf<br />

zeitgenössische Künstler, Werbemacher und Designer unter Beweis<br />

stellen.<br />

Über die Geschichte der Kunstrichtung erzählt die Verfasserin<br />

fast en passant anlässlich ausgewählter „Themenkreise“, die zum<br />

Standardrepertoire der Surrealisten gehörten, und bei der Zeichnung<br />

von „Porträts“ ausgewählter Künstler. Die Autorin wählt sie<br />

nicht wie ein objektiver Wissenschaftler aus, der sein Thema<br />

erschöpfend abhandeln möchte, sondern wie eine Kunstbegeisterte,<br />

die die Akzente auf das legt, was sie selbst am Surrealismus<br />

fasziniert. Sie erzählt von ihren persönlichen Kontakten zu<br />

drei Künstlern: Leonora Carrington,<br />

Gisèle Prassinos und Roland Topor.<br />

Schon allein diese Kapitel des Buches<br />

sind von einzigartigem Wert. Die Autorin<br />

begegnete dem Werk der drei auch auf einer anderen Ebene<br />

– als Übersetzerin –, und diese Art intimen Kontakts mit dem<br />

Text spiegelte sich auch in den Verschwörern der Phantasie in<br />

origineller Art und Weise.<br />

Im Teil „Themenkreise“ ist von Fragen wie der Haltung der Surrealisten<br />

zum Selbstmord, zur Liebe und zum Wahnsinn die<br />

Rede, aber auch zum Mythos, zur Stadt und zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen.<br />

In jedem Kapitel wechselt die Verfasserin<br />

ungezwungen zwischen den verschiedenen Ausdrucksformen<br />

der Kunst hin und her und führt damit vor, dass innerhalb der surrealen<br />

Bewegung nicht davon die Rede sein konnte, sich auf nur<br />

eine einzige Kunstform zu spezialisieren. Der Surrealismus war<br />

nämlich die erste Kunstrichtung, die komplexen und interdisziplinären<br />

Charakter besaß. Auch in dieser Hinsicht erfordert die<br />

Wahrnehmung aller Realisationsformen und die Erfassung aller<br />

Auswirkungen seiner „Elementarkraft“ vom Kenner der Materie<br />

ein sicheres Bewegen in der Geschichte der Malerei wie auch der<br />

Geschichte von Literatur und Film. Aber auch der Geschichte der<br />

Psychiatrie und der Postkarte. Und genau um eine solch umfassend<br />

gebildete Kennerin handelt es sich bei Agnieszka Taborska.<br />

Marta Mizuro<br />

Agnieszka Taborska (geb. 1961), Schriftstellerin,<br />

Kunsthistorikerin und Übersetzerin.<br />

Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus<br />

83<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus<br />

84<br />

In<br />

den besten Jahren des Stummfilms drehte Mack<br />

Sennett Hunderte von Komödien in Kurzfilm- und<br />

Spielfilmlänge, deren ewig scheiternde Antihelden<br />

über Abgründen baumelten, bei Verfolgungsjagden im<br />

Auto rasten, wie durch ein Wunder Explosionen unversehrt<br />

entgingen, einander Sahnetorten ins Gesicht warfen. Diese<br />

surrealistische, anarchische, gefährliche Welt, die Zirkus,<br />

Vaudeville, Burleske, Pantomime und Comic entstammt,<br />

regieren das Tempo, unablässige Überraschungen und ungefährliche<br />

Katastrophen. Bei Sennett begannen Charlie<br />

Chaplin, Harold Lloyd, Harry Langdon und Bing Crosby;<br />

die Slapstick-Komödie wurde zum Modegenre des amerikanischen<br />

Kinos der Zwanziger. Von dieser Epoche blieben<br />

Tausende Meter Zelluloid und ein Requisit: die Torte.<br />

Der Belgier Noël Godin alias Georges Le Gloupier, ein<br />

1945 geborener Regisseur, Schriftsteller und Schauspieler<br />

(unter anderem bekannt aus La Vie Sexuelle des Belges<br />

1950-78), ist Liebhaber des Kinos, der surrealistischen Poetik<br />

und der Situationskomik. Berühmtheiten diesseits und<br />

jenseits des Atlantiks zittern vor ihm.<br />

Bereits während seines Studiums übergoss Godin einen<br />

Hochschullehrer, der mit dem portugiesischen Diktator Salazar<br />

kollaborierte, mit einem Glas Kleber. In der von ihm<br />

gegründeten Zeitschrift „Friends of Film“ – in bester Tradition<br />

eine surrealistische Mystifikation – bebilderte er die Artikel<br />

mit Fotos der eigenen Familie. Er meldete beispielsweise,<br />

dass Louis Armstrong – ein einstiger Kannibale – den Film<br />

The Vegetables of Good Will finanziert, in dem Claudia Cardinale<br />

eine riesige Endivie spielt. Oder dass Richard Brooks,<br />

der Regisseur der Katze auf dem heißen Blechdach, eingestanden<br />

habe, seine Filme seien der letzte Dreck. Die Informationen<br />

über eine erfundene blinde Regisseurin aus Thailand,<br />

Vivian Pei, und ihren Film The Lotus Flower Will Never Again<br />

Grow on the Edge of Your Island veranlassten einen gewissen<br />

Spezialisten für asiatischen Film sogar, nach Thailand reisen,<br />

um Vivian Pei persönlich kennenzulernen.<br />

1968 traf Noël Godin einen Professor mit extrem reaktionären<br />

Ansichten mit einer Torte. Seit dieser Zeit tortet<br />

er besonders aufgeblasene Persönlichkeiten aus Kultur und<br />

Politik ein. Sein erstes Opfer wurde Marguerite Duras dafür,<br />

dass sie „Intelligenz und Klugheit dafür benutzt, ihre eigene<br />

Eitelkeit zu füttern“.<br />

Godin agiert nicht allein. Bei den schwierigen Aufgaben<br />

begleiten ihn knapp 30 Personen, die in langen Mänteln an<br />

den Ort des Geschehens kommen, unter denen Torten versteckt<br />

sind. Auch Godin tritt bisweilen selbst in Verkleidung<br />

auf. Die nach traditionellem Rezept angefertigten Backwerke<br />

kauft er in bescheidenen Konditoreien und straft die Offerten<br />

großer, reklamegieriger Firmen mit Nichtachtung.<br />

Die Opfer wählen die Mitglieder der Torten-Internationalen<br />

aus. Jeder Angriff wird sorgfältig vorbereitet, manchmal<br />

mithilfe von „Verrätern“, die die nötigen Angaben machen,<br />

wann und wo zugeschlagen werden kann. Dank eines solchen<br />

Verrats kam es im Februar 1998 in Brüssel zum berühmtesten<br />

Tortenattentat auf den Microsoft-Chef und<br />

reichsten Menschen der Erde Bill Gates. Dreißig lächelnde<br />

Robin Hoods, die zu Dreipersoneneinheiten gruppiert waren,<br />

riefen: „Gloupe! Gloupe!“ und bewarfen ihn, als er aus<br />

seiner Limousine stieg. Trotz fünf Leibwächtern und einer<br />

Eskorte von vier Motorradfahrern erreichten vier Torten ihr<br />

Ziel. Gates erhielt die Strafe für „die Nutzung von Intelligenz<br />

und Phantasie zur Aufrechterhaltung des tristen Status<br />

quo einer unvollkommenen Welt“.<br />

Nicolas Sarkozy wurde während eines Besuchs in Brüssel<br />

viermal getroffen. Mit Sicherheit sind neue Angriffen in<br />

Arbeit. Der bekannte Journalist Alain Beverini bekam seine<br />

Torte vor den Augen von Millionen von Fernsehzuschauern,<br />

als er in Begleitung von dreißig Leibwächtern vor einem Hotel<br />

in Cannes Holly Hunter interviewte (die die Hauptrolle<br />

in Das Piano gespielt hatte).<br />

Am meisten hat es Godin der französische Philosoph und<br />

Fernsehstar, der narzisstische Bernard-Henry Lévy angetan,<br />

der zu seinem Unglück einmal behauptet hat, er wäre der<br />

begabteste Schriftsteller seiner Generation. Dafür wurde er<br />

sieben Mal eingetortet, unter anderem auf der Bühne des Festivals<br />

in Cannes. Seit dieser Zeit bringt immer dann, wenn<br />

sich im Fernsehkabarett die Puppe Lévys zeigt, eine Sahnekaskade<br />

sie zum Schweigen.<br />

Die Torten erzeugen Aggression. Nach dem Angriff in<br />

Cannes trat Lévy nach Godin. Zwei weibliche Mitglieder der<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Torten-Internationalen rettete in letzter Sekunde die Polizei,<br />

als Leibwächter versuchten, ihre Gesichter in Kloschüsseln<br />

zu drücken. Nur Godard bewahrte angesichts des Angriffs<br />

Haltung. Als ihn 1985 in Cannes die Torte traf, leckte er<br />

die Sahne von der Zigarre und lobte die Huldigung an das<br />

Stummfilmkino.<br />

Ganze 95% der Attentate gelingen. Noël Godin hat mehrere<br />

Dutzend Opfer zu verbuchen. Er träumt von Sahnebombardements<br />

aus dem Flugzeug auf das Radrennen Tour<br />

de France und die Fußballweltmeisterschaft.<br />

Seine Art, den Dünkel zu bekämpfen, griffen die Patissiers<br />

Sans Frontières (Zuckerbäcker ohne Grenzen) auf. Zu<br />

ihren zahlreichen Opfern gehört unter anderem Oscar de la<br />

Rent, der in Portland vom Aktivisten des Kampfes gegen die<br />

Pelzindustrie mit einer Tofutorte vermöbelt wurde. Im September<br />

2001 wurde Karl XVI. Gustav, König von Schweden,<br />

Opfer einer Erdbeertorte. Mehrere Monate zuvor erreichten<br />

Apfeltorten den Vizepräsidenten von Białystok Bogusław<br />

Dębski, den Umweltschutzminister Antoni Tokarczuk und<br />

den ehemaligen Vizepremier Leszek Balcerowicz. Im Juni<br />

2004 traf eine Heidelbeertorte in Warschau Lech Kaczyński,<br />

und ein Jahr später – den Vizepräsidenten der Hauptstadt<br />

<strong>Andrzej</strong> Urbański.<br />

Nach dem von einem Mitarbeiter Godins auf den französischen<br />

Kulturminister Philippe Douste-Blazy verübten Tortenattentat<br />

brachte die Regierung den Fall vor Gericht. Der<br />

Attentäter wurde jedoch nach der Erklärung des Anwalts<br />

freigesprochen, Tortenwerfen sei in Belgien Tradition.<br />

Bei einem Tortenattentat helfen Lachen, eine dumme<br />

Miene und ein idiotisches Lied. Besser der bewaffneten Leibgarde<br />

zeigen, dass es nur um eine Torte geht. Die Torte nicht<br />

werfen, sondern aus der Nähe auf dem Gesicht des Opfers<br />

plattdrücken.<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Gdańsk 2007<br />

167 × 215 • 440 pages<br />

paperback<br />

Translation rights:<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus<br />

85<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher<br />

86<br />

Photo: Bianka Rolando<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Für Bianka Rolandos Debüterzählband waren ihre Herkunft<br />

wie ihre Ausbildung von großer Bedeutung. Italienische<br />

Gesprächsbücher ist der Versuch, von einer Identität zu erzählen,<br />

die durch vier Kulturkreise geprägt wird: das Polnische, das Italienische,<br />

die Malerei und die Literatur.<br />

Ins Spiel kommt hier eher Impression als autobiographisches<br />

Erzählen, die Schriftstellerin spricht nämlich nur selten über<br />

sich selbst und sucht dann Zuflucht bei Fakten aus ihrem Leben.<br />

Doch nicht Fakten konstituieren dieses Buch, sondern die<br />

Art, wie Rolando spricht. Wie sie auf ihre Zweisprachigkeit<br />

und ihre Bikulturalität Bezug nimmt und wie sie Wort und Bild<br />

verknüpft. Jeder der elf Texte, die den Erzählband bilden, wurde<br />

durch ein ausgewähltes Meisterwerk der italienischen Malerei<br />

inspiriert und wird von einer graphisch-fotographischen Arbeit<br />

begleitet. Sichtbares und Lesbares<br />

sind hier aufs Engste miteinander<br />

verbunden.<br />

Daraus entstand eine originelle und<br />

eindrucksvolle Mischung. Sie umschließt<br />

eine zeitgenössische Interpretation<br />

der Szenen auf den Bildern und den Versuch, diese<br />

Darstellungen zur heutigen Mentalität in Bezug zu setzen; der<br />

Mentalität derer, die in der Betrachtung des jeweiligen Bildes<br />

ihre eigenen Probleme wiederfinden. Rolando siedelt sich selbst<br />

unter den potentiellen Betrachtern oder den Porträtierten an: Sie<br />

belauscht sie nicht nur, sondern lauscht auch in sich hinein.<br />

Die kleinen „Bildchen“ changieren zwischen verschiedenen<br />

Schattierungen und bieten viele Spuren, denen man bei der Lektüre<br />

folgen kann. Dieses Spiel spiegelt sozusagen den Lernprozess<br />

und die Entdeckung des Reichtums der Sprache – angefangen<br />

von Abzählreimen für Kinder, Sprichwörtern oder Liedern,<br />

die kunstvoll in den Erzählfluss eingeflochten werden.<br />

Auch wenn der Gegenstand der Analyse hier ungewöhnlich bedeutsam<br />

ist, scheint das von Rolando aufgezeigte Problem der<br />

Multikulturalität eine nicht minder wichtige Frage zu sein. Die<br />

Autorin konzentriert sich nicht auf die Unterschiede, sondern<br />

das Gemeinsame. Auf universelle Symbole und dem allen Europäern<br />

gemeinsamen Traditionsstrang der Kultur. Italienische Ge-<br />

sprächsbücher ist ein ausgezeichneter Beweis dafür, dass, auch<br />

wenn uns die Sprache trennt, immer noch andere Verstehensebenen<br />

bleiben – die Geste, der Gesichtsausdruck oder der<br />

Tonfall der Stimme.<br />

Marta Mizuro<br />

Bianka Rolando (geb. 1979) stammt aus einer<br />

polnisch-italienischen Familie, schafft hauptberuflich<br />

Grafiken und lehrt an der Warschauer Akademie für<br />

Bildende Künste.<br />

Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher<br />

87<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher<br />

88<br />

Marta<br />

bricht nach Putzmitteln duftend<br />

(ihre angeborene Liebe zum Badezimmerschrubben)<br />

zu ihrer<br />

Schwester Maria auf. Sie legt ihren grauen Umhang um.<br />

Heute trägt sie ein blaues Kleid.<br />

Gib deiner Schwester die Puppe zurück, zieh sie nicht an<br />

den Haaren. Immer ist es dasselbe, immer ist sie unschuldig,<br />

weil sie jünger ist.<br />

Marta hat eine auf Kredit gekaufte kleine Einzimmerwohnung,<br />

die leer steht. Im Augenblick steht dort nur ein Ikea-<br />

Bett aus dem Sonderangebot. Sie ist einsam. Die Schenkel<br />

verwachsen miteinander, die Brüste füllen den BH nur der<br />

Form halber.<br />

Sie kann ihre Schwester nicht ausstehen. Nie waren sie<br />

zusammen einkaufen gegangen, um sich Handtaschen oder<br />

die widerlichen, billigen Ballerinas mit den Punkten zu<br />

kaufen.<br />

Maria hat, als sie klein war, ihre Schwester gebissen. Sie<br />

hat angefangen. Gar nicht wahr, sie war’s. Sie waren einander<br />

nicht ähnlich, auch wenn manche in der Familie witzelten,<br />

sie seien beide füllig wie frische Brötchen.<br />

Vater, Gott hab ihn selig, der in einem winzigen Tümpel<br />

angelte (nie hatte er auch nur einen einzigen Fisch geangelt),<br />

sprach von seinen Töchtern als schönen Schiffen. Verkalkung.<br />

Nette, sehr schlichte Metaphern.<br />

Zwei Windjammern mit sehr ähnlichen Ausmaßen können<br />

mit verschiedener Verzögerung auf die Bewegung des<br />

Steuerrads reagieren. Sie können andere Eigenschaften<br />

im Wind haben. Sie können ihre Merkmale verändern –<br />

abhängig von der Windstärke und der Höhe der Wellen.<br />

Maria bekam immer die interessanteren Geschenke (die<br />

Hawaii-Barbie mit Pferdchen, das jeden mit seinem verlangenden<br />

Blick anschaute). Sie war verwöhnt und beliebt,<br />

die fette Robbe. Das arme Mariele. Ihr Haar war zu einem<br />

Zopf geflochten. Ihre Zähne waren immer braun von Schokolade.<br />

Gib ihr dies zurück, gib ihr jenes zurück.<br />

Marta fährt in einem überfüllten Bus zur Schwester. An<br />

jeder Haltestelle steigen Unmengen von Menschen ein.<br />

An jeder Haltestelle ein Superkraftakt. Der Bus kommt<br />

zur Endhaltestelle. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur<br />

Schwester. Sie zerbeißt ein hartes Minzbonbon, um ihren<br />

Atem zu erfrischen. Heute will sie mit ihr sprechen, vielleicht<br />

streiten.<br />

Maria öffnet ihr die Tür. In ihrer Wohnung ist der Strom<br />

abgestellt (die Stromrechnungen für März und April sind<br />

nicht bezahlt). Sie sitzt im Halbdunkel, kämmt ihr Haar.<br />

Warum wurde der Strom abgestellt? Warum bist du<br />

arbeitslos? Du bist völlig verantwortungslos – wie immer.<br />

Wirst du in alle Ewigkeit auf meine Hilfe rechnen?<br />

Ihre Hände geraten in Bewegung. Sie werden sich nicht<br />

prügeln wie Grundschulgören auf dem Schulsportplatz<br />

nach dem Unterricht. Das ist nur Navigation per Hand.<br />

Die linke Hand nach unten, die rechte hebt den Zeigefinger.<br />

Die Rechte hebt den Zeigefinger, die Linke zeigt nach<br />

unten. Das sind alle Vorschriften, die auf binnenländischen<br />

Wasserwegen gelten, ergänzt von den Anordnungen binnenländischer<br />

Genueser Schiffahrtsinspektoren in Fragen<br />

lokaler Familienkonflikte.<br />

Du bist nicht meine Schwester. Ich sehe in den Spiegel,<br />

und dort sehe ich meine Schwester, aber nicht hier. Hier<br />

sehe ich nur einen feisten Hampelmann, der von Kindheit<br />

an Flanellunterhosen trägt. Jetzt trägst du sie sicher wieder.<br />

Musst du immer so fürchterlich umsichtig sein? Immer<br />

wirfst du mir vor, dass ich mehr bekommen habe als du.<br />

Kannst du dich erinnern, wie fest du mich geschlagen hast?<br />

Du hast meine Hawaii-Barbie kaputtgemacht, ihr den Kopf<br />

abgerissen und die Finger abgebissen. Du bist die Nacht,<br />

ich bin der Tag.<br />

Die Wettervorhersage. In der Nacht bedeutend kälter als<br />

tagsüber. Eventuell Gewitter mit vorüberziehenden Tränenschauern.<br />

Ich bin völlig einsam. Ich führe Selbstgespräche. Nie<br />

haben wir einander geholfen. Als unsere Eltern gestorben<br />

waren, hast du aufgehört, dich für mich zu interessieren.<br />

Ich habe mir so sehr gewünscht, dass wir zusmmen<br />

einkaufen gehen. Wir hätten uns drollige Handtaschen<br />

gekauft und diese widerlichen Ballerinas mit den Punkten.<br />

Jetzt habe ich es sehr schwer. Ich brauche dich, denn<br />

schließlich ist der Abstieg von der Untiefe einer großen<br />

Windjammer wirklich schwer. Es gibt außergewöhnlich un-<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


glückliche Umstände. Wenn es schon zu einer so schweren<br />

Situation kommt, muss man einen Schlepper oder ein Rettungsschiff<br />

rufen.<br />

Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier<br />

Wydawnictwo Sic!<br />

Warsaw 2007<br />

135 × 205 • 104 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-60457-27-6<br />

Translation rights:<br />

Wydawnictwo Sic!<br />

Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher<br />

89<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)<br />

90<br />

Photo: Grażyna Samulska<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Bereits in seinen ersten beiden Romanen Nicht der Hit und Das<br />

Wunder zeigte sich Ignacy Karpowicz als origineller und überaus<br />

einfallsreicher Prosaist. Doch mit Die Neue Blume des Kaisers<br />

hat sich der Autor selbst übertroffen. Es fällt schwer, diesen<br />

Text einer bestimmten Gattung zuzuordnen, er enthält Elemente<br />

der Reportage, des Romans, des Reisetagebuchs und von etwas,<br />

das man als romantisch-ironisches Prosaepos bezeichnen<br />

könnte. Karpowicz selbst charakterisiert seine Erzählweise – mit<br />

der ihm eigenen Hintergründigkeit – folgendermaßen: „Ich bin<br />

ein Schwarzfahrer des Exkurses [...] Alles, worüber ich schreibe,<br />

interessiert mich – und gleichzeitig ist mir nichts besonders<br />

wichtig“. Er erzählt von seinen Reisen nach Äthiopien, einem von<br />

der Geschichte gezeichneten, armen afrikanischen Land, das<br />

bereits im Mittelpunkt von Ryszard Kapuścińskis ausgezeichneter<br />

Reportage König der Könige. Eine Parabel der Macht stand. In<br />

seiner ausschweifenden Narration,<br />

die so flirrend ist wie die heiße afrikanische<br />

Luft, erzählt Karpowicz von<br />

seinem Aufeinandertreffen mit einer<br />

anderen Kultur (in der man Weißen auf eine sehr spezifische Art<br />

begegnet), berichtet von seinem Kampf mit einer nahezu kafkaesken<br />

Bürokratie, beschreibt das heutige Äthiopien und seine<br />

Einwohner, gibt einen Abriss der Geschichte dieses Landes und<br />

präsentiert die faszinierenden Denkmäler und Landschaften,<br />

über die in Europa kaum etwas bekannt ist. Und all das würzt<br />

er mit einer großen Portion Ironie und feinen Humors, die fast<br />

schon zu seinem Markenzeichen geworden ist.<br />

Wenn ich an Ignacy Karpowiczs neuen Roman denke, kommt<br />

mir unweigerlich das Wort „seltsam“ in den Sinn. Ja, es ist eine<br />

seltsame Prosa, doch diese (vor allem formale) Seltsamkeit ist<br />

– so meine ich zumindest – vom Autor beabsichtigt. Auf eben<br />

diese Weise versucht Karpowicz die „Seltsamkeit der Existenz“,<br />

die ihn während seiner Reisen durch Äthiopien anfiel, in Worte<br />

zu fassen.<br />

Robert Ostaszewski<br />

Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaist,<br />

Übersetzer aus dem Englischen, Spanischen und<br />

Amharischen.<br />

Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)<br />

91<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)<br />

92<br />

Addis<br />

liegt 2400 Meter über dem Meeresspiegel<br />

und ist somit die am<br />

dritthöchsten über Meeren und<br />

Ozeanen emporragende Hauptstadt weltweit. Der Reiseführer<br />

von Herrn Briggs ist nicht der Einzige. Aus einem anderen<br />

(bei Camerapix erschienenen) Werk fördere ich die folgende<br />

charmante Beschreibung zutage, die aus sicherer Realitätsferne<br />

geschrieben wurde, oder von jemandem, den man dafür<br />

bezahlt hat: „Breite, dreispurige Straßen, eine eindrucksvolle<br />

Architektur, herrliches Wetter und Karawanen von Eseln,<br />

die malerisch durch die Boulevards ziehen, machen die Neue<br />

Blume zu einem empfehlenswerten Reiseziel“. Als sei dies<br />

noch nicht genug führt der Autor auch noch die Fülle von<br />

gemütlichen Cafés und Konditoreien ins Feld, die ein wenig<br />

an Rom erinnert. Klar doch. […]<br />

Ich biege nach rechts in eine Straße mit dem vertrauten<br />

Namen Wavel. Ich werde noch bei verschiedenen Gelegenheiten<br />

die Namen von Straßen nennen – obwohl es nicht<br />

den geringsten Nutzen hat. In erster Linie weil die Straßen<br />

hier überhaupt nicht gekennzeichnet sind und ihre Namen<br />

lediglich auf den Stadtplänen erscheinen. Die Einzigen, die<br />

von ihnen Gebrauch machen, sind weiße Touristen und – zu<br />

diesem Punkt gibt es widersprüchliche Aussagen – die äthiopische<br />

Post. Eine gewisse Erschwernis stellt auch die Tatsache<br />

dar, dass jede einigermaßen ansprechende Straße oder Allee<br />

ein Recht auf zwei, drei oder sogar noch mehr Synonyme für<br />

sich in Anspruch nimmt. Diese Bezeichnungen sind generell<br />

austauschbar. Und es wäre gar nichts an einem solch verschwenderischen<br />

Umgang mit Straßennamen auszusetzen,<br />

wenn jeder sie alle kennen würde.<br />

Leider ist dies nicht der Fall. Wenn ihr euch verirrt, wird<br />

kaum jemand, den ihr nach dem Weg fragt, euer topografisches<br />

Wissen mit euch teilen. Und selbst wenn sich herausstellen<br />

sollte, dass sowohl ihr als auch die von euch gefragte<br />

Person denselben Begriff wiederholt, ist noch lange nichts<br />

gewonnen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Um<br />

die Dramatik der Situation zu verdeutlichen, möchte ich die<br />

wahrscheinlichsten einmal nennen. Euer Gegenüber versteht<br />

kein Englisch und spricht einfach nach, was ihr gerade gesagt<br />

hat. Euer Gegenüber versteht Englisch, weiß aber nicht,<br />

wovon ihr redet, und spricht euch nach, um ein wenig mit<br />

euch zu schwatzen. Euer Gegenüber versteht Englisch und<br />

weiß, wovon ihr redet, hat jedoch keine Ahnung, wo sich die<br />

gesuchte Straße befindet, und spricht euch nach, um euch<br />

nicht zu kränken. Euer Gegenüber versteht Englisch, weiß,<br />

wovon ihr redet, und kennt – wie er euch versichert – sogar<br />

den Weg dorthin.<br />

Armer, einfältiger Tourist! Du bist noch längst nicht gerettet!<br />

Im besten Fall denkt euer Gegenüber an den dritten Namen<br />

einer Straße, der bereits seit Jahren nicht mehr in Gebrauch<br />

ist (außer in dem Stadtteil, in dem du dich gerade befindest),<br />

während du an den ersten Namen einer Straße denkst, der<br />

so alt ist, dass ihn längst alle vergessen haben. Folgst du nun<br />

also jener mühsam errungenen Wegbeschreibung, kannst du<br />

sicher sein, auf gänzlich unerforschte Gegenden zu stoßen.<br />

Es lohnt sich. Deine Situation erfährt keine wesentliche Änderung:<br />

Noch mehr verirren kann man sich nicht. Entweder<br />

man hat sich verirrt oder nicht, dazwischen gibt es nichts,<br />

so mahnt uns die protestantische Prädestinationslehre. Du<br />

wolltest reisen und jetzt hast du, was du wolltest: Du besuchst<br />

Orte, an denen du noch nie zuvor gewesen bist.<br />

Entgegen allem Anschein entspringt die äthiopische Vorliebe<br />

für Wort- und Namensschöpfungen einer zutiefst ästhetischen<br />

und philosophischen Grundhaltung. Man muss<br />

nur ihre Denkweise verstehen: Irgendein hohes Tier denkt<br />

sich einen Namen aus. In der Regel fragt er die Einwohner<br />

nicht, ob ihnen der neue Name gefällt und ob er die topografische<br />

Realität angemessen wiedergibt. Er macht sich auch<br />

nicht die Mühe zu überprüfen, wie man zum Beispiel diese<br />

Allee bis dahin eigentlich genannt hat. Denn irgendwie muss<br />

man sie ja schließlich genannt haben, die Stadt duldet kein<br />

Vakuum. Und was nun? Soll man sich etwa einfach so mit<br />

der Inkompetenz irgendeines Beamten abfinden? Niemals!<br />

Soll er sich doch von seinem Schreibtisch herab so viele Namen<br />

ausdenken, wie er will.<br />

Folgen wir dieser Spur. Sie ist sicher. Wir werden uns nicht<br />

verirren.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Wir haben also einen Namen. Doch die Welt steht nicht<br />

still, überall entstehen neue Gebäude, die alten zerfallen, die<br />

Straße lebt, verändert ihren Charakter, vielleicht wird sie sogar<br />

asphaltiert. Und was nun? Soll ein einziger Name sie für<br />

alle Zeiten beschreiben?<br />

Blödsinn!<br />

Der Name muss geändert, an die jeweilige Situation angepasst<br />

werden. Nur so bleibt sein Bezug zur Realität erhalten.<br />

Nur so vermag er der schillernden Vielfalt des Universums<br />

gerecht zu werden. Aus diesem Grund operieren die Äthiopier<br />

mit mehreren Namen gleichzeitig. Nicht selten kommt<br />

es auch zu Namenswanderungen. Früher hieß diese Straße<br />

einmal Schöne Straße, doch dann wurde hier ein Hochhaus<br />

gebaut: Und vielleicht war sie früher einmal schön, aber heute<br />

ist sie es nicht mehr. Dafür wurden ganz in der Nähe Eukalyptusbäume<br />

gepflanzt, die sehr schön aussehen, also wird<br />

diese Straße zur Schönen Straße. Leider hat die Polizei nicht<br />

richtig auf die Eukalyptusbäume aufgepasst, sodass sie schon<br />

bald darauf zu Brennholz verarbeitet wurden. Im Grunde<br />

waren aber nur die Eukalyptusbäume schön gewesen, jetzt<br />

war die Straße war nur noch die Schmale Straße. Ganz in<br />

der Nähe jedoch...<br />

Darüber hinaus lässt diese Form der sprachlichen Aktivität<br />

auch Raum für den Ausdruck der eigenen Individualität:<br />

Mir gefällt dieses Hochhaus, ändert den Namen, soviel ihr<br />

wollt, für mich bleibt es die Schöne Straße.<br />

Ich muss zugeben, dass ich diese ständig neu bezeichnete,<br />

immer wieder aufs Neue geschaffene, wie ein Regenbogen<br />

flüchtige Welt, im ersten Moment als feindlich empfand,<br />

quasi als afrikanische Spielart des Großstadtdschungels. Später<br />

jedoch, als ich den schmerzhaften Prozess der Anpassung<br />

bereits hinter mir hatte, lernte ich diese Tradition der Unordnung<br />

und Lebendigkeit bedingungslos zu lieben.<br />

Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau<br />

Państwowy <strong>Instytut</strong><br />

Wydawniczy<br />

Warsaw 2007<br />

145 × 230 • 256 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-06-03077-8<br />

Translation rights:<br />

Ignacy Karpowicz<br />

Contact: PIW<br />

Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)<br />

93<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


94<br />

Alles über Lem<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Stanisław Lem (1921-2006) seiner Ausbildung<br />

nach Arzt und Theoretiker der Wissenschaft, aus<br />

Neigung Schriftsteller, Klassiker der Science-Fiction.<br />

95<br />

Maciej Płaza<br />

O poznaniu<br />

w twórczości<br />

Stanisława Lema<br />

Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Wrocławskiego<br />

Wrocław 2006<br />

150 × 210 • 579 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 83-229-2765-7<br />

Translation rights: Maciej Płaza<br />

Contact: Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Wrocławskiego<br />

Wojciech Orliński<br />

Co to są sepulki?<br />

Wszystko o Lemie<br />

Znak<br />

Cracow 2007<br />

144 × 205 • 282 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-240-0798-1<br />

Translation rights: Znak<br />

Paweł Majewski<br />

Między zwierzęciem<br />

i maszyną. Utopia<br />

technologiczna<br />

Stanisława Lema<br />

Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Wrocławskiego<br />

Wrocław 2007<br />

150 × 210 • 295 pages<br />

hardcover<br />

Translation rights:<br />

Paweł Majewski<br />

Contact: Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Wrocławskiego<br />

Alles über Lem<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


96<br />

Alles über Lem<br />

Vor gut einem Jahr starb Stanisław Lem, ein ungemein<br />

bekannter Schriftsteller, der aber von der polnischen Kritik<br />

nicht durch allzu viele wissenschaftliche Analysen verwöhnt<br />

wurde. Das ändert sich allmählich, dank neuer Autoren in<br />

diesem Fachgebiet.<br />

Beginnen wir mit einer populären Ausgabe, dem kurzen<br />

Wörterbuch der Begriffe, die von Lem benutzt wurden und<br />

mit seinem Werk verbunden sind. Wojciech Orlińskis Buch<br />

Was sind Sepulken? Alles über Lem ist leicht und überaus witzig<br />

und zugleich intelligent und mit großer Sachkunde geschrieben.<br />

Orliński, Journalist bei der „Gazeta Wyborcza“,<br />

der sich mit literarischen Dingen ebenso beschäftigt wie mit<br />

Problemen der neuesten Wissenschaft, hat in sein Kompendium<br />

Stichwörter aufgenommen, die sich auf die Werke Lems<br />

beziehen, seine Biographie, seine Verwandten, Freunde und<br />

Gegner, auf die Welt, die in seinen Werken dargestellt wird,<br />

auf Probleme und Themen, die in den Büchern angeschnitten<br />

werden, auf Kritiker, die sich mit Lem befaßt haben, auf<br />

Filmemacher, die seine Werke als Vorlage verwendet haben,<br />

und schließlich auf die realen Länder der Erde, die Lem in<br />

seinen Büchern beschrieben hat.<br />

Die Stichwörter enthalten viele durchaus seriöse Informationen<br />

über das Werk Lems, aber sie sind, wie dieses Werk<br />

selbst, voller Humor, wie etwa der Eintrag über die titelgebenden<br />

Sepulken:<br />

Sepulken – wichtiges Element der Zivilisation der Ardriten<br />

(s. d.) auf dem Planeten Enteropia (s. d.); s. Sepulkaria<br />

Sepulkaria – zum Sepulieren (s. d.) dienende Objekte<br />

Sepulieren – Tätigkeit der Ardriten (s. d.) auf dem Planeten<br />

Enteropia (s. d.); s. a. Sepulkaria<br />

Dieses Stichwort fand Ijon Tichy in der von Professor<br />

Tarantoga entliehenen Kosmischen Enzyklopädie. Fasziniert<br />

von den rätselhaften Sepulken (und anderen Attraktionen<br />

Enteropias wie den Kulupen und Okteseln), beschloß er, der<br />

Sache auf der vierzehnten Reise auf eigene Faust nachzugehen.<br />

Auf Enteropia angekommen, bemerkte Tichy, daß alle<br />

Medien, Werbung und Kunstwerke von Anspielungen auf<br />

Sepulken nur so wimmeln. Aus Neugier begab er sich in ein<br />

entsprechendes Geschäft und bestellte eine, woraufhin der<br />

Verkäufer ihn nach seiner Ehefrau fragte. „Ich habe keine<br />

Frau“, erwiderte Tichy. „Sie… Sie haben… keine Frau?“<br />

stammelte der errötende Verkäufer entsetzt, „und da wollen<br />

Sie eine Sepulke…? Ohne Gattin…?“ Noch schlimmer endete<br />

der Versuch, dieses Thema mit einem Bekannten zu erörtern,<br />

einem Ardriten, der sich mit seiner Familie in einem<br />

Nachtlokal vergnügte. „Darf ich, weil ich keine Frau habe,<br />

keine Sepulke sehen?“, fragte Tichy. „Diese Worte fielen in<br />

eine plötzlich entstandene Stille. Die Frau meines Bekannten<br />

sank ohnmächtig zu Boden, er stürzte zu ihr […]. In diesem<br />

Augenblick erschienen drei Kellner; sie packten mich am<br />

Kragen und warfen mich auf die Straße“.<br />

Vor Orlińskis Buch war ein ungemein interessantes wissenschaftliches<br />

Werk erschienen: Über die Erkenntnis in den<br />

Schriften Stanisław Lems von Maciej Płaza. Płaza beschreibt<br />

das Werk Lems in vier großen Kapiteln: „Lems Strukturen<br />

und Strategien“, „Futurologie der empirischen Wissenschaften“,<br />

„Das literarische Gedankenexperiment“ und „Fiktion<br />

der Logik oder Logik der Fiktion“. Die Arbeit untersucht<br />

die Erkenntnisproblematik, die das grundlegende Thema<br />

der Lemschen Phantastik darstellt. Man könnte fragen, ob<br />

ein Phantast überhaupt etwas erkennen kann. Nun beweist<br />

Maciej Płaza, wie eng die wissenschaftlich-philosophischen<br />

Essays Lems mit seinem belletristischen Werk zusammenhängen,<br />

das einen Raum bildet, in dem bestimmte Ideen aus<br />

den Bereichen der Soziologie, der Kulturwissenschaft oder<br />

der Technik unter Beachtung literarischer Konventionen im<br />

Material der fiktiven Fabeln modelliert werden. Auf genau<br />

diese Weise fand das Prognostizieren künftiger Zustände der<br />

Technik und der menschlichen Kultur bei Lem seine Fortsetzung<br />

in etwas, das Płaza als „literarisches Gedankenexperiment“<br />

bezeichnet, aber auch in der vom dem Forscher<br />

ungemein interessant analysierten Metaliteratur, den Lemschen<br />

Apokryphen: Rezensionen und Vorworten zu fiktiven<br />

Büchern. Płazas Buch wird für künftige Erforscher des Lemschen<br />

Schaffens zweifellos zur Pflichtlektüre gehören.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


In derselben renommierten Verlagsreihe wie Płazas Buch<br />

erscheint eine weitere wertvolle wissenschaftliche Abhandlung<br />

über Lems Werk: Zwischen Tier und Maschine. Die technologische<br />

Utopie Stanisław Lems von Paweł Majewski. Darin<br />

befaßt sich der Warschauer Gelehrte im Grunde mit nur zwei<br />

wichtigen essayistischen Büchern Lems, den Dialogen und<br />

der Summa technologiae. Er behandelt unter anderem Lems<br />

Verhältnis zur Kybernetik, die Frage der sich verwischenden<br />

Grenzen zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen,<br />

das Problem der Konstruktion des Cyberraums und all seine<br />

– sehr weitläufigen – Kontexte. Seine Ausführungen münden<br />

in das wichtigste Thema, das nach Ansicht des Verfassers<br />

bei Lem das Projekt der Autoevolution des Menschen ist,<br />

ein Projekt, das entweder eine radikale Umgestaltung des<br />

Körpers erfordert oder dessen gänzliche Verwerfung zugunsten<br />

einer spezifischen Komposition aus biologischen und<br />

maschinellen Elementen, mit der Perspektive, die menschliche<br />

Physis einer vollständigen und radikalen Umwandlung<br />

zu unterziehen. Dieses durch seine Kühnheit schockierende<br />

Projekt vergleicht der Verfasser mit der aktuellen Strömung<br />

des Posthumanismus, und er zeigt, das der Autor der Summa<br />

dessen Vorläufer war. Am Schluß des Buches wird Lem als<br />

Visionär dargestellt, der sich auf das Projekt der Autoevolution<br />

verlegte, um die Widersprüche der conditio humana zu<br />

beseitigen und uns um den Preis der Vernichtung aller kulturellen<br />

Errungenschaften zu befreien von der „schrecklichen<br />

Mühsal, ein Mensch zu sein“.<br />

Jerzy Jarzębski<br />

97<br />

Alles über Lem<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Julia Hartwig Dank für die Gastfreundschaft<br />

98<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


„Von dem Augenblick an, in dem ich in Frankreich war, bestimmte<br />

alles dort Erlebte meinen weiteren Weg, beeinflusste meine<br />

Interessen, mein Verhältnis zur Welt, meine Leidenschaften,<br />

meine Arbeit“, schreibt Julia Hartwig in ihrem neuesten Buch,<br />

dem Titel entsprechend ein Dank für die Gastfreundschaft. Der<br />

Dank geht nicht so sehr an konkrete Personen, auch wenn von<br />

ihnen oft die Rede ist, als an die französische Kultur und Zivilisation,<br />

die Literatur und insbesondere die Poesie des Landes an<br />

der Seine.<br />

Julia Hartwig revanchierte sich für die „Gastfreundschaft“ wahrlich<br />

königsgleich: mit brillanten Büchern über französische Dichter,<br />

Rimbaud-Nachdichtungen, Essays zur französischen Kultur,<br />

der alten und der heutigen, wie auch zur Geschichte, auch der<br />

schwierigen jüngsten Vergangenheit. Der Dank für die Gastfreundschaft<br />

besteht neben Essays auch in Reisetagebüchern,<br />

Gedichten der Lyrikerin mit französischen Motiven, Übersetzungen.<br />

Viel Raum widmet die Autorin Pariser Außenseitern, Fremdlingen<br />

gleich ihr, die sich diese außergewöhnliche Stadt vertraut<br />

zu machen und ihr Schaffen zu bereichern verstanden wie Blaise<br />

Cendrars, wie Max Jacob, wie Henri<br />

Michaux oder Marcel Duchamp.<br />

Für Julia Hartwig bleibt Paris auf immer Hauptstadt der Weltkultur,<br />

selbst wenn es nicht mehr das Paris bis zur Studentenrevolution<br />

Ende der 60er Jahre ist, als London und später New York<br />

diesen Titel übernahmen. In der Nachkriegszeit war das jedoch<br />

anders, und das, was ringsum die Champs Élysées entstand,<br />

beeinflusste das künstlerische Leben in West und Ost, Nord<br />

und Süd. Gleichgültig, ob es Lied, Bild, Theaterstück, Film oder<br />

Buch war. Apropos Buch: „Das Verblüffende an der französischen<br />

Literatur“, schreibt Julia Hartwig, „ist ihre Bandbreite: das<br />

Hugosche Genie französischen Esprits und Rabelais’sche Grobschlächtigkeit,<br />

Mussetsche Eleganz und der ergreifende Gesang<br />

Apollinaires, der Wahnsinn Lautréamonts, die unerschöpfliche<br />

Schaffensgewalt der Lyrik Rimbauds, die verschlossene Sensiblität<br />

des Kubismus Reverdys, der Erfindungsreichtum des lyrischen<br />

Paradoxon bei Jacob. Alt und neu, einzeln und vereint wie<br />

Wurzel, Halm, Blatt und Blüte einer Pflanze.“<br />

Krzysztof Masłoń<br />

Julia Hartwig (geb. 1921), Dichterin, Essayistin,<br />

Übersetzerin.<br />

Julia Hartwig<br />

Podziękowanie za gościnę<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Gdańsk 2007<br />

140 × 220 • 424 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-7453-707-0<br />

Translation rights: słowo/obraz terytoria<br />

Julia Hartwig Dank für die Gastfreundschaft<br />

99<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Jacek Antczak Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall<br />

100<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Dieses Buch geht über das dem Leser Vertraute weit hinaus.<br />

Nicht nur, weil eine unverwechselbare Persönlichkeit im Zentrum<br />

steht und das, was sie über ihre Arbeitsmethoden oder<br />

ihre Sicht des Lebens zu sagen hat, bisweilen verblüfft. Von einem<br />

großen Menschen lässt sich schwerlich Anderes erwarten.<br />

Doch könnte man annehmen, dass Hanna Krall nicht abgeneigt<br />

ist, ihr eigenes subjektives Empfinden in Textform zu bringen.<br />

Stattdessen verkündet sie: „Niemals werde ich über mich selbst<br />

in der ersten Person schreiben“. Aber „ich werde nicht schreiben“<br />

heißt natürlich nicht „ich werde nichts sagen“. Mit der Reporterin<br />

wurden Dutzende ausgezeichneter Interviews geführt.<br />

Doch keines davon war ein Gesprächsstrom, der die Funktion<br />

einer Biographie erfüllte.<br />

Die zehn Gespräche, die im Buch vorgestellt werden, wurden<br />

geführt und nicht geführt. Jedes ist eine Collage, die aus bereits<br />

fertigen Interviews komponiert wurde.<br />

Der Kompilator Jacek Antczak<br />

schnitt ganz wörtlich vorhandene<br />

Texte auf einzelne Fragen zu und<br />

stellte sie so zusammen, dass sie<br />

eine thematische Einheit bildeten.<br />

Die ursprünglichen Interviews wurden<br />

selbstverständlich in den Anmerkungen aufgeführt, aber<br />

bisweilen mussten die Fragen durch andere ersetzt werden,<br />

damit der geschaffene Wortwechsel seine logische Ordnung<br />

behielt. Die Spuren dieser Eingriffe bleiben unsichtbar: Die<br />

Gespräche haben ihr eigenes Tempo und bewahren sogar die<br />

Hitzigkeit einer „Diskussion“. Dennoch bleibt am wichtigsten,<br />

dass das Verwischen der Identität der Interviewer es erlaubt,<br />

die Stimme Hanna Kralls um so deutlicher herauszuschälen. In<br />

der ersten Person.<br />

Die Gespräche sind in drei Teile untergliedert. Im ersten erläutert<br />

Krall, was es für sie bedeutet, Reporterin zu sein. Im zweiten gewährt<br />

sie Einblicke in das Nähkästchen des Reporterhandwerks.<br />

Im dritten spricht sie über ihr Verhältnis zu den Lesern. Immer<br />

eindrucksvoll: ob sie eine Anekdote anführt, ob sie Verallgemeinerungen<br />

formuliert oder einen inneren Zwiespalt schildert.<br />

Hanna Krall spricht sich dafür aus, dass eine Reportage nicht<br />

nur als Sachliteratur gelesen wird, sondern dass man in ihr eine<br />

tiefere Bedeutung sucht. Die Reporterin ist also für die Fangemeinde<br />

der Autorin von Schneller als der liebe Gott genauso<br />

wertvoll wie für diejenigen, die beruflich mit literarischen Stoffen<br />

umzugehen haben.<br />

Marta Mizuro<br />

Hanna Krall, brillante Reporterin und Schriftstellerin.<br />

Übersetzt ins Englische, Tschechische,<br />

Finnische, Hebräische, Spanische, Holländische,<br />

Deutsche, Rumänische, Slowakische, Schwedische,<br />

Ungarische und Italienische.<br />

Jacek Antczak<br />

Reporterka. Rozmowy z Hanną Krall<br />

Rosner & Wspólnicy<br />

Warsaw 2007<br />

120 × 190 • 168 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-60336-15-1<br />

Translation rights: Rosner & Wspólnicy, Jacek Antczak<br />

Contact: Rosner & Wspólnicy<br />

Jacek Antczak Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall<br />

101<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Ryszard Legutko Traktat über die Freiheit<br />

102<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Thema des Traktats über die Freiheit von Ryszard Legutko ist die<br />

Freiheit – ein Schlüsselbegriff für die Philosophie wie für das<br />

gesellschaftliche Leben von heute. Für demokratische Gesellschaften<br />

ist der Begriff kein Problem an sich mehr. Niemand, der<br />

bei Verstand ist, stellt das Bedürfnis, ja sogar die Notwendigkeit<br />

der Freiheit in Frage.<br />

Zum Problem wird dagegen die Verteilung der Freiheit, ihr von<br />

uns gewünschter Umfang. Der Traktat über die Freiheit bringt<br />

eine Übersicht über die klassischen Auffassungen des Freiheitsbegriffs,<br />

von der platonischen bis zur liberalen Konzeption; in<br />

den Vordergrund rückt dabei die Frage der sogenannten negativen<br />

Freiheit, über die allgemeines Einverständnis besteht, freilich<br />

mit dem Hinweis, daß es an klaren Kriterien fehlt, von denen<br />

ihre Dauer abhängig ist. Besonders interessant ist das vom Verfasser<br />

angeschnittene Problem des Verhältnisses zwischen der<br />

negativen Freiheit und dem Kommunismus. Legutko stellt den<br />

wie ein Mantra ständig wiederholten Gegensatz zwischen sowjetischem<br />

Totalitarismus und westlichem<br />

Liberalismus in Frage. Die<br />

völlige Erniedrigung des Menschen<br />

im Kommunismus beruhte ihm zufolge<br />

vielleicht auf einem anthropologischen Irrtum, dem der<br />

Kommunismus erlag. Dieser richtete sich nämlich gegen „die<br />

gesamte menschliche Existenz, gegen fast alle Bestrebungen und<br />

Potentialitäten, über die der Mensch noch verfügte“.<br />

Ryszard Legutkos Buch ist fest im polnischen Hier und Jetzt verwurzelt.<br />

Daher erwähnt er auch den „merkwürdigen ideologischen<br />

Krieg“ in den frühen neunziger Jahren, „in dem auf der<br />

einen Seite die Anhänger einer radikalen Zurückweisung des<br />

Erbes und metaphysischer Begründungen als Formen des Vorurteils<br />

standen, auf der anderen Seite dagegen jene, die sich<br />

nicht vorstellen konnten, wie sich ohne solche historischen oder<br />

metaphysischen Begründungen die negative Freiheit organisieren<br />

läßt“. Ob es, wie der Autor sagt, glücklicherweise zum Waffenstillstand<br />

kam, weiß ich nicht; jedenfalls haben die Anhänger<br />

der letzteren Orientierung Stimmrecht erlangt. Und das bedeutet,<br />

daß der Streit um grundlegende Werte – darunter auch der<br />

Umfang der Freiheit – weitergehen wird.<br />

Krzysztof Masłoń<br />

Ryszard Legutko (geb. 1950), Philosoph,<br />

Professor der Philosophie an der Jagiellonen-<br />

Universität.<br />

Ryszard Legutko<br />

Traktat o wolności<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Gdańsk 2007<br />

140 × 225 • 248 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 978-83-7453-763-6<br />

Translation rights: słowo/obraz terytoria<br />

Ryszard Legutko Traktat über die Freiheit<br />

103<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Piotr Matywiecki Tuwims Gesicht<br />

104<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Was ist Tuwims Gesicht? Eine Biographie jedenfalls nicht – der<br />

Lebenslauf des Dichters nimmt einen gewissen, wichtigen Teil<br />

des Buches ein, ohne jedoch zu dominieren. Eine Werk-Monographie<br />

ist es auch nicht – denn es löst trotz seines Umfangs<br />

nicht alle von Tuwim aufgeworfenen Fragen, sondern signalisiert<br />

sie und stellt lediglich ein Bruchstück der literarischen Aktivität<br />

des Helden des Bandes dar. Am treffendsten bezeichnet<br />

man diese Veröffentlichung wohl als einen erweiterten Essay,<br />

ein wissenschaftliches Zeugnis der Faszination durch die Lektüre<br />

und zugleich als einen kleinen Führer durch den aktuellen Forschungsstand<br />

in Sachen Tuwim.<br />

Matywiecki verzichtet auf die „traditionelle“, chronologische<br />

Darstellung des Themas – Elemente der Biographie und der Interpretation<br />

sind über das ganze Buch verstreut. Mutige Lösungen<br />

der thematischen Gliederung gestatten dem Autor, Tuwims<br />

Gestalt aus einer bisher ungenutzten Perspektive zu beleuchten<br />

und eine neue Art des Redens über<br />

den Dichter zu erarbeiten. Der essayistische<br />

Schlüssel scheint bei<br />

Matywiecki die Interpretation zu<br />

sein – der Rhythmus der Lektüre bestimmt die Entwicklung der<br />

„Narration“, der Rhythmus der Lektüre der Gedichte, Erinnerungen<br />

und Briefe Tuwims ist hier ein Substitut der „Kenntnis“.<br />

Matywiecki wuchs mit einem regelrechten Tuwim-Kult auf. In<br />

Ermangelung persönlicher Kontakte und angesichts der nicht<br />

ganz gegebenen Möglichkeit, Tuwim durch Erforschung seines<br />

Werkes „kennenzulernen“, greift Matywiecki auf Äußerungen<br />

von Angehörigen des Dichters zurück, die er aus Monographien,<br />

Lebensläufen, Interviews, Rezensionen und Berichten schöpft.<br />

Gleichzeitig versucht Matywiecki, neben der Charakterisierung<br />

des Werkes Tuwims den literarischen Kontext zu präsentieren.<br />

In Tuwims Gesicht löst der Forscher Zusammenhänge auf, die<br />

reich an Bedeutungen sind, beschwört er Themen, auf die bisher<br />

nur wenige in der Dichtung Tuwims hingewiesen haben – die<br />

Frage des Gesichts, des Körpers, des Schicksals, der Identität,<br />

Tuwim aus der Sicht Lechońs, das Problem der Melancholie und<br />

des Vitalismus, das Motiv der Pflanzen, der Zahlen, der Mathematik,<br />

der Marionetten und der Religion, der Welt der Materie.<br />

Matywiecki beruft sich oft auf die Philosophie, oft interpretiert er<br />

Tuwim aus der Sicht verschiedener Weltanschauungen.<br />

Izabela Mikrut<br />

Julian Tuwim (1894-1953), einer der grössten<br />

Dichter Polens des 20. Jahrhunderts.<br />

Piotr Matywiecki<br />

Twarz Tuwima<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

142 × 202 • 774 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7414-041-6<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Piotr Matywiecki Tuwims Gesicht<br />

105<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres<br />

106<br />

Witold M. Orłowski<br />

Stulecie chaosu.<br />

Alternatywne dzieje<br />

XX wieku<br />

Open Wydawnictwa<br />

Naukowe i Literackie<br />

Warsaw 2006<br />

170 × 240 • 544 pages<br />

paperback<br />

ISBN: 83-85254-86-7<br />

Translation rights: PUENTA<br />

Literary Agency<br />

Contact: PUENTA<br />

Ewa Majewska,<br />

Janek Sowa<br />

Zniewolony umysł 2<br />

Korporacja Ha!art<br />

Cracow 2007c<br />

125 × 195 • 400 pages<br />

paperback<br />

ISBN 83-89911-61-2<br />

Translation rights: Authors<br />

Contact: Ha!art<br />

Artur Żmijewski<br />

Drżące ciała.<br />

Rozmowy z artystami<br />

Korporacja Ha!art & Galeria<br />

Kronika Ha!art.<br />

Bytom - Cracow 2006<br />

160 × • 365 pages<br />

paperback<br />

ISBN 83-89911-66-3<br />

Translation rights:<br />

Author, Foksal Gallery<br />

Fundation, Kronika<br />

Contact: Ha!art<br />

Tadeusz Bartoś,<br />

Krzysztof Bielawski<br />

Ścieżki wolności.<br />

Z Tadeuszem Bartosiem<br />

OP rozmawia<br />

Krzysztof Bielawski<br />

Wydawnictwo Homini<br />

Cracow 2007<br />

125 × 195 • 250 pages<br />

paperback<br />

ISBN 978-83-895988-82-0<br />

Translation rights:<br />

Tadeusz Bartoś,<br />

Krzysztof Bielawski<br />

Contact:<br />

Wydawnictwo Homini<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Krystyna Kłosińska<br />

Miniatury. Pisanie<br />

i czytanie ‚kobiece’<br />

Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Śląskiego<br />

Katowice 2006<br />

130 × 205 • 157 pages<br />

paperback<br />

ISBN 83-226-1599-X<br />

Translation rights:<br />

Wydawnictwo<br />

Uniwersytetu Śląskiego<br />

Izabela Filipiak<br />

Obszary odmienności<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Gdańsk 2007<br />

225 × 140 • 584 pages<br />

hardcover<br />

ISBN: 978-83-7453-719-3<br />

Translation rights:<br />

słowo/obraz terytoria<br />

Max Cegielski<br />

Pijani Bogiem<br />

W.A.B.<br />

Warsaw 2007<br />

145 × 205 • 260 pages<br />

paperback<br />

ISBN 978-83-7414-266-3<br />

Translation rights: W.A.B.<br />

Rafał Górski<br />

Bez państwa.<br />

Demokracja<br />

uczestnicząca<br />

w działaniu<br />

Korporacja Ha!art<br />

Cracow 2007<br />

125 × 195 • 250 pages<br />

paperback<br />

ISBN 83-89911-76-6<br />

Translation rights:<br />

Rafał Górski<br />

Contact: Ha!art<br />

Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres<br />

107<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres<br />

108<br />

Das vergangene Jahr hat uns zahlreiche interessante Neuerscheinungen<br />

im Bereich der Geisteswissenschaften beschert.<br />

Ihr vorherrschendes Merkmal ist die Interdisziplinarität: Es<br />

fällt schwer, die einzelnen Werke einer bestimmten Thematik<br />

zuzuordnen. Durch ihre breite thematische Streuung richten<br />

sie sich nicht mehr nur an einen bestimmten Leserkreis: Die<br />

Lektüre zeitgenössischer künstlerischer Programme führt<br />

uns direkt zu Fragen der gesellschaftlichen Kommunikation<br />

und der Politik.<br />

In manchen Fällen ist diese faszinierende Hybridität bereits<br />

in der Konzeption angelegt, wenn zum Beispiel in einem allen<br />

Anschein nach geschichtlichen Buch ein wirtschaftlicher<br />

Berater des polnischen Präsidenten mithilfe einer ökonomischen<br />

Simulation untersucht, was geschehen wäre, wenn<br />

Stalin oder Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten,<br />

wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte oder<br />

wenn China nicht von Japan erobert worden wäre... (Witold<br />

M. Orłowski: Hundert Jahre Chaos. Eine alternative Geschichte<br />

des 20. Jahrhunderts).<br />

Kurz gesagt: Allein die Tatsache, dass das Buch, das du<br />

liest, einer bestimmten Fachrichtung angehört, bedeutet<br />

nicht, dass sich deine Lektüre auf einen klar abgesteckten<br />

Bereich mit einer festen Terminologie beschränken wird.<br />

Unter dieser Prämisse werde ich versuchen, einen kurzen<br />

Überblick über die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen<br />

des letzten Jahres zu geben. Es liegt nahe, mit der<br />

Politik zu beginnen, denn der mit dem Etikett der „Vierten<br />

Polnischen Republik“ versehene politische Wandel führte<br />

zu zahlreichen kritischen Auseinandersetzungen sowohl mit<br />

der älteren als auch mit der neueren polnischen Geschichte.<br />

Nachdem 2005 zwei differenzierte Studien über die Chefideologen<br />

der beiden wichtigsten polnischen Parteien, PO<br />

und PIS erschienen (Paweł Śpiewak: Die Erinnerung an den<br />

Kommunismus und Zdzisław Krasnodębski: Periphere Demokratie)<br />

veröffentlichte im Jahr darauf der bekannte Publizist<br />

Rafał A. Ziemkiewicz ein wütendes Pamphlet gegen die Zeit<br />

der „Dritten Polnischen Republik“ (Die Michnik-Herrschaft.<br />

Chronik einer Krankheit). So sehr sich diese Autoren auch<br />

in ihrem Temperament unterscheiden, verbindet sie doch<br />

ein gemeinsamer Ansatz, der aus der „Hermeneutik der Verdächtigung“<br />

entsteht und sich vor allem der Demaskierung<br />

widmet: Die erste Phase der polnischen Unabhängigkeit<br />

wird als eine pathologische Erscheinung in liberaler Kostümierung<br />

beschrieben.<br />

Auch der linke Flügel der polnischen intellektuellen Szene<br />

widmet sich der Demaskierung des Liberalismus (und des<br />

Neoliberalismus): Der in Krakau ansässige Verlag Ha!art<br />

startete eine Reihe mit dem Titel „Radikale Linie“, der die<br />

polnische Gesellschaft aus der Perspektive der an den Rand<br />

Gedrängten beschreiben soll. Die Initiatoren dieser Reihe<br />

bekennen sich zu „einer freiheitlichen Weltanschauung und<br />

einer Perspektive des selbstbestimmten Aktivismus“. Der erste<br />

Band nimmt direkten Bezug auf Czesław Miłoszs Verführtes<br />

Denken (Ewa Majewska & Janek Sowa [Hrsg.]: Verführtes<br />

Denken 2), handelt jedoch nicht mehr von der „kommunistischen“<br />

sondern von der „liberalistischen Verführung“. Der<br />

zweite Band nimmt eine noch radikalere Position ein, indem<br />

er das Bild einer Demokratie „ohne Politiker“ entwirft (Rafał<br />

Górski: Ohne den Staat. Die aktiv partizipierende Demokratie.<br />

Mit einem Vorwort von Jan Sowa)<br />

Diesen radikalen Protesten gegen die liberale Mythologie<br />

nähern sich auch die Aussagen polnischer Künstler an, die<br />

von Artur Żmijewski in dem hervorragenden, ebenfalls bei<br />

Ha!art in der Reihe Politische Kritik erschienenen Buch Zitternde<br />

Körper gesammelt wurden. Neben den Gesprächen<br />

mit bildenden Künstlern aus dem Umfeld der so genannten<br />

„Kritischen Kunst“ (wie Paweł Althamer, Katarzyna Kozyra<br />

und Zbigniew Libera) finden sich in diesem Buch auch<br />

diverse intime Zeugnisse (Tagebucheinträge, Projekte) und<br />

zahlreiche Illustrationen. Wie Żmijewski bereits im Vorwort<br />

des Buches erklärt, fordert diese Bewegung eine radikale Einbindung<br />

der Kunst in die öffentliche Diskussion, indem sie<br />

die künstlerische Äußerung als Form des Diskurses versteht.<br />

Eine besondere Position im polnischen Dialog zwischen<br />

Tradition und Moderne nehmen die Stimmen der katholischen<br />

Dissidenten ein. Ein hervorragendes Beispiel dafür<br />

sind die Gespräche mit dem ehemaligen Dominikanermönch<br />

Tadeusz Bartoś kurz vor dessen Austritt aus dem<br />

geistlichen Stand (Wege der Freiheit. Über die Theologie, die<br />

Säkularisierung, die Demokratie in der Kirche, das Zölibat...<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Mit O. P. Tadeusz Bartoś spricht Krzysztof Bielawski). Obwohl<br />

sich Bartoś von der realen Politik der katholischen Kirche distanziert,<br />

hält er doch gleichzeitig eine Lobrede auf die Theologie.<br />

Mit Wege der Freiheit erschien bereits die dritte in den<br />

letzten Jahren kritische Auseinandersetzung eines polnischen<br />

Geistlichen mit seiner eigenen Institution.<br />

Auch im Bereich der Literaturwissenschaft gab es einige<br />

wichtige Neuerscheinungen: Die Rückkehr der Zentrale<br />

von Przemysław Czapliński (dem emsigsten Kritiker der<br />

zeitgenössischen Literatur), der die marktwirtschaftliche<br />

Reintegration des polnischen Literaturlebens (nach seiner<br />

Zersplitterung in den Anfangsjahren der Transformation) beschreibt;<br />

die von Włodzimierz Bolecki herausgegebene und<br />

mit einem fast sechshundertseitigen (!) kritischen Anhang<br />

versehene, fundamentale Neuausgabe von Witold Gombrowiczs<br />

Ferdydurke; die kritisch-feministischen Essays von<br />

Krystyna Kłosińska (Miniaturen. Über ‚weibliches’ Schreiben<br />

und Lesen) sowie Maria Janions Versuch einer postkolonialen<br />

Lesart der polnischen Phantasmen des Slawischen (Das unheimliche<br />

Slawentum. Literarische Phantasmen). Mithilfe der<br />

Terminologie Sigmund Freuds beschreibt Janion das Slawische<br />

als etwas Vertrautes, das durch die Verdrängung zum<br />

Unheimlichen wurde.<br />

Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei beeindruckende<br />

biografische Studien, die – aus feministischer Perspektive<br />

– die Schicksale in Vergessenheit geratener Frauen nachzeichnen<br />

(Grażyna Kubica: Malinowskis Schwestern oder die<br />

moderne Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie Izabela<br />

Filipiak: Regionen des Anderen. Über Maria Komornicka).<br />

Zum Abschluss sollen noch zwei Reisereportagen erwähnt<br />

werden: Mariusz Szczygieł schrieb eine Art tschechisches<br />

Verführtes Denken (Gottland) und Max Cegielski versuchte<br />

in Pakistan einen Dialog mit Vertretern verschiedener Richtungen<br />

des Islam zu führen (Die Gottestrunkenen).<br />

Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres<br />

109<br />

Krzysztof Kłosiński<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


110<br />

Adressen der Verlage und Agenten<br />

Czarne<br />

Wołowiec 11<br />

PL 38-307 Sękowa<br />

phone/fax: +48 18 351 00 70<br />

fax: +48 18 351 02 78<br />

redakcja@czarne.com.pl, www.czarne.com.pl<br />

De Geus<br />

P.O. Box 1878<br />

NL 4801 BW Breda, The Netherlands<br />

phone: +31 76 522 8151<br />

fax: +31 76 522 25 99<br />

a.v.rijsewijk@degeus.nl, www.degeus.nl<br />

Institut Littéraire Kultura<br />

91, avenue de Poissy<br />

Le Mesnil le Roi, FR 78600 Maisons-Laffitte<br />

phone: +33 1 39 62 19 04<br />

fax: + 33 1 39 62 57 52<br />

kultura@club-internet.fr<br />

korporacja ha!art<br />

Pl. Szczepański 3a<br />

PL 31-011 Kraków<br />

phone/fax: +48 12 422 81 98<br />

korporacja@ha.art.pl, www.ha.art.pl<br />

OPEN Wydawnictwo Naukowe i Literackie<br />

ul. Batystowa 10A m.6<br />

PL 02-798 Warszawa<br />

fax +48 22 648 3031<br />

tel. +48 600 838 593<br />

mdrabikowski@o2.pl<br />

PIW<br />

ul. Foksal 17<br />

PL 00-438 Warszawa<br />

phone: +48 22 826 02 01 ext. 216<br />

fax: +48 22 826 15 36<br />

piw@piw.pl, www.piw.pl<br />

PUENTA Literary Agency<br />

puenta@vp.pl<br />

Rosner & Wspólnicy<br />

ul. Okrzei 1a<br />

PL 03-715 Warszawa<br />

phone/fax: +48 22 333 80 00<br />

biuro@riw.pl, www.riw.pl<br />

Wydawnictwo Sic!<br />

ul. Chełmska 27/23<br />

PL 00-724 Warszawa<br />

phone/ fax: +48 22 840 07 53<br />

biuro@wydawnictwo-sic.com.pl,<br />

www.wydawnictwo-sic.com.pl<br />

słowo/obraz terytoria<br />

ul. Grunwaldzka 74/3<br />

PL 80-244 Gdańsk<br />

phone: +48 58 341 44 13<br />

fax: +48 58 345 47 07<br />

slowo-obraz@terytoria.com.pl,<br />

www.terytoria.com.pl<br />

Syndykat autorów<br />

ul. Garażowa 7<br />

PL 02-651 Warszawa<br />

phone: +48 22 607 79 88<br />

fax: +48 22 607 79 88<br />

info@syndykatautorow.com.pl,<br />

www.syndykatautorow.com.pl<br />

Świat Książki<br />

Bertelsmann Media<br />

ul. Rosoła 10<br />

PL 02-786 Warszawa<br />

phone: +48 22 645 80 72<br />

fax: +48 22 648 47 34<br />

grazyna.brzezinska@bertelsmann.com.pl,<br />

www.swiatksiazki.pl<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


W.A.B.<br />

ul. Łowicka 31<br />

PL 02-502 Warszawa<br />

phone/ fax: +48 22 646 05 10, 646 05 10<br />

a.pieniazek@wab.com.pl, www.wab.com.pl<br />

Więź<br />

ul. Trębacka 3<br />

PL 00-074 Warszawa<br />

phone: +48 22 827 96 06<br />

fax: +48 22 828 18 08<br />

wiez@wiez.com.pl, www.wiez.com.pl<br />

Wydawnictwo Dolnośląskie<br />

Oddział Publicat SA we Wrocławiu<br />

ul. Podwale 62<br />

PL 50-010 Wrocław<br />

phone: +48 71 785 90 40, + 48 71 785 90 59<br />

fax: +48 71 328 89 66<br />

sekretariat@wd.wroc.pl, www.wd.wroc.pl<br />

Wydawnictwo Homini<br />

ul. św. Sebastiana 33/6<br />

PL 31-051 Kraków<br />

phone/fax: +48 12 430 74 27<br />

homini@homini.com.pl, www.homini.com.pl<br />

Wydawnictwo Literackie<br />

ul. Długa 1<br />

PL 31-147 Kraków<br />

phone: +48 12 619 27 40<br />

fax: +48 12 422 54 23<br />

j.dabrowska@wydawnictwoliterackie.pl,<br />

www.wydawnictwoliterackie.pl<br />

Wydawnictwo Pierwsze<br />

Lasek, ulica Słoneczna 20<br />

96-321 Żabia Wola<br />

phone: +48 605 100 691<br />

wydawnictwo@pierwsze.pl, www.pierwsze.pl<br />

Wydawnictwo Uniwersytetu Śląskiego<br />

ul. Bankowa 12B,<br />

PL 40-007 Katowice<br />

phone: +48 32 359 20 56<br />

fax : +48 32 359 20 57<br />

www.wydawnictwo.us.edu.pl,<br />

wydawus@us.edu.pl<br />

Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego<br />

pl. Uniwersytecki 15<br />

PL 50-137 Wrocław<br />

phone: +48 71 375 28 09<br />

fax: +48 71 375 27 35<br />

biuro@wuwr.com.pl, www.wuwr.com.pl<br />

Zeszyty Literackie<br />

ul. Foksal 16<br />

PL 00-372 Warszawa<br />

phone /fax: +48 22 826 38 22<br />

biuro@zeszytyliterackie.pl,<br />

www.zeszytyliterackie.pl<br />

Znak<br />

ul. Kościuszki 37<br />

PL 30-105 Kraków<br />

phone: +48 12 619 95 01<br />

fax: +48 12 619 95 02<br />

rucinska@znak.com.pl, www.znak.com.pl<br />

Zysk i s-ka<br />

ul. Wielka 10<br />

PL 61-774 Poznań<br />

phone: +48 61 853 27 51<br />

fax: +48 61 852 63 26<br />

biuro@zysk.com.pl, www.zysk.com.pl<br />

111<br />

Adressen der Verlage und Agenten<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Das Buchinstitut<br />

ul. Szczepańska 1, II p.<br />

31-110 Kraków<br />

Tel: +48-12 433 70 40<br />

Fax: +48-12 429 38 29<br />

office@bookinstitute.pl<br />

www.bookinstitute.pl<br />

Warschauer Filiale<br />

P. Defilad 1, IX p., pok. 911<br />

00-901 Warszawa<br />

Tel: +48-22 656 63 86<br />

Fax: +48-22 656 63 89<br />

warszawa@instytutksiazki.pl<br />

Warszawa 134, P.O. Box 395<br />

112<br />

© Das Buchinstitut, Krakau 2007<br />

Redaktion:<br />

Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska<br />

Übersetzung:<br />

Friedrich Griese, Bernd Karwen, Ursula Kiermeier, Esther Kinsky, Olaf Kühl, Martin Pollack, Heinz Rosenau,<br />

Paulina Schulz, Andreas Volk<br />

Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl.<br />

Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel 38 New Books from Poland. Fall 2007 kann über<br />

das Buchinstitut bezogen werden.<br />

Graphik und Satz: Studio Otwarte<br />

studiotwarte<br />

www.otwarte.com.pl<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND gehört zum Programmbereich<br />

des Buchinstituts.<br />

Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur<br />

zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen<br />

Buchmärkten zu stärken.<br />

Das Programm umfasst insbesondere:<br />

» Belletristik und Essayistik<br />

» sowohl alte als auch zeitgenössische geisteswissenschaft-<br />

liche Werke im weitesten Sinne (unter besonderer Berücksichtigung<br />

von Büchern, die der Geschichte, Kultur und Literatur<br />

Polens gewidmet sind)<br />

» Kinder- und Jugendliteratur<br />

» Sachbücher<br />

gestellt werden. Das Angebotsformular des Programms kann<br />

bei dem Buchinstitut angefordert werden oder von der Website<br />

www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden:<br />

Die Angebote der Verlage werden von einer Expertengruppe<br />

beurteilt. Die endgültige Entscheidung trifft der Direktor des<br />

Buchinstituts.<br />

KONTAKT:<br />

E-mail: j.czudec@bookinstitute.pl<br />

Das Buchinstitut<br />

ul. Szczepańska 1, PL 31-011 Kraków<br />

Tel. (+48) 12 426 79 12, Fax (+48) 12 429 38 29<br />

Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert<br />

werden:<br />

» bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs<br />

» bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus<br />

dem Polnischen<br />

Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die<br />

ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde<br />

Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen.<br />

Dem Angebot müssen folgende Unterlagen beigefügt werden:<br />

» das ausgefüllte Angebotsformular<br />

» Kopie des Lizenzvertrags (oder Kopie des Vorvertrags)<br />

» Kopie des Übersetzervertrags (oder Kopie des Vorvertrags)<br />

» aktuelles Verlagsprogramm und allgemeine Informationen<br />

zum Verlag<br />

» Bibliographie des Übersetzers<br />

» kurze Begründung für die Wahl des jeweiligen Werks<br />

» detaillierter Kosten- und Finanzierungsplan der Publikation<br />

unter Angabe der Vertriebsform<br />

Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer<br />

Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!