Andrzej Stasiuk - Instytut KsiÄ Å¼ki
Andrzej Stasiuk - Instytut KsiÄ Å¼ki
Andrzej Stasiuk - Instytut KsiÄ Å¼ki
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Das Buchinstitut (Instytut Książki) ist eine staatliche Kultureinrichtung,
die vom Kulturminister der Republik Polen ins Leben
gerufen wurde. Seit Januar 2004 ist das Institut in Krakau angesiedelt,
2006 entstand auch ein Büro in Warschau. Die Hauptdas
Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten so-
ziele des Institutes liegen darin, die Lesebereitschaft zu fördern,
wie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese Ziele
werden umgesetzt durch:
» Vorstellung und Werbung für die besten polnischen Bücher
und ihre Autoren
» ÜBERSETZUNGSPROGRAMM © POLAND
» Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten
Umgang mit dem Buch als Medium verdeutlichen
» Informationszentrum für Kinderbücher
» Programm zur Leseförderung
Tu Czytamy!
/Hier wird gelesen!
» jährlicher Literaturfestival-Zyklus
4 Pory
Książki / Die vier Jahreszeiten
des Buches
» Informationsportal zur
polnischen Literatur
www.bookinstitute.pl
» Übersetzerkolleg
» Seminare für Verleger
» Präsentation der polnischen Literatur im Ausland
» einen leichteren Zugang für ausländische Interessenten
zu Informationen über das polnische Buch und den Buchmarkt.
Das Buchinstitut stellt die Literaturprogramme bei polnischen
Auftritten auf in- und ausländischen Buchmessen, bereitet Le-sungen
polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals oder im
Rahmen seiner PR-Maßnahmen für die internationale Verbreitung
polnischer Kultur vor, gibt regelmäßig den Katalog „NEUE
BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem literarische Neuerscheinungen
präsentiert werden, organisiert Studien- und Fortbildungsmaßnahmen
sowie Treffen und Seminare für Übersetzer
polnischer Literatur, zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und
verleiht auch den PREIS TRANSATLANTYK für den besten Vermittler
polnischer Literatur im Ausland.
DAS PROGRAMM TU CZYTAMY! besteht aus einer Reihe
von Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs
richten. Dazu gehören u.a.: Bildungsprogramme, Vermittlung der
zeitgenössischen polnischen Literatur für Jugendliche, Vorbereitung
und Publikation eines polnischen Literaturatlas, Organisation
von Buchdiskussionsklubs. Ein Teil des Programms ist auch
der jährliche Literaturfestival-Zyklus 4 Pory Książki.
FESTIVAL 4 PORY KSIĄŻKI ist das größte Literaturfestival in
Polen. Es findet parallel in mehreren Städten statt. Das Festival
besteht aus vier Events: Pora poezji / Lyrikzeit (Februar), POPLIT
(April), Pora prozy / Prosazeit (Oktober), Festiwal kryminału /
Krimifestival (November). Gäste des Festivals waren bisher u.a.:
Jonathan Caroll, Eduardo Mendoza, Boris Akunin, Alexandra Marinina,
Michael Faber, Paulo Lins, Pedro Juan Gutierrez.
www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen
Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland,
präsentiert Neuerscheinungen und Verlagsprogramme, betreibt
auch ein regelmäßiges Rezensions-Service. Man findet dort außerdem
über 100 Biogramme zeitgenössischer polnischer Autoren,
die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente,
Essays, Anschriften der Verleger. Alles über polnische Bücher
– auf Polnisch, Englisch und Deutsch.
Direktorin des Buchinstituts: Dr. Magdalena Ślusarska
2
Olga Tokarczuk
Läufer
6
Andrzej Stasiuk
Dojczland
10
Włodzimierz Kowalewski
Die Exzentriker
14
Henryk Waniek
Der Fall Hermes
18
Eustachy Rylski
Die Insel
22
Andrzej Bobkowski
Dämmerung
26
Jerzy Pilch
Der Zug ins ewige Leben
30
Janusz Rudnicki
Kommt, wir gehen
34
Agata Tuszyńska
Vorübungen zum Verlust
38
Joanna Rudniańska
Brygidas Kätzchen
42
Mariusz Sieniewicz
Die Rebellion
46
Hubert Klimko-Dobrzaniecki
Wiegenlied für einen Galgenvogel
50
Michał Witkowski
Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa
54
Grzegorz Kopaczewski
Huta
58
62
66
Marek Kochan
Hanna Kowalewska
Wacław Holewiński
Spielplatz
Die Maske des Harlekins
Der Weg nach Putte
Inhalt
1
70
Lidia Amejko
Viten der Heiligen der Siedlung
74
Adam Zagajewski
Der Dichter spricht mit dem Philosophen
78
Marek Bieńczyk
Durchsichtigkeit
82
Agnieszka Taborska
Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus
86
Bianka Rolando
Italienische Gesprächsbücher
90
Ignacy Karpowicz
Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)
94
Jerzy Jarzębski
Alles über Lem
98
Julia Hartwig
Dank für die Gastfreundschaft
100
Jacek Antczak
Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall
102
Ryszard Legutko
Traktat über die Freiheit
104
Piotr Matywiecki
Tuwims Gesicht
106
Krzysztof Kłosiński
Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres
110
Adressen der Verlage und Agenten
Olga Tokarczuk Läufer
2
Photo: Danuta Węgiel
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Auf den ersten Blick wirkt Olga Tokarczuks neues Buch wie
eine Sammlung längerer, kürzerer und ganz kurzer Erzählungen,
doch in Wirklichkeit bildet es ein durchdachtes, sehr kunstvoll
konstruiertes Ganzes. Thema dieser Geschichten ist eine Form
des menschlichen Seins auf der Welt, die im unablässigen Reisen
besteht. Der Reisende findet sich damit ab, daß die von ihm
wahrgenommene Welt in eine Fülle nicht unbedingt logisch verbundener
Fragmente zerfällt. Diese Fragmentarisierung spiegelt
sich dementsprechend in der Konstruktion des Buchs, das aus
einer Vielzahl scheinbar unzusammenhängender Fabeln besteht.
Doch allen sind bestimmte Eigenschaften gemein. Zum einen
kreisen sie alle um Situationen von Verlust, Defekt, körperlicher
Behinderung, zum anderen geht es immer wieder um die Erforschung
der Geheimnisse des menschlichen Körpers, die Technik
der Kategorisierung und Aufbewahrung anatomischer Präparate
oder ganzer Leichen.
Das Buch geht auf die persönliche
Geschichte der Autorin ein, auf ihr
privates „ich bin“, wie zwei Fragmente,
jeweils am Anfang und am Ende der Sammlung, lauten.
Gleichzeitig jedoch ist es eine tiefgehende Auseinandersetzung
mit der Menschheitsgeschichte und Mythologie – in erster Linie
der griechischen – sowie eine eindringliche Betrachtung
des Phänomens von Leben und Tod. Zwei Vorstellungen von
Zeit treffen hier aufeinander: auf der einen Seite die zyklische
Sicht der ewigen Wiederkehr, wie sie Mythen und Religionen
eigen ist, auf der anderen die linear-progressive Sicht, wie
sie dem menschlichen Leben in seinem Hinstreben zu Geheimnis
und Tod eigen ist, eine Sicht, der es am Glauben an
den Kreislauf der ewigen Wiederkehr und an der damit verbundenen
Linderung existentieller Ängste mangelt. Es gibt in
diesem Buch keine leichten Antworten auf schwierige Fragen,
auf Schritt und Tritt stoßen wir auf Rätsel, die sich nicht lösen
lassen. Anstelle solcher Antworten können wir überraschende
Spiegelungen und Entsprechungen zwischen unterschiedlichen
Erscheinungen beobachten. Das ist jene uns zugängliche Versi-
on der Wiederholbarkeit der Welt, die eine schwache Hoffnung
auf einen Sinn und eine Ordnung in der Welt aufkeimen läßt.
Es ist ein kluges Werk einer reifen Schriftstellerin, vielleicht sogar
das beste Buch, das Olga Tokarczuk bisher geschrieben hat.
Jerzy Jarzębski
Olga Tokarczuk (geb. 1962), Romanschriftstellerin
und Essayistin, ihre Bücher wurden bereits
in 18 Sprachen übersetzt.
Olga Tokarczuk Läufer
3
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Olga Tokarczuk Läufer
4
Meine
Eltern waren nicht von einem
ganz und gar seßhaften Stamm.
Sie zogen viele Male um, von einem
Ort zum anderen, bis sie sich schließlich für längere
Zeit in einer Provinzschule niederließen, weitab von jeder
richtigen Straße und Eisenbahnstation. Jedes Überschreiten
der Gartengrenze, jeder Ausflug in die kleine Stadt war schon
eine Reise. Einkäufe, Papiere, die im Gemeindeamt eingereicht
werden mußten, immer derselbe Friseur am Markt vor
dem Rathaus, der immer denselben erfolglos gewaschenen
und gebleichten Kittel trug, auf dem die Färbemittel für die
Haare seiner Kundinnen kalligraphische Flecken hinterlassen
hatten, chinesische Schriftzeichen. Mama ließ sich die
Haare färben, der Vater wartete an einem der beiden Tische
draußen vor dem Café Nowa auf sie. Er las die Lokalzeitung,
in der die Rubrik „Kriminalfälle“ mit Berichten über
Marmeladen- und Gewürzgurkenraub aus irgendwelchen
Kellern immer das interessanteste war.
Und dann ihre touristischen Ferienausflüge, schüchtern,
mit einem bis unters Dach vollgepackten Skoda. Lange vorbereitet,
an Vorfrühlingsabenden geplant, wenn der Schnee
gerade getaut, die Erde aber noch nicht wieder zu sich gekommen
war, noch länger nicht ihren Körper den Pflügen
und Hacken hingeben, sich befruchten lassen und ab dann
die Zeit der Menschen vom Morgen bis zum Abend in Anspruch
nehmen würde.
Sie gehörten zu einer Generation, die mit Wohnwagen
unterwegs war, einen Hausersatz hinter sich herzog. Einen
kleinen Gasherd, Klappstühle, einen Klapptisch. Eine Plastikschnur
zum Aufhängen der Wäsche, wo man Halt machte,
hölzerne Wäscheklammern. Wasserfestes Wachstuch für
den Tisch. Ein Picknick-Set für Touristen bestehend aus
bunten Tellern, aus Besteck, Salzfäßchen und Gläser – alles
aus Plastik.
Irgendwo unterwegs, auf einem Flohmarkt, wie ihn er
und meine Mutter besonders gerne besuchten (wenn sie sich
nicht zufällig gerade gegenseitig vor Kirchen und Denkmälern
fotografierten) hatte mein Vater einen Teekocher aus der
Armee erstanden, ein Gerät aus Kupfer, ein Gefäß mit einem
Rohr in der Mitte, in das man eine Handvoll kleingebroche-
nes Reisig legen und es anzünden konnte. Obwohl es auf den
Campingplätzen Stromanschlüsse gab, kochte er das Wasser
immer in diesem qualmenden langsamen Teekessel. Er kniete
über dem heißen Gefäß und lauschte stolz auf das Bullern
des kochenden Wassers, das er dann auf die Teebeutel goß
– ein echter Nomade.
Sie hielten an den dafür bestimmten Orten, auf Campingplätzen,
immer in Gesellschaft anderer Leute ihres Schlags,
und hielten Schwätzchen mit den Nachbarn über die Socken
hinweg, die an den Zeltschnüren trockneten. Mit Hilfe des
Reiseführers wurden Reiserouten festgelegt, wobei die Sehenswürdigkeiten
sorgfältig aufgelistet wurden. Bis Mittag
Baden im Meer oder einem See, am Nachmittag ein Ausflug
zu den Ruinen und Überresten von Städten, zum Abschluß
das Abendessen, meistens aus Eingewecktem bestehend: Gulasch.
Frikadellen, Klopse in Tomatensauce. Dazu brauchte
man nur noch Reis oder Nudeln zu kochen. Ewiges Sparen,
der Zloty steht schlecht, das ist der rote Heller der Welt.
Orte suchen, wo es Stromanschluß gibt, dann wieder unwillig
packen um weiterzureisen, jedoch immer im metaphysischen
Bereich des eigenen Hauses. Sie waren keine echten
Reisenden, denn sie reisten, um zurückzukehren. Und sie
kehrten immer erleichtert heim, mit dem Gefühl eine Pflicht
gut erfüllt zu haben. Sie kamen zurück, um einen großen
Stapel Briefe und Rechnungen von der Kommode zu nehmen.
Um große Wäsche zu machen. Die heimlich gähnenden
Freunde mit ihren Fotos zu Tode zu langweilen. Das
sind wir in Carcassone. Und hier ist meine Frau, vor dem
Hintergrund der Akropolis.
Dann führten sie das ganze Jahr ein seßhaftes Leben, ein
Leben, in dem man morgens da weitermacht, wo man am
Abend aufgehört hat, in dem die Kleidung ganz vom Geruch
der eigenen Wohnung durchdrungen ist und die Füße rastlos
ihren Pfad auf dem Teppich austreten.
Das ist nichts für mich. Offenbar fehlt mir irgendein Gen,
das beim Menschen Wurzelbildung bewirkt, sobald dieser
einige Zeit an einem Ort ist. Ich habe es oft versucht, aber
meine Wurzeln waren flach, jeder beliebige Windstoß konnte
mich ausreißen. Ich konnte nicht sprießen, diese Pflanzenfähigkeit
fehlt mir. Ich ziehe keine Säfte aus der Erde, ich
zurück zum Inhaltsverzeichnis
in ein Anti-Anteus. Meine Energie schöpft sich aus der Bewegung
– aus dem Ruckeln von Autobussen, dem Dröhnen
von Flugzeugen, dem Schaukeln von Fähren und Zügen.
Ich bin handlich, klein und kompakt. Mein Magen ist anspruchslos,
meine Lungen kräftig, mein Bauch fest, meine
Armmuskeln stark. Ich nehme weder Medikamente noch
Hormone und trage keine Brille. Alle drei Monate einmal
rasiere ich mir die Haare mit dem Apparat, ich benutze so
gut wie keine Schminke. Ich habe gesunde Zähne, vielleicht
nicht ebenmäßig doch ganz, nur eine alte Plombe ist da, ich
glaube im Sechser links unten. Leberwerte normal. Bauchspeicheldrüsenwerte
normal. Die Nierenfunktion rechts und
links hervorragend. Meine Bauchschlagader in der Norm.
Meine Harnblase genau richtig. Hämoglobin:12.7; Leukozyten:
4.5; Hematokrit: 41.6; Thrombozyten: 228; Cholesterol:
204; Kreatinin: 1,0; Bilirubin: 4,2; und so weiter. Mein
IQ – wenn man an so etwas glaubt – ist 121, das reicht. Ich
habe eine außergewöhnlich gut entwickelte räumliche Vorstellungskraft,
die fast eidetisch ist, dafür eine schlechte Lateralisierung.
Persönlichkeitsprofil instabil, wahrscheinlich
wenig vertrauenswürdig. Alter: psychologisch. Geschlecht:
grammatisch. Bücher kaufe ich lieber im Taschenbuch, um
sie ohne Bedauern auf Bahnsteigen liegenzulassen, für die
Augen anderer. Ich sammle nichts.
Ich habe mein Studium abgeschlossen, aber im Grunde
habe ich keinen Beruf erlernt, was ich sehr bedauere: Mein
Großvater war Weber, er bleichte die gewebte Leinwand, indem
er sie auf einem Hang ausbreitete und dem hellen Sonnenlicht
aussetzte. Es würde mir Spaß machen, Kette und
Schuß mit einander zu verweben, aber es gibt keine transportablen
Webrahmen, die Weberei ist eine Kunst für seßhafte
Menschen. Unterwegs stricke ich. Leider ist es neuerdings
bei manchen Fluggesellschaften verboten, Strick- oder Häkelnadeln
mit an Bord zu nehmen. Ich habe wie gesagt kein
Fach gelernt, dennoch habe ich, ungeachtet der Warnungen
meiner Eltern, überleben können, indem ich auf Reisen alle
möglichen Arbeiten ausgeübt habe und keineswegs unter die
Räder gekommen bin.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2007
123 × 197 • 364 pages
paperback
ISBN: 978-83-08-03986-1
Translations rights: De Geus
Olga Tokarczuk Läufer
5
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Andrzej Stasiuk Dojczland
6
Photo: Piotr Janowski AG
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die Handlung dieses – amüsanten und zugleich melancholischen
– Büchleins ist einfach gestrickt: seit gut zehn Jahren absolviert
Andrzej Stasiuk als Autor Lesereisen durch die deutschsprachigen
Länder. Er liest, beantwortet Fragen, kehrt ins Hotel zurück,
steigt morgens in den Zug, geht zur Lesung, liest, beantwortet
Fragen, kehrt ins Hotel zurück...
Mit Hilfe dieser Reflexionen ordnet Stasiuk die kulturelle Landkarte
Europas, richtet Europa nach seinem eigenen Zentrum aus.
Doch setzt er alles daran, dass trotz der vieljährigen Vergleiche
zwischen Ost und West seine Heimat immer noch das vertraute
Kuhdorf bleibt. Er idealisiert Polen nicht – na ja, vielleicht ein
biss-chen. Sein Buch ist eine Art Überlebensratgeber für alle,
die in ein ähnliches Abenteuer geraten sollten – das heißt, die
radikale Konfrontation der heimischen Rückständigkeit mit der
fremden Moderne. Es ist eher eine
Erfahrung der Persönlichkeitspsychologie
als der Geografie. Wie
der Autor sagt: „Nach Deutschland
fahren, das ist Psychoanalyse.“
Um sich nicht „zum Deutschen“ machen zu lassen, also zu einem
Anhänger der Höherwertigkeit westlicher über die östliche
Kultur, muss man, erstens, Deutschland als ein Land behandeln,
in das man zum Geldverdienen fährt. Dort gibt es Geld, Arbeit
und gute Verhältnisse; hier, in Polen, das heißt in Rumänien
– Menschen, mit denen man sich unterhalten, zusammen sein,
gemeinsam etwas erleben kann. Zweitens muss man die Armut
als die wahre Beziehung zwischen Mensch und Ding betrachten.
Wenn uns das gelingt, werden wir sehen, dass in der Welt des
Überflusses die Menschen zu Sklaven der Gegenstände werden
– die ihren Status symbolisieren und die alte Ahnenherrlichkeit
ersetzen. In der Welt der Armut ist es anders: hier landen die abgenutzten
Autos des Westens, hier können die Menschen Dinge
verwenden, die nicht mehr zu gebrauchen sind, und sie beurteilen
sich nicht nach ihrem Besitz, denn sie wissen, dass alle Dinge
nur geliehen und vergänglich sind. Außerdem muss man Sehnsucht
haben, und wenn wir uns nach Polen, also nach Rumänien,
sehnen, dann kann kein Bayern oder sonstiges Westfalen unsere
Sehnsucht stillen, soviel ist klar. Stasiuk zwinkert uns aber bisweilen
zu und sagt, dieser Text über die „Zigeuner des vereinten
Europa“ sei nur ein Gag für das westliche Publikum.
Przemysław Czapliński
Andrzej Stasiuk (geb. 1960), Prosaist,
Dichter, Essayist, Literaturkritiker. Seine Bücher
wurden in fast alle europäischen Sprachen
übersetzt.
Andrzej Stasiuk Dojczland
7
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Andrzej Stasiuk Dojczland
8
Na
ja. Da sind wir wieder bei der Politik gelandet,
das wollte ich eigentlich vermeiden. In der letzten
Zeit hat sich der politische Druck in Polen
ein bisschen verstärkt. Die Leute, die da regieren, glauben
nicht an ein Leben jenseits der Politik. Auf sie selbst mag das
sogar zutreffen. Die tun ganz pfiffig und mutig, aber kaum
sollten sie einmal nach Deutschland fahren, haben sie sich
vor Angst in die Hosen gemacht. Ich glaube, der Präsident
war’s. „Magen-Darm-Beschwerden“, so erklärte man das dem
Volk in Fernsehen und Zeitungen. Zum Glück verschwinden
die von der Politik meist bald irgendwo in der Versenkung,
wir aber, das Volk, wir bleiben, denn das Volk kriegt nicht
einfach so Dünnschiss. Jedenfalls wollte ich sagen, dass zu
meinen Lesungen, auch wenn ich Pole bin, vermutlich andere
Leute kommen als die aus den Meinungsumfragen. Nur
ein paarmal war es so, dass jemand aufstand und dramatisch
fragte: „Wann werden eure Homosexuellen endlich gleichberechtigt
sein?“. Ich antwortete ebenso dramatisch: „Der Tag
ist nah.“ Oder es wurde gefragt: „Wann hört ihr endlich auf,
unsere Autos zu klauen?“ Ich erwiderte nach bestem Wissen
und Gewissen: „Das wird wohl noch eine Weile dauern.“ Ja,
sollen wir vielleicht die russischen klauen? Aber das waren
Einzelfälle. Meist ging es meinem Publikum um die Literatur.
Die Menschen kamen zum Zuhören und fragten danach
nicht mehr nach Homosexualität, Feminismus und all
dem. Sie fragten nicht einmal nach Jedwabne. Sie lauschten
wirklich auf den Text. Sie hörten, wie die Gedanken eines
Fremden in ihrer eigenen Sprache klangen, und ich überlegte,
wie weit diese Gedanken auch ihre eigenen sein konnten.
Ich fragte mich, ob mich das Deutsche ihnen näherbringt
oder von ihnen entfernt, ob meine Worte und Gedanken auf
Deutsch ebenso seltsam und unbekannt sind wie mein Land,
oder gerade umgekehrt. Da saßen sie fast eine Stunde ruhig
und reglos. Ihr Zuhören hatte etwas Unnachgiebiges, etwas
Endgültiges. Damit war nicht zu spaßen. Hier hatte Luther
die Bibel übersetzt. In Deutschland hat das Wort Gewicht.
Vielleicht hat dieser Ernst sogar auf mich abgefärbt? Vielleicht
nahm ich selbst das, was ich geschrieben hatte, ernster,
zumal es in der deutschen Übersetzung ein Viertel länger
war. In Freiburg durfte keine slawische Unbeschwertheit an
den Tag gelegt, in Friedrichshafen musste die Selbstironie gezügelt
werden. An manchen Orten wurde Eintritt verlangt.
Sie alle, diese Menschen aus Städten, Kleinstädten, manchmal
sogar vom Land, Frauen und Männer, Alte und Junge,
kamen her, um etwas zu lernen, etwas zu erfahren, sich eine
Meinung zu bilden. Nicht ausgeschlossen, dass sie nachsehen
wollten, ob ich lüge. Oder prüfen, ob mein Menschsein
ihrem Menschsein ähnlich ist. Oder sie wollten ihr Bedürfnis
nach Umgang mit dem Andersartigen befriedigen. Wir
musterten uns interessiert, doch auch verunsichert. Für viele
von ihnen, vielleicht die meisten, war ich der erste Pole im
Leben. Dazu war ich weder Landarbeiter noch Bauarbeiter
noch der mythische Autodieb, der ihre BMWs und Mercedes
in den Osten verschob. Auch sie waren die ersten Deutschen
für mich. Schließlich sind meine Leser die einzigen
Deutschen, die ich kenne. Außer meinen Lesern habe ich
niemand kennengelernt. Abgesehen natürlich von den Zugreisenden,
den Passagieren auf Bahnhöfen und Flughäfen.
Davon habe ich mehr gesehen als Leser, und häufiger, aber
wir wussten nicht viel voneinander. Ich hatte den Vorteil,
dass ich wusste, wer sie sind. Wer ich bin, wussten sie dagegen
nicht. Sie mochten ahnen, dass ich keiner von ihnen
war, sie mochten sich vorstellen, ich sei ein großgewachsener
Türke, aber sie konnten nicht herausfinden, wer ich wirklich
war. Ich dagegen sah sie an und wusste: ihr seid Deutsche.
Alle, fast alle in den Zügen und auf den Bahnhöfen. Ich hatte
dieses elementare, grundsätzliche Wissen über sie, das sie
von mir nicht haben konnten. Ich fühlte mich wie ein Spion.
Ich beobachtete sie, dachte über sie nach und machte
mir – wenn mir danach war – sogar Notizen. Ich drang in
ihr Deutschsein ein. Ich fuhr mit dem silbernen ICE von
Dortmund nach Berlin, schlückelte meinen Jim Beam, kritzelte
etwas ins Notizbuch, sah die grünen Ebenen, die waldigen
Höhen des Harz und konnte nach Belieben über das
Deutsche sinnieren. […] Auf der Fahrt von Heilbronn nach
Frankfurt kann ich im kosmischen ICE-Waggon darüber
nachdenken und gleichzeitig zusehen, wie die Passagiere ihre
Rollkoffer hinter sich herziehen und konzentriert die elektronischen
Reservierungsanzeigen mustern. Sie bewegen sich
vorsichtig, mit drollig gereckten Köpfen. Manchmal schließe
zurück zum Inhaltsverzeichnis
ich die Augen halb, dann verschwimmen ihre Silhouetten.
Auf dem Platz neben mir lege ich, wenn er nicht reserviert
ist, Sachen ab, denn ich will nicht, dass jemand sich dorthin
setzt. Ihre Nähe ersehne ich keinesfalls. Ich will, dass ihre
Gestalten sich mit meinen Gedanken vermischen, mit den
Erinnerungen an die Autos des Onkels und die Erzählungen
meiner Großmutter: Sie sollte schon sterben, stand schon
an der Wand, da hat der Offizier es sich aus irgendeinem
Grunde anders überlegt, die Pistole eingesteckt und ist weitergegangen.
Ich will, dass sich die vom Tempo verschmierte
Landschaft mit den pfeilgeraden Türmen am Horizont und
die undeutlichen Bilder alter Städtchen mit roten Dächern
darüber legen, will, dass sich das alles vermischt und am
Ende ein verständliches Bild ergibt: Meine Großmutter an
der Wand des eigenen Hauses, der silberne ICE, Axel mit
der Thermoskanne am Dresdner Bahnhof, Klaus Kinski in
Fitzcarraldo, Bruno S. in Stroszek, Brot für warme, frisch
gemolkene Milch, fünfhunderttausend gebrauchte Golf auf
polnischen Straßen, die Schlacht bei Grunwald, alte Leute
in Polen, die mechanisch wiederholen: „Wissen Sie, unter
den Deutschen war Ordnung“, die Graffiti auf den Mauern
meiner Kreisstadt: „Wenn Hitler lebte, hätten wir Arbeit“,
und dazu noch „Mein lieber Augustin“ und „Der Tod ist ein
Meister aus Deutschland“...
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Czarne
Wołowiec 2007
125 × 195 • 112 pages
paperback
ISBN: 978-83-7536-005-9
Translation rights: Czarne
Andrzej Stasiuk Dojczland
9
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker
10
Photo: Privatarchiv
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ciechocinek, ein verfallener polnischer Kurort im Jahre 1957.
Die Zahnärztin Wanda erhält zwei Nachrichten: eine schlechte
und eine gute. Sie erfährt, dass sie unheilbar krank ist, aber
auch, dass ihr geliebter Bruder Fabian aus Großbritannien zurückkehrt,
wohin er als Soldat der Anders-Armee kam. Fabian
kehrt im Zuge des „Tauwetters“ nach Polen zurück, der politischen
Entspannung, die in Polen nach Stalins Tod einsetzte. Die
Heimreise ist für ihn keine leichte, frohgemute Entscheidung,
denn die Begegnung mit der Schwester bedeutet die Konfrontation
mit der noch nahen Kriegsvergangenheit und dem Verlust
seiner Lieben. Nur das Geschwisterpaar hat überlebt. Wanda
verharrt immer noch in Trauer, Fabian jedoch scheut vor ihr
zurück. Der König des Lebens und Meister des Swings sucht
in dem Trost, was er immer liebte.
In der Musik. Die vor Jahren auch
Wanda viel bedeutete, als sie in der
Jazzband ihres Bruders brillierte. Es
mag den Anschein haben, dass es in
dem in Hoffnungslosigkeit versunkenen Städtchen keine Chance
gibt, eine Band zu gründen. Dennoch geschieht das Wunder,
und bei Fabian melden sich mehr und mehr Musiker. Zu
ihnen gehört der Stadtmiliziant Stypa, der Sanatoriumsarzt Vogt
und die schöne Englischlehrerin Modesta. Als auch Wanda ihre
Skepsis überwindet, ist schon sicher, dass das Wunder wahr
werden kann. Und währen, solang die Staatsmacht es zulässt.
Die Erzählung über das Entstehen einer Jazzband bietet Kowalewski
die Gelegenheit, nicht nur die polnische Wirklichkeit der
späten fünfziger Jahre nachzubilden, sondern auch die Atmosphäre
der Vorkriegszeit aufleben zu lassen. Zu deren Leitfigur
der letzteren wird Reichmann, einstiger Kurgast in Ciechocinek
und Autor bekannter Liedtexte. Er erscheint im Roman dank eines
Tagebuchs, dass Fabian auffindet. Aber auch die lebenden
Protagonisten zitieren den Geist ihrer Jugend. Diese „Exorzismen“
lassen sie vergessen, was sie durchgemacht haben, und
sie ihre Lebensfreude wiederfinden.
Marta Mizuro
Włodzimierz Kowalewski (geb. 1956),
Schriftsteller, Essayist, mit etlichen Literaturpreisen
ausgezeichnet. Die Exzentriker ist bereits sein fünfter
Prosaband.
Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker
11
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker
12
Je
tiefer es ins Landesinnere ging, desto mehr Schnee
gab es. Sie jagten die schmale, fast völlig leere Straße
zwischen den Spalieren nackter Bäume entlang,
passierten nur dann und wann einen Fuhrwagen mit in Pelze
geschlagenen Kutschern, kümmerliche Lastwagen und himmelblaue,
durch den trüben Tag gräuliche PKS-Autobusse
des Typs „Krasula“, die lange Rauchschleier von Abgasen
hinter sich her zogen. Der Vauxhall preschte vor, ringsum
entrollte sich eine ungesäuerte und groblinnene Landschaft.
Die sumpfigen Tümpel waren noch nicht gefroren, ringsum
Büschel von Gestrüpp, Felder unter einer dünnen Schneeschicht,
einsame Katen. In den Dörfern Schweine auf Leiterwagen,
Kinder, die unterwegs in große Brotlaibe bissen,
in den Städtchen Schlamm und Kopfsteinpflaster, Schlangen
vor den Läden mit Fleisch und Wurst. Das Radio spielte,
zwischen den Nachrichten und „Wissenswertem für die
Landwirtschaft“ Kujawiaks und Obereks, dann das Mandolinenensemble
Ciukszas, Wicharys Tanzorchester, Gesang
– Hanna Rek, Kurtycz, Koterbska.
„Sie müssen gestern Geld wie Heu rausgeworfen haben.
Vor allem, als sie später unbedingt diesen französischen
Champagner trinken mussten. Sauer wie Gurkensaft.“ Modesta
verzog das Gesicht.
„Was heißt hier Champagner. Schaumwein, nichts anderes.
Von der Marke habe ich noch nie gehört.“
„Tausend haben sie verpulvert. Ganz sicher.“
„Gleich kann es mehr werden, schauen Sie nur genau zu.“
In der völlig menschenleeren Gegend standen zwei Milizianten
mit einem Motorrad mit Beifahreranhänger, der in
einer Schneewehe versank. Einer sah aus wie ein Luftlöscher
eines Küsters – lang, mit Hakennase, der andere hatte den
Hals bandagiert. Beide fuchtelten mit ihren Lutschern. Fabian
fuhr an den Straßenrand. Der mit der Sperbernase ging
um das Auto herum und klopfte auf Modestas Seite gegen
die Scheibe.
„Führerschein, Ausweis, Fahrzeugpapiere, Benzinkarte,
Reiseerlaubnis“, rezitierte er, als sie das Fenster herunterdrehte,
dann verbog er sich bis zur Hälfte und versuchte,
den Schädel ins Innere zu pressen, und blieb dabei mit dem
Helm am Dach hängen. Es verschlug ihm die Sprache, seine
Züge längten sich vor Staunen.
„Ahhh... wo ist denn hier das Lenkrad? Womit lenken Sie
denn den Wagen, Genossin?“
„Zyggy! Das ist doch ein englischer Wagen, alles für die
linke Linke!“, röchelte der Bandagierte, bevor Modesta überhaupt
irgendetwas antworten konnte.
„Englisch? Englisch? In dem Fall wird ausgestiegen, sofort!“,
kommandierte er und rückte seine Berichttasche
zurecht. Er umkreiste das Auto nochmal in den winzigen
Schritten einer Geisha, stand vor Fabian, deutete irgendwas,
begann deutlich Silben zu artikulieren, ganz laut, fast schon
brüllend:
„Bit-te stei-gen Sie ...“
Fabian stieg aus.
„Sie sprechen Polnisch?“, freute sich der Miliziant.
„Sehr gut.“ Es wäre nämlich dumm, gleich in einer Fremdsprache
seiner Tätigkeit nachzugehen...
Jetzt hatte er auch die Papiere vergessen, der Vauxhall nahm
seine Aufmerksamkeit stärker in Anspruch, er sah sich im
Fahrzeug um, machte sich an den Schaltknöpfen zu schaffen,
prüfte, ob die Polster weich war, pfiff anerkennend.
„Schau doch mal, Winiek“, sagte er erregt zu seinem bandagierten
Kollegen, rupfte an der Lenkradschaltung „sogar
den Schaltknüppel hat er links! Genosse Fahrer, wie fährt es
sich damit auf polnischen Straßen? Unbequem, was?“
„Aber das ist doch kinderleicht“, erwiderte Fabian. „Man
muss sich nur daran gewöhnen, links ist rechts, und rechts
ist links.“
„Rechts ist links, links ist rechts. Kinderleicht“, sprach der
Miliziant verständig nach.
Sie kontrollierten gar nichts mehr, rissen Witzchen, fragten
nach dem Motor, den PS, der Höchstgeschwindigkeit,
dem Autofahren in England, den gefahrenen Strecken. Sie
rieten noch, wegen des Wetters mit Licht zu reisen, gaben
die Papiere zurück und salutierten höflich.
Als die Rücklichter des Vauxhalls an der Linie zwischen
Straße und Himmel verschwammen, hoben die beiden ihre
Helme, wischten sich den Schweiß von den Stirnen, warfen
die Lutscher, die Berichttaschen und die Gürtel mit den
Halftern in den Motorradanhänger.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
„Schluss mit der Vorstellung. Jetzt schreibt ihr mir alles
genau auf. Den Bericht morgen früh, vor der Lagebesprechung,
8 Uhr fünfzehn“, befahl der Bandagierte trocken.
Sie fuhren direkt zur Villa „Konstancja“, wo Modesta ein
Zimmer mietete. Das war eine Pension mit einer sonderbaren
Glaspyramide mitten auf dem Flachdach, gegenüber dem
Kiefernpark, den jetzt Schneeflocken wie Watte bedeckten.
Sie ließ ihn jedoch etwas weiter entfernt anhalten, erlaubte
ihm nicht auszusteigen, rang selbst mit dem Koffer.
„Ich gebe Ihnen die Hälfte für gestern zurück!“, rief sie
zum Abschied.
Aus dem Bayer-Schuppen, in dem einst die Britschka für
Ausfahrten der Gäste in die Umgebung stand, rollte er ein
Wägelchen auf quietschenden Rädchen heraus, fuhr zwei
rostige Fahrräder ins Freie, warf die verschlissenen Gartenschläuche,
eine Heugabel, Spaten und Harken zur Seite. Er
fuhr hinein, und dann hob er mit dem Wagenheber das Vorderteil
des Vauxhall an. Schnaufend und schnaubend robbte
er unter dem Wagen hervor, zündete eine Taschenlampe
an. Der Aufsatz auf der Ölwanne, die er beim Blechschmied
Callender in Willersley in Auftrag gegeben hatte, war an Ort
und Stelle, die darangelötete, von unten unsichtbare ehemalige
Kakaodose auch, was er heute morgen noch hatte
überprüfen können, blind tastend, vor dem Grand Hotel.
Er drehte sechs Schrauben ab, danach den Blechdeckel, verschmierte
sich die Hände mit Graphitöl, das er zur Tarnung
drübergestrichen hatte. Dann stand er auf, mit einem Knäuel
Lumpen polierte er das Blech, das einem Schildkrötenpanzer
ähnelte, und endlich ließ sich die Dose öffnen. Er atmete
auf. Es war nichts passiert. Der in mehrere Plastiktüten gewickelte
und mit einem Band verklebte Inhalt hatte die Reise
unbeschadet überstanden.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 324 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-036-2
Translation rights: W.A.B.
Włodzimierz Kowalewski Die Exzentriker
13
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Henryk Waniek Der Fall Hermes
14
Photo: Elżbieta Lempp
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Der Vorsitzende des Großen Konsistoriums Hermann Daniel
Hermes wird eines Tages unvermittelt seines Amtes enthoben.
Ohne Begründung und ohne die Möglichkeit Einspruch zu erheben,
auch wenn er dies für den Rest seines Lebens versuchen
wird. Seine Vergehen kommen erst nach seinem Tode ans Licht,
als die höchsten Richter sich seines Falles annehmen: die Engel.
Mithilfe von Unterlagen, die bis zur Geburt des Angeklagten zurückreichen,
aber auch dank modernster Überwachungs- und
Archivierungsmethoden sind sie in der Lage, jede einzelne seiner
Handlungen genau zu durchleuchten. Doch das Urteil der
Engel ist von einer starken Antipathie gegen den Angeklagten
geprägt, die Dokumente sind unvollständig und erlauben keine
eindeutige Interpretation. Die Richter sehen sich gezwungen,
neue Zeugen aufzuspüren, die Lücken zu schließen und sich für
die einzig richtige Version der Wahrheit über Hermes zu entscheiden.
Die Untersuchungen im Fall Hermes haben den Charakter eines
Lustrationsverfahrens und der gesamte
Roman kann als eine Reaktion
auf das heutige Lustrationsmodell,
eine zeitgenössische Variante der
mittelalterlichen Hexenjagd, verstanden werden. Mit all ihren
Verdrehungen der Wahrheit und ihrem Mangel an Objektivität,
der jegliche Zweifel an der Schuld eines Angeklagten einfach
wegwischt. Die scherzhafte Darstellung ändert nichts am Wesen
ihres Sachverhalts: In der eindeutigen Beurteilung menschlicher
Handlungen – so suggeriert Waniek – wird es immer auch
Missbräuche geben.
Die Geschichte spielt in der Zeit vor der französischen Revolution
und dem Aufkommen der antimonarchistischen Bewegung,
die zu tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen führte.
Hermes ist Freimaurer, Antimonarchist und ein Befürworter der
sich anbahnenden Veränderungen, auch wenn er eher im Verborgenen
wirkt. In seinen Ansichten und seinen Handlungen
spiegelt sich die Einstellung zahlreicher „Verschwörer“ jener
Zeit wieder. Darüber hinaus dienen sie dem Autor als Anlass zur
Darstellung der verschiedenen Oppositionsgruppen und ihres
Einflusses auf die Politik – in diesem Falle der preußischen.
Henryk Wanieks Roman verbindet die Vorzüge des historischen
Romans mit denen des politischen Traktats und der metaphysi-
schen Abhandlung. Seine größte Stärke sind die Porträts seiner
Protagonisten, sowohl der irdischen als auch der himmlischen,
die in ihren Schwächen oft überaus „menschlich“ erscheinen.
Auch die Balance zwischen Realismus und Fantastik gelingt ausgezeichnet.
Marta Mizuro
Henryk Waniek (geb. 1942), Maler, Prosaist,
Essayist, Kunstkritiker, Übersetzer und Experte auf
dem Gebiet der Esoterik.
Henryk Waniek Der Fall Hermes
15
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Henryk Waniek Der Fall Hermes
16
ENGEL:
Ich möchte Ihnen allen eine
langatmige Einleitung ersparen
und sie gleich darauf
hinweisen, dass ich mit Ihnen über die Bibliothek sprechen
werde. Und da es sich hierbei um eine vertrauliche Angelegenheit
handelt, bitte ich sie, nichts von dem, was hier gesagt
werden wird, nach außen zu tragen. Ich danke Ihnen
für ihr Kommen und zähle auf Ihre Unterstützung. Über
Bibliotheken weiß ich so gut wie nichts. Selbstverständlich
meine ich damit nicht die Regale, Kataloge und die ganze
tote Ordnung der Bestände. Wie das aussieht, kann ich mir
schon selbst vorstellen. Von Ihnen möchte ich etwas über
die Geheimnisse hören, die sonst nicht in die Öffentlichkeit
dringen, über die nur Eingeweihten vorbehaltene, tiefere
Philosophie dieser bibliografischen Schatzkammern. Und da
Herr Graf bereits die Augen geöffnet haben, frage ich Sie einfach
zuerst. Über die Bedeutung der Bibliothek müssen Sie
mir nichts erzählen. Es ist allgemein bekannt, dass sich dort
die weltweit größte Sammlung von Hymnen befand. Warum
eigentlich gerade Hymnen?
GRAF:
Entschuldigen Sie, dass ich so undeutlich spreche. Die Kälte
macht meinem Unterkiefer irgendwie zu schaffen. Sehen
Sie nur, wie er zittert. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen
soll. Das alles ist schon so lange her und so verworren. Vor
allem weil es mit so großen Kosten, Anstrengungen und Befürchtungen
verbunden war. Eine Bibliothek bedeutet eine
große Verantwortung. Des Nachts träumte ich von Feuersbrünsten;
von Holzwürmern, monströsen Nagekäfern, die
als Anobium punctatum bekannt sind und die sich durch
die Seiten von Büchern fressen; von gemeinen Diebstählen
der wertvollen Exemplare; von dreisten Fälschungen.
Ich denke nur ungern daran zurück, aber für Sie, Herr Rat,
mache ich selbstverständlich eine Ausnahme. Das Sammeln
von Gesangbüchern – und anderen Büchern, über die ich
später noch sprechen werde – ist eine Familientradition, die
auf meinen Großvater zurückgeht. Heutzutage denkt jeder,
Hymnen seien nichts weiter als Lieder für den gemeinen Pöbel.
Vergessen sind die seligen Zeiten, als man in den Salons
und den Gotteshäusern, auf den Exerzierplätzen und den
Schlachtfeldern sang, im reinen Bestreben, die Herzen der
Menschen und mit ihnen die ganze Welt zu läutern. Bereits
zu Lebzeiten meines Vaters nahm das Unheil seinen Lauf.
Der Kitsch griff um sich, eine Flut von Fälschungen raubte
der Hymne ihre ursprüngliche Reinheit. Zuvor hätte niemand
etwas Derartiges gewagt. Eine Hymne war etwas Heiliges!
Ein römischer Soldat wäre lieber gestorben, als auch
nur ein Wort seines Legionsliedes zu verändern. Der Gesang
entschied über den Ausgang der Schlacht – über Sieg oder
Niederlage. Zahlreiche entsprechende Hinweise finden sich
bei Thukydides, noch mehr bei Sueton. Hätten die Klöster
nicht damit begonnen, ihre Possen mit den Hymnen zu treiben,
lägen nicht so viele von ihnen heute in Trümmern. Das
Gleiche gilt für die so schmählich untergegangenen Staatswesen.
Und je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde
es. Die Hymne wurde in den Schmutz billiger Tanzbuden
herabgezogen. Jeder erstbeste Zirkus brauchte seine Hymne.
Und zur Zeit der Aufklärung erreichte der Skandal seinen
Höhepunkt. Zu den traditionellen Melodien wurden jetzt
moderne, rationalistische Texte verfasst. Irgendwo in Böhmen
entstand eine geheime Hymenwerkstatt. Schleichhändler
verkauften ihre Erzeugnisse zum halben Preis. Natürlich
waren sie ohne jeden Wert. Die Leute sangen sich die Lunge
aus dem Hals, doch es half nichts. Kein Heldenmut, keine
göttliche Gnade und noch nicht einmal ein wenig Hoffnung.
In dieser Welt sollte meine Bibliothek zu einer Arche Noah
werden, einer Festung gegen den Ansturm der Barbarei.
ENGEL:
Und alle Falschheit sollte an Ihrer Bibliothek zerschellen!
GRAF:
Bereits in jungen Jahren betrachtete ich die Rettung der
Hymne als meine Lebensaufgabe. Als ich mit zehn Jahren in
die Schule kam, verfügte ich auf diesem Gebiet bereits über
ein beträchtliches Wissen. Mit Entsetzen musste ich feststellen,
dass alle meine Mitschüler und auch die meisten meiner
Lehrer Gesangbücher von zweifelhaftem Wert verwendeten,
sodass alles Lernen im Grunde für die Katz war. Als ich meinem
Vater davon berichtete, nahm er mich aus der Schule
und vertraute meine weitere Ausbildung dem Kaplan Mayer
an. Dieser Mann besaß das außergewöhnliche Talent, in
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Sekundenschnelle zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden.
Und eben diese Fähigkeit lehrte er mich, bis ich
ein gewisses Alter erreichte. Dann öffnete er einen Schrank,
den er bis dahin immer vor mir verschlossen gehalten hatte.
Der Schlüssel allein reichte nicht, man musste auch die Zauberformel
kennen: Makbenak. Er sprach sie, die Scharniere
knarrten und was gab es dort nicht alles zu sehen! Und alles
in tadellosem Zustand! Das Beste, was der menschliche Geist
seit Entstehung der Welt hervorgebracht hatte. Die größten
Schätze der Hymnologie. Mit der Zeit wies mich mein Lehrer
in ihre Geheimnisse ein. Nach und nach erschlossen sich
mir die Arkana des göttlichen Klangs.
ENGEL:
Ich habe gehört, dass sich dem Singenden manchmal die
ganze unermessliche Macht der Hymne offenbart, die seinen
Geist erleuchtet und ihn die Geheimnisse des Lebens schauen
lässt. Ich habe auch gehört, dass der Hymne eine Kraft
innewohnt, die, richtig angewandt, die Mauern belagerter
Städte zum Einsturz bringt und die Herzen der Menschen
entflammt. Sie haben vorhin von der Entstehung der Welt
gesprochen, Herr Graf. Ich würde gerne wissen, was sie von
der Legende halten, der Schöpfer habe weiter nichts getan,
als nacheinander sieben Hymnen zu singen. Halten Sie es für
möglich, dass, wie die Hymnologen behaupten, das Universum
allein durch Gesang entstanden sein könnte?
GRAF:
Indem Sie diese alte Überlieferung als Legende bezeichnen,
schmälern Sie eine wichtige Wahrheit und treffen doch
gleichzeitig auch den Kern der Sache. Ganze vier dieser sieben
Legenden befanden sich im Besitz unserer Bibliothek.
Mein Vater hatte sie von einem levantinischen Händler erworben.
Dieser wiederum hatte sie ebenjenem Kloster abgekauft,
in dem Salomon selbst sie einst niedergelegt hatte.
ENGEL:
Genau das wollte ich von Ihnen hören. Nichts anderes habe
ich erwartet.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2007
123 × 197 • 334 pages
paperback
ISBN: 978-83-08-04090-4
Translation rights:
Wydawnictwo Literackie
Henryk Waniek Der Fall Hermes
17
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Eustachy Rylski Die Insel
18
Photo: Świat Książki
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die Stärke und die Zierde von Rylskis Schaffen liegt bekanntlich
in der Gestaltung der Haupthelden (wenngleich es auch
den Nebenfiguren an nichts mangelt). In allen vier Erzählungen
des Bandes Die Insel finden wir untadelige Beispiele dafür. Wir
begegnen gewöhnlichen wie außergewöhnlichen Gestalten: einem
unglücklichen Buchhalter, einem sterbenden Großschriftsteller
in der Emigration, der entfernt an Gombrowicz erinnert,
einem Provinz-Gänschen, sowie einem Opfer einer Urlaubsromanze,
einem herausragendem, rebellischem Geistlichen und
Playboy, dem – zumindest bis zu einem bestimmten Augenblick
– eine Karriere in Vatikan winkt (in der titelgebenden Erzählung).
Jeder dieser Helden ist ungeachtet seiner sozialen Herkunft
oder seiner geistig-moralischen Qualitäten ein, um den Titel
eines Romans von Rylski zu benutzen, „Mensch im Schatten“,
eine gebrochene Gestalt, düster, aller Illusionen beraubt, ein
definitiver Verlierer. Das soll aber
nicht heißen, daß Rylski bei der Gestaltung
der Personen schematisch
verfährt; so ist es nicht.
Man beachte den sorgfältig durchdachten
Aufbau des Bandes. Alle
vier Erzählungen spielen am Meer: die erste und dritte an der
Ostsee, die zweite und vierte am Mittelmeer (im Süden Frankreichs
und auf der titelgebenden Insel vor der Nordküste Afrikas).
In der ersten und dritten Erzählung ringen die Helden mit
Gebilden ihrer eigenen Einbildung, in der zweiten und vierten
haben wir es mit dem klassischen Verhältnis zu tun, das heißt
mit einem Duell der Antagonisten. Die Helden von zwei Erzählungen
sterben unter hochbedeutsamen, metaphorisch ausgedrückten
Umständen, in den beiden anderen kommt es zu einem
geheimnisvollen Rollentausch.
Rylski verführt einerseits durch deftige Handlungsmotive voller
Überraschungen, mit fein dosierter Spannung und meisterhaft
eingesetzten Täuschungsmanövern, und andererseits arrangiert
er fesselnde Debatten, in denen es hart auf hart geht. Er möchte,
daß wir sowohl seinen Einfallsreichtum beim Erfinden der
Fabel als auch sein – wenn man so sagen darf – dramaturgisches
Talent. Daß in den Erzählungen, die sich auf den Dialog
stützen, die Handlung nicht zu kurz kommt, versteht sich von
selbst. Das jüngste Buch von Eustachy Rylski ist in jeder Hinsicht
gelungen.
Dariusz Nowacki
Eustachy Rylski (geb. 1944), Schriftsteller,
Theater- und Drehbuchautor. Nach langem
Schweigen veröffentlichte er 2004 wieder einen
Roman.
Eustachy Rylski Die Insel
19
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Eustachy Rylski Die Insel
20
Vom
Leben eingeschüchtert, beschloß die
Friseurpraktikantin aus Wągrowiec, etwas
träge vom Schlaf, von der Süße und
der ersten Jugend, gemeinsam mit ihrer Freundin, übrigens
auf deren Zureden, den Urlaub in einem der modischen
Orte am Meer zu verbringen.
Der Kurort entsprach ihren Vorstellungen von der großen
Welt, und als ein Mann von Welt erwies sich auch Sylwek,
ein gut aussehender Mann von dreißig, der den Duft von
Erfolg, Geld, Selbstsicherheit und Eau de Cologne Paco Rabanne
um sich verbreitete.
Sylwek und sein Kumpel Kapiszon waren Könige des Lebens.
Markenklamotten, gute Zigaretten, teure alkoholische
Getränke, Armbänder an den Handgelenken und das jeweils
passende Dope.
Monika war beeindruckt von den Jungs und der Welt, die
sie vor ihr ausbreiteten, so daß sie sich, irgendwo am Strand
angesprochen, ohne spezielle Absicht, ja sogar ohne Überzeugung,
sehr wahrscheinlich in einem Augenblick der Langeweile
oder des gedankenlosen Übermuts voll Leidenschaft
der Urlaubsromanze hingab.
Sie war allzu begierig aufs Glück, als daß die ostentative
Straflosigkeit, mit der die jungen Männer und ihre Kumpane
das Leben genossen, sie auch nur im geringsten verlockt
hätte. Kneipenschlägereien, bravouröse Pirouetten auf den
Waverunnern, ein riskantes Hasardspiel vor der Eröffnung
des Kasinos, das schon verfaulte, ehe es reif war, nächtliche
Fahrten durch die engen Straßen der erschrockenen Stadt,
schließlich die zotige Vorstadtsprache, die wie eine vergiftete
Quelle durch die dünne Oberfläche vorgetäuschter Korrektheit
drang – das alles hielt das Mädchen nicht davon ab, sich
verzaubern zu lassen.
Im Gegenteil: Je ungestümer dieses Leben verlief – und das
war von Tag zu Tag mehr der Fall –, desto größer wurde Monikas
Appetit darauf. Es ließ sich nicht verhehlen: Das Mädchen
war zu jung, dumm und unempfindlich, um in ihrer
Faszination durch einen Hauch Nachdenklichkeit stören zu
lassen. Umso mehr als sie selbst an Glanz gewann und sich
aus einer grauen Maus in eine verliebte Frau verwandelte, die
sich ihrer Reize bewußt wurde.
An Glanz gewann auch der Kurort, der in den Augen des
Mädchens zu Hollywood, Monaco, San Remo wurde, Orten,
die sie bisher nur aus den Klatschspalten von Illustrierten
kannte.
Als deren Heldin fühlte sie sich ein wenig.
Doch der Urlaub ging zu Ende, ehe er richtig auf Touren
gekommen war, wie es einem mit allen Annehmlichkeiten
ergeht.
Die Verliebten gingen auseinander. Monika fuhr nach
Wągrowiec, Sylwek natürlich nach Warschau.
Sie versprachen einander, sich regelmäßig zu schreiben
und so oft wie möglich zu besuchen. Monika kehrte nicht
mehr an ihre Arbeitsstätte zurück, denn man kehrt nicht aus
dem Paradies in einen provinziellen Friseursalon und von
einem Märchenprinzen zu langweiligen Kundinnen zurück,
die nicht wußten, was Lust ist. Worüber hätte sie auch mit
ihnen sprechen sollen? Und Gespräche waren doch das Wesen
und der Kern ihrer Arbeit.
Sie hatte vor, sich nach etwas Passenderem umzusehen.
Derweil verflog ihr die Zeit mit Träumen und Briefen. Von
Chips und Coca-Cola wurde sie mächtig dick, und vom
Zanken mit den Eltern nahm sie Schaden.
Bisher nach außen hin unsicher, vorsichtig und zurückgezogen,
kompensierte sie dies durch ein größeres Maß
häuslicher Unabhängigkeit, als es dem Status eines unselbständigen
Kindes entsprach. Jetzt vertieften sich die Abhängigkeiten,
schon aus Mangel an Arbeit, doch die Autonomie,
die sich sich willkürlich zuerkannt hatte, entartete durch ihre
Dreistigkeit.
Damit verletzte sie die Eltern, ohne Rücksicht auf die Umstände.
Die Eltern, bisher stets offen und von nicht nachlassender
Geduld, verschlossen sich in einem Schweigen, das Monika
bald aus Langeweile, bald aus einer sich selbst steigernden
Wut brutal brach. Nicht ohne Erfolg, wenn Roheit auf die
Wehrlosigkeit einfacher, fleißiger, verantwortungsbewußter
Leute trifft, die, über die Zeiten verwundert und von ihnen
unabhängig, zu Gefühlen bereit sind.
Was nun die Korrespondenz betraf, so war sie ganz einseitig.
Auf ihre immer ungeduldiger werdenden Briefe erhielt
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Monika keine Antwort.
An manchen Tagen dachte sie an Selbstmord, an anderen
heiterten die Urlaubserinnerungen ihre Seele auf, aber das
eine wie das andere ergoß sich durch denselben Bach fieberhafter
Euphorie, so als führten Gedanken an den Tod wie
solche an das Leben zu demselben Ziel.
Hin und wieder – meistens am Telefon – sprach sie über
ihren Zustand mit ihrer Freundin Ewa, die in ihren Hoffnungen
mehr Mäßigung bewies, nicht ihre Arbeit aufgab,
ihre Urlaubsromanze mit Kapiszon gegen ein intimes Verhältnis
mit einem wohlhabenden verheirateten Mann vertauschte
und es sich gut gehen ließ.
Zwei Monate gingen dahin. Die Tage wurden grau und
kurz. Schlimmere Gedanken häuften sich, bessere wurden
rar. Die Freundin redete Monika zu, etwas zu unternehmen.
Sie sollte der Ungewißheit ein Ende machen. Sie schadet
dem Leben. Entweder kann sie sich sagen, es ist aus und
vorbei, oder sie soll, wenn sie das nicht kann, Konsequenzen
daraus ziehen.
Auf Monikas Frage hin, worin diese Konsequenzen bestehen
sollten, wurde Ewa von sich aus aktiv. Mit einiger Mühe
machte sie den Freund von Sylwek ausfindig, und nachdem
sie Monika ein bißchen im ungewissen gelassen hatte, teilte
sie ihr die Adresse ihres schon vergessenen sommerlichen
Liebhabers mit.
Es fiel Monika nicht leicht, aber nach Allerseelen machte
sie sich zurecht, hob die Ersparnisse vom Konto der Eltern
ab, stieg in den Zug und fuhr nach Warschau.
Kapiszon traf sich mit ihr in einem Klub, der an ein Rattenloch
erinnerte und im übrigen auch nicht viel größer war,
erfüllt von den Spasmen psychedelischer Musik.
Dort hing ein Haufen schrecklicher junger Leute herum,
die in einer schrecklichen Sprache über schreckliche Dinge
sprachen, aber am allerschrecklichsten fand Monika Kapiszon
mit seiner unverhohlenen Hoffnung, sie zu ficken, irgendwo,
an der Bar, in der Toilette, im Auto, auf der Straße.
Er hielt sie hin, beschwindelte sie, machte sich über sie
lustig, bestellte immer wieder ein neues Bier, antwortete
nicht auf ihre Fragen oder teilte ihr ungebeten etwas mit,
aber nach zwei Stunden dieser Quälerei, die Monika wie eine
Ewigkeit vorkamen, ließ er nach, wurde weich, setzte aus,
diktierte ihr eine Adresse und verschwand.
Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
Świat Książki
Warsaw 2007
130 × 210 • 240 pages
hardcover
ISBN: 978-83-247-0558-0
Translation rights:
Bertelsmann Media
Eustachy Rylski Die Insel
21
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Andrzej Bobkowski Dämmerung
22
Photo: Institut Littéraire
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Andrzej Bobkowski nimmt als Schüler von Joseph Conrad
in der polnischen Literatur eine Sonderstellung ein. Józef Czapski
schrieb in der „Kultura“ nach dem verfrühten Tod des Autors
von Wehmut? Wonach zum Teufel?: „Dieser Sohn Conrads könnte
sich als unentbehrlicher Begleiter für so manchen Polen erweisen,
der von Abenteuern träumt, von einem Leben ohne Zensur
und ohne Verrenkungen auf Geheiß einer morschen Ideologie,
von einem Leben nach eigener Wahl, selbstverantwortlich und
erfüllt“.
So kam es auch, und man kann höchstens bedauern, daß die
Entdeckung Bobkowskis durch die jungen Polen so spät erfolgte
(an der Wende der achtziger und neunziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts) und daß eigentlich nur eine Generation daran
teilhatte. Die soeben erschienene Ausgabe gesammelter Prosa
mit dem Titel Dämmerung könnte eine gute Einführung in das
literarische Werk Bobkowskis darstellen, dessen wichtigste
Errungenschaft natürlich Wehmut? Wonach, zum Teufel? bleibt.
In Dämmerung finden wir jedoch
Erzählungen, die direkt mit diesem
Werk korrespondieren: ein kollektives
Porträt der Bewohner eines
Pariser Wohnhauses, das die französischen
nationalen Veränderungen
in den Kriegsjahren zeigt, und natürlich eine Radtour durch
Südfrankreich gleich nach dem Krieg.
Ein besonderer Leckerbissen für Literaturfreunde ist auch das
Gespräch Boris Pasternaks mit einem KGB-Beamten, der ihn
zwingt, den Nobelpreis abzulehnen. Über einen solchen Pakt
mit dem Teufel erzählt Bobkowski auch an anderer Stelle, wenn
er sich direkt an die Schriftsteller von jenseits des Eisernen Vorhanges
wendet: „Ihr habt in Ruhe gelebt, ihr hattet ein Heim,
einen gut gefüllten Kühlschrank, einen Garten; ihr hattet euer
eigenes Klima und eure Landschaft, euren Boden, eure Bäume
und euren Himmel und gleichzeitig euren eigenen Kontinent im
Inneren, in den ihr emigrieren konntet, wenn euch danach war.“
In diesem Band finden wir auch ein Fragment des Romans Die
Dämmerung, der darin, mehr noch als sonst, seinen ganzen Individualismus,
seine schöpferische Andersartigkeit und Ausnahmestellung
unter Beweis stellte.
Krzysztof Masłoń
Andrzej Bobkowski (1917-1961), Autor
von Wehmut? Wonach zum Teufel?, das als „Hymne
an die Freiheit und das Individuum“ gilt.
Andrzej Bobkowski Dämmerung
23
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Andrzej Bobkowski Dämmerung
24
Man
gelangt von einem großen Hof über eine
Seitentreppe hierher. Dort, geradeaus, sind
diese breiten Steine mit dem himmelblauen
Teppich, der wie eine Kaskade vom fünften Stock herabfällt.
Unsere Treppe ist ein hölzerner sechsstöckiger Korkenzieher.
Jene führt zu den großen, soliden Wohnungen richtiger Mieter.
Unsere windet sich steil empor, bis unters Dach, wo sie
zum Labyrinth der Korridore und Kammern „derjenigen von
oben“ führt, wie die Concierge sich abfällig ausdrückt.
Jacques, ein lebhafter Mitarbeiter der Metro, sagte ihr einmal,
wenn er von oben hinunterspucke, überflute das ihre
Schwelle. Das kann sie ihm nicht verzeihen. Und wenn sie
am Morgen den mit Kacheln ausgelegten Hof abspritzt, fragt
M. de Saint-Esprit, ein Staatsbeamter, stets mit freundlichem
Lächeln: Ca pousse bien? Das polnische Zimmermädchen
des Grafen de Farges ist zu vornehm, um sich mit der Hausmeisterin
zu unterhalten; das schickt sich für Magda nicht,
die sie Mademoissele Madeleine nennen. Nicht zu reden davon,
daß Magda die Comtesse de Farge, wenn diese verreist,
in allem vertritt und mit M. le Comte angeblich nicht nur
am selben Tisch ißt... Das weiße Hündchen mit verschiedenfarbigen
Flecken von M. Guillou, von Beruf Färber von
Heidekraut, Immortellen und anderen ewigen Blumen für
haltbare Kränze und Kaminsimse, macht vor das Tor immer
das, was es auf der Straße machen sollte. Die Concierge verdächtigt
die beiden einer Verschwörung, doch M. Guillou
lächelt bloß und sagt gedehnt unter seinem bretonischen
Schnurrbart: Quelle méchante bête. Wenn er das sagt, denkt
er gewiß nicht an seinen „Friquet“. Mit Eliane, einem Modell
vom Modehaus „Ardanse“, sind die Beziehungen seit Jahren
abgebrochen; Eliane unternahm einen Staatsstreich: sie holt
keine Briefe mehr ab. Um der Zensur ihrer Korrespondenz
zu entgehen, der man entnehmen könnte, daß das Vorführen
von Kleidern bei Modeschauen bei „Ardanse“ nicht die
einzige Quelle ihrer Einkünfte darstellt, holt sie ihre Briefe
poste-restante ab. Daher kann man oft hören, wie die wachsame
Madame la concierge im Bistro an der Ecke quäkt: „Sie
ist heute nachmittag nach Hause gekommen, ohne daß sie
am Morgen weggegangen wäre“, oder: „Solche erheben sich
vom Bett, wenn sie sich ausruhen wollen.“ Es ist ein ewiger
Krieg. Doch die Angriffe begegnen bloß Elianes Lächeln,
unserem Lächeln von oben.
Dort oben gibt es kein Gas, keine Elektrizität. Es gibt
den Wind, die Sonne, den Mond und die Sterne. Der Blick
schweift über das endlose Meer der Dächer. Wenn schönes
Wetter herrscht, sind sie blau und ruhig; wenn Wolken aufziehen
und der Wind mit gewaltigen Schlägen auf sie einzuhämmern
beginnt, werden sie grau und kalt. Der Regen
runzelt ihre glatte Oberfläche, und der Sturm treibt von
ihren Kämmen, wie von Wellenkämmen, Wasserwolken,
um sie mit Krachen gegen die verglasten Luken über uns
zu schleudern. Das Spinnennetz des fernen Eiffelturms reißt
in Stücke, Sacre-Cœur, weiß wie ein Zuckerhut, verschwindet
im Nebel. Der Wind rüttelt an den Türen, tappt durch
die Korridore; die reglosen, schwarzen Abdeckbleche der
Schornsteine recken ihm in ruckartigen Drehungen ihre eiserne
Brüste entgegen. Wenn dann wieder die Sonne scheint,
wenn die blauen Flecken des Himmels sich in den glänzenden
Flächen spiegeln, entsteht eine tiefe, gute Stille.
Auch das Frühjahr kommt hierher oben rascher. Ehe noch
die Schaufenster von Vilmorin auf dem Quai de Mégisserie
in farbigen Samensäckchen erblühen und das „Samaritaine“
sich in ein riesiges Arsenal von Gießkannen, Rechen und Käfigen
mit Geflügel verwandelt; ehe auf dem Pont au Change
zweimal die Woche Baumschulen ausschlagen und auf den
Gehsteigen eine grüne Bürste von Gemüse- und Blumensetzlingen
aufgeht, spüren wir schon sein Nahen. Von Tag
zu Tag krümmt sich der Bogen der Sonne stärker, eine verschlafene
Fliege rutscht in ersten Ausflügen über die Scheibe.
Das Tschilpen der Spatzen klingt anders, wenn sie in den
Dachrinnen baden, im Wasser geschmolzenen Raureifs.
Hier vergingen helle Tage und ruhige Nächte; hier vergingen
Winter und kurze Frühlinge. Die Sommersonne walzte
das Blech der Dächer heiß und kühlte es im Herbst wieder
ab. Die Neonlichter vom Montmartre, von den Boulevards
und vom Montparnasse färbten die Dächer lange Zeit rosa.
Jahr für Jahr zerstoben einundzwanzig Salven künstlichen
Feuers über ihnen, in Vierzehnter-Juli-Buketts, von jenem
Krieg. Dann brach neuerlich Finsternis herein, erleuchtet
von den Fackeln von Bränden, von fernen Explosionen, vom
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Sternenhagel von Leuchtspurgeschoßen. Das einst gutmütige
Lächeln von oben wurde bösartig und konspirativ.
An den langen Abenden las M. Guillou das Evangelium auf
Lateinisch noch lauter, wobei er die unverständlichen Worte
schlecht aussprach. Bei den Prozessionen seiner Kongregation
bewunderten seine Glaubensgenossen sein Latein noch
mehr als die schöne Fahne, auf die er immer so stolz war.
Er lief nun in irgendwelche geheimnisvolle Versammlungen
und beriet sich lange mit Jacques. M. de Saint-Esprit wurde
wortkarg und ging oft mit einer Aktentasche, vollgestopft
mit allerlei Papieren, zur Arbeit. Bei Jacques versammelten
sich junge Leute in Windjacken, die mit schweren Stiefeln
über die Treppe polterten. Eliane las die uferlosen Werke
Vom Winde verweht und Der große Regen, und wenn die Sirenen
zu heulen begannen, lief sie mit Magda nach unten.
Im tiefen Hof der Metrostation „Pigalle“ ging es oft fröhlich
zu. Manchmal sah man dort spät abends die schlanke
Silhouette eines großgewachsenen Jünglings in brandneuer,
schlecht sitzender Kleidung über die große Treppe huschen.
Magda sagte, sie habe einmal gehört, wie sich jemand mit einem
von ihnen englisch unterhielt. Wir lächelten und Jacques
sagte: „Dort unten gibt es auch anständige Leute.“ Die
Sprache war die gleiche, der gleiche der Sinn der verbotenen
Worte.
Und dann wurde das Lächeln wieder gutmütig wie zuvor,
als nach einigen Tagen des Schießens eines Augustabends
die Motoren von GMCs durch alle Straßen heulten. M. de
Saint-Esprit sah verächtlich auf seine Plantage paketierten
Tabaks auf dem Balkon und rauchte, über die Trikolore gebeugt,
eine „Lucky“, Eliane und Magda kauten Kaugummi,
so wie Hunderttausende langer, grüner Burschen mit schweren
Helmen, und sagten „ok“. Jacques erzählte mit dem
Pathos eines Cyrano von seinen Kämpfen im Viertel Batignolles,
und M. Guillou färbte konzentriert viele Blumen
für viele Kränze. Ein gutes Lächeln aber hatten alle, sogar
die Concierge.
Aus dem Polnischen von Martin Pollack
Biblioteka Więzi
Warsaw 2007
125 × 199 • 111 pages
paperback
ISBN: 978-83-603-5630-2
Translation rights:
Institut Littéraire Kultura
Andrzej Bobkowski Dämmerung
25
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben
26
Photo: Olga Majrowska
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Seit dem Jahr 1994 publiziert Jerzy Pilch in etwa zweijährigen
Abständen in Buchform seine ausgewählten Kolumnen und
Feuilletons, die ursprünglich in Tageszeitungen und Magazinen
erschienen waren. Der neueste Band Der Zug ins ewige Leben
versammelt Texte, die in den Jahren 2002 bis 2006 erschienen
sind. In der Verlagsinformation wurde angemerkt, dass der
Autor absichtlich die Kolumnen über Fußball und Literatur ausgelassen
hatte – zwei Phänomene, die für ihn von besonderer
Wichtigkeit sind. Diese Texte sollen in einem extra Band publiziert
werden.
Im Zug ins ewige Leben kann man zwei dominierende Themen
ausmachen. Das erste sind, sehr weit verstandene, gesellschaftliche
Angelegenheiten; in diesen Texten geht es um die
gegenwärtige polnische Politik und vor allem um die Parteienlandschaft
– hier zeigt sich Pilch als
ironischer Betrachter und bissiger
Kommentator. Diese Art seiner feuilletonistischen
Leidenschaft könnte
man unelegant als ein schamloses
Ausweiden der Fauxpas, Fehltritte und schlichter Dummheiten
der politischen Klasse bezeichnen.
Der zweite — und wohl wichtigere — dominierende Gegenstand
sind im gewissen Sinne private Angelegenheiten, meist in
einem erinnernd-nostalgischen Duktus wiedergegeben.
Hier spricht Pilch am meisten über sein Befinden, über seine
Lektüre, über kulturelle Ereignisse, die ihn beeindruckt hatten,
über Begegnungen mit faszinierenden Menschen, die wichtig für
ihn waren, über Dinge, die ihn als Privatmenschen bewegen.
Jerzy Pilch gilt als ein unerreichter Meister der gegenwärtigen
polnischen Feuilletonistik, ein scharfsinniger Autor, der mit
feinem, raffinierten Witz von den Begebenheiten unserer Zeit
berichtet. Die Texte, die im Band Der Zug ins ewige Leben versammelt
sind, beweisen wieder einmal, dass dieser Autor den
Meistertitel uneingeschränkt verdient.
Dariusz Nowacki
Jerzy Pilch (geb. 1952), Prosaiker und
Publizist, Träger des Literaturpreises Nike (2001);
veröffentlichte mehrere Bände mit erzählender
und diskursiver Prosa.
Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben
27
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben
28
Ein
weiteres Anzeichen des sich im polnischen Lande
verbreitenden Gesundheits-Faschismus ist
– das sich mit riesigen Schritten nähernde und
mit Triumph in den Medien angekündigte – völlige Rauchverbot
in den InterCity-Zügen. Aus den diesbezüglichen
Fahrgast-Umfragen der polnischen Bahn PKP geht hervor,
dass sich achtzig Prozent der Reisegäste für ein solches Verbot
aussprechen.
Für die Raucher ist es eine enorme Ehre, dass sie in dieser
erbärmlichen Epoche des gesunden, und folglich ewigen
Lebens, eine zwanzigprozentige Unterstützung erhalten haben.
Nichtdestotrotz hat die gesunde Mehrheit einen niederschmetternden
Vorsprung über der kranken Minderheit
gewonnen. Die Nikotinsucht ist, wie allgemein bekannt,
eine Krankheit, jedoch eine zweideutige, eine selbstverschuldete,
eine exzentrische Krankheit; eine zwar im traditionellen
Sinne des Wortes nicht ansteckende, und dennoch im
wesentlichen Sinne viel schlimmere Krankheit! Der Qualm
und der Gestank, die vom Raucher in die Umgebung entweichen,
vergiften höchst effektiv alle in seiner Nähe. Mit
einem Wort: es ist keine Krankheit, derer Opfer irgendeine
Chance hätten, die Vorteile beziehungsweise den Status von
Behinderten zu genießen. Im Gegenteil: der natürliche Raum
des Rauchers wird überall immer mehr begrenzt, und in der
Folge zerstört. Raucherzimmer nach alter Tradition wurden
schon vor langer Zeit dem Erdboden gleich gemacht; und
auch das, was es noch gibt, diese demütigenden „Raucherecken“,
auch diese Orte, irgendwo in der Nähe der Aborte
angesiedelt, verschwinden nach und nach.
Wenn aus den InterCitys die Raucherabteile verschwunden
sind, wird bei uns endlich die gelobte Gesundheits-
Gleichschaltung Einzug halten. Ich werde mich in den Zug,
von, sagen wir mal, Warschau nach Breslau setzen, und über
fünf Stunden lang werde ich nicht qualmen, werde meinen
mitfahrenden Nächsten nicht dem passiven Rauchen aussetzen
– diesen gut gebauten netten Mann neben mir, der
sich während der langen Reise mit gesundem Schmalzbrot
und einem nach kräftigender ländlicher Wurst riechenden
Brötchen stärken wird, der den Boden mit Schalen seiner
hart gekochten Eier vollsauen wird, der mit der Glasur seiner
Berliner Pfannkuchen die Sitzbezüge voll schmieren wird.
Ich werde angesichts all dessen still und ruhig sitzen und mir
sagen: Es ist ja nichts, passives Essen schadet doch niemandem,
bisher haben ja die amerikanischen Wissenschaftler
nichts darüber gesagt, und der psychische Druck, der zählt
ja nicht, es ist alles gut, alles in Ordnung.
Vielleicht werde ich aus Sehnsucht nach einer Kippe die
Nase hochziehen, und mein nichtrauchender, vor Gesundheit
strotzender, vor Empathie geradezu explodierender Mitreisender
wird mir eine Knoblauchzehe anbieten, „Das ist
doch das Beste gegen Schnupfen!“, wird er freundlich sagen,
und wenn ich ablehne, wird er sich, „rein vorbeugend“, zwei
davon genehmigen.
Nachdem er dann seine Stärkung mit lebensspendender
Fanta hinunter gespült, herzlich gerülpst, sich in den Zähnen
gepolkt hat, wird er sich zur Ruhe betten wollen; er wird
seine Schuhe ausziehen und seine Beine zur Entspannungszwecken
auf den gegenüber liegenden Sitz legen – und dann
könnte es geschehen (ich will niemandem etwas vormachen),
dass ich einen Nervenzusammenbruch bekomme. Ich
werde abwarten, bis er die Augen geschlossen hat, und mich
dann verstohlen davon schleichen, in den Toilettenraum,
und dort werde ich mein Zigarettenpäckchen hervorholen
und mir eine anstecken – im vollkommenen Bewusstsein der
Tatsache, dass ich ein Gesetz breche. Ich werde mit voller
Verzweiflung qualmen, als wenn es um mein Leben ginge.
Ich mache mir dabei keine Illusionen: kaum, dass der blaue
Dunst aus meiner Zigarette seine feinen Nüstern reizen
wird, wird mein vom Krebs bedrohter Abteilnachbar erwachen,
den Zugführer rufen, und dann werden sie kommen.
Sie werden kommen und an die Klotür trommeln und mich
da heraus schleifen. Und meine Tabakorgie wird mich fünf
Hundert Złoty kosten.
Nein, es ist kein billiges groteskes Bild, das ich hier vor
euch entstehen lasse – jeder von euch hat schon eine solche
Reise hinter sich, alle seid ihr schon quer durch Polen gefahren
mit einem Monster im Abteil. Wenn es kein monströser
Fresssack war, dann ein niedliches Kindchen mit drei Stück
Magnum-Eis und einer riesigen Tüte Chips in der Hand,
zurück zum Inhaltsverzeichnis
wenn es kein Psycho war, der Schweine totquatschen konnte,
dann eine nach überaus sinnlichem „Masumi“-Wässerchen
duftende Schönheit, die mit ihrem Stil und der Wahl der
Kosmetik in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
hängen geblieben war.
Die Raucher-Abteile, vor allem die in der Ersten Klasse,
waren keine verkommenen Ghettos. Nein, es waren Paradiese,
Oasen der Ruhe und der Freiheit! Und wie oft hatten
die Nichtraucher, um anderen Gefahren zu entkommen, an
diesen angeblich verseuchten Orten um Asyl gebeten? Wie
oft hatten wir, Raucher, die Panik (Todesangst gar!) in den
Augen eines nach stundenlanger Qual vollkommen erschöpften
Mitreisenden gesehen und hatten ihn zu uns geholt, uns
seiner angenommen – und verzichteten, solange er brauchte,
um zu sich zu kommen, auf das Rauchen? Und dann reisten
wir in Harmonie und Frieden weiter.
Vor über zehn Jahren hielt ich mich im Herzen eines amerikanischen
Staates auf, der aus einem einzigen riesigen Maisfeld
bestand. Mitten in dem Maisfeld gab es einen mehrere
Hektar großen Park, in den ich mich öfters des Abends begab,
um, auf einer Bank sitzend, in Ruhe eine zu rauchen;
aus dem am Horizont sichtbaren Wald tauchten Jogger auf,
blieben bei meinem Anblick wie angewurzelt stehen, dann
änderten sie ihre Route, um kilometerweit an mir vorbei zu
laufen, um mir bloß nicht zu nahe zu kommen; ich konnte
sie gar nicht mehr sehen, da hörte ich noch ihre panischen
Rufe: „Smoke! Smoke! Smoke!“ Ich will nicht verraten, welche
englische Formulierung sich mir als Antwort aufdrängte.
Doch ich wusste Eines: ich vermisste mein Vaterland. Heutzutage
allerdings ist es hier auch nicht besser; und man kann
sein Vaterland zu Raucherzwecken nicht verlassen, es wäre
sinnlos, da der Gesundheits-Faschismus mittlerweile in der
ganzen Welt verbreitet ist.
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz
Świat Książki
Warsaw 2007
124 × 200 • 320 pages
paperback
ISBN: 978-83-247-0720-1
Translation rights:
Bertelsmann Media
Jerzy Pilch Der Zug ins ewige Leben
29
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen
30
Photo: Krystof Kriz
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Der Protagonist von Janusz Rudnickis neuer Prosa kehrt aus
Deutschland in seine Vaterstadt Koźle zurück, weiß nicht wirklich,
was er mit sich anfangen soll, schmiert sich aus Langeweile
das Gesicht mit schwarzer Schuhcreme ein, die Briefträgerin
veranlasst ihn, ins Treppenhaus hinauszugehen, die Wohnungstür
schlägt hinter ihm zu, eine Gasexplosion zerstört seinen
Wohnblock, im übrigen steht es in ganz Polen nicht zum besten,
denn immer wieder explodiert an den verschiedensten Orten
Gas; der Held zieht mit anderen, die ebenfalls ihr Dach über
dem Kopf verloren haben, durch Polen und Deutschland, erlebt
die wunderlichsten Abenteuer… Rudnicki erfand eine Geschichte,
die aus einer langen Reihe grotesker und absurder
Situationen besteht, die mal lustig, mal furchterregend sind. Im
Grunde handelt das Buch jedoch von zutiefst ernsthaften Dingen.
Ein weiteres Mal greift der Autor
von „Meine Wehrmacht“ das Problem
der – ich gebrauche hier eine
Bezeichnung Zbigniew Kruszyńskis
– „verschobenen Menschen“, die ihr Land auf der Suche nach
ihrem Ort auf Erden verließen und immer noch – wie Rudnicki
behauptet – „im Spagat leben“, die ihrer Wurzeln und Gewissheiten
verlustig gegangen sich mit einer ins Wanken geratenen
Identität herumschlagen. „Kommt, wir gehen“ ist auch eine Erzählung
über polnisch-deutsche Traumata, die Geschichte, die
der Gegenwart immer noch ihren Stempel aufdrückt, Henker,
die zu Opfern werden, Opfer, die zu Henkern werden. Rudnicki
verfasste eine traurig-lustige, mitreißende und zudem stilistisch
virtuose Prosa. Was gäbe es hier zu leugnen, kaum jemand vermag
den Satzbau so kunstvoll zu verdrehen wie der Autor von
„Kommt, wir gehen“.
Robert Ostaszewski
Janusz Rudnicki (geb. 1956) Prosaschriftsteller
und politischer Emigrant. Lebt in Hamburg.
Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen
31
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen
32
Einkaufen
gehen – oder nicht?
Und wenn mich jemand
erkennt? Aber
wer? Wer sollte mich schon erkennen? Ich bin gerademal zurück
und hab die Fenster ausgepackt, damit mir das Gesindel
aus dem Nachbarblock nicht durch die Koffer glotzt, in
die Gardinen. Und außerdem bin ich allein – wie jetzt meine
weißen Zähne im Spiegel, die plötzlich zum ersten Mal den
Kontext des Gesichts verloren haben, meines Gesichts.
Deshalb wundere ich mich beim Türklingeln, zum Teufel.
Ich öffne die Tür. Die Briefträgerin. Gebückt sucht sie etwas
in der Tasche, mit dem Mund hält sie eine Blume fest.
Und sagt schnaufend durch die Blume:
„der Scheißaufzug ist schon wieder kaputt, gude!“
„Gude“
antworte ich, und sie steht plötzlich wie gebannt still, ihre
Augen auch. Und die Blume plumpst runter, weil sich ihre
Ober- und Unterlippe immer weiter voneinander entfernen.
Was denn? Ich betrachte ihre Zähne voller Plomben und
Drähte, denke erst an Türen, dann an Stacheldrahtsperren,
dann an Güterwaggons, in denen ich gleich auf die bewusste
Rampe gebracht werde, mit anderen Worten, ich gebe mich
meinen Assoziationen hin wie ein willenloser Lump, und so
kriege ich die Zeit irgendwie rum. Ich langweile mich nicht,
wenigstens das nicht. Bis sie schließlich sagt:
„Sind das Sie?!“
Sie fragt, weil wir uns gestern schon gesehen haben, im
Treppenhaus, ich habe mich vorgestellt, weil ich zurückgekommen
bin und alleine lebe, meine Dame, ein einsames
weißes Segel auf dreißig Quadratmeter Fläche. Ich sage,
„Das bin ich, erkennen Sie mich denn nicht? Das weiße Segel...“
Darauf sie:
„Das nenne ich weiß“,
und ich erinnere mich gleich an das, was ich vergessen hatte.
„Ach, Sie meinen mein Gesicht? Das kommt vom Gas im
Bad, ich wollte mir eine Zigarette am Boiler anstecken, und
meine Frau hat gleichzeitig in der Küche das warme Wasser
aufgedreht.“
Darauf sie:
„Sie sind verheiratet?“,
und wie erstaunt sie war!
Darauf ich:
„Nein“,
und erstaune über meine Worte noch mehr. Was für eine
meine Frau?
„Nein, nein“,
sage ich wieder und wieder.
„das ist natürlich ein Witz, ich habe das Wasser in der Küche
selbst aufgedreht und mir in der Zeit im Bad am Boiler
eine Zigarette angesteckt...“
Die Sätze in die eine Richtung, ich in die andere. Kehlkopfverschluss,
ein Stau, ein Wall. Ihre Augen starren mich
staunend an und meine sie, weil ich mich genauso über mich
wundere wie sie. Und so stehen wir da. Die Türschwelle trennt
uns. Und die Blume, die heruntergefallen ist.
Bis sie plötzlich das Gewicht von einem Bein auf das andere
verlagert. Sie muss schließlich ganz schön laufen, sie tun ihr
weh. Die Bewegung der Beine versetzt auch den übrigen Teil
des Körpers in Bewegung, sie kommt wieder zu sich und sagt,
„es riecht hier auch irgendwie nach Gas. Ich habe ein Paket
für Ihren Nachbarn, aber er ist nicht zu Hause, könnten Sie
als Nachbar das Paket Ihres Nachbarn annehmen, für Ihren
Nachbarn?“
„Könnte ich. Könnte ich gern. Ich nehme es an.“
Ich soll unterschreiben, dass ich es angenommen habe,
aber:
„Wo? Worauf?“
Darauf sie:
„Vielleicht an der Wand?“
Ich versuche es einmal, zweimal an der Wand, der Kugelschreiber
will nicht.
„Die Minenflüssigkeit läuft so weg. Sie müssen es senkrecht
machen, schreiben, wissen Sie? Nicht waagrecht.“
Ich komme ins Grübeln. Eine märchenhafte Einteilung
des Schreibens. Ich komme so tief ins Grübeln, dass mir die
Briefträgerin vor den Augen herumfuchteln muss, um mich
wieder an die Oberfläche zurückzubringen.
„Hallo! Guten Tag! Hier bin ich.“
„Senkrecht, sagen Sie?“
zurück zum Inhaltsverzeichnis
„Klar.“
„Dann kommen Sie vielleicht kurz rein, denn hier gibt es
nichts, wo ich den Kugelschreiber senkrecht halten kann.“
„Nein, nein, ich finde hier gleich...“
Sie sieht sich um, ich sehe mich um, bis sie schließlich sagt
„Unterschreiben Sie schnell, ich bücke mich“,
sagt sie und bückt sich schon, worauf ich sage
„Lieber bücke ich mich, dann bereite ich Ihnen keine
Mühe.“
Ihre Augen werden schon wieder groß.
„Soll ich das Paket annehmen oder Sie? Wollen Sie auf Ihrem
eigenen Rücken unterschreiben?“,
sagt sie langsam zu mir, unsicher und starrt mich so an, dass
ich mich fühle, als stünde ein anderer vor ihr. Und nicht ich.
„Na, dann bücken eben Sie sich“,
sage ich, also bückt sie sich, irgendwie mit dem Rücken zu
mir, und der Nachbar zu meiner Linken – als wir uns vorher
begrüßt haben, hatte er mir erzählt, er erinnere sich noch an
mich, wie ich in den Sandkasten pinkelte – dieser Nachbar
verließ also dann auch seine Wohnung, ich machte dann eine
so wollüstige Miene, als würde ich bis zum Hals in dieser
Briefträgerin stecken, hic et nunc, daraufhin verwandelte sich
der Nachbar in ein Fragezeichen, woraufhin die Briefträgerin
mir den Kopf zudrehte, dann fauchte sie wild, als sie mich so
wollüstig sah, war beleidigt, worauf sie sich aufrichtete, aber
von der Stelle weg! Und dem Nachbarn fiel die Einkaufstasche
aus der Hand, und aus der Tasche fielen Pfandflaschen,
direkt auf den Boden, und zerbrachen. Und der Nachbar bekam
keine Luft mehr, bis er endlich welche bekam, und fragt:
„Wer sind Sie?“
Dann erinnere ich mich wieder an das, was ich vergessen
habe, dass ich mir das Gesicht mit Schuhcreme vollgeschmiert
habe, den Hals auch, und die Ohren, und ich sage:
„Ach, Sie meinen mein Gesicht?“
Ich sage:
„Das kommt vom Gas im Bad, ich wollte mir am Boiler
eine Zigarette anstecken, und meine Frau hat in der Zeit das
warme Wasser in der Küche aufgedreht.
Darauf er:
„Sie sind verheiratet?“,
und wie erstaunt er war!
„Nein, nein, das ist natürlich ein Witz, ich habe das Wasser
in der Küche selbst aufgedreht...“
Daraufhin die Briefträgerin, dass sie genug hat, sie jetzt
geht und dem Nachbarn eine Benachrichtigung wegen des
Pakets an der Tür hinterlässt, und sie ging, und der Nachbar?
Nichts, er steht nur mit vor Staunen offenem Mund da, und
Plomben hypnotisieren mich doch, also trägt es mich wieder
weg zu den Waggons... Ach, was für eine Unordnung, hier!
Das Glas liegt da, er steht da, ich stehe da, vielleicht gehe ich
einen Besen holen?
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 192 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-332-5
Translation rights: W.A.B.
Janusz Rudnicki Kommt, wir gehen
33
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust
34
Photo: Agnieszka Herman
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Diese Geschichte hat wirklich stattgefunden: das Buch von Agata
Tuszyńska ist ein tief bewegendes Dokument von Krankheit
und Tod ihres Mannes. Texte wie diese schreibt man widerstrebend:
Soll man schon jetzt, frisch, vor der literarischen Öffentlichkeit
etwas enthüllen, das ein hochgradig intimes Erlebnis ist,
das für keinen Außenstehenden in seinem Schrecken zugänglich
ist? Die Antwort auf diese Frage gibt die Autorin selbst wie ihre
Vorgänger und sie klingt scheinbar banal: Schreib darüber, denn
du bist Schrifstellerin! Daraus spricht die Überzeugung, dass
der Schriftsteller jemand sei, dessen Pflicht es gerade dies ist:
Das Enthüllen und in Worte Kleiden von Extrem- und Grenzerfahrungen.
Die Beschreibung der tödlichen Krankheit von Henryk Dasko, ist
also ein Buch das für diejenigen geschrieben worden ist, die an
solchem Geschehen teilnehmen werden – sowohl in der Rolle
der Kranken, so wie in der Rolle
derjenigen, die den Sterbenden am
nächsten sind. Es ist ein Reiseführer
durch die Hölle, und zugleich eine
Aufforderung, nicht die Waffen zu
strecken und nicht aufzugeben, um jede weitere Lebenswoche
oder jeden Lebensmonat zu kämpfen. Man kann fragen, ob das
Sinn hat, wenn doch der Kampf aussichtslos ist und das Durchhalten
in der Krankheit mit Leiden und Erniedrigung verbunden
ist. Auf diese Frage gibt die Autorin keine eindeutige, weil persönliche
Antwort. Es geht hier nicht um die einfache Verlängerung
des Lebens um weitere Tage, sondern darum anzustreben,
dass das Leben in einer möglichst vollen und sinnvollen Form
abschliesst). Nach einem Abschluss verlangt auch die Geschichte
der Liebe, die erst dann erfüllt ist, wenn sie die höchste Prüfung
besteht, wenn sie extreme Aufopferung verlangt.
Und noch eins. Henryk Dasko war polnischer Jude, der nach
der antisemitischen Kampagne vom März 1968 aus Polen verbannt
wurde. Diese Verbannung empfand er — neben der tödlichen
Krankheit als die größte Tragödie seines Lebens. An allen
Stationen seines Leidens können wir beobachten, wie unerhört
nah ihm die polnische Literatur und Kultur war. Das Buch ist also
ein nicht aufdringlicher, aber außerordentlich starker Akt der
Anklage gegen diejenigen, die den letzten großen Exodus der
Juden aus Polen verursacht haben.
Jerzy Jarzębski
Agata Tuszyńska (geb. 1957), Dichterin,
Prosaikerin, Reporterin, Literatur- und Theaterhistorikerin.
Ins Französische und Englische
übersetzt.
Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust
35
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust
36
Die
Welt der Krankheit, das Imperium der
Krankheit. So sollte ich sie beschreiben. Ein
Planet. Die Krankheit als unbekanntes Land.
Ein Ort zwischendurch. Immer sind wir gesund geworden.
Schwer krank, gestorben waren immer nur andere.
Ich wiederhole. Wir waren gesund und wir konnten und
wollten uns nie den Luxus erlauben, krank zu sein. Jetzt
ist die Krankheit ein Urteil. Ein Aussetzen des vorherigen
Lebens, vielleicht des Lebens überhaupt. Die Krankheit ist
Verlust, Leid. Sie widerspricht UNS, der Willenskraft, der
Kraft zu lieben.
Gleichzeitig gehören wir der Welt der Gesunden und Kranken
an, schrieb Susan Sontag. In unsere irdischen Reisepässe
sind beide Visa eingestempelt. Den einen hat man das Privileg
verliehen, den Planeten der Gesunden zu bewohnen. Für
sie ist das natürlich. So war es mit uns. Von Zeit zu Zeit besuchten
wir das Land der Krankheit, aber selten, notgedrungen
und eilig – um so schnell wie möglich wieder heraus zu
kommen. Jede Heimsuchung durch Krankheit, und sei sie
auch kurz und mit Perspektive auf Heilung, erschien uns als
Demütigung. Die Körper versagten ihren Dienst. Uns quälten
Fieber, Husten, Ausschlag und gebrochene Gliedmaßen.
Wir wollten fliehen. Fliehen zurück zu uns, ins Vaterland der
Gesunden, wo alles möglich ist.
Wir blieben nie für länger im Land der Krankheit, wir
mussten es nicht. Wir wurden dorthin nicht deportiert, vertrieben.
Solch eine Eventualität hatten wir nie in Betracht
gezogen – die Zwangsemigration in die Welt der Kranken.
Das Leben überwuchert vom Gewebe der Krankheit. Ihre
Attacke zerstört alles. Explosion. Dynamit. Kein Platz für
Umwege. Es zerstörte unser unerfülltes Schicksal von Innen.
Und alles was wir hatten, haben, wurde endgültig. Mehr wird
es nicht, und es wird nicht wie es war. Reisen, Kleidung,
Versprechen wiederholen sich nicht in der Form, wie vor
der Diagnose. Der Song von Cohen „I am your Man“, die
Krawatte von Armani, die Porsche-Ledersitze, das Buch von
Konwicki, Rollschuhe am See, gelbe Tulpen, berauschende
Lilien zur Begrüßung, alles andere, anders. Nicht mehr dieser
Geschmack. Der Beigeschmack von Asche.
Das Krankenhaus ist nun zum Lebensmittelpunkt geworden,
nicht wie bisher der Ort schneller, heimlicher Besuche
anderer.
Krankheiten gehen vorbei, so lehrte die Erfahrung. Hier
ist es anders. Noch immer kann (und will) ich die Diagnose
nicht akzeptieren, mich zu diesem Unterschied bekennen.
Wir widersprechen der Krankheit. Wir glauben, sie wäre
heilbar. Willenskraft soll uns Lebenskraft geben.
Die durchschnittliche Größe unseres Gehirns sind 1400
Kubikzentimeter (eineinhalb Liter Milch, genauso viel
Whiskey oder Sauerkrautsuppe?). Das Gehirn eines Mannes
wiegt von 1250 bis 1750 Gramm. Das macht aus dem
raffiniertesten Organ eineinhalb Kilogramm Kartoffeln oder
genau so viel Schweinenacken? Angeblich hatte der Autor
von Rudnin, Iwan Turgenjew das schwerste Gehirn – über
zwei Kilogramm.
Die stark gefaltete Obefläche des Gehirns ermöglicht es,
im Schädel die größte Anzahl von Nervenzellen zu „verpacken“.
Ihre wichtigste Schicht ist die Rinde (Cortex) mit einer
Dicke von nur 2-3 Millimetern, die Hauptzone für Informationsverarbeitung,
besonders der Prozesse, die mit bewusster
Repräsentation verbunden sind. Die Rinde hat eine große
Oberfläche (wie ein riesiges Feld), und damit sie im Schädel
Platz findet, muss sie gepresst werden, daher die Faltung und
die Furchen. Das was in uns am wichtigsten ist, sieht aus
wie ein zerknülltes Stück Papier. Es ist einmalig, sowie die
Papillarlinien in der Hand.
In die Operation gingen wir blind. Wir wollten nicht zu
viel wissen.
Der vordere Teil des Gehirns, also der Stirnlappen nimmt
etwa 40% von der Gesamtheit ein, er ist für die Eigenschaften
zuständig, die uns als Menschen charakterisieren. Hier
also ist der Sitz der Ambitionen von H. und seiner inneren
Kraft, sein Zauber und seine Überzeugungskraft.
Hier wird das Wissen gespeichert – in Gestalt von Begriffen
in Verbindung mit der Sprache. Das alles soll unangetastet
bleiben. So wie alle Arten des Gedächtnisses – das episodische,
semantische, prozedurale und deklarative Gedächtnis.
Die Panik nahm mir die Erinnerung. Über Wochen funktionierte
ich wie betäubt. Wie eine Marionette aus Papier,
bewegt von der Notwendigkeit, dem Kranken zu dienen.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ich führte konkrete Tätigkeiten aus, Aufgaben, Bewegungen,
Gespräche, ich handelte, holte, zog ihn um, kaufte
ein, wusch, fütterte. Als die Zeit kam, sprach ich mit dem
Rabbiner über die Bestattung, und vorher mit Onkel Janek
und Martin über Geld und die Trauerfeier. Ob er verbrannt
werden möchte? Juden werden nicht kremiert. Ob ich das
wüsste? Nein, ich wusste es nicht. Ich wusste, dass er einige
Fotografien im Sarg haben wollte. Ein Sarg, wenn ein Sarg,
dann wird es keine Asche geben. Welche Fotos – und wer
macht die Abzüge? Auf den Friedhof, auf dem Esters Eltern
bestattet sind. Ich weiss nicht, wo sie bestattet sind. Fragen.
Im Norden der Stadt. Mit anderen Juden.
Aufschreiben. Aufschreiben, um es nicht zu verlieren. Das
riet Miłosz. Warum nicht verlieren? Vielleicht sollte man vergessen,
vielleicht wäre es besser so? Vielleicht rettet mich das
Vergessen? H. will nicht zu diesem Zustand zurück, er will
nicht wieder die Krankheit durchleben. Er tut alles, um die
Hoffnung zu stärken. Er ist sich sicher. Dass das Schlimmste
schon hinter uns liegt, das nichts endgültiges uns erwartet.
Er spottet über die Diagnosen und Statistiken. Zwei Jahre?
Warum nennen sie nur die schlechtesten Prognosen? Was
für eine außerordentliche Kraft muss man haben, um an
die Überwindung des unüberwindbaren zu glauben? Woher
nimmt H. sie? Von mir jetzt sicher nicht mehr. Aus mir kann
man nur Angst schöpfen.
Aus dem Polnischen von Bernd Karwen
Wydawnictwo Literackie
Cracow 2007
145 × 207 • 240 pages
paperback
ISBN: 978-83-08-04099-7
Translation rights:
Wydawnictwo Literackie
(except English rights)
English rights: Agata Tuszyńska
Contact:
Wydawnictwo Literackie
Agata Tuszyńska Vorübungen zum Verlust
37
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen
38
Photo: Elżbieta Lempp
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Warschau im Sommer 1939. Die 6-jährige Helena, ihre Eltern,
Brauereibesitzer, und ein recht leichtsinniges Kindermädchen
führen ein glückliches Leben. Das einzige Problem des Mädchens
ist das Fehlen von Geschwistern, sie freut sich also, als sie
eines Tages ein herrenloses Kätzchen findet. Obwohl ihre neue
Spielgefährtin klug ist und sprechen kann, kommt sie zu einem
anderen Mädchen, Brygida, der Schwester eines Brauereimitarbeiters.
Helenas Vater hat auch deutsche Geschäftspartner,
gleichzeitig unterhält er gute nachbarschaftliche Beziehungen
zu allen, auch zu Juden. So mancher von ihnen arbeitet in seiner
kleinen Fabrik. Der Kriegsausbruch und die antisemitische
Hetze sind nicht imstande, den alten Freundschaften Abbruch
zu tun. Als Freunde der Familie ins Ghetto gesperrt werden, organisieren
Helenas Eltern Hilfe. Die Aktion dauert den ganzen
Krieg und gilt nicht nur Menschen,
die sie kennen.
Helenchen wächst heran und hört
allmählich auf, sich über alles zu
wundern. Mit dem Vater besucht sie
das Ghetto, kommt mit dem Tod und
Todesgefahren unmittelbar in Berührung,
intuitiv spürt sie die Intensität einer Gefahr und lehnt
Erscheinungen eines polnischen Antisemitismus angewidert ab.
Sie berichtet über die Tragödie auf ihre eigene, kindliche Weise:
naiv, aber getreu, ohne ein drastisches Detail auszulassen. In
ihre Erzählung wird jedoch ein magisches Element eingeflochten,
die Katze, die Brygida aus dem Ghetto führt. Die ganze Geschichte
findet ihren Nachkriegsepilog, in dem die Schicksale
der Figuren weitererzählt werden, unter anderem eine Begegnung
Helenas und Brygidas in fortgeschrittenem Alter und der
Tod der Hauptfigur.
Joanna Rudniańska bedient sich einer recht selten verwandten
Technik, indem sie Krieg und Holocaust aus der Perspektive eines
Kindes erzählt, das die Massenvernichtung nicht unmittelbar
betrifft, zu deren Augenzeugen es aber wird. Die kindliche Perspektive
dient vor allem dazu, dieses Heldentum alltäglich zu
machen, es als Reflex natürlicher Menschlichkeit und Treue gegen
sich selbst zu zeigen. Dass sich die Botschaft des Romans an
erwachsene Leser richtet, beweist auch das dramatische Ende
der erzählten Geschichte.
Brygidas Kätzchen ist ein Appell, weder die Tragödie zu vergessen
noch diejenigen, die ihr nicht gleichgültig zusahen.
Marta Mizuro
Joanna Rudniańska (geb. 1948), von der
Ausbildung her Mathematikerin. Sie begann mit
Science-fiction-Erzählungen für Kinder und erhielt
den Internationalen Janusz-Korczak-Preis.
Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen
39
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen
40
Helena
wachte mitten in der Nacht
auf. Sie bekam keine Luft,
und ihr war schlecht. Sie hörte
ein fürchterliches Tröten. Dann erinnerte sie sich, dass sie im
Bunker war. Und das Tröten war das Schnarchen von Oma
Istman, die sich nie hinlegte, sondern die Nächte in dem alten
Sessel, der in einer Kellerecke stand, verbrachte. Es war absolut
finster. Helena streckte die Hand aus. Neben ihr hätte auf
dem Strohsack Stańcia liegen müssen. Aber Stańcia war weg.
Helena krabbelte auf allen vieren über Stańcias Strohsack
und gelangte, ohne aufzustehen, zur Tür. Im Dunkeln kam
man wie ein Hund oder eine Katze besser voran, auf Händen
und Füßen, fast wie auf vier Pfoten. Man kann nicht stolpern
und hinfallen, und mit dem Kopf spürt man die Hindernisse
besser. Helena stand erst bei der Tür auf. Langsam drückte sie
die Klinke herunter und verließ den Bunker. Erst dann hörte
sie die Flugzeuge. Das dumpfe Röhren kam näher, entfernte
sich wieder. Hier war es auch dunkel. Helena ließ sich wieder
auf ihre vier Pfoten fallen und kletterte nach oben, zu dem
kleinen Flur, von dem aus man auf den Hof hinauskam. Sie
schloss die Tür fest und trat ins Freie.
Der Morgen musste bald grauen, denn der Himmel war
viel heller als die Finsternis unten. Kein einziges Licht brannte.
Der Mond, der sich hinter die Wolken schob, tauchte
alles in einen fahlen Glanz. Helenas Haus und das Mietshaus
nebenan waren schwarze Felsen. Helena ging zu ihrem
Maulbeerbaum. Auf ihn konnte sie mit geschlossenen Augen
klettern. Und das tat sie auch.. Sie öffnete die Augen erst, als
sie weit oben war. Sie hörte Flugzeuge. Sie flogen von der
Weichselseite heran, vier große, schwere Vögel. Sie warfen
Bomben. Vor den vom Mond durchstrahlten Wolken konnte
man deutlich kleine Päckchen aus den Flugzeugbäuchen
fallen sehen. Helena bekam Angst, dass so ein Päckchen auf
sie oder ihr Haus fallen könnte. Trotzdem sah sie hin. Und
die Flugzeuge kamen immer näher. Irgendwo weit weg, vielleicht
sogar in der Altstadt, war roter Feuerschein zu sehen.
Das waren Brandbomben, hoffentlich fallen sie nur nicht auf
mein Haus, dachte Helena.
„Geht weg! Geht weg!“, schrie sie laut.
Aber vier Flugzeuge kamen langsam genau hierher, zu Helenas
Hof, immer größer und fürchterlicher. Helena sah von
oben auf ihr Haus. Es schien ihr so klein neben dem hohen
Mietshaus. Und plötzlich sah sie jemanden auf dem Dach.
Und die Flugzeuge waren schon ganz nah. Dann lief die Gestalt
auf dem Dach zwei Schritte. Es war Stańcia, Helena
erkannte sie. Stańcia hatte einen Besen in der Hand. Auf das
Dach fiel eine Bombe. Stańcia holte aus und fegte die Bombe
mit einem Ruck vom Dach. Dann fiel eine zweite, und
Stańcia fegte sie wieder runter, auf den Hof. Noch eine Bombe
fiel auf das schräge Dach des Mietshauses und kullerte direkt
auf das Dach von Helenas Haus. Die fegte Stańcia auch
runter. Drei Bomben lagen rotglühend im Hof. Die Flugzeuge
flogen weg. Auf dem Hof erschien Stańcia, schaufelte
Sand aus der Truhe, die bei der Brauerei stand, und bedeckte
die Bomben damit. Sie blickte in den Himmel und ging ins
Haus. Helena kam vom Baum runter. Der Hof war leer. Es
war schon fast völlig hell. Helena sah Vater und Herrn Kamil.
Sie standen auf dem Fabrikdach. Herr Kamil rauchte
eine Zigarette. Sie sprachen, stützten sich auf die Stöcke, die
sie in den Händen hielten. Helena lief ins Haus. Ganz leise
ging sie in den ersten Stock, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Das
war sehr angenehm – den Kopf an sein Kissen schmiegen
und sich in die eigene Decke kuscheln. Mama hatte Recht,
dass sie nachts nicht in den Bunker ging. Ich würde das auch
gern tun, dachte Helena. Sie schlief sofort ein.
Es war morgen. Helena betrat genau in dem Augenblick
die Küche, als Stańcia die Milch warm machte. Stańcia
schaute angespannt in den Topf, die Milch konnte jeden Augenblick
überkochen.
„Du warst heute nacht auf dem Dach. Ich habe dich gesehen.
Beim nächsten Mal komme ich mit aufs Dach und
werde Bomben wegfegen“, sagte Helena.
Stańcia drehte sich zu Helena um. Und genau da kochte
die Milch über. Zischend lief sie über die heißen Herdringe,
und die Küche durchdrang ein unangenehmer Gestank.
„Jessesmaria!“, schrie Stańcia und schob den Topf zur Seite.
„Das hast du geträumt. Ich auf dem Dach? Was du dir so
ausdenkst.“
Wie war das also, dachte Helena. Habe ich das geträumt
oder nicht? Wie war es wirklich? [...]
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ein paar Tage später kam Róża, Mamas beste Freundin.
Helena mochte sie sehr. Sie sprach sie mit dem Vornamen
an, weil Róża das so wollte. Róża und Mama waren die
schönsten auf der ganzen Welt. Róża hatte schwarzes Haar,
und Mama goldenes, und zusammen sahen sie aus wie zwei
Märchenprinzessinnen. An diesem Tag schien Róża anders
zu sein als sonst. Sie gab Helena nicht einmal einen Begrüßungskuss.
Sie setzte sich in die Küche und holte Zigaretten
aus der Handtasche.
„Frau Róża! Sie haben doch nie geraucht! Ich habe Dzidzia
immer gesagt, dass sie sich an Ihnen ein Beispiel nehmen
soll!“, rief Stańcia aus.
„Was ist passiert? Warum rauchst du?“, fragte Mama und
nahm sich auch eine Zigarette aus Różas Schachtel.
„Und du, warum rauchst du?“, fragte Róża trübsinnig und
zündete die Zigarette an.
„Seit wann rauchst du?“, fragte Mama weiter.
„Seit letzten Sonnabend. Seit unser Haus niederbrannte.“
„Mein Gott! Wie konnte ich das nicht wissen! Dein Haus?
In der Wilcza?“
„Ich habe immer geschlafen, wenn Luftangriff war“, sagte
Róża. „Ich steckte den Kopf unter die Decke und dachte, es
wäre am besten, wenn ich einschlafe und nach dem Luftangriff
aufwache. Dann würde nichts passieren. Um nichts in
der der Welt wollte ich in den Bunker runter, obwohl Vater
mich deswegen furchtbar anbrüllte.“
„Oh, Gott! Ihr wohnt doch im letzten Stock, direkt unterm
Dach!“
„Wir wohnen nicht mehr. Ich hatte sehr fest geschlafen,
aber sie hatten mich geweckt. Sie zerrten an mir und schrieen,
dass es brannte. Ich warf einen Mantel übers Nachthemd
und lief runter. Stand auf der Straße und sah zu, wie die
Gardine in meinem Zimmer Feuer fing. Weißt du, die rosa
Gardine. Ich weinte. Ein Mann stand neben mir. Beruhigen
Sie sich, sagte er. Ich habe noch eine Zigarette, zünden Sie
sie sich an. Und ich zündete sie an. Die erste in meinem
Leben, obwohl Mama nicht weit weg stand. Schließlich bin
ich erwachsen, dachte ich.“
„Schön erwachsen“, brummte Stańcia.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Wydawnictwo Pierwsze
Lasek 2007
130 × 180 • 160 pages
hardcover
ISBN: 83-923288-8-9
Translation rights:
Syndykat Autorów
Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen
41
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Mariusz Sieniewicz Die Rebellion
42
Photo: Grzegorz Czykwin
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Mariusz Sieniewicz hat sich bereits zu erkennen gegeben als ein
Schriftsteller mit einer originellen und ungezügelten Phantasie,
möglicherweise ist er neben Jacek Dukaj der einzige Prosaist
der jüngeren Generation, der imstande ist, in seinen Texten
vollkommen neue Welten zu erschaffen. Im neuesten Roman,
Die Rebellion, hat sich Sieniewicz jedoch selbst übertroffen.
Das Buch ist eine Dystopie, in der in überzeichneter Form die
Ängste und Probleme der Moderne gezeigt werden. Sieniewicz
beschreibt „die Zivilisation des Großen Knirpses“, in der
der Terror der Jugend, Schönheit und Gesundheit herrscht und
das Alter verfolgt und ausgeschlossen wird. Die Handlung des
Romans spielt vor allem auf der imaginären „Insel der Alten“,
wo die Alten unter der Aufsicht von metrosexuellen „Mädgen-
Jungels“ (die Insel funktioniert ein bisschen wie ein Arbeitslager)
die Leichen junger, schöner Menschen einbalsamieren, die
im Mausoleum zur Ehre der Jugend
ausgestellt werden sollen. Aber die
Herrschaft der sich als Gebieter
aufspielenden Jugend ist nicht gottgegeben,
die verzweifelten Alten bereiten
eine „geriatrische Revolution“ vor, an deren Spitze Błażej
Kolumbus steht, der etwas von den Erlösern des Alters, etwas
von Neo aus dem Film Matrix (Sieniewicz mischt im Roman
Bezüge zu „Texten“ verschiedenster kultureller Register) hat…
Sieniewicz hat sich bereits mehrfach mit dem Problem des Ausschlusses
und der Marginalisierung von Menschen und ganzen
Gesellschaftsgruppen beschäftigt, auch häufiger schon hat er mit
seinen Texten bewiesen, dass man über diese Dinge in einer
Sprache schreiben kann, die mit dem Stil von Propaganda wenig
gemein hat. Sieniewicz schreibt nicht nur über die Rebellion der
Alten, die Rebellion findet auch in der Sprache seines Romans
statt, in dem verschiedene Sprachvarianten aufeinanderprallen,
Klischees der Gegenwartssprache wechseln sich mit einer poetischen,
symbolgeladenen Metaphorik ab. Fast jeder Satz von
Die Rebellion wird für den Leser zu einem sprachlichen Abenteuer.
Würde Witkiewicz heute leben, er würde sicherlich wie
Sieniewicz schreiben!
Robert Ostaszewski
Mariusz Sieniewicz (geb. 1972),
Prosaschriftsteller, Feuilletonist, wurde ins
Deutsche, Litauische, Russische, Kroatische
und Slowenische übersetzt.
Mariusz Sieniewicz Die Rebellion
43
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Mariusz Sieniewicz Die Rebellion
44
Das
gigantische Bauwerk erinnerte an ein Gotteshaus
der Neorenaissance, das man in einen
kosmischen Meteoriten gehauen hatte.
Das dem galaktischen Erz innewohnende Sakrale war hier
sicherlich am besten aufgehoben. Risse gleich länglichen
Glasfenstern zersprengten die Steinmauer, während die mit
Ornamenten verzierte Kuppel – die an manchen Stellen von
Moos überwachsen und von jedem Winkel der Insel zu sehen
war – wie der Panzer einer futuristischen Schildkröte
aussah. Vom oberen Teil der Fassade schielte das gigantische
Auge eines Mandalas. Darunter eine anonyme Inschrift:
jugend währt ewig, ist ein ewiger jungbrunnen –
niemand vergisst sie, und jeder bleibt ihr treu.
Zum gusseisernen Eingangstor führte ein über drei Steinstufen
gelegtes Brett, vor dem die Spur der Lastwagen abbrach.
Kaktus sah nach links und rechts und flüsterte,
nachdem er die hoch angebrachte Klinke über seinem Kopf
gedrückt hatte:
„Hilf mir, Błażej, verdammt noch mal! Du solltest größer
sein als ich, da du auf einer höheren Stufe stehst.“
„Mann, du hast aber einen Leiterkomplex“, gab Kolumbus
zurück.
Sie schoben das Tor auf. Es knarrte fürchterlich. Brrr… der
reinste Horror! Eisige Kälte umfing sie – frostiger als in einem
Kühlhaus. Es fehlte nur noch, dass vom fäuligen Friedhof
her ein Wolf heulte und der Schatten einer Hand mit
einem Messer über die Mauern huschte. Kolumbus bereute
seine Neugier. Er hörte Orgelmusik. Jemand war am Spielen,
jedoch die Reinheit und der Fluss der Musik ließen sehr zu
wünschen übrig. Die Töne brachen ab, klangen falsch, waren
flach und unregelmäßig. Passender wäre die Feststellung
gewesen, dass jemand erst dabei war, sich die Geheimnisse
der Noten, Oktaven und Violinschlüssel anzueignen, ohne
jedoch den richtigen Schlüssel zu dieser unzugänglichsten
aller Künste zu finden.
„Ganz ruhig. Der Große Knirps müht sich am Keyboard
mit Bach ab. Matthäuspassion“, antwortete Kaktus sofort,
als sie das Innere des Gotteshauses betraten, das in fluoreszierendes
Licht getaucht war. „Hab keine Angst. Außer seinem
Spiel hört und sieht er nichts. Manchmal glaube ich, dass er
taub und blind ist. Der faschistische Narziss!“
Aber Kolumbus’ Miene war bereits der Beweis für die unter
Philosophen beliebte These, dass allein die Fähigkeit, sich zu
wundern, den denkenden vom gedankenlosen Geist unterscheidet.
Er stand mit offenem Mund da, wie ein Geschöpf,
das sich seiner Erbärmlichkeit bewusst ist, vor dem „etwas“
auftaucht, was menschliches Maß und Verstehen übersteigt...
Sich die verschiedensten Wachsfigurenkabinette der
Welt zugleich vorzustellen, hieße, sich nichts vorzustellen.
Gedanklich alle nur möglichen Magazine und Garderoben
auf der Erdkugel mit ihren unzähligen Puppen, Marionetten
und Mannequins zu erfassen, hieße, nur den Schatten des eigenen
Gedankens zu erfassen. Mit enormer Willensanstrengung
sämtliche Geheimlabors, in denen mithilfe chemischer
Formeln der fortgeschrittenen Wissenschaft die Zucht des
modernen Homunkulus betrieben wird, an einem Ort zu
versammeln, hieße, den Willen eines Hohltiers zu haben.
Denn auf Sockeln und Podesten, Untersätzen und Postamenten
standen hier mumifizierte Körper, die man auf Stangen
aufgespießt hatte. Nicht enden wollende Legionen von
Körpern! Von nackten und jungen Körpern. Körpern, die
man zu Paaren verbunden hatte oder die in ihrer Einsamkeit
über die Monaden grübelten.
„Wir haben das Beste aus der Geschichte des vergangenen
Hundertgartens und aus der heutigen Zeit gesammelt“, teilte
Kaktus mit, wobei eine kleine dichte Dampfwolke aus seinem
Mund entwich. „Natürlich ist es das Beste gemäß dem
Großen Knirps und den Jungels. Wenn ich etwas zu sagen
hätte, würde ich ganz andere verewigen“, schränkte er ein.
„Wenn du willst, schau dich um. Obwohl das Museum noch
nicht fertig ist und erst für die zukünftigen Generationen
vorbereitet wird.“
Kolumbus war etwas eingeschüchtert, wie sollte man hier
auch nicht eingeschüchtert sein, wenn die angeblich berühmtesten
Exponate der Vergangenheit, die schließlich, wäre
nicht Kolumbus’ Gedächtnisschwund gewesen, ein Dokument
seiner Vergangenheit sein könnten, von ihren Sockeln
auf einen heruntersahen. Mut machte ihm Juanita Loslobos.
Sie stand, als hätte jemand die Tänzerin während eines Walzers
verzaubert. Worobiow hat das gut wiedergegeben, ur-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
teilte er und ging weiter. Diese ersten menschlichen Götter,
von der Tür aus gezählt, schienen ihm recht gewöhnlich und
durchschnittlich zu sein, selbst auf den Kärtchen stand nicht
viel. Irgendein „Max Coldwey. DJ. US“ mit einem Plattenspieler
in der Hand, ein „Otto Schmidt. Designer. D“ mit
erhobenem Haupt oder ein „James Peadlow. Snowboarder.
GB“, der ein gekrümmtes Stück Brett unter dem Arm hatte.
Je weiter er aber in die mumifizierte Welt der Körper, Köpfe
und Hände eintauchte, die in den raffiniertesten Posen
erstarrt war, desto größer wurde seine Neugier und Begeisterung,
und das Pantheon der Unsterblichen schien kein Ende
zu haben. Zunächst blickte er verstohlen auf das Kärtchen,
um zu wissen, mit wem er die Ehre hatte, dann bewunderte
er die fachmännische Arbeit der Juvenilarbeiter. Bei allen
Mumien fielen die meisterhaft vollendete Haut, das atemberaubende
Spiel der Muskeln sowie das ideale Verhältnis
von Gliedern und Oberkörper ins Auge. Körper ohne Makel
und Falten lockten mit ihrer polierten Glätte. Die Perfektion
rühmte sich ihrer selbst – von Fuß bis Kopf, von einem Gott
zum nächsten. Die Betagtesten waren nicht älter als dreißig
Gärten. Der vergangene, obwohl noch nicht abgeschlossene
Hundertgarten musste eine fürchterlich jugendliche Zeit gewesen
sein.
Oh, wer war denn der Junge mit dem apollinischen,
schokoladenbraunen Körper und den schalkhaften Fransen
anstelle von Haaren? Das Täfelchen lieferte sogleich die
Antwort: „Bob Marley. Musiker“. In der Hand hielt er eine
Gitarre, die Kolumbus an die Worte eines alten Liedes erinnerten:
ein Junge mit ‘ner Gitarr, wäre für mich ein Paar, ein
Pararar-rara-ra... Nach ihm eine Mumie mit großen Rehaugen
– „Kurt Cobain. Musiker.“ Und die Blondine, die Gold
und Rouge aufgelegt hatte, das war sicherlich Miss Mausoleum
– „Barbara Handler. Barbie.“ Daneben, die schlanken
Hände ihr entgegengestreckt: „Ken Handler. Ken“. Ein
merkwürdiger Beruf, „Barbie“ oder „Ken“ zu sein.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 376 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-332-5
Translation rights: W.A.B.
Mariusz Sieniewicz Die Rebellion
45
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel
46
Photo: Gunnar
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Wiegenlied für einen Galgenvogel ist eine kurze Erzählung über
Freundschaft und Wahnsinn. Die Fabel dieses kleinen, stimmungsvollen
Werks ist deutlich autobiografisch gefärbt. Klimko-
Dobrzaniecki lebte bis zum Juni 2007 zehn Jahre lang in Reykjavík,
wo er zunächst ein Studium der isländischen Philologie
begann und später in verschiedenen Berufen arbeitete, am längsten
als Pfleger in einem Heim für Alte und geistig Behinderte.
Einen Teil dieser Erfahrungen verarbeitete er in einer der Erzählungen,
aus denen sein im vorigen Jahr erschienenes Diptychon
Rosas Haus. Krýsuvík besteht.
Die Ereignisse, von denen im Wiegenlied für einen Galgenvogel
die Rede ist, sind eine eigentümliche Ergänzung der früheren Erzählung
und erweitern das Feld der Personen und Dinge. Hier
erscheinen Gestalten, die wir aus Krýsuvík kennen (der autobiografische
Erzähler und Held, seine Frau Agnieszka, der exzentrische
Kroate Boro), sowie die wichtigste Figur, der Musiker Szymon.
Das Wiegenlied ist eine Hommage an einen Freund, der in
jungem Alter Hand an sich gelegt hat.
Die Erzählung ist ein Versuch, seine
außergewöhnliche Persönlichkeit,
von der Kunst und Wahnsinn gleichermaßen
Besitz ergriffen hatten, zu fassen und zu erklären.
Die Fragen nach den Gründen für den Selbstmord des Freundes
werden hier nur mit größter Zurückhaltung gestellt. Der Erzähler
vermeidet es, den scheinbar offensichtlichen Zusammenhang
zwischen der Krankheit und der Verzweiflungstat herauszustellen.
In der Welt dieser im Grunde realistischen und in der
Wirklichkeit stark verwurzelten Erzählung ist die Grenze zwischen
der sogenannten Normalität und dem Wahnsinn weniger
verwischt als vielmehr höchst problematisch. Szymon war – wie
alle Personen im Wiegenlied für einen Galgenvogel – ein außergewöhnlicher
und doch zugleich ganz gewöhnlicher Mensch,
jemand, von dem man sagt: „ein guter Kumpel“. Warum er sich
das Leben nahm, muss ein Geheimnis bleiben.
Hubert Klimko-Dobrzaniecki (geb. 1967),
Schriftsteller, Autor von vier Prosabänden.
Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel
47
Dariusz Nowacki
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel
48
Der
Ozean wuchs, schwoll an und füllte den
Meniskus zwischen dem Ende der Halbinsel
und den Ufern der zeitweiligen Insel.
Erst jetzt sehe ich mit aller Klarheit, dass das alles nur
Schein ist, denn jedes Mal fehlt ein Element. Allmählich
wird das Puzzle unvollständig. Unwiederholbarkeit. Sätze,
Wörter, Bilder, Noten, auf Notenlinien geschrieben, die
Art, eine Zigarette zu rauchen, ein Maßkrug mit Lücken
in seinem Rand. Die Unwiederholbarkeit lebt, verwandelt
sich in Erinnerungen, wird von Generation zu Generation
weitergegeben, verzerrt, aufgeblasen oder verkleinert. Mündliche
Überlieferungen, mein persönliches Dilemma mit der
Bibel… Ich beschloss, nicht zweihundert Jahre zu warten.
Vielleicht hat die Sache mit Gott wirklich erst einmal ruhen
müssen. Ich habe das unwiderstehliche Bedürfnis, die
Geschichte einer Freundschaft aufzuschreiben, eines kleinen
Abschnitts des Lebens. Szymon ist weggegangen. Er ist jetzt
nicht in der Stadt. Man kann ihm nicht auf der Straße begegnen.
Das fehlt mir am meisten…
Ein Streifen in den Wolken, zurückgelassen, bis er sich auflöst
oder ein anderes Flugzeug ihn kreuzt. Ein paar Worte,
dahingeworfen im Bus auf der Fahrt ins Zentrum, eine Zugreise.
Kennengelernt haben wir uns weder im Bus noch im
Flugzeug noch im Zug. Ohne Nebengeräusche, das Brummen
des Motors, das Rattern der Räder, ohne Schaukeln
und Turbulenzen. Der uns miteinander bekanntmachte,
hieß Boro und war ein „freigelassener“ Irrer, der weiterhin
in der Abteilung wohnte. Von Zeit zu Zeit drehte er durch.
Vor allem im Sommer, wenn alles grün war. Er hatte einen
ganzen Satz von Tabletten gegen das Grün. Die Ärzte waren
zu dem Schluss gekommen, er sei bereits in Ordnung und
man müsse ihn nicht wegschließen. Er müsse nur Medikamente
nehmen. Einmal schien es mir, als würden in meinem
Auto gleich Blätter aus ihm sprießen, als würde er sich gleich
in Grünzeug verwandeln. Ich sah, wie er schwitzt und dann
nach den Tabletten greift und zu schreien beginnt: Jetzt,
jetzt, jetzt. Er schrie, er verwandele sich in ein Moosfeld und
dann in eine große Rasenfläche. Ich weiß auch nicht, vielleicht
war es die Gesellschaft geistesgestörter Menschen, die
es mir erlaubt hat, normal zu bleiben… Vielleicht hat die
Tatsache, dass ich eine Rasenfläche, ein Moosfeld, eine große
Gurke oder Wassermelone durch die Gegend fuhr, mich davor
bewahrt, Napoleon zu werden oder die Heilige Teresa.
Boro durfte weiterhin im Irrenhaus wohnen, auch wenn
die Ärzte darauf drängten, er solle ausziehen. Essen bekam
er nicht mehr. So fuhr ich immer wieder zu ihm und nahm
ihn mit zu Ikea, wo es in der Stadt die billigsten Hot Dogs
gab. Gemeinsam stopften wir uns mit ihnen voll und tranken
Fanta dazu. Eines Tages sagte er, in der Abteilung sitze
ein Pole, ein Geiger. Er fügte ein paar Fucks hinzu, denn er
fluchte für sein Leben gern auf Englisch, er sagte, erst wenn
er ein paar Kraftausdrücke ausgestoßen habe, spüre er, dass
er lebe, und er tat es am laufenden Band.
Im hiesigen Psychiaterslang galt Szymon als ein Kaninchen
aus dem Hut. Kaninchen sind Patienten, die für einige Zeit
auftauchen und dann verschwinden, wieder auftauchen und
so weiter. Halbwegs geheilt und ab ins Leben. Dann ein Tief
und wieder in die Abteilung. Abteilung und Leben, Leben
und Abteilung. Ein Kaninchen … Ich sagte Boro, er solle
mal mit dem Pfleger reden und dieser mit Szymon und
dem Arzt, vielleicht könnten wir zusammen zu Ikea fahren,
Würstchen essen. Und eines Tages verdeckte diese riesige
Gestalt, diese menschliche Eiche ohne Zähne, Boro, mit seinem
Schatten eine schmächtige Gestalt mit Drahtbrille. Ihr
silbernes Brillengestell warf den Lichtstrahl des Autoscheinwerfers
zurück, und Boro wurde in einer Sekunde zu jener
slawischen Eiche, die vom Blitz getroffen wird und um die
sich die Ansässigen versammeln, um sich magischen Tänzen
hinzugeben. Die Gestalt mit der silbernen Brille schritt um
ihn herum, den Kopf künstlich in die Höhe gereckt, und
schaute ihm in die Augen, diesem Stück Kroatien, diesem
Stück mythischen Waldes, diesem Baum, dieser Eiche, diesem
Verrückten. Plötzlich schaltete der Oberarzt der Psychiatrie
das Auto aus, und die Scheinwerfer verloschen. Szymon
blieb in Boros Schatten stehen und blickte zum roten Volvo
hin. Der Arzt stieg aus dem Auto und fragte. Zu Ikea, ja?
Nur zu Ikea, Würstchen essen, ja. Darauf wackelten sie einmütig
mit den Köpfen und kamen zu mir.
Der Mann, der äußerlich an Korczak, Maximilian Kolbe
und Gandhi erinnerte und hinter einer Brille verborgen war,
zurück zum Inhaltsverzeichnis
die bei gutem Wetter ein Kornfeld oder eine große Scheune
hätte in Brand setzen können, stellte sich vor. Ich bin
Szymon Kuran. Freut mich sehr, antwortete ich. Nein, ich
habe die Freude, entgegnete er, und dir scheint es nur so. Ja,
vielleicht hatte er recht, vielleicht freute es ihn tatsächlich
und mir schien es nur so, aufgrund der angelernten Erwiderung.
Das nennt man wohl gute Erziehung. Ein Gemisch
von Verboten und klimatischen Bedingungen. Szymon aß
gerade einen Hot Dog, ich wollte ihn wohl etwas fragen, da
schaltete sich Boro ein. Also was ist mit diesen Steinen, lispelte
er. Ganz normal, erwiderte ich. Du musst wie die Hühner
oder Strauße, die haben auch keine Zähne, und damit
die Verdauungsprozesse richtig ablaufen, schlucken sie kleine
Steinchen, die das Essen wie Zähne zerkleinern. Szymon
hörte mein kurzes Referat zur Gastrologie und war erstaunt
darüber, wie ich den Gedankengang verkürzt und das Thema
so unsinnig und von der Mitte her angefasst hatte, er legte
das Wurstpapier auf den Tisch und begann leise zu lachen,
während Boro und mir ja bewusst war, dass das die Fortsetzung
unseres unvollendet gebliebenen Gesprächs aus dem
vorigen Monat war, über den Kauf eines künstlichen Kiefers
oder eines Sacks mit Steinchen. Als Boro seine Reaktion sah,
beendete er den Satz so wie immer. Auf Englisch und kurz.
Fuck you, sagte er und aß den Hot Dog auf, wobei er sich
das große Ende ostentativ in den Mund stopfte.
Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck
Czarne
Wołowiec 2007
145 × 170 • 96 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7536-003-5
Translation rights: Czarne
Rights sold to:
France/Editions Belfond
Hubert Klimko-Dobrzaniecki Wiegenlied für einen Galgenvogel
49
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa
50
Photo: Kasia Kobel
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Der neue Roman von Michał Witkowski ist eine weitere „Beichte
eines Kindes des (vergangenen) Jahrhunderts“ in unserer Literatur.
Aber dieses Kind ist wie man vom Autor von Lubiewo
erwarten durfte nicht etwa irgendeines, es ist ein besonderes.
Erzähler des Romans ist Hubert, ein Mann im besten mittleren
Alter, der seine chaotischen Erinnerungen – voll von Rückblenden
und plötzlichen Zeitsprüngen – erzählt. Und zu erinnern hat
er genug! Hubert ist ein kleiner Fisch in der kriminellen Halbwelt
der Bergarbeiterstadt Jaworzno-Szczakowa. Er handelt mit allem
Möglichen, betreibt ein halblegales Kino, in dem er Filme
von Videokassetten abspielt, ist Besitzer eines Leihhauses, geht
der Schuldeneintreiberei und Hehlerei nach.
Aus dem, was ich bisher geschrieben habe, könnte hervorgehen,
daß Witkowski eine Geschichte erzählt, wie es sie in unserer Literatur
bereits viele gegeben hat, von der verrückten Wendezeit,
von dem Ende der VR Polen und den Anfängen der 3. Republik
Polen. Dennoch ist im Grunde die
Figur des Hubert die wichtigste im
Roman. Woher also stammt diese
Barbara Radziwiłłówna im Buchtitel?
Hubert identifiziert sich mit jener
kontroversen früheren Königin
Polens, genau so wird er in seiner kleinen Welt genannt. Der
Erzähler von Witkowskis Roman ist ein Träumer und Phantast,
ein Mensch, der von Widersprüchen hin- und hergerissen wird;
einerseits denkt er nüchtern, ist fest in der Gegenwart verankert,
schaut aber gleichzeitig sehnsüchtig in die Vergangenheit und
versucht, eine Familiengenealogie aufzubauen bzw. zu erfinden,
er spielt sich als rücksichtsloser Mafioso auf, ist dabei jedoch
„weich“, sentimental und zartfühlend, er glaubt ebenso fest an
Gott wie an Weissagungen und Horoskope. Hubert empfindet
sich als anders, was zur Folge hat, dass er unglücklich ist, „gefangen
in seinem Leben wie in einem Gefängnis“. Den Roman
des Autors von Lubiewo muss man vor allem als Geschichte eines
Sonderlings lesen, der verzweifelte Versuche unternimmt,
seine Träume zu verwirklichen, er sucht Liebe (er ist unglücklich
in seinen Angestellten Sascha, einen ukrainischen Muskelprotz,
verliebt), Glück und Akzeptanz.
Robert Ostaszewski
Michał Witkowski (geb. 1975), Prosaschriftsteller,
Feuilletonist, Autor des viel
beachteten, in zahlreiche Sprachen übersetzten
Romans Lubiewo.
Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa
51
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa
52
Genau.
Ich seufze. Der Brünette. Brünet-te.
Den örtlichen Laubenpieper
nicht mitgezählt, der
sich im Komitee was zusammengeklaut und an die zwanzig
Gewächshäuser errichtet hatte, war ich der Reichste in ganz
Jaworzno. Er aber hatte einen Gemüseladen. Und Gemüseladen
bedeutete damals nicht: ein Laden mit Gemüse, sondern
mit allem! Mit Kaugummi, mit saurer Mehlsuppe in der Flasche
(bäh!), sogar solche Einmal-Schuhe, aus Papier, konnte
man dort kaufen. So sah also auch sein Gemüse aus. Jeden
Sonntag fuhr er mit seinem Peugeot bei der Kirche vor, im
schwarzen Pelzmantel, mit Pelzmütze aus der UdSSR, total
eingemummt, zum Schreien! Gelobt sei der Herr! Hatte sich
goldene Zähne besorgt, Jogginganzug, oh ja, dem geht es
gut! Ich konnte mich nicht konzentrieren, spielte unter der
Bank nervös mit den Autoschlüsseln. Schlimmer noch: ich
sandte frevlerische Gebete an die Ewige Jungfrau Maria, sie
möge ihm Krebs schicken! Ich bin ein tief gläubiger Mensch,
ich liebe Gott – und besonders die Muttergottes. Also: Krebs
für ihn und meiner Tante Aniela, von der ich mir eine Erbschaft
erhoffe, den Tod. Aber der hatte keine Angst vor Gott!
Hatte seine Finger in diese ganze Mafia getunkt, in die Diskothek
„Kanty“, in die „Retro“-Bar, das Café „Jaworznianka“,
dann, einige Jahre später, tunkte er seine schmutzigen
Finger in diese Night-Clubs, den Stangentanz an der Autobahn.
Praktisch die ganze Kabel-Straße war von ihm aufgekauft
worden, aber sagt selbst, ist das Jagiellonen-Geschlecht
nicht besser als diese kabelnden Laubenpieper?
Ich konnte mir nicht einmal einen Gemüseladen leisten,
aber wozu hab ich denn meinen Kopf? Ich fuhr nach Niewiadów,
Hitze, ich gehe, überreiche Kaffee, um zum Direktor
vorgelassen zu werden. Nur dass der eine Zuteilung von
Lochziegeln wollte, nun fahre ich wieder zum Direktor der
Baumaterialien-Fabrik, parke meinen Kleinen, gehe, überreiche
Kaffee, um zu ihm vorgelassen zu werden. Hitze. Und
der sagt: nix, Scheiße, hab ich nicht. Aber ich hatte Beziehungen
im Bereich Bobo-Kinderoveralls und sage zu ihm, es
ist soundso, ich hab’ Kinderoveralls. Ach herrje! Da wird die
Frau sich aber freuen! Für diese Overalls wiederum musste
ich eine Badewanne schwarz, außerhalb der Zuteilung,
beschaffen. Und so hab ich schließlich meinen Wohnanhänger
N 126 gekauft, den kann der Kleine ziehen. Statt fand
dies bereits Mitte der achtziger Jahre. Als Zdzisława Guca
im „Panorama“ angekündigt hatte, uns stehe lang anhaltend
schlechtes Wetter bevor, und die Gruppe „Lombard“
hatte hinzugefügt, „eisiges Wetter“. Als sie im „Panorama“
die Ankunft des Winters angekündigt hatte, die Ankunft
der Nacht, der schwarzen Nacht der achtziger Jahre. Damals
fingen die Menschen an, sich mit Siphons, Wohnanhängern
und DDR-Plastikwannen zum Baden von Säuglingen einzudecken.
All dies häuften sie an und begannen, sich eine
Arche zu bauen. Um abzuwarten.
Meine Bekannten hatten mich gefragt, was denn, Hubert,
bei diesem lang anhaltend schlechten Wetter hast du vor, mit
dem Wohnanhänger in die Ferien nach Jugoslawien zu fahren?
So schwere Zeiten, und du machst Ferien-Zeit? Ha, ha,
ha! Was für Ferien, wer hat denn was von Ferien gesagt? Ein
Lokal! Lo-kal, sagt euch das was? Ein gastronomisches Lokal
dritter Klasse, eine so genannte kleine Gastronomie, überbackene
Baguettes, Fritten, Hot Dogs bei der Radziwiłłówna
gibt es, wie man weiß, die besten. (Mit gerösteten Zwiebeln
drüber gestreut?) Der oberste Grundsatz im Überbackenes-
Geschäft? Den Leuten altes, verbrauchtes Öl andrehen, im
Toaster aufgefrischte längliche Brötchen, geriebenen Käse,
über den sich nichts Gutes sagen lässt, hier und da platt gedrückte,
mit (mit Wasser verdünntem) Ketchup überzogene
Champignons – all das gegen echtes Geld eintauschen. (Drei
achtzig sind angemessen.) Was die Champignons angeht, so
würde ich auch dafür nicht meinen Kopf hinhalten, aber der
Mensch ist kein Schwein – der isst alles. Und dass das Geld
bis vor kurzem so echt auch wieder nicht war, und was noch
schlimmer ist, jeden Augenblick anfangen konnte, einem
vor den Augen wegzuschmelzen – das war ja noch nicht die
Endstation des Geschäftes. Denn das Geld wiederum musste
man so schnell wie möglich in Goldbarren umtauschen
und in einer sorgsam bewachten Kassette aus echtem Stahl
verschließen. (Welche Sauce darf’s denn sein? Knoblauch-,
pikant, mild, Ketchup, Senf?)
Und sich die Hände reiben!
Erst Stahl und Gold erlaubten zumindest einen Moment
zurück zum Inhaltsverzeichnis
lang, einen Wert zu sichern. Einen, der unruhig von Wasser
und Champignons über Geld zu sichereren Erzen läuft.
Denn der Wert, das ist Strom, das ist Wasser: ohne Futter,
ohne Kabel irrt er träge umher, von irgendeiner ureigenen
inneren Unruhe getragen. Und weshalb sollte er nicht in den
sicheren Hafen unserer Kassette einlaufen? (Haben Sie vielleicht
zwanzig Groschen?)Alles in allem ist doch jedes Geschäft
von ähnlicher Natur – Scheiße verkaufen, irgendwas,
wenig dafür bekommen, aber in solchen Mengen, dass man
dieses Wenig, dieses „fast Nichts“ in zumindest ein bisschen
Wert umtauschen kann, einen Barren Gold oder einen Barren
gleichmäßig in einer Schatulle gestapelter Dollar. Die
man sich des Nachts hervorholen kann, betrachten, eventuell
liebkosen, küssen, dran schnuppern et cetera. (Darf’s
noch etwas sein für die gnädige Frau?)
Aus dem Polnischen von Marie Hauptmeier
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 256 pages
paperback
ISBN 978-83-7414-328-8
Translation rights: W.A.B.
Michał Witkowski Barbara Radziwiłłówna aus Jaworzno-Szczakowa
53
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Grzegorz Kopaczewski Huta
54
Photo: Johanna Möller
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Wir schreiben das Jahr 2008. Die Sonderzone Huta ist zu einem
Modellbezirk des postmodernen Polens, vielleicht sogar Europas,
geworden. Das ehemalige Industriegebiet wurde (nach
dem Vorbild eines real existierenden Kattowitzer Bezirks) in ein
elegantes Kondominium umgewandelt, in einen wunderschönen
Bezirk, der von erfolgreichen Geschäftsleuten und Kulturschaffenden,
Wissenschaftlern und Künstlern bewohnt wird.
Der Bezirk Huta ist im Roman eine Verbindung aus Silicon Valley
und Greenwich Village. Hier haben die internationalen Hightech-
Konzerne ihre Hauptquartiere, es wimmelt von Künstlerclubs
und Galerien. Mehr noch – in Huta scheinen sämtliche Utopien
der Bürgergesellschaft Wirklichkeit geworden zu sein, alle
Bewohner sind glückliche, kreative und von jeglichem Konsumzwang
befreite Menschen. Das Fantastische (Futurologische)
vermischt sich mit Elementen der Dystopie. Huta ist nämlich
auch ein Ghetto, eine künstliche Ministadt, die von einer hohen
Mauer umgeben ist und von hunderten von Kameras überwacht
wird. Außerhalb der Umzäunung liegt jenes Oberschlesien, beziehungsweise
Polen, das es nicht
geschafft hat.
In dieser Szenerie begegnet der
Leser dem Protagonisten Tomasz,
einem jungen Doktoranten der Soziologie, der einer Universitätsverschwörung
auf die Spur kommt, später Mitarbeiter eines
geheimnisvollen Instituts wird und an Duellen der Geheimdienste
teilnimmt.
Das Gesellschaftsexperiment Huta ist wissenschaftlich fundiert.
Alles nahm seinen Anfang mit den Schriften des Philosophen
und Soziologen Kaspar Kuhn, einem Zeitgenossen Hegels, der
nicht nur eine alternative Theorie zur marxistischen Lehre über
die dialektische Entwicklung von Gesellschaften, sondern auch
die Grundlagen der prognostischen Statistik, die unerlässlichen
Algorithmen usw. schuf. Was, nebenbei gesagt, Fiktion in der
Fiktion ist: Denn einerseits hat Kopaczewski Kuhn samt seinem
stürmischen Lebenslauf und seinem umstürzlerischen wissenschaftlichen
Werk erfunden, andererseits ist der deutsche Philosoph
– wie sich zum Schluss des Romans herausstellt – auch
eine Erfindung der Romanfiguren, und zwar einer Gruppe von
genialen, rebellischen und exzentrischen Gelehrten der Universität
Schlesien. Kopaczewski, und mit ihm der Leser, amüsiert
sich köstlich über den wissenschaftlichen Diskurs. Und eben das
ist die Stärke des Romans, und das Einmalige an ihm.
Dariusz Nowacki
Grzegorz Kopaczewski (geb. 1977),
Prosaschriftsteller. Autor von zwei Romanen.
Grzegorz Kopaczewski Huta
55
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Grzegorz Kopaczewski Huta
56
Mein
Umzug von Chorzów nach Huta dauerte
zwei Stunden. Kleider und Bücher
transportierte ich mit dem Taxi. Meine
ganzen Besitztümer passten in einen Opel Astra Kombi hinein.
Eigentlich besitze ich auch heute nicht mehr. Seit dieser
Zeit habe ich mir nichts Neues angeschafft. Besitz ist out in
Huta. Schlecht. Besitz ist überflüssig in Huta. Wozu brauchst
du eine Waschmaschine, wo es doch Cleanicum gibt, wozu
einen Fernseher, wenn es Teledromat gibt, was machst du
mit einem DVD-Player, wenn du ein Abo fürs Casablanca
hast, was mit einer Kaffeemaschine, wenn du über dem
Kaffeeholiker wohnst? Wozu brauchst du ein Auto, wo du
in Huta wohnst?
Gegen Abend als ich in der neuen Wohnung meine Sachen
schon ausgebreitet hatte, klopfte der Nachbar. Das Gesicht
kannte ich. Von der Versammlung. Schriftsteller – Sozialaktivist;
er war es gewesen, der mit immer neuen Anträgen
Joachim den letzten Nerv geraubt hatte.
„Hallo“, begann er schüchtern, während er sich misstrauisch
umschaute. „Ich bin der Nachbar. Von gegenüber. Ich
wollte mal Hallo sagen.“
Er hatte zwei Bier bei sich, das eine war schon angefangen.
Ich ließ ihn hinein.
„Gefällt es dir in Huta?“, bereits nach den ersten Worten
konnte man sich denken, dass er nicht gekommen war, um
sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Wir setzten uns
aufs Sofa. Er gab mir das andere Bier. Es war warm.
„Ganz okay. Und dir?“
„Immer weniger. Dafür machen sie immer mehr Druck.
Sie sagen, für meine Wohnung gäbe es sechs Interessenten.
Mit Preisen für Filme, Bücher und anderem Gedöns.
Aber das ist erstunken und erlogen, wie man weiß ist für
dieses Jahr das Wohnungskontingent für Künstler bereits erschöpft.“
Ich machte ein verdutztes Gesicht. „Ja. Sie haben
Kontingente für alle erwünschten Gesellschaftsgruppen. Ich
weiß das, weil ich eine Bekannte im Bezirksrat habe. Selbst
die Stipendien sind schon verteilt worden, wozu also diese
Drohungen? Angeblich ist alles völlig transparent, wird alles
öffentlich diskutiert, aber wenn es drauf ankommt, erpressen
sie dich. Alles ist angeblich ganz offen und tolerant,
aber wozu haben sie eine Mauer gebaut? Angeblich ist sie ein
Denkmal und musste restauriert werden, dabei weiß jeder,
dass es von Załęże bis hierher einen Zaun gegeben hat, aber
keine Mauer. Und was ist mit der Fußgängerbrücke zum Silesia
Center? Sie hatten Angst, dass die Leute zum Shoppen
ins Einkaufszentrum gehen, weil es billiger ist, also haben sie
keine Genehmigung erteilt. Angeblich haben die Bewohner
per Volksentscheid den Bau abgelehnt, aber was ist das für
eine Abstimmung vom Homecomputer aus. Wenn jemand
keinen hat, stimmt er nicht ab. Und ihnen ist es egal, ob du
einen hast. Ich aber hatte zu der Zeit gerade Probleme und
musste meinen weggeben. Und dann sagen sie, ich würde
nicht zur Verbesserung des Images von Huta beitragen. Sie
würden keine Waise aushalten, die außerstande sei, etwas
Neues zu schreiben.“
„Hast du Arbeit in Huta bekommen?!“ Ich nickte. „Wo?“
„Im Institut für Geschichte.“
„Der Chef des Instituts ist auch im Rat. Du hast es gut
getroffen.“ Er begann unruhig hin und her zu rutschen,
schließlich stand er auf. „Okay, es ist Zeit für mich. War nett,
den Nachbarn kennen zu lernen. Auf Wiedersehen.“
Er verließ die Wohnung. Er hatte sich nicht vorgestellt.
Noch hatte ich ihm meinen Namen genannt. Als ich schon
im Bett lag, klopfte er erneut. Wieder mit Bier. Wieder war
es warm.
„Weißt du, wie sie es machen, dass Huta so eine gute Presse
hat?“, sagte er, als er sich auf das Sofa fläzte.
„Nein. Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
„Sie stellen dem Fernsehen Räumlichkeiten zur Verfügung.
Das heißt den beliebteren Journalisten sogar Wohnungen.
Alle wollen in Huta wohnen. Und diese Lumpen vom
Fernsehen und der Presse sind sogar bereit, dafür zu zahlen.
Und zwar doppelt so viel wie die normalen Bewohner. Wie
du und ich. Jeder möchte ein Künstler sein oder zumindest
wie ein Künstler leben. Ich weiß nicht, wie Künstler leben,
aber die, die ein paar tausend für die Wohnung zahlen, wissen
es sicherlich. Nur die von den Boulevardzeitungen und
national-katholischen Blättern bekommen keine Wohnungen.
Aber trotzdem schreiben sie Eingaben. Huta kommt
ihre Kritik gelegen. Das unterstreicht die Richtung, in die
zurück zum Inhaltsverzeichnis
sich der Bezirk entwickelt. Und weißt du, wieso wir jetzt den
skandinavischen Monat haben?“
„Haben wir den skandinavischen Monat?“
„Hörst du nicht den Kauderwelsch auf der Straße?“
„Stimmt, als würde man mehr germanische Sprachen
hören.“
„Vor zwei Monaten hat man von Balice und Pyrzowice
eine neue Verbindung nach Skandinavien eröffnet. Dass
Musik und Filme von jenseits der Ostsee angesagt sind,
kommt nicht von ungefähr. Die Strindberg-Retrospektive
auch nicht. Natürlich alles gut dosiert, in kleinen Portionen,
damit es nicht entwertet wird. Um die Snobs anzulocken.
Sogar mir hat man vorgeschlagen, ein Stück zu schreiben.
Die Handlung sollte zwischen Freunden beim gemeinsamen
Zusammenschrauben von Ikea-Möbeln stattfinden.“
„Eine gute Idee.“ Ich musste sogar lächeln. „Und? Hast du
es geschrieben?“
„Naaaa…“, begann er sich mit dem ganzen Körper zu winden,
„zuerst wollte ich nicht. Dann dachte ich, das wäre ein
guter Hintergrund. Aber sie begannen Druck zu machen.
Wer bin ich denn! Der Texter von diesem Arsch vom Gangende?
Wie heißt er noch gleich?“
„Wer?“
„Na der, letzte Tür auf unserer Etage. Er singt im Fernsehen,
jetzt hat er einen ganz bekannten Hit. „Ich fliege hoch
ins Blaue hinein“, irgendwie so. Und er spielt in einer Soap
mit. Meine Freundin Justyna sagt, dass sie ihm eine Wohnung
vermietet haben, weil der Junge unbedingt ein Künstler
sein wollte, so ein richtiger, hat er gesagt, und sie zocken
ihn hier ganz schön ab, aber ihm gefällt es. Und da er fast
jeden Tag in „Fakt“ ist, macht er Huta kostenlos Reklame.
Das ist ein einfacher Junge.“
Er blieb sitzen bis die Dose leer war. Er hatte sich nichthutagerecht
beschwert, in nichthutagerechten Erinnerungen
geschwelgt und zog einen nichthutagerechten Pessimismus
hinter sich her.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
Czarne
Wołowiec 2007
125 × 195 • 185 pages
paperback
ISBN: 978-83-7536-014-1
Translation rights: Czarne
Grzegorz Kopaczewski Huta
57
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Marek Kochan Spielplatz
58
Photo: Privatarchiv
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Spielplatz ist ein zeitgenössischer Gesellschaftsroman mit satirischem
Einschlag. Thema sind die Krise der Männlichkeit und die
Umkehrung der Rollen in der modernen Familie.
Der Roman hat drei Hauptfiguren. Zwei von ihnen sind Männer,
die im Schatten ihrer Ehefrauen – Macherinnen, die an ihrer beruflichen
Karriere basteln – stehen. Der dritte Mann ist ein Single
und Playboy, ein Held der Medien und notorischer Aufreißer.
Auf verschiedene Weise durchleben alle drei eine Krise ihrer
männlichen Identität. Letzterer inszeniert, um als Supermann
zu gelten, lustige und zugleich klägliche Verführungsschauspiele.
Seine Männlichkeit ist immer konstruiert, immer zur Schau
gestellt. Die zwei „Männer ihrer Frauen“ wiederum erleben die
weibliche Dominanz auf unterschiedliche Art. Der eine ist einfach
ein geistig beschränkter Versager
und freiwilliger Arbeitsloser. Die
Betreuung des kleinen Kindes, das
Putzen und Kochen sind verantwortungsvolle
Aufgaben, die ihn fast schon überfordern. Allerdings
sollte er auf keinen Fall nach „Höherem“ streben, denn es scheint
seine Bestimmung zu sein, das männliche Hausmütterchen zu
spielen. Der andere ist ein träger Wissenschaftler, der, obwohl
hoch qualifiziert, sich nicht rechtzeitig um seine eigene Karriere
gekümmert hat. Er hat sich für ein bequemes Leben an der Seite
seiner sehr gut verdienenden Frau entschieden. Nach Jahren des
inneren Zwiespalts begreift er jedoch seinen Fehler. Er besinnt
sich und findet seinen Platz in der Welt – er wird Schriftsteller.
Kochan moralisiert nicht, ergreift für keinen seiner Helden Partei,
spielt geschickt die kulturellen Stereotype durch und ist ein
guter Beobachter des gesellschaftlichen Wandels, der in den
letzten Jahren stattgefunden hat.
Dariusz Nowacki
Marek Kochan (geb. 1969), Prosaschriftsteller,
Autor von Fernsehdrehbüchern und Bühnentexten.
Marek Kochan Spielplatz
59
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Marek Kochan Spielplatz
60
NEUN
uhr. um diese uhrzeit sollte der
meister kommen. Schon fast eine
Viertelstunde macht sich Kätzchen
in der Wohnung zu schaffen, klopft ab, misst nach. Davon
absehen, es gut sein lassen, die Fenster schon fertig haben.
Was solls, dass sie schief sind. Wer wird das schon bemerken,
wer wird klopfen, um zu sehen, ob darunter Gips oder
Hohlräume sind. Na, wer schon? Vater. Ja, Opa Witek wird
klopfen, und es sofort bemerken. Aber was geht ihn unsere
Wohnung an, soll er sich um seine kümmern. Wir werden
hier wohnen. Helenka hat das Geld verdient, ich renoviere.
Finger weg! Er, Kätzchen, lebt schließlich nicht, um die Erwartungen
seines Vaters zu erfüllen, sondern nur für sich. Er
hat sein eigenes Leben. Wegen irgendwelcher Fenster. Soll
er sich zanken, wegen einer x-beliebigen Lappalie, Energie
verschwenden. Er wird sagen, dass seine Frau es sich abends
angeschaut habe und gemeint habe, auf keinen Fall aber ihretwegen.
Das ist eine Notlösung, ein Hintertürchen, um
das Gesicht zu wahren. So denkt Kätzchen von Punkt neun
Uhr bis neun Uhr fünf, neun Uhr zehn. Selbst um neun Uhr
fünfzehn ist das noch sein Standpunkt. Er ruft Helenka an.
Er sei nicht gekommen, der Meister. Hat er dich vielleicht
angerufen? Er hat meine Nummer ja gar nicht. Nein, gib sie
ihm nicht. Sprich überhaupt nicht mit ihm. Heb nicht einmal
ab, wenn er anruft. Ich erledige das, mit dem werde ich
schon fertig. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Zumal
der Meister nicht kommt. Dafür überkommt Kätzchen Wut,
mit steigender Tendenz zwischen neun Uhr sechzehn und
zwanzig vor zehn, mit dem Höhepunkt um halb. Was denkt
er sich, der Vollidiot. Dieses Ledermännchen. Bildet er sich
etwa ein, Helenka und er würden so lange auf ihn warten?
Und Helenka allein schon gar nicht. Wo sie mit Geschäften
beschäftigt ist, soll sie ihre wertvolle Zeit mit dem Meister
verschwenden? Und das als zahlender Kunde. Immer größerer
Hass steigt in ihm hoch, dann, kurz vor zehn, wird dieser
allmählich schwächer, klarer und erstarrt. Zum Schluss
verhärtet er sich. Warte nur Freundchen, dir werde ich es
zeigen, du wirst dein blaues Wunder erleben. Er sieht sich
den Auftrag durch, prüft, was er für Paragrafen hat. Ruhig,
fast schon fröhlich ist Kätzchen, als es an der Tür klingelt, es
ist fünf vor zehn. Habe ich es doch noch pünktlich geschafft,
sagt der Meister selbstzufrieden. Und wo ist ihre Frau, ist sie
nicht da? Na gut, dann erledige ich das mit Ihnen. Also, hier
habe ich alles vorbereitet, hier die Rechnung, er händigt sie
aus. Wir erledigen das, wird alles erledigt, antwortet Kätzchen,
er lächelt. Nur halt heute noch nicht. Wieso das? Na
ja, es müssen noch ein paar Kleinigkeiten verbessert werden.
Verbessert werden? Wissen Sie, Herr, Kätzchen schaut auf die
Rechnung, auf ihr ein Stempel mit einem Nachnamen, Herr,
ja, Adrian, stimmts, von mir aus wäre das sogar okay gewesen.
Ich habe es mir tagsüber angesehen, und alles in allem
wäre das noch gegangen, ginge es nach mir. Aber meine Frau!
Meine Frau, Herr Adrian, hat einen Wutanfall bekommen.
Sie kommt um zwei vor neun, schaut es sich an und sagt zu
mir, ein Skandal ist das, eine Pfuscherei, so nicht. Sie werden
alle Fenster neu einsetzen, hat sie gesagt, oder wir wechseln
gleich ganz die Firma, verfällt halt die Anzahlung, da kann
man nichts machen. Jemand anderes wird das ordentlich machen.
Ich konnte sie gerade noch so beruhigen, Herr Adrian,
gib ihnen eine Chance, habe ich gesagt, im Grunde sind das
gute Handwerker, sie haben sich bemüht, das muss in der
Eile passiert sein, sie kommen nochmal und verbessern das
in aller Ruhe. Sie haben Glück gehabt, dass Sie nicht früher
gekommen sind. Sie hätte es Ihnen gegeben. Bis fünf nach
hat sie gewartet und ist dann gegangen, Sie wären ganz schön
unter die Räder gekommen, wenn Sie ihr zufällig über den
Weg gelaufen wären. Sie kennen sie nicht, sie sieht nur so
aus, aber in Wirklichkeit, Herr Adrian, ist sie ein Taifun. Sie
hat ihre eigene Firma, in der Immobilienbranche, die Angestellten
kommandiert sie herum, dass sie einem manchmal
Leid tun können. Und dazu kennt sie sich noch aus. Rechtsanwältin.
Von Verträgen versteht sie was. Sie hat mir gleich
gesagt, dass Sie nur der Subunternehmer sind, dass Sie einen
Vertrag mit der Firma haben, die die Fenster herstellt. Ist
doch so, oder, Herr Adrian? Eben. Sie sagte, wenn irgendetwas
nicht in Ordnung sein sollte, werde sie dort zur Geschäftsführung
gehen und Sie so in die Pfanne hauen, dass
Sie sich vor Schadenersatzforderungen nicht mehr retten
können. Die Frau ist rachsüchtig, das können Sie mir glauben.
Einmal hat ein Bauunternehmer einem ihrer Kunden
zurück zum Inhaltsverzeichnis
einen Bauplan für den Ausbau eines Dachbodens angefertigt,
und als etwas nicht stimmte, ist sie vor Gericht gegangen, sie
hat Gutachten vorgelegt, dass das Dachgeschoss eingestürzt
wäre, sie haben seinen Gewerbeschein eingezogen, ihn aus
der Gewerkschaft ausgeschlossen. Sie hat den Mann zerstört.
Und Kontakte, die hat sie. Vorläufig nehme ich Sie in Schutz,
sollte sie es aber auf Sie abgesehen haben, dann werden Sie in
keiner seriösen Firma in Warschau mehr Arbeit bekommen.
Mit den Adressen aus dem Computer würde sie Sie überall
anschwärzen. Sie würden eine Zeitlang kämpfen, aber das
muss ja nicht sein, wozu die Schwierigkeiten. Sie kommen
doch aus Płońsk, dort ist Arbeit Mangelware, während es
hier einen gesunden, großen Markt gibt. Wozu ein Risiko
eingehen? Besser seine Sachen machen, Geld verdienen,
reich werden. Und wenn sie erst zufrieden ist, wird sie Sie
weiterempfehlen. Sowohl für Fenster als auch für größere Arbeiten.
Wozu, glauben Sie, machen wir das wohl. Wir haben
ein paar von diesen Mietwohnungen. Und sind gerade dabei
weitere Wohnungen zu kaufen. Für uns sind das Peanuts!
Er schnippt mit den Fingern. Ich beschäftige mich ausschließlich
damit, kümmere mich um die Renovierungen,
nehme das Geld in Empfang. Meine Aufgabe ist es, die Arbeiten
zu beaufsichtigen. Schließlich geht es doch um Kleinigkeiten.
Ja, aber was hilft es, dass es für mich okay ist,
wenn sie nicht zufrieden ist. Ich kenne sie, Herr Adrian, wir
leben jetzt fünf Jahre zusammen, und in der Zeit habe ich
gelernt, dass man besser nachgibt, es so macht, wie sie es will,
und dann ist es gut.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 428 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-295-3
Translation rights: W.A.B.
Marek Kochan Spielplatz
61
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins
62
Photo: Agnieszka Herman
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die Maske des Harlekins ist nach Polnische Sonate und Der Berg
der schlafenden Schlangen der dritte Teil eines Romanzyklus
von Hanna Kowalewska. Den Zyklus verbinden die Hauptfigur
Matylda, ein Häuschen in Zawrocie als Ort der Handlung,
das Tagebuch als Erzählform und die verstorbene Großmutter
als Adressatin der Bekenntnisse. In den einzelnen Teilen wird
das wechselvolle Schicksal der Hauptfigur erzählt (vor allem in
Herzensdingen), doch zugleich steht immer auch – und das unterscheidet
die einzelnen Romanakte voneinander – ein neues
Geheimnis aus der Vergangenheit im Zentrum der Handlung.
Der Besitz in Zawrocie ist eine Art Katalysator für Matyldas detektivische
Neigungen, hier liegen die Spuren verborgen, die zu
den Geheimnissen ihrer Familie führen, und hier „materialisieren
sich“ auch die Geister der Vergangenheit.
Ein solches Gespenst ist Olga, eine ehemalige Kommilitonin
und Rivalin der Hauptfigur. Olga und Filip „der Verrückte“, Matyldas
späterer Ehemann, waren ein
Paar gewesen. Zwar hatte Olga den
Kampf um ihn verloren, gleichzeitig
war sie die einzige Zeugin von Filips
tragischem Tod. Nach zehn Jahren,
die seit jenem Ereignis verstrichen sind, kehrt sie nach Polen zurück
und provoziert die Heldin zu einer neuen Ermittlung. Um die
Wahrheit zu erfahren, wird sich Matylda der traumatischsten Erfahrung
ihres Lebens stellen müssen. Und sich bei dieser Gelegenheit
auf einen sadomasochistischen Entscheidungskampf mit
einer Frau einlassen, die sie zutiefst hasst. Die Zeit wird jedoch
zeigen, welche der beiden Protagonistinnen stärker leidet..
Hanna Kowalewska bestätigt in diesem Roman ihr Talent für den
Aufbau einer spannenden Romanhandlung und die Konstruktion
einer Intrige. Sie ist auch eine ausgezeichnete Kennerin menschlicher
Charaktere. Die Maske des Harlekins changiert also zwischen
einem Thriller und einem psychologischen Roman.
Hanna Kowalewska (geb. 1960), sie
schreibt Gedichte, lyrische Prosa, Romane,
Erzählungen, Hörspiele und Dramen.
Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins
63
Marta Mizuro
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins
64
„Europa!“,
fauchte sie und
begutachtete den
nächsten Kratzer
im Leder ihrer italienischen Pumps. „Elendes Geschluder!
Noch schlimmer als zu Zeiten der Kommune. Damals wusste
der Mensch wenigstens, was ihm widerfahren konnte. Er
war geistig darauf vorbereitet. Und jetzt hofft man auf werweißwas!“
Vor zehn Jahren hatte Olga noch keine Highheels getragen,
keine hautfarbenen Nylonstrümpfe und luftigen Gewänder.
Sie hatte kein gefärbtes Haar auf dem Kopf, keine
mit grellem Nagellack bepinselten langen Fingernägel und
nicht Tonnen von Wimpertusche aufgelegt. Und sie bewegte
sich nicht wie ein Dämchen, sondern stand mit beiden
Beinen fest auf der Erde, trug solides Schuhwerk mit dicker,
flacher Sohle. Warum hatte sie darauf beharrt, auf bürotauglichen
Absätzen, in denen man stundenlang in der Nähe des
Arbeitszimmers des Chefs am Schreibtisch sitzen konnte,
die alte, neue Welt kennenzulernen, und das zu Fuß? Wozu
brauchte sie Unbequemlichkeit und Schmerz? Warum hatte
sie beschlossen, sich so furchtbar zu quälen? Wollte sie mir
und sich beweisen, dass man diese Stadt in die Mülltonne
klopfen konnte? Musste sie sie unbedingt so kleinmachen?
Aber warum? Um ihr eigenes gegenwärtiges Leben zu erhöhen?
Das Berliner? Das elegante? Das Highheelleben?
Das alles hatte keinen Sinn, jedenfalls konnte ich keinen
finden. Sie stöckelte, ich ging in meinem alten Schritt, in
bequemen, nicht schlecht geschnittenen Schuhen. Also passten
wir wie schon vor Jahren nicht zueinander, wenn auch
damals aus völlig anderen Gründen.
Nicht nur die Stadt, sondern die ganze Welt war in Olgas
Gegenwart irgendwie anders. Es regnete, obwohl es nicht
hatte regnen sollen. Zumindest war Olga davon überzeugt,
dass es an genau diesem Tag nicht hätte regnen dürfen. Es
hätte Hitze geben sollen, doch es gab keine. Olga stapfte in
leichten Sachen in die Tiefe kalter Straßen, mit Gänsehaut,
durchgefroren, kalt erwischt von der plötzlichen Kälte, die ihr
durch Mark und Bein ging. Es sah aus, als verstünde sie diese
Stadt und dieses Klima nicht mehr, nichts, was ihr früher so
vertraut war wie mir. Sie beharrte zudem auf ihrer Ansicht,
als müsste sich die Stadt und alles andere ihren Vorstellungen
und Erinnerungen anpassen, nicht sie den Umständen.
In der Nähe der Centrum-Kaufhäuser, in einer Seitenstraße
– wo Olga einen winzigen Teeladen suchte, den es hier
einmal gegeben haben sollte und der sich jetzt einfach nicht
finden wollte – trafen wir Jakub. Er trug unter dem Arm einen
bunten Karton, dessen Aufkleber der ganzen Welt kund
taten, dass er nicht nur ein fürsorglicher, sondern auch ein
großzügiger Papi war. Ein Fernglas! Ein Geschenk für seinen
Sohn! Nun ja, was sonst hätte ihn in der Innenstadt, die er
nicht mochte, aus dem Auto bewegen können.
„Jakub? Soll heißen wer?“, fragte Olga provokativ, als wir
uns gemeinsam unter die Schirme eines kleinen Cafés setzten.
„Ein Bekannter? Ein guter Bekannter? Ein Freund? Der
Liebhaber? Der Freund?“
Jakub war einen Augenblick lang verlegen. Er wusste selbst
nicht, wer er für mich war.
„Ein Bekannter“, sagte ich für ihn, und er protestierte
nicht.
„Die Bezeichnung behagt ihm offensichtlich nicht besonders“,
bemerkte Olga ironisch. Sie nahm sich gleich eine Zigarette,
wartete, bis Jakub ihr Feuer gegeben hatte, und setzte
dann zu ihrem Monolog an. „Entweder wäre er gerne mehr,
oder du hast nicht die Wahrheit gesagt.“ Sie hatte die unerträgliche
Manier, so zu sprechen, dass immer jemand vom
eigentlichen Gespräch ausgeschlossen wurde. Diesmal war es
Jakub. „Lass mich raten, Liebhaber. Ich weiß nur nicht, ob
ehemaliger, gegenwärtiger oder auch nur potentieller.“
„Achte nicht auf sie“, brummte ich Jakub zu. „Sie ist so.
Ihr scheint, dass das Menschenprovozieren der einfachste
Weg ist, um sie zu enträtseln. Deshalb schießt sie so blindlings
drauf los.“
„Manchmal trifft sie dabei ins Schwarze“, erwiderte Jakub,
obwohl er wusste, dass mir das nicht gefallen würde.
„Na bitte!“, lachte Olga triumphierend auf. „Schießen wir
weiter?“
„Hör auf!“, protestierte ich.
„Wie du wünschst.“ Einen Augenblick lang widmete sie
sich dem Zigarettenqualm. Aber sie hörte nicht auf, uns zu
beobachten.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Um dem ein Ende zu setzen, griff ich nach der Speisekarte.
„Sie haben hier eine ziemlich gute Auswahl, vor allem
an Tee. Jasmintee, tropischen, Preiselbeer, mit Ingwer, mit
Walderdbeeren.“
„Das ist also heute dein Geschmack“, sagte Olga und
schenkte meiner Aufzählung keinerlei Beachtung. Es war ihr
gleichgültig, dass ihre Worte, vor allem aber ihr Ton Jakub
verletzen konnte. „Schau...“, wandte sie sich an ihn, „Matylda
und ich haben uns fast zehn Jahre nicht gesehen. Eine
lange Zeit, nicht wahr?“ Sie klopfte die Asche ab. Jakub nickte.
„Ich entdecke sie ganz neu. Alles an ihr ist anders. Du
erinnerst auch in nichts an den Kerl, den sie damals liebte.
Ihr Mann... Das klingt seltsam, wenn man über jemanden
wie Matylda spricht.“
Sie sah ihn mit einem ironischen Lächeln an, sie wollte
sehen, welchen Eindruck das auf ihn machte. Jakub trug
jedoch bereits die Maske der Gleichgültigkeit. Er stieß Zigarettenrauch
aus und beobachtete das graue Wölklein gelassen,
als beträfe die ganze Ansprache gar nicht ihn.
„Zehn Jahre?“, fragte er einen Augenblick später und gestattete
auch sich einen Anflug von Ironie. „Ausland, Gefängnis
oder Nervenheilanstalt?“
Olga lachte auf.
„Erraten. Jetzt muss man nur noch ‚oder’ herauslassen“,
sagte sie, „es hat sich doch gelohnt, sich von hier für eine
Weile loszureißen, um jetzt euch beide und all das ringsherum
zu sehen. Ein gar nicht übles Irrenhaus. Vielleicht auch
ein Wanderzirkus. Ja, das ist wohl der bessere Ausdruck. Und
die da“, sie deutete auf mich, „immer auf dem Hochseil, mit
dem Schirmchen. Früher hat sie sich darauf herumgetrieben,
weil sie glaubte, die Erdanziehungskraft gäbe es für sie nicht,
jetzt weiß, dass das nicht stimmt, aber sie möchte sich an
diesen Zustand erinnern, als sie sich täuschte. Vielleicht ist
der Grund auch ein anderer? Vielleicht sucht sie da oben
Seilakrobaten? Wer kennt sich schon bei ihr aus? Und du,
was denkst du dazu?“
„Ich denke, dass es dir auf solchen Absätzen schwer fiele,
auf dem Seil zu gehen.“
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Zysk i s-ka
Poznań 2007
125 × 195 • 318 pages
paperback
ISBN: 978-83-7506-062-1
Translation rights:
Hanna Kowalewska
Contact: Zysk i s-ka
Hanna Kowalewska Die Maske des Harlekins
65
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Wacław Holewiński Der Weg nach Putte
66
Photo: Włodzimierz Wasyluk
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ein Buch wie Der Weg nach Putte hat es in der polnischen Literatur
der letzten Jahre nicht oft gegeben. Holewiński entwirft eine
faszinierende Geschichte über die Biographie eines der führenden
flämischen Maler des Barock, Jacob Jordaens (1593-1678).
Die Handlung des Romans setzt im Jahr 1640 ein. Zu diesem
Zeitpunkt ist Jordaens bereits ein gereifter, anerkannter und
vermögender Maler: Er hat eine liebende Frau, wohlgeratene
Kinder und ein prächtiges Haus. Doch wie so viele Künstler ist
auch Jordaens von einer schöpferischeren Unruhe erfüllt. Sein
Verhältnis zu Rubens, mit dem er sich immer wieder vergleicht,
trägt deutlich zwanghafte Züge. Er ist nicht sicher, ob er wirklich
ein künstlerisches Genie oder nur ein überaus begabter Handwerker
ist. Doch Holewińskis Roman erzählt nicht nur von den
Höhen und Tiefen einer Künstlerbiografie,
vom Leben eines unermüdlichen
Arbeiters, der alles andere
der Malerei unterordnete. Im Hintergrund
entwirft er auch ein detailliertes Bild des Alltagslebens
im Antwerpen des siebzehnten Jahrhunderts, einer ehemals
blühenden Handelsmetropole, die zunehmend im Verfall begriffen
ist und von politischen und religiösen Konflikten geschüttelt
wird. Der Weg nach Putte ist aber auch – und vielleicht vor allem
– ein Roman über das Leiden an der Vergänglichkeit und über
die Auseinandersetzung mit dem Tod. Nicht zufällig erwähnt der
Autor im Titel des Romans den Ort, an dem Jordaens und seine
Angehörigen beigesetzt wurden. Für den Maler selbst war der
titelgebende „Weg nach Putte“ ein überaus schmerzvoller: Da er
selbst ein sehr hohes Alter erreichte, musste er sich mit Tod fast
aller seiner Angehörigen abfinden. Doch Jordaens überließ sich
nie seiner Verzweiflung, immer fand er Trost in der Malerei.
Wacław Holewiński (geb. 1956), Romanschriftsteller,
Dramatiker, Herausgeber und
Redakteur.
Wacław Holewiński Der Weg nach Putte
67
Robert Ostaszewski
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Wacław Holewiński Der Weg nach Putte
68
– Rubens
– warf jemand von
der Seite ein.
Ein anderer erblickte
eine vorzügliche Ähnlichkeit zwischen der Gestalt auf dem
Bild und dem seligen Frederik Hendrik, der allen noch lebhaft
vor Augen stand.
Nur Beck, ein reicher Kaufmann aus Den Haag, erlaubte
sich eine spitze Bemerkung:
– Wenn das Rubens sein soll, wie glücklich können wir
uns da schätzen, dass wir unseren Rembrandt haben.
Jordaens lauschte diesen Urteilen anfangs noch mit einer
gewissen Befangenheit, doch mit jedem weiteren Lob hellte
sich seine Miene auf und wuchs sein Selbstbewusstsein. Ihm
selbst schien es, als ermangele es dem Bild an jenem pulsierenden
Rhythmus, jener Intensität, die er in anderen Szenen,
auf anderen Bildern mitunter eingefangen hatte. Da dies jedoch
keinem der Anwesenden weiter auffiel...
– Meister – die Fürstin hakte sich bei ihm ein und schritt
neben ihm vom einen Ende des riesigen Gemäldes zum anderen
– wenn die beiden anderen Bilder genauso schön werden...
Ich werde stolz sein, solche Werke zu besitzen.
Sie ließ Wein kommen. Einen Augenblick später brachte
sie einen Toast aus, jedoch nicht auf ihn, sondern auf die
Zukunft.
– Auf dass dieses Haus in Zukunft möglichst oft Künstler
von eurem Rang zu Gast haben möge.
Der Klang zerbrechenden Glases, der auf die Unaufmerksamkeit
einer der Damen zurückzuführen war, löste allgemeine
Heiterkeit aus.
– Ein gutes Zeichen – rief einer der anderen Maler und
wandte sich gleich darauf an Jordaens, um ihm die verdiente
Ehre zu erweisen.
Die Fürstin überließ ihn seiner Obhut und unterhielt sich
eine Weile mit dem jungen Jacob. Sie bat ihn, ihr zu zeigen,
worin sein Anteil an dem Werk bestanden hatte. Anschließend
lauschte sie einer lebhaften Unterhaltung zweier Maler,
die mit ihren sachkundigen Bemerkungen über die Originalität
des Kolorits und die unterschiedliche Farbdichte in
den hellen und dunklen Bildpartien eine vielköpfige Zuhörerschaft
um sich geschart hatten.
Der Maler, der neben dem Auslöser dieses Aufruhrs stand,
Egbertus Kuipt, wollte Jacob unbedingt in sein Atelier einladen.
Er selbst malte keine großen Gemälde, wie Jordaens,
sondern, in der Art seines entfernten Vetters Gerard
ter Borch, kleinere Bilder, auf denen er reiche Bürger mit
ihrer Dienerschaft darstellte. Mit großer Sorgfalt arbeitete
er an jeder einzelnen Feder, jeder Portiere und jeder Spitzenmanschette,
und eben daher rührte seine Bewunderung
für Jacob, der auf einem so großen Gemälde nicht nur die
Details erfasste, sondern auch scheinbar mühelos gewisse Figuren
mit dem Hintergrund verschmelzen ließ, ein Gefühl
für den Raum vermittelte, seine Verbundenheit mit der Tradition
ausdrückte, etwas in sie einfließen ließ, das als „glatte
Malerei“ bezeichnet wurde, und obendrein durch gezielten
Einsatz des Lichts keinen Zweifel daran ließ, welche der Figuren
die wichtigste war.
Jacob, den es aus heiterem Himmel am ganzen Körper zu
jucken begann, nahm Kuipts Einladung an und drückte ihm
die Hand. Mit einem Mal spürte er, wie alles von ihm abfiel:
die Aufregung, die Sorge, eine gewisse Angst. Er hatte
gewusst, dass dieser Moment kommen würde, in dem andere
ein Urteil über seine Kunst fällen würden, doch er hatte
nicht geahnt, wie abhängig er noch immer von diesem Urteil
war. Nur gut, dass die Fürstin zu dieser unangekündigten
Vorführung Menschen wie ihn eingeladen hatte, Künstler,
die Talent und unermüdlichen Fleiß besaßen und die die
Welt mit anderen Augen sahen. Und wie ein Kind freute er
sich über ihre Anerkennung.
Jacob nahm an diesem Tag noch viele Gratulationen
entgegen. Er zweifelte nicht an ihrer Aufrichtigkeit, einen
Moment lang glaubte er sogar, dass niemand anders als er
selbst... Hochmut – erkannte er freilich noch im selben Augenblick
– Rüstzeug des Teufels... Schnell kam er wieder zur
Besinnung. Nachdem alle gegangen waren, setzte er sich auf
eines der Podeste und betrachtete lange sein Werk. Und als
er lange genug gesessen hatte, griff er nach seinem Pinsel und
warf ihn auf den Boden.
Der junge Jacob war den Tränen nahe, als er sah, wie sein
Vater zerstörte, was andere für ein Meisterwerk gehalten
hatten.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
– Warum? – stieß er hervor.
– Warum? – wiederholte Jordaens die Worte seines Sohnes.
– Du hast einmal gesagt, dies würde mein bedeutendstes
Werk werden, weißt du noch? – erinnerte er ihn an
ein früheres Gespräch. – Ich möchte nicht, dass irgendjemand
denkt, zu mehr sei ich nicht imstande. Aber mach dir
keine Sorgen – versuchte er ihn zu trösten. – Du kannst mit
dem zweiten Bild beginnen. Mit diesem werde ich schon allein
fertig.
Und bis zum Abend sprach er kein Wort mehr. Jetzt malte
er, wie sein Herz es ihm eingab, und nicht nach einem
bestimmten Plan. Die Kartons konnte er beiseite legen, sie
zerreißen und verbrennen lassen, er brauchte sie nicht mehr.
Der allgemeine Ausdruck des Bildes blieb in etwa der gleiche,
doch jetzt erfasste er in den Umrissen der Figuren etwas,
das zuvor niemand dort erahnt hätte. Frederik und Maurits
erschienen nun als Inbegriff von Entschlossenheit, Stärke
und Mannhaftigkeit. Die Frauengestalt – jener über ihnen
schwebende Engel – war nicht mehr nur eine Dekoration,
ein abschließendes Ornament, plötzlich wurde sie zu einem
Objekt der Begierde, zum Gegenstand lüsterner Blicke und
Seufzer. Sie war Mutter und Geliebte, Heilige und Hure. Sie
schaute in ihre Gesichter, martialischen Mienen, die doch
nicht für sie, sondern für den Feind bestimmt waren. Jacob
wusste, dass er sich etwas näherte. Noch konnte er es nicht
berühren, doch er näherte sich jenem Bereich, jenem Ort, an
dem die Fantasie eins wurde mit dem, was unter seiner Hand
auf der Leinwand entstand.
Er ging zu seinem Sohn, nahm ihn bei der Hand und führte
ihn zu dem Gemälde. Er stellte sich hinter ihn und wartete
auf seine Reaktion. Der junge Jacob besah sich lange die Veränderungen.
Als er sein Schweigen schließlich brach, klang
das, was er sagte, wie ein Seufzer der Erleichterung.
– Ich wollte es dir gegenüber zuvor nicht erwähnen – sagte
sein Sohn ohne sich umzudrehen, ohne ihm in die Augen
zu schauen. – Ich habe gesehen, wie du dich gequält hast.
Ich hoffte, glaubte fest daran, dass du eine Methode finden
würdest... Vielleicht habe ich heute als Einziger hier gewusst,
dass kein Lob in der Lage sein würde, dich zu täuschen. Mir
scheint, die nächsten beiden Bilder werden dir keine Schwierigkeiten
mehr bereiten. Ich möchte nur wissen, was die anderen
zu den Änderungen sagen werden.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
Wydawnictwo Dolnośląskie
Wrocław 2007
160 × 230 • 270 pages
paperback
ISBN: 83-7384-603-6
Translation rights:
Wacław Holewiński
Contact:
Wydawnictwo Dolnośląskie
Wacław Holewiński Der Weg nach Putte
69
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung
70
Photo: Danae Ribbitsch
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Lidia Amejko trägt in ihrem Buch Antworten auf die Frage zusammen:
Wie erklärt man sich die programmatische Tatenlosigkeit
der Bewohner einer großstädtischen Plattenbausiedlung? Vor
allem derer, die keinen Schritt aus der Schlafzimmer-Vorstadt
tun – der Säufer, die sich um den einzigen Laden in der Siedlung
herumdrücken, der Hausfrauen, die wie angenagelt an den
Fenstern und den Fernsehern hängen, und der Rentner, die aus
dem von Arbeit erfüllten Lebensrhythmus herausgefallen sind.
Ihre täglichen Rituale sind leicht zu beobachten, aber was geht
in ihrer Seele vor? Worüber debattieren sie, wie nehmen sie ihre
Existenz und ihren Platz im göttlichen Heilsplan wahr – sofern sie
sich einen solchen überhaupt zuschreiben? Indem die Autorin
diese Menschen zur Aktivität, nämlich zur Selbstreflexion zwingt,
gewinnt sie dem scheinbaren Marasmus einen philosophischen
Sinn ab.
Nicht auf ein Lob des kleinen Realismus, nicht auf ein Lob der
Armen im Geiste will Amejko hinaus. Die surrealen Betätigungen
und die metaphysische Reflexion, die
die einzelnen „Heiligen“ beschäftigt,
sind pure Erfindung. Sie hat etwas
Komisches. Komisch ist, wie das,
was nicht nur scheinbar nutzlos und gedankenlos ist, zum Erhabenen
wird. Amejko schöpft aus der Bibel, aus der Geschichte
der Philosophie, der Kunst und der Literatur, und zugleich
übersetzt sie diese zur Hochkultur gehörenden Elemente in eine
Art biblia pauperum. Sie paßt sie so an, daß sie zum selbstverständlichen
Bestandteil einer plebejischen Erzählung werden. An
dieser sind die Viten der Heiligen der Siedlung sprachstilistisch
ausgerichtet.
Sowohl die Stilisierung als auch der Rückgriff auf hochkulturelle
Bezüge sind hier mit meisterhafter Konsequenz ausgeführt.
Fremde, übergestülpte Ornamente springen natürlich ins Auge,
sind aber gleichzeitig so vollkommen in die Erzählung eingeschmolzen,
als gehörten sie zu ihr. Durch die Integration des
Widerspruchs erreicht Lidia Amejko ein Ergebnis, das von Anhängern
des Realismus oder Reportage-Autoren mit anderen
Mitteln erreicht wird – das, was einem weniger sensiblen Beobachter
trivial und nicht beachtenswert erscheinen könnte,
wird von ihr geadelt.
Marta Mizuro
Lidia Amejko (geb. 1955), Schriftstellerin
und Dramatikerin. Ihre Stücke wurden in mehrere
Sprachen übersetzt.
Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung
71
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung
72
Dazu
sage ich euch: Kyrill starb täglich aus
Angst vor dem Tod!
„Was soll denn das?!“ ruft ihr. „Jeder
hat doch Angst vor dem Tod (solange er nicht getrunken
hat), aber aus Angst wird man kein Heiliger! (Allein aus
großem Mut, wovon dann den Kindern in Religion erzählt
wird). Wieso sollen wir einen feigen Waschlappen zu den
Heiligen zählen?“
„Haltet einen Moment die Klappe, verdammich, und
hört zu!“
Es fiel Kyrill nicht leicht, aus Angst vor dem Sterben zu
sterben, und so kam er eines Tages auf die Idee, sich vielleicht
ein bißchen mit dem Tod vertraut zu machen und zu
sterben, aber nur ein ganz klein bißchen, eine Prise auf der
Fingerspitze, versuchsweise. Um zu sehen, ob es wirklich so
schrecklich ist.
Er legte sich aufs Sofa und drückte auf die Fernbedienung,
um sich nicht während seines Sterbens zu verzetteln, denn es
ist bekanntlich blöde, mit einem Auge zu sterben und mit
dem anderen in die Röhre zu glotzen. (Das ist, Mann, die
bewegendste Frage in der Siedlung: wie man sein endgültiges
ENDE mit der Serie abstimmt, die sich bis in alle EWIG-
KEIT hinzieht.)
Kyrill drückte also, der Bildschirm wurde blaugrau, wie
eine Leiche, in der Mitte glühte noch für einen Moment das
helle Pünktchen wie eine Seele, und dann ging mit einem
leisen Klick der Fernseher aus.
Kyrill machte also die Augen zu und starb.
So schlimm war es gar nicht!
Am nächsten Tag wachte er zufrieden auf und schaute
voller Freude in die Welt – wie bekanntlich ein jeder nach
dem Tod! Er briet er sich ein Rührei mit Speck und sang
dabei fröhlich vor sich hin, aber gegen Abend beschlich ihn
die Furcht, daß er bei seinem Sterben etwas vergessen haben
könnte, daß es irgendwie zu reibungslos gelaufen war, daß er
es auf alle Fälle noch einmal nachprüfen sollte!
So starb er am zweiten Tag.
Am dritten Tag aß er sich satt, aber am Abend wurde er
wieder unruhig und kreiste wie ein Hündchen, das Gassi gehen
muß. Er wußte inzwischen, daß er nicht auf den Film
nach der Tagesschau warten würde, sondern der Ewigkeit, die
ihn in Schrecken versetzt, erneut ins Auge schauen wollte.
Und so ging es von nun an Tag für Tag.
Kyrill starb, dann stand er wieder auf von den Toten und
machte sich das Frühstück.
Anfangs war er sogar glücklich, aber bald kam es ihm blöde
vor, daß er eigensüchtig vor sich hin starb, nur für sich
allein, ohne an die anderen zu denken. Denn wenn ihm dieses
Sterben schon so gut von der Hand ging, warum sollte er
dann nicht für einen anderen sterben, der nicht eine solche
Übung darin hatte wie er?
Er hängte im Laden eine Bekanntmachung aus: „Sterbe
kostenlos. Bestellungen unter Telefon 3452861, Kyrill
Damasceński.“
Als erste rief Frau Hapiór an, ob er nicht für sie sterben
wollte, sie hätte vor den Feiertagen so viel zu tun und wüßte
gar nicht, wo sie anfangen soll, und mit dem Tod, da könnte
sie sich nicht mehr entsprechend vorbereiten. Sie würde zu
einem späteren Termin sterben, wenn sie mehr freie Zeit hätte.
Und für Kyrill würde sie einen Käsekuchen backen.
Dann rief Herr Kruczek an, der während der Besatzung
hundertmal um ein Haar getötet worden wäre und den Tod
ganz und gar nicht fürchtete; jetzt aber brauchte er nur an
ihn zu denken, und schon würde er blaß, weichlich und zittrig
und müßte pausenlos weinen. Gar nicht mannhaft. Janina
O., Dienerin des Saums, hätte ihm zwar den Übergang
zum Nichts hübsch umsäumt, und Herr Kruczek würde
auch Nacht für Nacht in dieses Loch gaffen, aber irgendwie
hätte er Angst, ins Jenseits hinüberzukriechen. Ob Kyrill also
nicht, als Nachbar, für ihn sterben wollte – als Dank dafür
würde Herr Kruczek ihm den Abfluß reparieren.
Verschiedene Leute wandten sich an ihn.
Einer, der zu ihm kam, war gerade auf Entzug, wollte
ein neues Leben beginnen und hatte keine Lust, dabei zu
sterben; ein anderer wollte bei der Hochzeit seiner Tochter
dabeisein, und wieder andere hatten sich einen billigen Auslandsurlaub
gekauft, als sich plötzlich herausstellte, daß für
sie selbst die last minute gekommen war!
Kyrill war glücklich, weil er jetzt für andere starb!
Und es ging ihm gut, denn jeder bedankte sich bei ihm mit
zurück zum Inhaltsverzeichnis
einem Geschenk. (Was sagt ihr nun? Kommt ihr euch nicht
dumm vor, daß ihr übel über ihn hergezogen seid? Zeigt mir
einen Heiligen, der für so viele sein Leben geopfert hätte wie
Kyrill!)
Nur im Himmel stieß die Sache auf Mißfallen.
Bei einer Kontrolle stellte sich ein Fehlbetrag heraus: In der
Siedlung sterben Leute, gut, aber Oben kommt keiner an!
In der Rubrik „Tod“ ist bei Frau Hapiór ein Vogel vermerkt,
während sie selbst durch die Siedlung geistert, als
wenn nichts wäre, und für die Leute auch noch Käsekuchen
backt!
„Was ist denn das?“ entrüstete sich der Herr. „Das ist
mir von Anbeginn der Welt noch nicht vorgekommen. Ich
weiß, ich weiß, die Menschen sind durchtrieben und haben
den Tod seit jeher betrügen wollen! Was sie sich nicht alles
ausgedacht haben: Betten haben sie umgedreht, mit dem
Vorderteil zum Fenster, und Namen haben sie vertauscht.
Einer, Nondum, hätte es fast geschafft: er war dermaßen
leer, daß zum Sterben gar nichts da war, und daher mußte
Psychopompa zu ihm geschickt werden, um ihn zunächst
mit sinnlichem Leben auszustopfen und ihn anschließend
auf die andere Seite zu schubsen. Und dann war da noch
dieser Schlauberger Farrago! Er hat mich dermaßen angekohlt,
daß ich ihn wieder vom Himmel zur Erde zurückgeschickt
habe.“
Der Engel Buchhalter flog in die Siedlung hinunter, um
der Sache auf den Grund zu gehen. Bei Jericho machte er
Station, trank ein Bier, schwätzte mit den Leuten und fühlte
sich gleich wie zu Hause.
Zu Kyrill begab er sich mit provokativer Absicht: ob Kyrill
nicht für ihn sterben wolle. Kyrill war einverstanden, nahm
die Knete, für den Engel wollte er sterben. Aber dann ging
es nicht weiter.
Kyrill traten nur die Augen aus den Höhlen, er röchelte,
rasselte, der Tod war ihm mittendrin ins Stocken geraten,
steckte ihm wie eine Gräte im Hals – es ging weder vor noch
zurück. Derweil legte der Engel ihm Fesseln an und brachte
ihn vor das Gericht Gottes.
So endeten die guten Zeiten in der Siedlung, als die Leute
überhaupt nicht starben.
Der Herr in seiner Barmherzigkeit sah sogar von einer Bestrafung
Kyrills ab und befahl ihm lediglich, die Seelen zurückzugeben,
damit die Bücher im Himmel stimmten.
Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
W.A.B.
Warsaw 2007
123 × 195 • 232 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-340-0
Translation rights: W.A.B.
Lidia Amejko Viten der Heiligen der Siedlung
73
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen
74
Photo: Danuta Węgiel
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ein neuer Essayband Adam Zagajewskis über die Natur des
Schreibens, das Verhältnis der Literatur zu Philosophie und
Geschichte, über sich und andere, über Miłosz und Herbert,
Gombrowicz und Cioran, Márai und Kertész. Der Titel des
Bandes – Der Dichter spricht mit dem Philosophen – entstammt
einem Text über den Briefwechsel zwischen Zbigniew Herbert
und Henryk Elzenberg. „Ein ausgezeichneter Titel für das
ganze Buch“, schreibt eine begeisterte Rezensentin, „denn die
Aura des Gesprächs erfüllt alle hier versammelten Texte. Sie
sind Rechenschaftsberichte über Lektüren und Reflexionen,
Niederschrift der Verblüffung, des Staunens. Gesprächsanlass
sind Betrachtungen über das Schreiben, vor allem aber über die
Poesie“. Zagajewski interessiert die Poesie, die „den Katastrophen
zum Trotz registrierte und damit den Fortbestand unseres
geistigen Lebens aufrechterhielt, mitgestaltete, mitschuf – jener
unausgesetzten, von vergangenen Generationen ererbten Kontemplation,
die in der Erfahrung des
Schönen und Bösen kulminiert, der
Zeit und des Guten, der Transzendenz
oder – für andere – des Nichts,
der Meditation, etwas in Art einer
permanenten Nachtwache in der Notaufnahme, ohne die das
Menschentum in der uns bislang bekannten Form ernsten Schaden
nähme“.
„Ich weiß nicht, wie der Platz überschrieben werden wird, den
Adam Zagajewski letztlich in der polnischen Kultur einnehmen
wird“, schreibt Irena Grudzińska-Gross. „Er passt unter keine
Formel, obwohl er als Dichter und Schriftsteller in der unmittelbaren
Mitte der polnischen und europäischen Literaturtradition
steht. Vielsprachig, hochgebildet schreibt er in seinen Gedichten
über Musik und Philosophie, über andere Dichter, Architektur
und Kunst. Dennoch ist das keine klassische Dichtung, die vom
heutigen Tag losgerissen wäre; ganz im Gegenteil, sie berührt
das Alltägliche, die Menschen greifen in Augenblicken der Angst
nach ihr. Sie bringt Linderung, von dieser Poesie sprach Susan
Sontag, obwohl sie keine Trostdichtung ist. Der Dichter Zagajewski
trägt keinen Zorn, keine Besessenheit in sich, er ist jedoch
entschieden und unbeugsam. Ihn zu lesen ist kein Kampf,
sondern eine Art Gespräch, das abhängig macht.“
Adam Zagajewski (geb. 1945), Dichter,
Erzähler, Essayist, Preisträger renommierter
Literaturpreise, in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen
75
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen
76
Auf
dem Computer schreiben. Ändert das etwas?
Mit einem Gänsekiel schreiben, einem
kostbaren Füllfederhalter, einem Bleistift...
Die ersten Schreibmaschinen: riesige, schwarze Dinosaurier,
mit goldenen Schriftzügen verziert, heute Schmuck von Restaurants
und Bankräumlichkeiten. Meine Entdeckung der
Schreibmaschine: Mein Vater, Ingenieur und Professor am
Politechnikum, benutzte diese Maschine häufig. Bisweilen
bat er, wenn er ein wissenschaftliches Buch (zu technischen
Fragestellungen) oder ein Lehrbuch für den Druck vorbereitete,
Mama um Hilfe, die den für sie völlig unverständlichen
Text mühselig abtippte. Ich sah ihr dann gerne zu — mit
Brille, voller Konzentration, war sie jemand völlig anderes
als normalerweise. Aber die mathematischen Formeln, die
kompliziert waren wie ein Genomnotat, fügte Vater selbst
mit dem Bleistift ein.
Die Entdeckung der Schreibmaschine meines Vaters war
für mich etwas Epochales. Vater erlaubte, dass ich von Zeit
zu Zeit auf seiner Maschine das Schreiben übte. Anfänglich
gelang mir das nur sehr holprig, ich benutzte nur einen Finger,
dann zwei. Oft verhakten sich die Typenhebel ineinander,
blockierten sich, ich musste sie dann aus diesen kleinen
Katastrophen befreien. Trotzdem erschien mir die Schreibmaschine
als eine außergewöhnliche technische Errungenschaft:
der Schlitten, die Zahnräder, vor allem aber die Walze,
die eine schwarze, glatte Substanz überzog, deren Wesen weiche
Passivität war, das Entgegennehmen der Typenschläge,
die Walze, die sich gehorsam drehte und das eingespannte
Blatt Papier zum selben Gehorsam zwang — all das weckte
meine höchste Bewunderung. Das hatte die Menschheit
im Zuge der mechanischen Erfindungen erreicht, die sich
allmählich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hatten.
Und endlich entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts diese
fantastische Maschine. Das trockene Knallen der Typen gegen
die Walze gehört zu den edlen und rhythmisierten Lauten.
Bis heute bin ich eigentlich davon überzeugt, obwohl
dem Anschein nach nichts diese Überzeugung stützt, dass
die Schreibmaschine eine komplexere Apparatur ist als der
Computer. Ihr tadelloses Benehmen... Der Klingelton, wenn
man zum Blattrand gelangt — als führe man Schlitten, im
Winter. Der chromblitzende Schreibmaschinenschllitten...
Der leichte Duft von Maschinenöl... Nur eines störte mich:
die Notwendigkeit unablässigen Reinigens der Typen, auf
denen sich der Staub sammelte, der sich auf das schwarze
Farbband gelegt hatte.
Als ich die Kunst des Maschineschreibens mehr oder weniger
beherrschte, machte ich die nächste Entdeckung: Vor
mir lag nicht mehr die blutarme Schlangenlinie meiner ungeschickten
Handschrift, sondern nur gleichmäßige, runde
oder spitze Buchstaben in einer idealen Reihe, die einander
nicht auf die Fußzehen traten, immer denselben Abstand
zueinander einhielten wie die Ehrenkompanie eines kleinen
Landes. Diese Lettern, die ich alle liebte, waren ein Meisterwerk
der Grafik; das war schon fast ein Buch, ein Druck. Auf
diese Weise schlug die Schreibmaschine die Brücke zwischen
Seele und äußerer Welt, zwischen Privatestem und Öffentlichem,
und das blitzartig, sofort, ohne die Vermittlung von
Lektoren, Verlagen, Literaturagenten.
Baut der Computer auch eine ähnliche Brücke? Ja, natürlich.
Am Anfang aber irritierte mich die Lautlosigkeit des
Computers. Die Nachtarbeiter segneten sie, einer meiner
Freunde musste schon vor vielen Jahren auf die Arbeit mit
dem Computer ausweichen, weil seine Nachbarn in einem
Pariser Wohnhaus gegen den nächtlichen Lärm protestierten.
Sie konnten nicht schlafen.
Das Hämmern der Schreibmaschine tat der gesamten Umgebung
kund, dass hier Wichtiges geschah: dass hier Energie
unseres geistigen Lebens freigesetzt wurde und sich auf
weißem Papier materialisierte. Die Kanonade der Typen, die
aufs Papier hämmerten, waren Triumphsalven; die Geburt
eines neuen Satzes (denn oft schrieb ich direkt in die Maschine,
sogar Gedichte – nur ihre ersten Fassungen notierte
ich mit einem Füller, einem Bleistift oder einem Kugelschreiber)
begleiteten Schüsse, fast schon Feuerwerke. Jetzt gehe
ich, wenn ich den Computer gebrauche, fast immer gleich
vor: Die ersten Fassungen eines Gedichts entstehen im Notizbuch
oder auf einem Blatt Papier, erst dann überführe ich
sie auf den Bildschirm. Und der Computer schweigt mit der
ihm eigenen Diskretion, oder er schweigt fast. Wir hören
das sanfte Klackern der Tastatur, aber gewöhnlich nur dann,
zurück zum Inhaltsverzeichnis
wenn es um einen anderen geht. In der Bibliothek oder einem
ruhigen Café (wenn es ruhige Cafés noch gibt) wird uns
das Morsealphabet einer fremden, nicht unserer eigenen Tastatur
stören. Die eigene stört uns nie. Da wir früher nichts
gegen die Marschmusik einer Remington oder Olivetti einzuwenden
hatten...
Ändert das etwas? Ändert sich etwas an der Natur des
Schreibens dadurch, dass wir anstelle des Gänsekiels den
Computer verwenden? Für jemanden, dessen Jugendliebe
der Schreibmaschine galt, ändert das mit Sicherheit bedeutend
weniger als für alle diejenigen, die nur mit der Feder
begannen, mit dem handschriftlichen Schreiben. Im allgemeinen
ist man der Ansicht, dass die Erfindung des Computers
für die Literatur eine nicht allzu glückliche Vergrößerung
der Produktion bedeute, eine Vielwörterei, eine übermäßige
Leichtigkeit des Schaffens. Die stummen Tage oder Wochen,
in denen es mir nicht gelingt zu schreiben, sind heute genauso
stumm, wenn mein Laptop auf mich wartet, wie sie früher
stumm waren, als eine Schreibmaschine auf dem Schreibtisch
stand und neben ihr Feder, Kugelschreiber, Bleistift
und Notizbuch lagen. Die guten oder vollkommenen Tage
sind nicht noch großartiger geworden. Die mittleren Tage
sind genauso durchschnittlich wie in früheren Jahren. Es hat
sich nicht viel verändert.
Der menschliche Geist, unsichtbar, fragil und zugleich
unbesiegbar, muss mit verschiedenen Materialien und Techniken
arbeiten und kommt mit ihrer unablässigen Weiterentwicklung
hervorragend zurecht. Da er auch mit unserem
so fehleranfälligen Körper zurechtkommt, mit den Fingern,
Alter und Krankheit, Rheuma und Neurose, da er abends
einschläft und morgens erwacht und im Traum werweißwohin
reist — was sollte er den Computer fürchten?
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Zeszyty Literackie
Warsaw 2007
210 × 135 • 145 pages
paperback
ISBN: 978-83-60046-85-2
Translation rights:
Adam Zagajewski
Contact: Zeszyty Literackie
Adam Zagajewski Der Dichter spricht mit dem Philosophen
77
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit
78
Photo: Elżbieta Lempp
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Was verbindet die Poesie und Architektur mit den Herrschaftskonzepten
der letzten beiden Jahrhunderte? Marek Bieńczyks
Antwortet lautet: die Idee der Durchsichtigkeit. Die zweihundertjährige
Geschichte der Moderne, die Bieńczyk rekapituliert
und von der er Abschied nimmt, bezog ihre Dynamik aus dem
Projekt, die Welt sichtbar zu machen. Es begann mit Jean-Jacques
Rousseau, der in seinen Schriften die Idee der Durchsichtigkeit
als Ideal zwischenmenschlicher Beziehungen vertieft
und erweitert. Jeremy Bentham ging in die entgegengesetzte
Richtung – sein Ausgangspunkt war das Konstruieren von zwischenmenschlichen
Beziehungen. Das 19. Jahrhundert und die
erste Hälfte des 20. Jahrhunderts entschieden sich für Bentham.
Die gesellschaftlichen Institutionen strebten danach, das Leben
transparent zu machen. Nach den totalitären Systemen kam es
zu einer Abkehr von der Durchsichtigkeit als Vorstellung, die die
Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesellschaft prägt. Aber
die Ideologie der Transparenz überlebte...
Woher kommt nach dem
Ende der Moderne die Durchsichtigkeit
– die doch ein Kind der Moderne
ist? Die Antwort auf diese Frage ist eines der interessantesten
Themen des Buches. Bieńczyk vertritt die Ansicht, dass
die Durchsichtigkeit – die zur einzigen allgemein anerkannten
Ideologie aufgestiegen ist – ein unrechtmäßiges Erbe der Moderne
ist. Die Modernisierung versuchte nämlich, Bedingungen
zur vollständigen gesellschaftlichen Kontrolle zu erarbeiten,
und zwar mittels einer perfekten Organisation. Dagegen ist die
heutige Durchsichtigkeit ein merkwürdiges Schutzschild gegen
die Unvollkommenheit unserer Institutionen. Aber Marek
Bieńczyk beschränkt sich nicht darauf, vom Wandel des politischen
Denkens zu berichten. In seinem Buch skizziert er auch
die Geschichte der Durchsichtigkeit in der europäischen Poesie
und Architektur und erzählt von der Bedeutung dieser Idee in
Konzepten des öffentlichen Raums. Und noch eines: Bieńczyks
Buch ist ein existentieller Essay; das heißt in seinem Schreiben
sind die eigenen Erlebnisse ein Element der Erzählung und Argumente
der Ausführungen.
Przemysław Czapliński
Marek Bieńczyk (geb. 1956), Prosaschriftsteller,
Essayist, Literaturhistoriker, Übersetzer aus dem
Französischen.
Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit
79
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit
80
Über
die Durchsichtigkeit und Durchschaubarkeit
wollte ich schon seit vielen
Jahren wenigstens ein paar Seiten
schreiben. Die Durchsichtigkeit, sagte ich mir, ruft mich,
bohrt in mir wie eine Sonde, ist mein Thema. In fremden
Städten wählte ich zum Mittagessen Restaurants mit Panoramafenstern,
abends blieb ich vor beleuchteten Schaufenstern
stehen, die Freunde begannen sich über mich lustig
zu machen und mir Glaskugeln zu schenken, es entstand
eine ordentliche Sammlung. Ich hatte einen Glastick, ich
betrat Zoohandlungen, um in die Aquarien zu starren, ich
kehrte zu den Museen zurück, in denen Exponate (in Bozen
dieser seltsame Ötzi, ein eingefrorener Schneemensch,
Urahn, der mit einem Köcher voller Pfeile im Gletscher aufgefunden
wurde) hinter Panzerglas ausgestellt wurden; ich
zog es vor, Lenin und Mao Tse-tung in ihren gläsernen Särgen
zu vergessen. Arbeitete ich an irgendeinem Text, dünnte
ich unwillkürlich dessen konkreten Gehalt aus, die Wörter
mieden die Bedeutungen, den Metaphern gingen die Ideen
verloren, alles bewegte sich unvermeidlich auf die Abstraktion
zu, hinter den Sätzen schimmerte das Weiß hervor. Es
klingt lächerlich, aber ich mochte klare Suppen, Essen mit
Gelatine, Fisch oder Fleisch in Sülze, in Aspik, und ähnliche
Speisen. In der Wohnung hängte ich Reproduktionen der
Gemälde Edward Hoppers auf, sie glänzten hinter Glas wie
zu kitschige Heiligenbildchen.
Ich mochte Hopper, so wie andere Erinnerungen mögen.
Ich hatte das einst erlebt, so war es schon einmal gewesen;
in Fantasien und Gedichten wurde ich der Held verschiedener
Bilder, der Typ in der Glasveranda, der in den endlosen
Horizont starrt, jener Cafébesucher, der aus dem Fenster auf
die leere Straße schaut. Manchmal zog ich Olga in diese Fantasien
mit hinein; wenn ich ihr davon erzählte, wurde sie
ärgerlich, also verstummte ich schnell. Natürlich (stellte ich
mir vor) waren wir vor allem Nighthawks, Nachthabichte,
Vögel der Dunkelheit, Nachtschwärmer und Nachtfalter,
wenn wir in verglasten Bars saßen, die sich um Mitternacht
wie die Nester nach dem Frühling leerten; wir nippten an
unseren Drinks mit amerikanischen Namen, Bronx, Manhattan,
und beim letzten Whisky waren wir schon alleine,
versunken in die feierliche Stille nach dem Leben, das ausgeflogen
war. Sie füllte uns aus wie Helium; wir schwebten
leicht über der Erde, über uns selbst, geflügelte Wächter des
Planeten, dessen Emissäre in der kosmischen Nacht. Wir
fühlten uns frei und obdachlos; unsere Gemeinschaft, Olgas
und meine, konnte irgendwo über der Stadt fortbestehen
und musste nicht in ihren Mauern sterben, sondern war verurteilt
zum ziellosen Umherirren durch die Himmelsalleen,
über die Felder an der Weichsel, durch die Stadtteilparks,
wo auch immer. Nighthawks, das berühmteste Bild von Edward
Hopper, tauchte immer häufiger auf Buchumschlägen,
Ansichtskarten, ja sogar auf Werbetüten auf, von denen James
Dean und Marlon Brando, manchmal Marilyn Monroe
– deren Köpfe die anonymen Gesichtszüge der Barbesucher
ersetzten – stumpf in ihre eigene Einsamkeit starrten. Das
verunsicherte und irritierte mich etwas, meine Vorstellung,
die Lieblingsfotografie von uns selbst, derart banal vervielfältigt
und auf glänzende Laminatteilchen verteilt, mein
Wunschtraum gemeinsam mit dem Plattencover von der Abbey
Road oder dem Bild vom Bau des Chrysler Towers in ein
Gelini Puzzle verwandelt, das in jedem Warenhaus erhältlich
ist, in Erzählungen überschrieben, die aus dem Bild Hoppers
wachsen wie Pilze aus dem Erdboden. Davon gab es viel,
etwas zu viel, zu oft erschien „mein“ Bild auf Umschlägen
von Büchern und Deckblättern von Kalendern, kostenlos
Zeitschriften beigefügt, die man ohnedies nicht mehr kaufen
wollte, jedoch fand ich mich auch mit dieser allgemeinen
Begeisterung ab; da es sie nun einmal gab, da sich in ihr eine
unausgesprochene Sehnsucht der Menschen regte, da sie von
einer ihnen gemeinsamen Matrize von Wünschen zeugte, gewann
sie an Gewicht. Wenn auch banalisiert und stereotyp,
erzählte sie von einem Wunsch, der wie der Hunger jeden
befallen kann. Ich existierte also (stellte ich mir vor), um die
Verantwortung für ihn zu übernehmen, ihn zu durchleuchten
im Namen aller bei einem Schnapsgläschen, bei Gläsern
mit klirrenden Eiswürfeln an Juliabenden, bei einem Glas
Grog (was zum Teufel ist Grog?), wenn der Frost auf den
Fenstern den Dampf überwältigte, ihn aus den Mündern
der Passanten ausstieß wie den Weißen Rauch für eine neue
Winterreligion.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ich kannte die Deklamationen der anderen. So viele bebende
Stimmen, die versuchten, Hoppers Bild auf den schmalen
Schultern der Gedichte zu tragen, sein zerbrechliches Kügelchen
über sie zu rollen. Sie zerschmolzen in den Halbschatten
dieser Nacht, verklangen schnell, wobei sie einzelne
Wörter wie Blickspuren zurückließen. „Der billige Duft der
Gardenien“, den Sue Standing am Hals der Frau im roten
Kleid herausgerochen hatte; „Patrone des Lebens“ sah Samuel
Yellen in den drei Besuchern; die Nachricht über einen
weiteren Sieg der Alliierten, die Ira Sadoff im Radio, das auf
dem Bild nicht zu sehen ist, hörte; Fetzen von Gesprächen
an der Bar über den Krieg, Hemingway und Fitzgerald, die
Susan Ludwigson aufgeschnappt hatte, als sie ihr Gedicht
schrieb mit der für die amerikanische Poesie charakteristischen
Aufzählung alltäglicher Details, der kalt werdende
Kaffee, die vier Salzstreuer auf der Theke, das sicherlich in
der Nähe geparkte Auto, ach, und schließlich, dort, an dieser
Bar, das sind ihre Eltern, jetzt streiten sie sich über den American
Dream... Alle diese Gedichte, und mehr, ganze Romane
(französische, englische) entsprangen den Nighthawks,
wurden auf deren Flügeln in die Höhe getragen, waren auf
rührende Weise nebensächlich wie die Erde vom Mond aus
gesehen; jemand sah aus ihrem Inneren auf das Café Phillies,
auf dessen durchsichtigen Körper und versuchte, sich
den Anblick einzuprägen; nach irgendetwas sagte er etwas,
flüsterte etwas, erzählte sein eigenes kleines Leben, seinen
Nachtfaltertanz vor dem gelben Licht des Inneren. Er schaute;
das Licht hinter der Glasscheibe, die sanfte Medusa, fesselte
den Blick, brachte einen um die Augen, so wie man um
den Verstand gebracht werden kann; die Scheibe trennte die
Wörter vom Ich, sie fielen auf dieser Seite ab und verschwanden
in der Dunkelheit.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
Znak
Cracow 2007
124 × 195 • 260 pages
paperback
ISBN: 978-83-240-0838-4
Translation rights: Znak
Marek Bieńczyk Durchsichtigkeit
81
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus
82
Photo: Marcin Giżycki
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die Essays des Bands Verschwörer der Phantasie bieten
keine aktuelle Synthese des Surrealismus, auch wenn sie sich
diesem Anliegen verdanken. In der Anreicherung um neue Fakten
– sowohl solche zu weniger bekannten oder nach Jahren
wieder neu entdeckten Vertretern der Kunstrichtung wie auch
solche, die den fortwährenden Einfluss des Surrealismus auf
zeitgenössische Künstler, Werbemacher und Designer unter Beweis
stellen.
Über die Geschichte der Kunstrichtung erzählt die Verfasserin
fast en passant anlässlich ausgewählter „Themenkreise“, die zum
Standardrepertoire der Surrealisten gehörten, und bei der Zeichnung
von „Porträts“ ausgewählter Künstler. Die Autorin wählt sie
nicht wie ein objektiver Wissenschaftler aus, der sein Thema
erschöpfend abhandeln möchte, sondern wie eine Kunstbegeisterte,
die die Akzente auf das legt, was sie selbst am Surrealismus
fasziniert. Sie erzählt von ihren persönlichen Kontakten zu
drei Künstlern: Leonora Carrington,
Gisèle Prassinos und Roland Topor.
Schon allein diese Kapitel des Buches
sind von einzigartigem Wert. Die Autorin
begegnete dem Werk der drei auch auf einer anderen Ebene
– als Übersetzerin –, und diese Art intimen Kontakts mit dem
Text spiegelte sich auch in den Verschwörern der Phantasie in
origineller Art und Weise.
Im Teil „Themenkreise“ ist von Fragen wie der Haltung der Surrealisten
zum Selbstmord, zur Liebe und zum Wahnsinn die
Rede, aber auch zum Mythos, zur Stadt und zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen.
In jedem Kapitel wechselt die Verfasserin
ungezwungen zwischen den verschiedenen Ausdrucksformen
der Kunst hin und her und führt damit vor, dass innerhalb der surrealen
Bewegung nicht davon die Rede sein konnte, sich auf nur
eine einzige Kunstform zu spezialisieren. Der Surrealismus war
nämlich die erste Kunstrichtung, die komplexen und interdisziplinären
Charakter besaß. Auch in dieser Hinsicht erfordert die
Wahrnehmung aller Realisationsformen und die Erfassung aller
Auswirkungen seiner „Elementarkraft“ vom Kenner der Materie
ein sicheres Bewegen in der Geschichte der Malerei wie auch der
Geschichte von Literatur und Film. Aber auch der Geschichte der
Psychiatrie und der Postkarte. Und genau um eine solch umfassend
gebildete Kennerin handelt es sich bei Agnieszka Taborska.
Marta Mizuro
Agnieszka Taborska (geb. 1961), Schriftstellerin,
Kunsthistorikerin und Übersetzerin.
Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus
83
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus
84
In
den besten Jahren des Stummfilms drehte Mack
Sennett Hunderte von Komödien in Kurzfilm- und
Spielfilmlänge, deren ewig scheiternde Antihelden
über Abgründen baumelten, bei Verfolgungsjagden im
Auto rasten, wie durch ein Wunder Explosionen unversehrt
entgingen, einander Sahnetorten ins Gesicht warfen. Diese
surrealistische, anarchische, gefährliche Welt, die Zirkus,
Vaudeville, Burleske, Pantomime und Comic entstammt,
regieren das Tempo, unablässige Überraschungen und ungefährliche
Katastrophen. Bei Sennett begannen Charlie
Chaplin, Harold Lloyd, Harry Langdon und Bing Crosby;
die Slapstick-Komödie wurde zum Modegenre des amerikanischen
Kinos der Zwanziger. Von dieser Epoche blieben
Tausende Meter Zelluloid und ein Requisit: die Torte.
Der Belgier Noël Godin alias Georges Le Gloupier, ein
1945 geborener Regisseur, Schriftsteller und Schauspieler
(unter anderem bekannt aus La Vie Sexuelle des Belges
1950-78), ist Liebhaber des Kinos, der surrealistischen Poetik
und der Situationskomik. Berühmtheiten diesseits und
jenseits des Atlantiks zittern vor ihm.
Bereits während seines Studiums übergoss Godin einen
Hochschullehrer, der mit dem portugiesischen Diktator Salazar
kollaborierte, mit einem Glas Kleber. In der von ihm
gegründeten Zeitschrift „Friends of Film“ – in bester Tradition
eine surrealistische Mystifikation – bebilderte er die Artikel
mit Fotos der eigenen Familie. Er meldete beispielsweise,
dass Louis Armstrong – ein einstiger Kannibale – den Film
The Vegetables of Good Will finanziert, in dem Claudia Cardinale
eine riesige Endivie spielt. Oder dass Richard Brooks,
der Regisseur der Katze auf dem heißen Blechdach, eingestanden
habe, seine Filme seien der letzte Dreck. Die Informationen
über eine erfundene blinde Regisseurin aus Thailand,
Vivian Pei, und ihren Film The Lotus Flower Will Never Again
Grow on the Edge of Your Island veranlassten einen gewissen
Spezialisten für asiatischen Film sogar, nach Thailand reisen,
um Vivian Pei persönlich kennenzulernen.
1968 traf Noël Godin einen Professor mit extrem reaktionären
Ansichten mit einer Torte. Seit dieser Zeit tortet
er besonders aufgeblasene Persönlichkeiten aus Kultur und
Politik ein. Sein erstes Opfer wurde Marguerite Duras dafür,
dass sie „Intelligenz und Klugheit dafür benutzt, ihre eigene
Eitelkeit zu füttern“.
Godin agiert nicht allein. Bei den schwierigen Aufgaben
begleiten ihn knapp 30 Personen, die in langen Mänteln an
den Ort des Geschehens kommen, unter denen Torten versteckt
sind. Auch Godin tritt bisweilen selbst in Verkleidung
auf. Die nach traditionellem Rezept angefertigten Backwerke
kauft er in bescheidenen Konditoreien und straft die Offerten
großer, reklamegieriger Firmen mit Nichtachtung.
Die Opfer wählen die Mitglieder der Torten-Internationalen
aus. Jeder Angriff wird sorgfältig vorbereitet, manchmal
mithilfe von „Verrätern“, die die nötigen Angaben machen,
wann und wo zugeschlagen werden kann. Dank eines solchen
Verrats kam es im Februar 1998 in Brüssel zum berühmtesten
Tortenattentat auf den Microsoft-Chef und
reichsten Menschen der Erde Bill Gates. Dreißig lächelnde
Robin Hoods, die zu Dreipersoneneinheiten gruppiert waren,
riefen: „Gloupe! Gloupe!“ und bewarfen ihn, als er aus
seiner Limousine stieg. Trotz fünf Leibwächtern und einer
Eskorte von vier Motorradfahrern erreichten vier Torten ihr
Ziel. Gates erhielt die Strafe für „die Nutzung von Intelligenz
und Phantasie zur Aufrechterhaltung des tristen Status
quo einer unvollkommenen Welt“.
Nicolas Sarkozy wurde während eines Besuchs in Brüssel
viermal getroffen. Mit Sicherheit sind neue Angriffen in
Arbeit. Der bekannte Journalist Alain Beverini bekam seine
Torte vor den Augen von Millionen von Fernsehzuschauern,
als er in Begleitung von dreißig Leibwächtern vor einem Hotel
in Cannes Holly Hunter interviewte (die die Hauptrolle
in Das Piano gespielt hatte).
Am meisten hat es Godin der französische Philosoph und
Fernsehstar, der narzisstische Bernard-Henry Lévy angetan,
der zu seinem Unglück einmal behauptet hat, er wäre der
begabteste Schriftsteller seiner Generation. Dafür wurde er
sieben Mal eingetortet, unter anderem auf der Bühne des Festivals
in Cannes. Seit dieser Zeit bringt immer dann, wenn
sich im Fernsehkabarett die Puppe Lévys zeigt, eine Sahnekaskade
sie zum Schweigen.
Die Torten erzeugen Aggression. Nach dem Angriff in
Cannes trat Lévy nach Godin. Zwei weibliche Mitglieder der
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Torten-Internationalen rettete in letzter Sekunde die Polizei,
als Leibwächter versuchten, ihre Gesichter in Kloschüsseln
zu drücken. Nur Godard bewahrte angesichts des Angriffs
Haltung. Als ihn 1985 in Cannes die Torte traf, leckte er
die Sahne von der Zigarre und lobte die Huldigung an das
Stummfilmkino.
Ganze 95% der Attentate gelingen. Noël Godin hat mehrere
Dutzend Opfer zu verbuchen. Er träumt von Sahnebombardements
aus dem Flugzeug auf das Radrennen Tour
de France und die Fußballweltmeisterschaft.
Seine Art, den Dünkel zu bekämpfen, griffen die Patissiers
Sans Frontières (Zuckerbäcker ohne Grenzen) auf. Zu
ihren zahlreichen Opfern gehört unter anderem Oscar de la
Rent, der in Portland vom Aktivisten des Kampfes gegen die
Pelzindustrie mit einer Tofutorte vermöbelt wurde. Im September
2001 wurde Karl XVI. Gustav, König von Schweden,
Opfer einer Erdbeertorte. Mehrere Monate zuvor erreichten
Apfeltorten den Vizepräsidenten von Białystok Bogusław
Dębski, den Umweltschutzminister Antoni Tokarczuk und
den ehemaligen Vizepremier Leszek Balcerowicz. Im Juni
2004 traf eine Heidelbeertorte in Warschau Lech Kaczyński,
und ein Jahr später – den Vizepräsidenten der Hauptstadt
Andrzej Urbański.
Nach dem von einem Mitarbeiter Godins auf den französischen
Kulturminister Philippe Douste-Blazy verübten Tortenattentat
brachte die Regierung den Fall vor Gericht. Der
Attentäter wurde jedoch nach der Erklärung des Anwalts
freigesprochen, Tortenwerfen sei in Belgien Tradition.
Bei einem Tortenattentat helfen Lachen, eine dumme
Miene und ein idiotisches Lied. Besser der bewaffneten Leibgarde
zeigen, dass es nur um eine Torte geht. Die Torte nicht
werfen, sondern aus der Nähe auf dem Gesicht des Opfers
plattdrücken.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
słowo/obraz terytoria
Gdańsk 2007
167 × 215 • 440 pages
paperback
Translation rights:
słowo/obraz terytoria
Agnieszka Taborska Verschwörer der Phantasie. Der Surrealismus
85
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher
86
Photo: Bianka Rolando
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Für Bianka Rolandos Debüterzählband waren ihre Herkunft
wie ihre Ausbildung von großer Bedeutung. Italienische
Gesprächsbücher ist der Versuch, von einer Identität zu erzählen,
die durch vier Kulturkreise geprägt wird: das Polnische, das Italienische,
die Malerei und die Literatur.
Ins Spiel kommt hier eher Impression als autobiographisches
Erzählen, die Schriftstellerin spricht nämlich nur selten über
sich selbst und sucht dann Zuflucht bei Fakten aus ihrem Leben.
Doch nicht Fakten konstituieren dieses Buch, sondern die
Art, wie Rolando spricht. Wie sie auf ihre Zweisprachigkeit
und ihre Bikulturalität Bezug nimmt und wie sie Wort und Bild
verknüpft. Jeder der elf Texte, die den Erzählband bilden, wurde
durch ein ausgewähltes Meisterwerk der italienischen Malerei
inspiriert und wird von einer graphisch-fotographischen Arbeit
begleitet. Sichtbares und Lesbares
sind hier aufs Engste miteinander
verbunden.
Daraus entstand eine originelle und
eindrucksvolle Mischung. Sie umschließt
eine zeitgenössische Interpretation
der Szenen auf den Bildern und den Versuch, diese
Darstellungen zur heutigen Mentalität in Bezug zu setzen; der
Mentalität derer, die in der Betrachtung des jeweiligen Bildes
ihre eigenen Probleme wiederfinden. Rolando siedelt sich selbst
unter den potentiellen Betrachtern oder den Porträtierten an: Sie
belauscht sie nicht nur, sondern lauscht auch in sich hinein.
Die kleinen „Bildchen“ changieren zwischen verschiedenen
Schattierungen und bieten viele Spuren, denen man bei der Lektüre
folgen kann. Dieses Spiel spiegelt sozusagen den Lernprozess
und die Entdeckung des Reichtums der Sprache – angefangen
von Abzählreimen für Kinder, Sprichwörtern oder Liedern,
die kunstvoll in den Erzählfluss eingeflochten werden.
Auch wenn der Gegenstand der Analyse hier ungewöhnlich bedeutsam
ist, scheint das von Rolando aufgezeigte Problem der
Multikulturalität eine nicht minder wichtige Frage zu sein. Die
Autorin konzentriert sich nicht auf die Unterschiede, sondern
das Gemeinsame. Auf universelle Symbole und dem allen Europäern
gemeinsamen Traditionsstrang der Kultur. Italienische Ge-
sprächsbücher ist ein ausgezeichneter Beweis dafür, dass, auch
wenn uns die Sprache trennt, immer noch andere Verstehensebenen
bleiben – die Geste, der Gesichtsausdruck oder der
Tonfall der Stimme.
Marta Mizuro
Bianka Rolando (geb. 1979) stammt aus einer
polnisch-italienischen Familie, schafft hauptberuflich
Grafiken und lehrt an der Warschauer Akademie für
Bildende Künste.
Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher
87
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher
88
Marta
bricht nach Putzmitteln duftend
(ihre angeborene Liebe zum Badezimmerschrubben)
zu ihrer
Schwester Maria auf. Sie legt ihren grauen Umhang um.
Heute trägt sie ein blaues Kleid.
Gib deiner Schwester die Puppe zurück, zieh sie nicht an
den Haaren. Immer ist es dasselbe, immer ist sie unschuldig,
weil sie jünger ist.
Marta hat eine auf Kredit gekaufte kleine Einzimmerwohnung,
die leer steht. Im Augenblick steht dort nur ein Ikea-
Bett aus dem Sonderangebot. Sie ist einsam. Die Schenkel
verwachsen miteinander, die Brüste füllen den BH nur der
Form halber.
Sie kann ihre Schwester nicht ausstehen. Nie waren sie
zusammen einkaufen gegangen, um sich Handtaschen oder
die widerlichen, billigen Ballerinas mit den Punkten zu
kaufen.
Maria hat, als sie klein war, ihre Schwester gebissen. Sie
hat angefangen. Gar nicht wahr, sie war’s. Sie waren einander
nicht ähnlich, auch wenn manche in der Familie witzelten,
sie seien beide füllig wie frische Brötchen.
Vater, Gott hab ihn selig, der in einem winzigen Tümpel
angelte (nie hatte er auch nur einen einzigen Fisch geangelt),
sprach von seinen Töchtern als schönen Schiffen. Verkalkung.
Nette, sehr schlichte Metaphern.
Zwei Windjammern mit sehr ähnlichen Ausmaßen können
mit verschiedener Verzögerung auf die Bewegung des
Steuerrads reagieren. Sie können andere Eigenschaften
im Wind haben. Sie können ihre Merkmale verändern –
abhängig von der Windstärke und der Höhe der Wellen.
Maria bekam immer die interessanteren Geschenke (die
Hawaii-Barbie mit Pferdchen, das jeden mit seinem verlangenden
Blick anschaute). Sie war verwöhnt und beliebt,
die fette Robbe. Das arme Mariele. Ihr Haar war zu einem
Zopf geflochten. Ihre Zähne waren immer braun von Schokolade.
Gib ihr dies zurück, gib ihr jenes zurück.
Marta fährt in einem überfüllten Bus zur Schwester. An
jeder Haltestelle steigen Unmengen von Menschen ein.
An jeder Haltestelle ein Superkraftakt. Der Bus kommt
zur Endhaltestelle. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur
Schwester. Sie zerbeißt ein hartes Minzbonbon, um ihren
Atem zu erfrischen. Heute will sie mit ihr sprechen, vielleicht
streiten.
Maria öffnet ihr die Tür. In ihrer Wohnung ist der Strom
abgestellt (die Stromrechnungen für März und April sind
nicht bezahlt). Sie sitzt im Halbdunkel, kämmt ihr Haar.
Warum wurde der Strom abgestellt? Warum bist du
arbeitslos? Du bist völlig verantwortungslos – wie immer.
Wirst du in alle Ewigkeit auf meine Hilfe rechnen?
Ihre Hände geraten in Bewegung. Sie werden sich nicht
prügeln wie Grundschulgören auf dem Schulsportplatz
nach dem Unterricht. Das ist nur Navigation per Hand.
Die linke Hand nach unten, die rechte hebt den Zeigefinger.
Die Rechte hebt den Zeigefinger, die Linke zeigt nach
unten. Das sind alle Vorschriften, die auf binnenländischen
Wasserwegen gelten, ergänzt von den Anordnungen binnenländischer
Genueser Schiffahrtsinspektoren in Fragen
lokaler Familienkonflikte.
Du bist nicht meine Schwester. Ich sehe in den Spiegel,
und dort sehe ich meine Schwester, aber nicht hier. Hier
sehe ich nur einen feisten Hampelmann, der von Kindheit
an Flanellunterhosen trägt. Jetzt trägst du sie sicher wieder.
Musst du immer so fürchterlich umsichtig sein? Immer
wirfst du mir vor, dass ich mehr bekommen habe als du.
Kannst du dich erinnern, wie fest du mich geschlagen hast?
Du hast meine Hawaii-Barbie kaputtgemacht, ihr den Kopf
abgerissen und die Finger abgebissen. Du bist die Nacht,
ich bin der Tag.
Die Wettervorhersage. In der Nacht bedeutend kälter als
tagsüber. Eventuell Gewitter mit vorüberziehenden Tränenschauern.
Ich bin völlig einsam. Ich führe Selbstgespräche. Nie
haben wir einander geholfen. Als unsere Eltern gestorben
waren, hast du aufgehört, dich für mich zu interessieren.
Ich habe mir so sehr gewünscht, dass wir zusmmen
einkaufen gehen. Wir hätten uns drollige Handtaschen
gekauft und diese widerlichen Ballerinas mit den Punkten.
Jetzt habe ich es sehr schwer. Ich brauche dich, denn
schließlich ist der Abstieg von der Untiefe einer großen
Windjammer wirklich schwer. Es gibt außergewöhnlich un-
zurück zum Inhaltsverzeichnis
glückliche Umstände. Wenn es schon zu einer so schweren
Situation kommt, muss man einen Schlepper oder ein Rettungsschiff
rufen.
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Wydawnictwo Sic!
Warsaw 2007
135 × 205 • 104 pages
paperback
ISBN: 978-83-60457-27-6
Translation rights:
Wydawnictwo Sic!
Bianka Rolando Italienische Gesprächsbücher
89
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)
90
Photo: Grażyna Samulska
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Bereits in seinen ersten beiden Romanen Nicht der Hit und Das
Wunder zeigte sich Ignacy Karpowicz als origineller und überaus
einfallsreicher Prosaist. Doch mit Die Neue Blume des Kaisers
hat sich der Autor selbst übertroffen. Es fällt schwer, diesen
Text einer bestimmten Gattung zuzuordnen, er enthält Elemente
der Reportage, des Romans, des Reisetagebuchs und von etwas,
das man als romantisch-ironisches Prosaepos bezeichnen
könnte. Karpowicz selbst charakterisiert seine Erzählweise – mit
der ihm eigenen Hintergründigkeit – folgendermaßen: „Ich bin
ein Schwarzfahrer des Exkurses [...] Alles, worüber ich schreibe,
interessiert mich – und gleichzeitig ist mir nichts besonders
wichtig“. Er erzählt von seinen Reisen nach Äthiopien, einem von
der Geschichte gezeichneten, armen afrikanischen Land, das
bereits im Mittelpunkt von Ryszard Kapuścińskis ausgezeichneter
Reportage König der Könige. Eine Parabel der Macht stand. In
seiner ausschweifenden Narration,
die so flirrend ist wie die heiße afrikanische
Luft, erzählt Karpowicz von
seinem Aufeinandertreffen mit einer
anderen Kultur (in der man Weißen auf eine sehr spezifische Art
begegnet), berichtet von seinem Kampf mit einer nahezu kafkaesken
Bürokratie, beschreibt das heutige Äthiopien und seine
Einwohner, gibt einen Abriss der Geschichte dieses Landes und
präsentiert die faszinierenden Denkmäler und Landschaften,
über die in Europa kaum etwas bekannt ist. Und all das würzt
er mit einer großen Portion Ironie und feinen Humors, die fast
schon zu seinem Markenzeichen geworden ist.
Wenn ich an Ignacy Karpowiczs neuen Roman denke, kommt
mir unweigerlich das Wort „seltsam“ in den Sinn. Ja, es ist eine
seltsame Prosa, doch diese (vor allem formale) Seltsamkeit ist
– so meine ich zumindest – vom Autor beabsichtigt. Auf eben
diese Weise versucht Karpowicz die „Seltsamkeit der Existenz“,
die ihn während seiner Reisen durch Äthiopien anfiel, in Worte
zu fassen.
Robert Ostaszewski
Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaist,
Übersetzer aus dem Englischen, Spanischen und
Amharischen.
Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)
91
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)
92
Addis
liegt 2400 Meter über dem Meeresspiegel
und ist somit die am
dritthöchsten über Meeren und
Ozeanen emporragende Hauptstadt weltweit. Der Reiseführer
von Herrn Briggs ist nicht der Einzige. Aus einem anderen
(bei Camerapix erschienenen) Werk fördere ich die folgende
charmante Beschreibung zutage, die aus sicherer Realitätsferne
geschrieben wurde, oder von jemandem, den man dafür
bezahlt hat: „Breite, dreispurige Straßen, eine eindrucksvolle
Architektur, herrliches Wetter und Karawanen von Eseln,
die malerisch durch die Boulevards ziehen, machen die Neue
Blume zu einem empfehlenswerten Reiseziel“. Als sei dies
noch nicht genug führt der Autor auch noch die Fülle von
gemütlichen Cafés und Konditoreien ins Feld, die ein wenig
an Rom erinnert. Klar doch. […]
Ich biege nach rechts in eine Straße mit dem vertrauten
Namen Wavel. Ich werde noch bei verschiedenen Gelegenheiten
die Namen von Straßen nennen – obwohl es nicht
den geringsten Nutzen hat. In erster Linie weil die Straßen
hier überhaupt nicht gekennzeichnet sind und ihre Namen
lediglich auf den Stadtplänen erscheinen. Die Einzigen, die
von ihnen Gebrauch machen, sind weiße Touristen und – zu
diesem Punkt gibt es widersprüchliche Aussagen – die äthiopische
Post. Eine gewisse Erschwernis stellt auch die Tatsache
dar, dass jede einigermaßen ansprechende Straße oder Allee
ein Recht auf zwei, drei oder sogar noch mehr Synonyme für
sich in Anspruch nimmt. Diese Bezeichnungen sind generell
austauschbar. Und es wäre gar nichts an einem solch verschwenderischen
Umgang mit Straßennamen auszusetzen,
wenn jeder sie alle kennen würde.
Leider ist dies nicht der Fall. Wenn ihr euch verirrt, wird
kaum jemand, den ihr nach dem Weg fragt, euer topografisches
Wissen mit euch teilen. Und selbst wenn sich herausstellen
sollte, dass sowohl ihr als auch die von euch gefragte
Person denselben Begriff wiederholt, ist noch lange nichts
gewonnen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Um
die Dramatik der Situation zu verdeutlichen, möchte ich die
wahrscheinlichsten einmal nennen. Euer Gegenüber versteht
kein Englisch und spricht einfach nach, was ihr gerade gesagt
hat. Euer Gegenüber versteht Englisch, weiß aber nicht,
wovon ihr redet, und spricht euch nach, um ein wenig mit
euch zu schwatzen. Euer Gegenüber versteht Englisch und
weiß, wovon ihr redet, hat jedoch keine Ahnung, wo sich die
gesuchte Straße befindet, und spricht euch nach, um euch
nicht zu kränken. Euer Gegenüber versteht Englisch, weiß,
wovon ihr redet, und kennt – wie er euch versichert – sogar
den Weg dorthin.
Armer, einfältiger Tourist! Du bist noch längst nicht gerettet!
Im besten Fall denkt euer Gegenüber an den dritten Namen
einer Straße, der bereits seit Jahren nicht mehr in Gebrauch
ist (außer in dem Stadtteil, in dem du dich gerade befindest),
während du an den ersten Namen einer Straße denkst, der
so alt ist, dass ihn längst alle vergessen haben. Folgst du nun
also jener mühsam errungenen Wegbeschreibung, kannst du
sicher sein, auf gänzlich unerforschte Gegenden zu stoßen.
Es lohnt sich. Deine Situation erfährt keine wesentliche Änderung:
Noch mehr verirren kann man sich nicht. Entweder
man hat sich verirrt oder nicht, dazwischen gibt es nichts,
so mahnt uns die protestantische Prädestinationslehre. Du
wolltest reisen und jetzt hast du, was du wolltest: Du besuchst
Orte, an denen du noch nie zuvor gewesen bist.
Entgegen allem Anschein entspringt die äthiopische Vorliebe
für Wort- und Namensschöpfungen einer zutiefst ästhetischen
und philosophischen Grundhaltung. Man muss
nur ihre Denkweise verstehen: Irgendein hohes Tier denkt
sich einen Namen aus. In der Regel fragt er die Einwohner
nicht, ob ihnen der neue Name gefällt und ob er die topografische
Realität angemessen wiedergibt. Er macht sich auch
nicht die Mühe zu überprüfen, wie man zum Beispiel diese
Allee bis dahin eigentlich genannt hat. Denn irgendwie muss
man sie ja schließlich genannt haben, die Stadt duldet kein
Vakuum. Und was nun? Soll man sich etwa einfach so mit
der Inkompetenz irgendeines Beamten abfinden? Niemals!
Soll er sich doch von seinem Schreibtisch herab so viele Namen
ausdenken, wie er will.
Folgen wir dieser Spur. Sie ist sicher. Wir werden uns nicht
verirren.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Wir haben also einen Namen. Doch die Welt steht nicht
still, überall entstehen neue Gebäude, die alten zerfallen, die
Straße lebt, verändert ihren Charakter, vielleicht wird sie sogar
asphaltiert. Und was nun? Soll ein einziger Name sie für
alle Zeiten beschreiben?
Blödsinn!
Der Name muss geändert, an die jeweilige Situation angepasst
werden. Nur so bleibt sein Bezug zur Realität erhalten.
Nur so vermag er der schillernden Vielfalt des Universums
gerecht zu werden. Aus diesem Grund operieren die Äthiopier
mit mehreren Namen gleichzeitig. Nicht selten kommt
es auch zu Namenswanderungen. Früher hieß diese Straße
einmal Schöne Straße, doch dann wurde hier ein Hochhaus
gebaut: Und vielleicht war sie früher einmal schön, aber heute
ist sie es nicht mehr. Dafür wurden ganz in der Nähe Eukalyptusbäume
gepflanzt, die sehr schön aussehen, also wird
diese Straße zur Schönen Straße. Leider hat die Polizei nicht
richtig auf die Eukalyptusbäume aufgepasst, sodass sie schon
bald darauf zu Brennholz verarbeitet wurden. Im Grunde
waren aber nur die Eukalyptusbäume schön gewesen, jetzt
war die Straße war nur noch die Schmale Straße. Ganz in
der Nähe jedoch...
Darüber hinaus lässt diese Form der sprachlichen Aktivität
auch Raum für den Ausdruck der eigenen Individualität:
Mir gefällt dieses Hochhaus, ändert den Namen, soviel ihr
wollt, für mich bleibt es die Schöne Straße.
Ich muss zugeben, dass ich diese ständig neu bezeichnete,
immer wieder aufs Neue geschaffene, wie ein Regenbogen
flüchtige Welt, im ersten Moment als feindlich empfand,
quasi als afrikanische Spielart des Großstadtdschungels. Später
jedoch, als ich den schmerzhaften Prozess der Anpassung
bereits hinter mir hatte, lernte ich diese Tradition der Unordnung
und Lebendigkeit bedingungslos zu lieben.
Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau
Państwowy Instytut
Wydawniczy
Warsaw 2007
145 × 230 • 256 pages
paperback
ISBN: 978-83-06-03077-8
Translation rights:
Ignacy Karpowicz
Contact: PIW
Ignacy Karpowicz Die Neue Blume des Kaisers (und die Bienen)
93
zurück zum Inhaltsverzeichnis
94
Alles über Lem
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Stanisław Lem (1921-2006) seiner Ausbildung
nach Arzt und Theoretiker der Wissenschaft, aus
Neigung Schriftsteller, Klassiker der Science-Fiction.
95
Maciej Płaza
O poznaniu
w twórczości
Stanisława Lema
Wydawnictwo
Uniwersytetu Wrocławskiego
Wrocław 2006
150 × 210 • 579 pages
hardcover
ISBN: 83-229-2765-7
Translation rights: Maciej Płaza
Contact: Wydawnictwo
Uniwersytetu Wrocławskiego
Wojciech Orliński
Co to są sepulki?
Wszystko o Lemie
Znak
Cracow 2007
144 × 205 • 282 pages
paperback
ISBN: 978-83-240-0798-1
Translation rights: Znak
Paweł Majewski
Między zwierzęciem
i maszyną. Utopia
technologiczna
Stanisława Lema
Wydawnictwo
Uniwersytetu Wrocławskiego
Wrocław 2007
150 × 210 • 295 pages
hardcover
Translation rights:
Paweł Majewski
Contact: Wydawnictwo
Uniwersytetu Wrocławskiego
Alles über Lem
zurück zum Inhaltsverzeichnis
96
Alles über Lem
Vor gut einem Jahr starb Stanisław Lem, ein ungemein
bekannter Schriftsteller, der aber von der polnischen Kritik
nicht durch allzu viele wissenschaftliche Analysen verwöhnt
wurde. Das ändert sich allmählich, dank neuer Autoren in
diesem Fachgebiet.
Beginnen wir mit einer populären Ausgabe, dem kurzen
Wörterbuch der Begriffe, die von Lem benutzt wurden und
mit seinem Werk verbunden sind. Wojciech Orlińskis Buch
Was sind Sepulken? Alles über Lem ist leicht und überaus witzig
und zugleich intelligent und mit großer Sachkunde geschrieben.
Orliński, Journalist bei der „Gazeta Wyborcza“,
der sich mit literarischen Dingen ebenso beschäftigt wie mit
Problemen der neuesten Wissenschaft, hat in sein Kompendium
Stichwörter aufgenommen, die sich auf die Werke Lems
beziehen, seine Biographie, seine Verwandten, Freunde und
Gegner, auf die Welt, die in seinen Werken dargestellt wird,
auf Probleme und Themen, die in den Büchern angeschnitten
werden, auf Kritiker, die sich mit Lem befaßt haben, auf
Filmemacher, die seine Werke als Vorlage verwendet haben,
und schließlich auf die realen Länder der Erde, die Lem in
seinen Büchern beschrieben hat.
Die Stichwörter enthalten viele durchaus seriöse Informationen
über das Werk Lems, aber sie sind, wie dieses Werk
selbst, voller Humor, wie etwa der Eintrag über die titelgebenden
Sepulken:
Sepulken – wichtiges Element der Zivilisation der Ardriten
(s. d.) auf dem Planeten Enteropia (s. d.); s. Sepulkaria
Sepulkaria – zum Sepulieren (s. d.) dienende Objekte
Sepulieren – Tätigkeit der Ardriten (s. d.) auf dem Planeten
Enteropia (s. d.); s. a. Sepulkaria
Dieses Stichwort fand Ijon Tichy in der von Professor
Tarantoga entliehenen Kosmischen Enzyklopädie. Fasziniert
von den rätselhaften Sepulken (und anderen Attraktionen
Enteropias wie den Kulupen und Okteseln), beschloß er, der
Sache auf der vierzehnten Reise auf eigene Faust nachzugehen.
Auf Enteropia angekommen, bemerkte Tichy, daß alle
Medien, Werbung und Kunstwerke von Anspielungen auf
Sepulken nur so wimmeln. Aus Neugier begab er sich in ein
entsprechendes Geschäft und bestellte eine, woraufhin der
Verkäufer ihn nach seiner Ehefrau fragte. „Ich habe keine
Frau“, erwiderte Tichy. „Sie… Sie haben… keine Frau?“
stammelte der errötende Verkäufer entsetzt, „und da wollen
Sie eine Sepulke…? Ohne Gattin…?“ Noch schlimmer endete
der Versuch, dieses Thema mit einem Bekannten zu erörtern,
einem Ardriten, der sich mit seiner Familie in einem
Nachtlokal vergnügte. „Darf ich, weil ich keine Frau habe,
keine Sepulke sehen?“, fragte Tichy. „Diese Worte fielen in
eine plötzlich entstandene Stille. Die Frau meines Bekannten
sank ohnmächtig zu Boden, er stürzte zu ihr […]. In diesem
Augenblick erschienen drei Kellner; sie packten mich am
Kragen und warfen mich auf die Straße“.
Vor Orlińskis Buch war ein ungemein interessantes wissenschaftliches
Werk erschienen: Über die Erkenntnis in den
Schriften Stanisław Lems von Maciej Płaza. Płaza beschreibt
das Werk Lems in vier großen Kapiteln: „Lems Strukturen
und Strategien“, „Futurologie der empirischen Wissenschaften“,
„Das literarische Gedankenexperiment“ und „Fiktion
der Logik oder Logik der Fiktion“. Die Arbeit untersucht
die Erkenntnisproblematik, die das grundlegende Thema
der Lemschen Phantastik darstellt. Man könnte fragen, ob
ein Phantast überhaupt etwas erkennen kann. Nun beweist
Maciej Płaza, wie eng die wissenschaftlich-philosophischen
Essays Lems mit seinem belletristischen Werk zusammenhängen,
das einen Raum bildet, in dem bestimmte Ideen aus
den Bereichen der Soziologie, der Kulturwissenschaft oder
der Technik unter Beachtung literarischer Konventionen im
Material der fiktiven Fabeln modelliert werden. Auf genau
diese Weise fand das Prognostizieren künftiger Zustände der
Technik und der menschlichen Kultur bei Lem seine Fortsetzung
in etwas, das Płaza als „literarisches Gedankenexperiment“
bezeichnet, aber auch in der vom dem Forscher
ungemein interessant analysierten Metaliteratur, den Lemschen
Apokryphen: Rezensionen und Vorworten zu fiktiven
Büchern. Płazas Buch wird für künftige Erforscher des Lemschen
Schaffens zweifellos zur Pflichtlektüre gehören.
zurück zum Inhaltsverzeichnis
In derselben renommierten Verlagsreihe wie Płazas Buch
erscheint eine weitere wertvolle wissenschaftliche Abhandlung
über Lems Werk: Zwischen Tier und Maschine. Die technologische
Utopie Stanisław Lems von Paweł Majewski. Darin
befaßt sich der Warschauer Gelehrte im Grunde mit nur zwei
wichtigen essayistischen Büchern Lems, den Dialogen und
der Summa technologiae. Er behandelt unter anderem Lems
Verhältnis zur Kybernetik, die Frage der sich verwischenden
Grenzen zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen,
das Problem der Konstruktion des Cyberraums und all seine
– sehr weitläufigen – Kontexte. Seine Ausführungen münden
in das wichtigste Thema, das nach Ansicht des Verfassers
bei Lem das Projekt der Autoevolution des Menschen ist,
ein Projekt, das entweder eine radikale Umgestaltung des
Körpers erfordert oder dessen gänzliche Verwerfung zugunsten
einer spezifischen Komposition aus biologischen und
maschinellen Elementen, mit der Perspektive, die menschliche
Physis einer vollständigen und radikalen Umwandlung
zu unterziehen. Dieses durch seine Kühnheit schockierende
Projekt vergleicht der Verfasser mit der aktuellen Strömung
des Posthumanismus, und er zeigt, das der Autor der Summa
dessen Vorläufer war. Am Schluß des Buches wird Lem als
Visionär dargestellt, der sich auf das Projekt der Autoevolution
verlegte, um die Widersprüche der conditio humana zu
beseitigen und uns um den Preis der Vernichtung aller kulturellen
Errungenschaften zu befreien von der „schrecklichen
Mühsal, ein Mensch zu sein“.
Jerzy Jarzębski
97
Alles über Lem
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Julia Hartwig Dank für die Gastfreundschaft
98
zurück zum Inhaltsverzeichnis
„Von dem Augenblick an, in dem ich in Frankreich war, bestimmte
alles dort Erlebte meinen weiteren Weg, beeinflusste meine
Interessen, mein Verhältnis zur Welt, meine Leidenschaften,
meine Arbeit“, schreibt Julia Hartwig in ihrem neuesten Buch,
dem Titel entsprechend ein Dank für die Gastfreundschaft. Der
Dank geht nicht so sehr an konkrete Personen, auch wenn von
ihnen oft die Rede ist, als an die französische Kultur und Zivilisation,
die Literatur und insbesondere die Poesie des Landes an
der Seine.
Julia Hartwig revanchierte sich für die „Gastfreundschaft“ wahrlich
königsgleich: mit brillanten Büchern über französische Dichter,
Rimbaud-Nachdichtungen, Essays zur französischen Kultur,
der alten und der heutigen, wie auch zur Geschichte, auch der
schwierigen jüngsten Vergangenheit. Der Dank für die Gastfreundschaft
besteht neben Essays auch in Reisetagebüchern,
Gedichten der Lyrikerin mit französischen Motiven, Übersetzungen.
Viel Raum widmet die Autorin Pariser Außenseitern, Fremdlingen
gleich ihr, die sich diese außergewöhnliche Stadt vertraut
zu machen und ihr Schaffen zu bereichern verstanden wie Blaise
Cendrars, wie Max Jacob, wie Henri
Michaux oder Marcel Duchamp.
Für Julia Hartwig bleibt Paris auf immer Hauptstadt der Weltkultur,
selbst wenn es nicht mehr das Paris bis zur Studentenrevolution
Ende der 60er Jahre ist, als London und später New York
diesen Titel übernahmen. In der Nachkriegszeit war das jedoch
anders, und das, was ringsum die Champs Élysées entstand,
beeinflusste das künstlerische Leben in West und Ost, Nord
und Süd. Gleichgültig, ob es Lied, Bild, Theaterstück, Film oder
Buch war. Apropos Buch: „Das Verblüffende an der französischen
Literatur“, schreibt Julia Hartwig, „ist ihre Bandbreite: das
Hugosche Genie französischen Esprits und Rabelais’sche Grobschlächtigkeit,
Mussetsche Eleganz und der ergreifende Gesang
Apollinaires, der Wahnsinn Lautréamonts, die unerschöpfliche
Schaffensgewalt der Lyrik Rimbauds, die verschlossene Sensiblität
des Kubismus Reverdys, der Erfindungsreichtum des lyrischen
Paradoxon bei Jacob. Alt und neu, einzeln und vereint wie
Wurzel, Halm, Blatt und Blüte einer Pflanze.“
Krzysztof Masłoń
Julia Hartwig (geb. 1921), Dichterin, Essayistin,
Übersetzerin.
Julia Hartwig
Podziękowanie za gościnę
słowo/obraz terytoria
Gdańsk 2007
140 × 220 • 424 pages
paperback
ISBN: 978-83-7453-707-0
Translation rights: słowo/obraz terytoria
Julia Hartwig Dank für die Gastfreundschaft
99
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Jacek Antczak Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall
100
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Dieses Buch geht über das dem Leser Vertraute weit hinaus.
Nicht nur, weil eine unverwechselbare Persönlichkeit im Zentrum
steht und das, was sie über ihre Arbeitsmethoden oder
ihre Sicht des Lebens zu sagen hat, bisweilen verblüfft. Von einem
großen Menschen lässt sich schwerlich Anderes erwarten.
Doch könnte man annehmen, dass Hanna Krall nicht abgeneigt
ist, ihr eigenes subjektives Empfinden in Textform zu bringen.
Stattdessen verkündet sie: „Niemals werde ich über mich selbst
in der ersten Person schreiben“. Aber „ich werde nicht schreiben“
heißt natürlich nicht „ich werde nichts sagen“. Mit der Reporterin
wurden Dutzende ausgezeichneter Interviews geführt.
Doch keines davon war ein Gesprächsstrom, der die Funktion
einer Biographie erfüllte.
Die zehn Gespräche, die im Buch vorgestellt werden, wurden
geführt und nicht geführt. Jedes ist eine Collage, die aus bereits
fertigen Interviews komponiert wurde.
Der Kompilator Jacek Antczak
schnitt ganz wörtlich vorhandene
Texte auf einzelne Fragen zu und
stellte sie so zusammen, dass sie
eine thematische Einheit bildeten.
Die ursprünglichen Interviews wurden
selbstverständlich in den Anmerkungen aufgeführt, aber
bisweilen mussten die Fragen durch andere ersetzt werden,
damit der geschaffene Wortwechsel seine logische Ordnung
behielt. Die Spuren dieser Eingriffe bleiben unsichtbar: Die
Gespräche haben ihr eigenes Tempo und bewahren sogar die
Hitzigkeit einer „Diskussion“. Dennoch bleibt am wichtigsten,
dass das Verwischen der Identität der Interviewer es erlaubt,
die Stimme Hanna Kralls um so deutlicher herauszuschälen. In
der ersten Person.
Die Gespräche sind in drei Teile untergliedert. Im ersten erläutert
Krall, was es für sie bedeutet, Reporterin zu sein. Im zweiten gewährt
sie Einblicke in das Nähkästchen des Reporterhandwerks.
Im dritten spricht sie über ihr Verhältnis zu den Lesern. Immer
eindrucksvoll: ob sie eine Anekdote anführt, ob sie Verallgemeinerungen
formuliert oder einen inneren Zwiespalt schildert.
Hanna Krall spricht sich dafür aus, dass eine Reportage nicht
nur als Sachliteratur gelesen wird, sondern dass man in ihr eine
tiefere Bedeutung sucht. Die Reporterin ist also für die Fangemeinde
der Autorin von Schneller als der liebe Gott genauso
wertvoll wie für diejenigen, die beruflich mit literarischen Stoffen
umzugehen haben.
Marta Mizuro
Hanna Krall, brillante Reporterin und Schriftstellerin.
Übersetzt ins Englische, Tschechische,
Finnische, Hebräische, Spanische, Holländische,
Deutsche, Rumänische, Slowakische, Schwedische,
Ungarische und Italienische.
Jacek Antczak
Reporterka. Rozmowy z Hanną Krall
Rosner & Wspólnicy
Warsaw 2007
120 × 190 • 168 pages
paperback
ISBN: 978-83-60336-15-1
Translation rights: Rosner & Wspólnicy, Jacek Antczak
Contact: Rosner & Wspólnicy
Jacek Antczak Die Reporterin. Gespräche mit Hanna Krall
101
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Ryszard Legutko Traktat über die Freiheit
102
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Thema des Traktats über die Freiheit von Ryszard Legutko ist die
Freiheit – ein Schlüsselbegriff für die Philosophie wie für das
gesellschaftliche Leben von heute. Für demokratische Gesellschaften
ist der Begriff kein Problem an sich mehr. Niemand, der
bei Verstand ist, stellt das Bedürfnis, ja sogar die Notwendigkeit
der Freiheit in Frage.
Zum Problem wird dagegen die Verteilung der Freiheit, ihr von
uns gewünschter Umfang. Der Traktat über die Freiheit bringt
eine Übersicht über die klassischen Auffassungen des Freiheitsbegriffs,
von der platonischen bis zur liberalen Konzeption; in
den Vordergrund rückt dabei die Frage der sogenannten negativen
Freiheit, über die allgemeines Einverständnis besteht, freilich
mit dem Hinweis, daß es an klaren Kriterien fehlt, von denen
ihre Dauer abhängig ist. Besonders interessant ist das vom Verfasser
angeschnittene Problem des Verhältnisses zwischen der
negativen Freiheit und dem Kommunismus. Legutko stellt den
wie ein Mantra ständig wiederholten Gegensatz zwischen sowjetischem
Totalitarismus und westlichem
Liberalismus in Frage. Die
völlige Erniedrigung des Menschen
im Kommunismus beruhte ihm zufolge
vielleicht auf einem anthropologischen Irrtum, dem der
Kommunismus erlag. Dieser richtete sich nämlich gegen „die
gesamte menschliche Existenz, gegen fast alle Bestrebungen und
Potentialitäten, über die der Mensch noch verfügte“.
Ryszard Legutkos Buch ist fest im polnischen Hier und Jetzt verwurzelt.
Daher erwähnt er auch den „merkwürdigen ideologischen
Krieg“ in den frühen neunziger Jahren, „in dem auf der
einen Seite die Anhänger einer radikalen Zurückweisung des
Erbes und metaphysischer Begründungen als Formen des Vorurteils
standen, auf der anderen Seite dagegen jene, die sich
nicht vorstellen konnten, wie sich ohne solche historischen oder
metaphysischen Begründungen die negative Freiheit organisieren
läßt“. Ob es, wie der Autor sagt, glücklicherweise zum Waffenstillstand
kam, weiß ich nicht; jedenfalls haben die Anhänger
der letzteren Orientierung Stimmrecht erlangt. Und das bedeutet,
daß der Streit um grundlegende Werte – darunter auch der
Umfang der Freiheit – weitergehen wird.
Krzysztof Masłoń
Ryszard Legutko (geb. 1950), Philosoph,
Professor der Philosophie an der Jagiellonen-
Universität.
Ryszard Legutko
Traktat o wolności
słowo/obraz terytoria
Gdańsk 2007
140 × 225 • 248 pages
paperback
ISBN: 978-83-7453-763-6
Translation rights: słowo/obraz terytoria
Ryszard Legutko Traktat über die Freiheit
103
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Piotr Matywiecki Tuwims Gesicht
104
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Was ist Tuwims Gesicht? Eine Biographie jedenfalls nicht – der
Lebenslauf des Dichters nimmt einen gewissen, wichtigen Teil
des Buches ein, ohne jedoch zu dominieren. Eine Werk-Monographie
ist es auch nicht – denn es löst trotz seines Umfangs
nicht alle von Tuwim aufgeworfenen Fragen, sondern signalisiert
sie und stellt lediglich ein Bruchstück der literarischen Aktivität
des Helden des Bandes dar. Am treffendsten bezeichnet
man diese Veröffentlichung wohl als einen erweiterten Essay,
ein wissenschaftliches Zeugnis der Faszination durch die Lektüre
und zugleich als einen kleinen Führer durch den aktuellen Forschungsstand
in Sachen Tuwim.
Matywiecki verzichtet auf die „traditionelle“, chronologische
Darstellung des Themas – Elemente der Biographie und der Interpretation
sind über das ganze Buch verstreut. Mutige Lösungen
der thematischen Gliederung gestatten dem Autor, Tuwims
Gestalt aus einer bisher ungenutzten Perspektive zu beleuchten
und eine neue Art des Redens über
den Dichter zu erarbeiten. Der essayistische
Schlüssel scheint bei
Matywiecki die Interpretation zu
sein – der Rhythmus der Lektüre bestimmt die Entwicklung der
„Narration“, der Rhythmus der Lektüre der Gedichte, Erinnerungen
und Briefe Tuwims ist hier ein Substitut der „Kenntnis“.
Matywiecki wuchs mit einem regelrechten Tuwim-Kult auf. In
Ermangelung persönlicher Kontakte und angesichts der nicht
ganz gegebenen Möglichkeit, Tuwim durch Erforschung seines
Werkes „kennenzulernen“, greift Matywiecki auf Äußerungen
von Angehörigen des Dichters zurück, die er aus Monographien,
Lebensläufen, Interviews, Rezensionen und Berichten schöpft.
Gleichzeitig versucht Matywiecki, neben der Charakterisierung
des Werkes Tuwims den literarischen Kontext zu präsentieren.
In Tuwims Gesicht löst der Forscher Zusammenhänge auf, die
reich an Bedeutungen sind, beschwört er Themen, auf die bisher
nur wenige in der Dichtung Tuwims hingewiesen haben – die
Frage des Gesichts, des Körpers, des Schicksals, der Identität,
Tuwim aus der Sicht Lechońs, das Problem der Melancholie und
des Vitalismus, das Motiv der Pflanzen, der Zahlen, der Mathematik,
der Marionetten und der Religion, der Welt der Materie.
Matywiecki beruft sich oft auf die Philosophie, oft interpretiert er
Tuwim aus der Sicht verschiedener Weltanschauungen.
Izabela Mikrut
Julian Tuwim (1894-1953), einer der grössten
Dichter Polens des 20. Jahrhunderts.
Piotr Matywiecki
Twarz Tuwima
W.A.B.
Warsaw 2007
142 × 202 • 774 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7414-041-6
Translation rights: W.A.B.
Piotr Matywiecki Tuwims Gesicht
105
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres
106
Witold M. Orłowski
Stulecie chaosu.
Alternatywne dzieje
XX wieku
Open Wydawnictwa
Naukowe i Literackie
Warsaw 2006
170 × 240 • 544 pages
paperback
ISBN: 83-85254-86-7
Translation rights: PUENTA
Literary Agency
Contact: PUENTA
Ewa Majewska,
Janek Sowa
Zniewolony umysł 2
Korporacja Ha!art
Cracow 2007c
125 × 195 • 400 pages
paperback
ISBN 83-89911-61-2
Translation rights: Authors
Contact: Ha!art
Artur Żmijewski
Drżące ciała.
Rozmowy z artystami
Korporacja Ha!art & Galeria
Kronika Ha!art.
Bytom - Cracow 2006
160 × • 365 pages
paperback
ISBN 83-89911-66-3
Translation rights:
Author, Foksal Gallery
Fundation, Kronika
Contact: Ha!art
Tadeusz Bartoś,
Krzysztof Bielawski
Ścieżki wolności.
Z Tadeuszem Bartosiem
OP rozmawia
Krzysztof Bielawski
Wydawnictwo Homini
Cracow 2007
125 × 195 • 250 pages
paperback
ISBN 978-83-895988-82-0
Translation rights:
Tadeusz Bartoś,
Krzysztof Bielawski
Contact:
Wydawnictwo Homini
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Krystyna Kłosińska
Miniatury. Pisanie
i czytanie ‚kobiece’
Wydawnictwo
Uniwersytetu Śląskiego
Katowice 2006
130 × 205 • 157 pages
paperback
ISBN 83-226-1599-X
Translation rights:
Wydawnictwo
Uniwersytetu Śląskiego
Izabela Filipiak
Obszary odmienności
słowo/obraz terytoria
Gdańsk 2007
225 × 140 • 584 pages
hardcover
ISBN: 978-83-7453-719-3
Translation rights:
słowo/obraz terytoria
Max Cegielski
Pijani Bogiem
W.A.B.
Warsaw 2007
145 × 205 • 260 pages
paperback
ISBN 978-83-7414-266-3
Translation rights: W.A.B.
Rafał Górski
Bez państwa.
Demokracja
uczestnicząca
w działaniu
Korporacja Ha!art
Cracow 2007
125 × 195 • 250 pages
paperback
ISBN 83-89911-76-6
Translation rights:
Rafał Górski
Contact: Ha!art
Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres
107
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres
108
Das vergangene Jahr hat uns zahlreiche interessante Neuerscheinungen
im Bereich der Geisteswissenschaften beschert.
Ihr vorherrschendes Merkmal ist die Interdisziplinarität: Es
fällt schwer, die einzelnen Werke einer bestimmten Thematik
zuzuordnen. Durch ihre breite thematische Streuung richten
sie sich nicht mehr nur an einen bestimmten Leserkreis: Die
Lektüre zeitgenössischer künstlerischer Programme führt
uns direkt zu Fragen der gesellschaftlichen Kommunikation
und der Politik.
In manchen Fällen ist diese faszinierende Hybridität bereits
in der Konzeption angelegt, wenn zum Beispiel in einem allen
Anschein nach geschichtlichen Buch ein wirtschaftlicher
Berater des polnischen Präsidenten mithilfe einer ökonomischen
Simulation untersucht, was geschehen wäre, wenn
Stalin oder Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten,
wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte oder
wenn China nicht von Japan erobert worden wäre... (Witold
M. Orłowski: Hundert Jahre Chaos. Eine alternative Geschichte
des 20. Jahrhunderts).
Kurz gesagt: Allein die Tatsache, dass das Buch, das du
liest, einer bestimmten Fachrichtung angehört, bedeutet
nicht, dass sich deine Lektüre auf einen klar abgesteckten
Bereich mit einer festen Terminologie beschränken wird.
Unter dieser Prämisse werde ich versuchen, einen kurzen
Überblick über die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen
des letzten Jahres zu geben. Es liegt nahe, mit der
Politik zu beginnen, denn der mit dem Etikett der „Vierten
Polnischen Republik“ versehene politische Wandel führte
zu zahlreichen kritischen Auseinandersetzungen sowohl mit
der älteren als auch mit der neueren polnischen Geschichte.
Nachdem 2005 zwei differenzierte Studien über die Chefideologen
der beiden wichtigsten polnischen Parteien, PO
und PIS erschienen (Paweł Śpiewak: Die Erinnerung an den
Kommunismus und Zdzisław Krasnodębski: Periphere Demokratie)
veröffentlichte im Jahr darauf der bekannte Publizist
Rafał A. Ziemkiewicz ein wütendes Pamphlet gegen die Zeit
der „Dritten Polnischen Republik“ (Die Michnik-Herrschaft.
Chronik einer Krankheit). So sehr sich diese Autoren auch
in ihrem Temperament unterscheiden, verbindet sie doch
ein gemeinsamer Ansatz, der aus der „Hermeneutik der Verdächtigung“
entsteht und sich vor allem der Demaskierung
widmet: Die erste Phase der polnischen Unabhängigkeit
wird als eine pathologische Erscheinung in liberaler Kostümierung
beschrieben.
Auch der linke Flügel der polnischen intellektuellen Szene
widmet sich der Demaskierung des Liberalismus (und des
Neoliberalismus): Der in Krakau ansässige Verlag Ha!art
startete eine Reihe mit dem Titel „Radikale Linie“, der die
polnische Gesellschaft aus der Perspektive der an den Rand
Gedrängten beschreiben soll. Die Initiatoren dieser Reihe
bekennen sich zu „einer freiheitlichen Weltanschauung und
einer Perspektive des selbstbestimmten Aktivismus“. Der erste
Band nimmt direkten Bezug auf Czesław Miłoszs Verführtes
Denken (Ewa Majewska & Janek Sowa [Hrsg.]: Verführtes
Denken 2), handelt jedoch nicht mehr von der „kommunistischen“
sondern von der „liberalistischen Verführung“. Der
zweite Band nimmt eine noch radikalere Position ein, indem
er das Bild einer Demokratie „ohne Politiker“ entwirft (Rafał
Górski: Ohne den Staat. Die aktiv partizipierende Demokratie.
Mit einem Vorwort von Jan Sowa)
Diesen radikalen Protesten gegen die liberale Mythologie
nähern sich auch die Aussagen polnischer Künstler an, die
von Artur Żmijewski in dem hervorragenden, ebenfalls bei
Ha!art in der Reihe Politische Kritik erschienenen Buch Zitternde
Körper gesammelt wurden. Neben den Gesprächen
mit bildenden Künstlern aus dem Umfeld der so genannten
„Kritischen Kunst“ (wie Paweł Althamer, Katarzyna Kozyra
und Zbigniew Libera) finden sich in diesem Buch auch
diverse intime Zeugnisse (Tagebucheinträge, Projekte) und
zahlreiche Illustrationen. Wie Żmijewski bereits im Vorwort
des Buches erklärt, fordert diese Bewegung eine radikale Einbindung
der Kunst in die öffentliche Diskussion, indem sie
die künstlerische Äußerung als Form des Diskurses versteht.
Eine besondere Position im polnischen Dialog zwischen
Tradition und Moderne nehmen die Stimmen der katholischen
Dissidenten ein. Ein hervorragendes Beispiel dafür
sind die Gespräche mit dem ehemaligen Dominikanermönch
Tadeusz Bartoś kurz vor dessen Austritt aus dem
geistlichen Stand (Wege der Freiheit. Über die Theologie, die
Säkularisierung, die Demokratie in der Kirche, das Zölibat...
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Mit O. P. Tadeusz Bartoś spricht Krzysztof Bielawski). Obwohl
sich Bartoś von der realen Politik der katholischen Kirche distanziert,
hält er doch gleichzeitig eine Lobrede auf die Theologie.
Mit Wege der Freiheit erschien bereits die dritte in den
letzten Jahren kritische Auseinandersetzung eines polnischen
Geistlichen mit seiner eigenen Institution.
Auch im Bereich der Literaturwissenschaft gab es einige
wichtige Neuerscheinungen: Die Rückkehr der Zentrale
von Przemysław Czapliński (dem emsigsten Kritiker der
zeitgenössischen Literatur), der die marktwirtschaftliche
Reintegration des polnischen Literaturlebens (nach seiner
Zersplitterung in den Anfangsjahren der Transformation) beschreibt;
die von Włodzimierz Bolecki herausgegebene und
mit einem fast sechshundertseitigen (!) kritischen Anhang
versehene, fundamentale Neuausgabe von Witold Gombrowiczs
Ferdydurke; die kritisch-feministischen Essays von
Krystyna Kłosińska (Miniaturen. Über ‚weibliches’ Schreiben
und Lesen) sowie Maria Janions Versuch einer postkolonialen
Lesart der polnischen Phantasmen des Slawischen (Das unheimliche
Slawentum. Literarische Phantasmen). Mithilfe der
Terminologie Sigmund Freuds beschreibt Janion das Slawische
als etwas Vertrautes, das durch die Verdrängung zum
Unheimlichen wurde.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei beeindruckende
biografische Studien, die – aus feministischer Perspektive
– die Schicksale in Vergessenheit geratener Frauen nachzeichnen
(Grażyna Kubica: Malinowskis Schwestern oder die
moderne Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie Izabela
Filipiak: Regionen des Anderen. Über Maria Komornicka).
Zum Abschluss sollen noch zwei Reisereportagen erwähnt
werden: Mariusz Szczygieł schrieb eine Art tschechisches
Verführtes Denken (Gottland) und Max Cegielski versuchte
in Pakistan einen Dialog mit Vertretern verschiedener Richtungen
des Islam zu führen (Die Gottestrunkenen).
Die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen des letzten Jahres
109
Krzysztof Kłosiński
zurück zum Inhaltsverzeichnis
110
Adressen der Verlage und Agenten
Czarne
Wołowiec 11
PL 38-307 Sękowa
phone/fax: +48 18 351 00 70
fax: +48 18 351 02 78
redakcja@czarne.com.pl, www.czarne.com.pl
De Geus
P.O. Box 1878
NL 4801 BW Breda, The Netherlands
phone: +31 76 522 8151
fax: +31 76 522 25 99
a.v.rijsewijk@degeus.nl, www.degeus.nl
Institut Littéraire Kultura
91, avenue de Poissy
Le Mesnil le Roi, FR 78600 Maisons-Laffitte
phone: +33 1 39 62 19 04
fax: + 33 1 39 62 57 52
kultura@club-internet.fr
korporacja ha!art
Pl. Szczepański 3a
PL 31-011 Kraków
phone/fax: +48 12 422 81 98
korporacja@ha.art.pl, www.ha.art.pl
OPEN Wydawnictwo Naukowe i Literackie
ul. Batystowa 10A m.6
PL 02-798 Warszawa
fax +48 22 648 3031
tel. +48 600 838 593
mdrabikowski@o2.pl
PIW
ul. Foksal 17
PL 00-438 Warszawa
phone: +48 22 826 02 01 ext. 216
fax: +48 22 826 15 36
piw@piw.pl, www.piw.pl
PUENTA Literary Agency
puenta@vp.pl
Rosner & Wspólnicy
ul. Okrzei 1a
PL 03-715 Warszawa
phone/fax: +48 22 333 80 00
biuro@riw.pl, www.riw.pl
Wydawnictwo Sic!
ul. Chełmska 27/23
PL 00-724 Warszawa
phone/ fax: +48 22 840 07 53
biuro@wydawnictwo-sic.com.pl,
www.wydawnictwo-sic.com.pl
słowo/obraz terytoria
ul. Grunwaldzka 74/3
PL 80-244 Gdańsk
phone: +48 58 341 44 13
fax: +48 58 345 47 07
slowo-obraz@terytoria.com.pl,
www.terytoria.com.pl
Syndykat autorów
ul. Garażowa 7
PL 02-651 Warszawa
phone: +48 22 607 79 88
fax: +48 22 607 79 88
info@syndykatautorow.com.pl,
www.syndykatautorow.com.pl
Świat Książki
Bertelsmann Media
ul. Rosoła 10
PL 02-786 Warszawa
phone: +48 22 645 80 72
fax: +48 22 648 47 34
grazyna.brzezinska@bertelsmann.com.pl,
www.swiatksiazki.pl
zurück zum Inhaltsverzeichnis
W.A.B.
ul. Łowicka 31
PL 02-502 Warszawa
phone/ fax: +48 22 646 05 10, 646 05 10
a.pieniazek@wab.com.pl, www.wab.com.pl
Więź
ul. Trębacka 3
PL 00-074 Warszawa
phone: +48 22 827 96 06
fax: +48 22 828 18 08
wiez@wiez.com.pl, www.wiez.com.pl
Wydawnictwo Dolnośląskie
Oddział Publicat SA we Wrocławiu
ul. Podwale 62
PL 50-010 Wrocław
phone: +48 71 785 90 40, + 48 71 785 90 59
fax: +48 71 328 89 66
sekretariat@wd.wroc.pl, www.wd.wroc.pl
Wydawnictwo Homini
ul. św. Sebastiana 33/6
PL 31-051 Kraków
phone/fax: +48 12 430 74 27
homini@homini.com.pl, www.homini.com.pl
Wydawnictwo Literackie
ul. Długa 1
PL 31-147 Kraków
phone: +48 12 619 27 40
fax: +48 12 422 54 23
j.dabrowska@wydawnictwoliterackie.pl,
www.wydawnictwoliterackie.pl
Wydawnictwo Pierwsze
Lasek, ulica Słoneczna 20
96-321 Żabia Wola
phone: +48 605 100 691
wydawnictwo@pierwsze.pl, www.pierwsze.pl
Wydawnictwo Uniwersytetu Śląskiego
ul. Bankowa 12B,
PL 40-007 Katowice
phone: +48 32 359 20 56
fax : +48 32 359 20 57
www.wydawnictwo.us.edu.pl,
wydawus@us.edu.pl
Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego
pl. Uniwersytecki 15
PL 50-137 Wrocław
phone: +48 71 375 28 09
fax: +48 71 375 27 35
biuro@wuwr.com.pl, www.wuwr.com.pl
Zeszyty Literackie
ul. Foksal 16
PL 00-372 Warszawa
phone /fax: +48 22 826 38 22
biuro@zeszytyliterackie.pl,
www.zeszytyliterackie.pl
Znak
ul. Kościuszki 37
PL 30-105 Kraków
phone: +48 12 619 95 01
fax: +48 12 619 95 02
rucinska@znak.com.pl, www.znak.com.pl
Zysk i s-ka
ul. Wielka 10
PL 61-774 Poznań
phone: +48 61 853 27 51
fax: +48 61 852 63 26
biuro@zysk.com.pl, www.zysk.com.pl
111
Adressen der Verlage und Agenten
zurück zum Inhaltsverzeichnis
Das Buchinstitut
ul. Szczepańska 1, II p.
31-110 Kraków
Tel: +48-12 433 70 40
Fax: +48-12 429 38 29
office@bookinstitute.pl
www.bookinstitute.pl
Warschauer Filiale
P. Defilad 1, IX p., pok. 911
00-901 Warszawa
Tel: +48-22 656 63 86
Fax: +48-22 656 63 89
warszawa@instytutksiazki.pl
Warszawa 134, P.O. Box 395
112
© Das Buchinstitut, Krakau 2007
Redaktion:
Izabella Kaluta, Joanna Czudec, Elżbieta Kalinowska
Übersetzung:
Friedrich Griese, Bernd Karwen, Ursula Kiermeier, Esther Kinsky, Olaf Kühl, Martin Pollack, Heinz Rosenau,
Paulina Schulz, Andreas Volk
Weitere Informationen über die polnische Literatur auf: www.bookinstitute.pl.
Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel 38 New Books from Poland. Fall 2007 kann über
das Buchinstitut bezogen werden.
Graphik und Satz: Studio Otwarte
studiotwarte
www.otwarte.com.pl
zurück zum Inhaltsverzeichnis
ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND gehört zum Programmbereich
des Buchinstituts.
Ziel des Programms ist es, Übersetzungen der polnischen Literatur
zu fördern sowie deren Präsenz auf den ausländischen
Buchmärkten zu stärken.
Das Programm umfasst insbesondere:
» Belletristik und Essayistik
» sowohl alte als auch zeitgenössische geisteswissenschaft-
liche Werke im weitesten Sinne (unter besonderer Berücksichtigung
von Büchern, die der Geschichte, Kultur und Literatur
Polens gewidmet sind)
» Kinder- und Jugendliteratur
» Sachbücher
gestellt werden. Das Angebotsformular des Programms kann
bei dem Buchinstitut angefordert werden oder von der Website
www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden:
Die Angebote der Verlage werden von einer Expertengruppe
beurteilt. Die endgültige Entscheidung trifft der Direktor des
Buchinstituts.
KONTAKT:
E-mail: j.czudec@bookinstitute.pl
Das Buchinstitut
ul. Szczepańska 1, PL 31-011 Kraków
Tel. (+48) 12 426 79 12, Fax (+48) 12 429 38 29
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert
werden:
» bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
» bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus
dem Polnischen
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die
ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde
Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen.
Dem Angebot müssen folgende Unterlagen beigefügt werden:
» das ausgefüllte Angebotsformular
» Kopie des Lizenzvertrags (oder Kopie des Vorvertrags)
» Kopie des Übersetzervertrags (oder Kopie des Vorvertrags)
» aktuelles Verlagsprogramm und allgemeine Informationen
zum Verlag
» Bibliographie des Übersetzers
» kurze Begründung für die Wahl des jeweiligen Werks
» detaillierter Kosten- und Finanzierungsplan der Publikation
unter Angabe der Vertriebsform
Anträge auf die Förderung von Übersetzungen polnischer
Literatur können von Verlegern bei dem Buchinstitut in Krakau