03.03.2014 Aufrufe

Untitled - Instytut Książki

Untitled - Instytut Książki

Untitled - Instytut Książki

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

NEUE<br />

BÜCHER<br />

AUS<br />

POLEN


DAS POLNISCHE<br />

BUCHINSTITUT<br />

Das Polnische Buchinstitut ist eine staatliche Kultureinrichtung,<br />

deren Hauptziele darin liegen, die Lesebereitschaft zu fördern,<br />

das Buch als Medium und die Leselust in Polen zu verbreiten<br />

sowie weltweit für die polnische Literatur zu werben. Diese<br />

Ziele werden umgesetzt durch:<br />

» Vorstellung der besten polnischen Bücher und Werbung für<br />

ihre Autoren<br />

» Bildungsmaßnahmen, die die Vorteile aus einem vertrauten<br />

Umgang mit dem Buch verdeutlichen<br />

» Programme zur Leseförderung<br />

» Präsentation der polnischen Literatur im Ausland<br />

» Übersetzerkolleg<br />

» Seminare für Verleger<br />

» Übersetzungsprogramm © POLAND<br />

» Sample Translations © POLAND<br />

» Informationszentrum für Kinderbücher<br />

» Informationsportal zur polnischen Literatur<br />

www.bookinstitute.pl<br />

Das Buchinstitut organisiert Literaturprogramme bei polnischen<br />

Auftritten auf ausländischen Buchmessen, bereitet Lesungen<br />

polnischer Schriftsteller bei Literaturfestivals vor, gibt regelmäßig<br />

den Katalog „NEUE BÜCHER AUS POLEN“ heraus, in dem<br />

literarische Neuerscheinungen präsentiert werden, organisiert<br />

Studienreisen und Seminare für Übersetzer polnischer Literatur,<br />

zu denen es ständigen Kontakt pflegt, und verleiht den Preis<br />

„TRANSATLANTYK“ für den besten Vermittler polnischer Literatur<br />

im Ausland.<br />

Das Programm der Leseförderung besteht aus einer Reihe von<br />

Maßnahmen, die sich an Schulen, Bibliotheken und NGOs richten.<br />

Dazu gehört u.a.: das Projekt Buchdiskussionsklubs.<br />

www.bookinstitute.pl bietet Informationen zu aktuellen literarischen<br />

Erscheinungen und Events in Polen und im Ausland, präsentiert<br />

Neuerscheinungen und Verlagsprogramme und betreibt<br />

einen regelmäßigen Rezensions-Service. Man findet dort außerdem<br />

über 100 Kurzporträts zeitgenössischer polnischer Autoren,<br />

die Vorstellung von über 500 Publikationen, Fragmente, Essays,<br />

Anschriften der Verleger und Literaturagenten. Alles über polnische<br />

Bücher – auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch.


AUSGEWÄHLTE PROGRAMME<br />

DES BUCHINSTITUTS<br />

DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND<br />

Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu<br />

fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu<br />

stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik,<br />

Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher.<br />

Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein<br />

in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache<br />

übersetzen lassen und herausgeben wollen.<br />

Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert<br />

werden:<br />

• bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs<br />

• bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem<br />

Polnischen.<br />

SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND<br />

Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer<br />

Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben,<br />

indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen<br />

Verlegern zu präsentieren.<br />

Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung.<br />

Die Bewerbungsformulare beider Programme können postalisch<br />

beim Buchinstitut in Krakau angefordert, oder von der Website<br />

www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden.<br />

ÜBERSETZERKOLLEGIUM<br />

Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit mit dem<br />

Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt.<br />

Es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur, die Belletristik,<br />

Essayistik, Dokumentarliteratur oder geisteswissenschaftliche Literatur<br />

im weitesten Sinne übertragen und bietet ein- bis dreimonatige<br />

Stipendienaufenthalte in Krakau.<br />

TRANSATLANTIK<br />

Transatlantik ist der alljährig von dem Buchinstitut vergebene<br />

Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen<br />

Literatur im Ausland einsetzen. Der Preis, dotiert mit 10.000<br />

Euro, kann u. A. an Übersetzer, Verleger, Literaturkritiker, Polonisten<br />

verliehen werden.<br />

KONTAKT:<br />

Das Polnische Buchinstitut<br />

ul. Szczepańska 1<br />

PL 31-011 Kraków<br />

E-mail: office@bookinstitute.pl<br />

Phone: +48 12 433 70 40<br />

Fax: +48 12 429 38 29<br />

www.bookinstitute.pl<br />

Direktor des Polnischen Buchinstituts:<br />

Grzegorz Gauden


INHALT<br />

SEITE<br />

6<br />

8<br />

10<br />

12<br />

14<br />

16<br />

18<br />

20<br />

22<br />

24<br />

26<br />

28<br />

30<br />

32<br />

34<br />

36<br />

38<br />

40<br />

42<br />

44<br />

46<br />

AUTOR<br />

DOROTA MASŁOWSKA<br />

JOANNA BATOR<br />

TOMASZ RÓŻYCKI<br />

ZYTA ORYSZYN<br />

KRZYSZTOF VARGA<br />

SYLWIA CHUTNIK<br />

IGOR OSTACHOWICZ<br />

ZOŚKA PAPUŻANKA<br />

MARIUSZ SIENIEWICZ<br />

ADAM WIEDEMANN<br />

ŁUKASZ ORBITOWSKI<br />

MAŁGORZATA SZEJNERT<br />

WOJCIECH JAGIELSKI<br />

JACEK HUGO-BADER<br />

KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA<br />

PAWEŁ SMOLEŃSKI<br />

MARIUSZ WILK<br />

OLGA TOKARCZUK<br />

FILIP SPRINGER<br />

MARTA GUZOWSKA<br />

ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN<br />

TITEL<br />

Liebling, ich habe die Katzen getötet<br />

Dunkel, beinah Nacht<br />

Bestiarium<br />

Die Rettung von Atlantis<br />

Späne<br />

Die Schlawinerinnen<br />

Die Nacht der lebenden Juden<br />

Das Affenhaus<br />

Dornröschens Beichte<br />

Entsprechungen<br />

Gespenster<br />

Das Heim der Schildkröte. Sansibar<br />

Brennendes Gras<br />

Kolyma-Tagebücher<br />

Sumpflein<br />

Der Araber schießt, den Juden freut‘s<br />

Der Zug der Gänse<br />

Der Moment des Bären<br />

Von schlechter Geburt<br />

Die Opferung der Polyxena


6<br />

DOROTA MASŁOWSKA<br />

DOROTA MASŁOWSKA (GEB. 1983),<br />

SCHRIFTSTELLERIN, DRAMATIKERIN.<br />

DEBÜTIERTE 2002 MIT IHREM<br />

ROMAN „SCHNEEWEISS UND<br />

RUSSENROT“. DER ZWEI JAHRE<br />

SPÄTER ERSCHIENENE ROMAN<br />

„DIE REIHERKÖNIGIN“ BRACHTE<br />

IHR DEN NIKE-PREIS EIN. IHR<br />

DRAMA „ZWEI ARME POLNISCH<br />

SPRECHENDE RUMÄNEN“ WURDE<br />

U. A. IN AUSTRALIEN, IN DEN USA<br />

UND AUF DER INSEL SACHALIN<br />

AUFGEFÜHRT.<br />

Photo: Marcin Nowak<br />

Liebling, ich habe die Katzen getötet<br />

Dieser Roman ist eine Offenbarung! Wer hätte geglaubt, dass das sensationelle<br />

„Schneeweiß und Russenrot” noch zu übertreffen wäre? Aber Dorota<br />

Masłowska, die begabteste Autorin der jungen Generation, ausgezeichnet<br />

u.a. mit dem Paszport Polityki und dem Nike-Preis, hat ihr vermutlich bisher<br />

bestes Buch veröffentlicht.<br />

Eine Überraschung folgt hier auf die andere: Nicht, wie bisher, in Polen<br />

spielt der Roman, sondern in New York. Die Erzählform, bisher meist ein gigantisches<br />

Experiment, ist hier zurecht gestutzt, geglättet – hurtig geht es<br />

voran, ohne auch nur ein bisschen an Ausdruckskraft, ja magnetisierender<br />

Anziehungskraft einzubüßen. Die Sätze kommen so unangestrengt daher,<br />

als hätten sie sich von allein geschrieben. Gleichwohl muss hinter ihrer Eleganz,<br />

Präzision, hinter treffenden Vergleichen und Metaphern und dem Witz<br />

eine konzentrierte schriftstellerische Arbeit gestanden haben. Die Erzählung<br />

rankt sich um die weibliche Hauptperson. Was unverändert geblieben<br />

ist, sind die treffenden Beobachtungen und Ausbrüche von Humor, an die<br />

wir bei dieser Autorin gewohnt sind (deren Gestalt auch diesmal im Buch<br />

auftaucht!).<br />

Die Hauptperson ist Farah („der Farrer“, wie ihre Bekannten schnippisch sagen)<br />

– ein auf die Dreißig zugehender Single – auch wenn ihr Geisteszustand<br />

eher den Begriff der alten Jungfer rechtfertigen würde. Farah verbringt ihre<br />

Zeit mit der Lektüre von Ratgebern für geistige Entwicklung, grübelt über<br />

ihr verpatztes Leben nach und übt sich überhaupt im Totschlagen der Zeit.<br />

Außerdem achtet sie fanatisch auf eine gesunde Lebensweise und geht so<br />

weit, dass sie vor der versuchten Selbstverstümmelung die Rasierklinge<br />

desinfiziert. Zu einer persönlichen Tragödie wird es für sie, als ihre Herzensfreundin<br />

Jo einen Freund findet. Wir lernen eine ganze Heerschar ihrer<br />

(eher entfernten als nahen) Bekannten kennen, die Mittel gegen Depressionen<br />

nehmen und versuchen, in der Welt der Avantgardekunst Karriere zu<br />

machen...<br />

„Liebling, ich habe die Katzen getötet“ ist eine Persiflage auf die westliche,<br />

großstädtische Lebensweise und alle dazugehörigen, zeitgenössischen Modeerscheinungen:<br />

den wohlfeilen, vom Osten abgekupferten geistigen Tiefgang,<br />

den Zwang zum Gutaussehen, zur gesunden Ernährung, vor allem aber<br />

dazu, ostentativ glücklich zu sein. Masłowska bringt uns wie üblich nur deshalb<br />

zum Lachen, damit uns dieses nach einer Weile im Hals stecken bleibt<br />

und wir unserer eigenen Dummheit, Flachheit und Unvernunft ins Auge<br />

schauen. Und schließlich die Einsamkeit – eines der Hauptthemen in diesem<br />

reifsten Buch der „Reiherkönigin“-Autorin ist der unaufhörliche, verzweifelte<br />

und zum Scheitern verurteilte Versuch, den anderen Menschen zu<br />

erreichen. All das beschrieben in einer explosiven Sprachmixtur, die amerikanische<br />

Fernsehserien, den Straßenslang der Großstadt, Google Translator<br />

und poetische, nur dieser Autorin zugängliche Register miteinander<br />

vereint. Ein tolles Buch.<br />

Patrycja Pustkowiak<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


7<br />

Ja,<br />

hier trifft man Jedermann: Bettler wie Fürsten. Den nackten König<br />

auch, sobald nur einer dieser bekloppten Modeschöpfer verkünden<br />

würde, dass in dieser Saison aus Luft genähte Klamotten<br />

der Renner sind...<br />

Luftig, durchscheinend, ultrasexy, und am allerwichtigsten: man braucht<br />

sie nicht zu waschen... Nachteile: die Mängel der Figur kann man schlecht<br />

darunter verbergen. Ja, und andere Leute atmen deine Kleidung. An einer<br />

Ecke drängt dir jemand Hip-Hop auf, frisch aufgenommen bei MacDonalds<br />

auf dem Klo, oder eine Tasche Original chenel, obgleich die Tüte, in der sie<br />

verpackt ist, eher die vier Dollar wert zu sein scheint. An der anderen Ecke will<br />

dich ein beinloser Säufer dazu überreden, dein Leben Jesus zu schenken und<br />

dein Geld ihm, Prophet sein kostet schließlich auch... Und gleich an der dritten<br />

im Boutique-Hotel auf dem goldenen Sofa, unter Bildern von Kjowebiyr<br />

Anogiw, der jetzt schwindelerregende Preise erzielt, sitzen wie die Unschuld<br />

vom Lande die Töchter von Senatoren und diversen Prominenten, saufen sich<br />

die Hucke voll und blättern dabei in „Die widerlich reiche Muschi heute“...<br />

„Womit wirft man am besten nach dem Plasma-Bildschirm? Wir testen<br />

Champagner-Gläser.“<br />

„Nach der Ausschabung in fünf Minuten wieder topfit? Kein Problem. Express-Schminke<br />

für den Notfall.“<br />

„Sexy auf Entzug. Zehn Tricks, um nach einer Million Dollar auszusehen,<br />

wenn du dich in Wirklichkeit wie fünfzehn alte Deutschmark fühlst.“<br />

„Papa, ich habe deinen Hubschrauber zu Schrott geflogen! Wie münze ich<br />

einen amüsanten Fehltritt in Erfolg um.“<br />

„Was tun gegen den Schnauzengeruch des Pekinesen.“<br />

„Weißt du, dass Hunde Säugetiere sind?! Neues aus der Wissenschaft.“<br />

Diese jungen Dinger sind vielleicht nicht gut in der Schule, aber eins muss<br />

man ihnen lassen, in der Mode kennen sie sich bestens aus. Die neueste Kollektion<br />

von Zach de Boom, die sie anhaben, bekam den Namen „Holy“, und<br />

ratet mal, warum. Es ist das „Pilgerermädchen“, das in der letzten Saison die<br />

Phantasie der Modeschöpfer befruchtet hat. Louboutine hat eine Pumps-Serie<br />

herausgebracht, inspiriert von Orthopädie-Sandalen gegen Hühneraugen, und<br />

Vivienne Westwood bietet dazu weiße dicke Herrenstrümpfe mit dem Bild<br />

gekreuzter Tennisschläger in Knöchelhöhe, oder ganz einfach nackte Füße,<br />

aussätzig, mit einem karierten Taschentuch verbunden. Die Haare haben in<br />

dieser Saison unfrisch zu sein, „unattraktiv“, und ganz wichtig: „fettendes“<br />

Make-up, trockene Lippen, am besten aufgeplatzt beim Küssen des Kruzifixes,<br />

leichte Selbstverstümmlungen. Von weitem könnte man denken, das seien<br />

irgendwelche durchgeknallten Dämchen, die auf den Knien von Lourdes hierher<br />

gerutscht sind, um das Wort Christi zu verkünden, aber schaut man genauer<br />

hin, sieht man zwischen den Polyesterlippen perlweiße Zähne blinken,<br />

die teurer sind als deine Seele, als dein ganzes beschissenes Dasein.<br />

Schon will dir scheinen, ihre einzige Beschäftigung sei das Schreien: O mein<br />

Gott! O mein Gott! und der prüfend schweifende Blick, ob der große Eindruck,<br />

den sie machen, sich gleichmäßig über dieses Tal der Tränen verteilt.<br />

Doch versuch nur einmal, dich wie ein Sack unnützen Mülls an sie heranzuwanzen,<br />

Erbarmen kannst du von ihnen nicht erwarten, sie nehmen dich in<br />

die Mangel. Wenn du kein Brot hast, sagen sie erst, dann iss Kuchen; und<br />

wenn du keinen Kuchen hast, dann iss Sahnetorte mit organischen Himbeeren.<br />

„Ich habe keine solche Torte“, flüsterst du und schluckst schmerzhaft.<br />

„Dann lass dir eine mit dem Flugzeug aus der Schweiz schicken.“ Da gibt es<br />

nichts, sie hassen einstudierte Hilflosigkeit, auch für sie war das Leben kein<br />

Zuckerlecken. Auch sie waren einmal obdachlos und haben nicht lange gejammert,<br />

sondern sich einen Palast in Florenz gekauft. Auch sie hatten einmal<br />

keinen Porsche, da haben sie sich einen Ferrari gekauft. Also wenn du schon<br />

so ein verrenktes Stück Ich-Scheiße bist, dann hab wenigstens Mitleid und<br />

verpiss dich von hier, sonst rufen sie die Wachleute. Sie kennen keinen Gnade,<br />

kein Schönheitschirurg, der etwas auf sich hält in dieser Stadt, trägt diesen<br />

Namen!<br />

So ist das in der Bohemian Street, da braucht man nicht lange drum herumzureden;<br />

demokratisch ist hier allein das Donnerleuchten der Stadt aus<br />

der Ferne und dieser Gestank, den man letzten Endes auch lieb gewinnen<br />

kann: eine Mischung aus Müll, frisch gebackenen Muffins, teuersten Parfüms,<br />

Menschen-Aa und Blechzeug aus den Eingeweiden der Metro. Das obsessive<br />

Leben dieses Distrikts endet nie, und des Nachts wird es erleuchtet vom petrochemischen<br />

Schimmer der nahegelegenen Maklergebäude.<br />

Genau hier arbeitete Joanne Jordan, zwischen der Chase und dem Laden<br />

mit Ajurveda-Kosmetika.<br />

Viele assoziieren den Salon mit seinem auffällig an den Haaren herbeigezogenen<br />

Namen: „Hairdonism“. Was soll’s... Ausgedacht hat ihn sich der Besitzer,<br />

ein Kunstliebhaber mit dem Vornamen Jed, der sich bei Künstlern gern<br />

lieb Kind macht, aber im Grunde verzehrt wird von einem nie erlöschenden<br />

Groll auf das Karma, weil er selbst nicht als einer von ihnen geboren wurde.<br />

Und aus noch ein paar anderen Gründen. Wie so viele versucht er, diese Unzufriedenheit<br />

mit Hilfe von Äthylalkohol abzutöten; darin ist er konsequent, geduldig<br />

und imprägniert gegen die unausbleiblichen Niederlagen. Denn dieser<br />

Groll scheint nie zur vergehen, sondern im Gegenteil, wie das so ist, literweise<br />

begossen mit Wein, unverdünntem Whisky und „Stolitschnaja“, aufzuquellen<br />

und, Knospen gleich, immer neue Handlungsstränge zu treiben, sich neue<br />

Objekte zu suchen und weitere Schichten seiner ziemlich einsamen Lebensweise<br />

zu durchdringen.<br />

Jed ist ein großer, dicker Kerl mit recht sympathischem Gesicht, das dazu<br />

neigt, in sämtlichen Rottönen zu schillern, was ziemlich genaue Schlüsse auf<br />

den Grad seines Wirklichkeitsverlustes zulässt: von leichtem Wangenrouge bis<br />

hin zum melancholisch blinkenden Scharlachrot des nicht durchgebratenen<br />

Beefsteaks. In ganz passablen Jacketts und italienischen Schuhen versucht er,<br />

seinem Betrieb künstlerischen Schick zu verleihen, indem er jede Spalte mit<br />

Büchern voll stopft, wie es gerade kommt und stapelweise für einen Dollar<br />

zu kaufen war (Moby Dick, Mit der Osteoporose auf du und du, Leben und Tod<br />

Stalins, Decoupage an einem Wochenende, Sein wie Elton John). Er behauptet,<br />

einmal vergleichende Literaturwissenschaft studiert zu haben, dann aber drogenabhängig<br />

geworden zu sein, zum Glück hat er da heil wieder heraus gefunden,<br />

was nicht gerade oft vorkommt... Wenn er das wieder einmal erzählte,<br />

sturzbetrunken, Hand aufs Herz, dann musste man ihm einfach abnehmen,<br />

dass aus ihm ein ganz guter Essayist geworden wäre. Wenn sie gerade keinen<br />

Kunden hat, wirft Joanne manchmal einen Blick in diese bizarre Büchersammlung,<br />

liest aufs Geratewohl herausgepickte Sätze vor und wahrsagt<br />

sich selbst daraus oder setzt sie auf ziemlich sinnlose Weise mit ihrer eigenen<br />

Meinung zum betreffenden Thema in Bezug, zum Beispiel:<br />

„Er ließ sich nicht ablenken: Hör mal, der alte Köter quält sich nur!“ las sie<br />

und fügte von sich aus hinzu:<br />

„Der arme Hund. Ich hasse es, Tiere leiden zu sehen“, bevor sie den Steinbeck<br />

ins Regal zurück stellte. Oder so wie jetzt:<br />

„Zum Glück habe ich Reste von Karriere und phantastische Kinder.“ He,<br />

soll ich das als Prophezeiung nehmen? Meine Periode ist längst überfällig!<br />

„Schon wieder? seufzte Mallery, die gerade ins Magazin ging, um Bleichmittel<br />

zu holen.“<br />

„Schon wieder“, sagt Joanne, streckt ihr die Zunge heraus und greift sich ein<br />

anderes Buch: „Soweit mir bekannt ist, enden Gebiete nicht plötzlich, sondern<br />

gehen unmerklich in die benachbarten über.“<br />

Das war dann doch zuviel für sie.<br />

„Was für ein Unsinn“, sagte sie und drehte das Radio lauter (Beyoncé lief,<br />

die fand sie toll). „Ist dieser Beckett nicht ein Tennisspieler? Eins ist sicher: der<br />

Typ ist ganz schön durchgeknallt.“<br />

Und genau als sie das sagte, kam ein Mädchen in den Salon.<br />

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl<br />

© Dorota Masłowska 2012 in Absprache mit Author’s Syndicate Literary Agency<br />

Für die polnische Ausgabe © 2012, Editions Noir sur Blanc, Warszawa<br />

NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012<br />

145 × 235, 160 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7392-393-5<br />

TRANSLATION RIGHTS: AUTHORS’ SYNDICATE LITERARY AGENCY<br />

RIGHTS SOLD TO: FRANCE / NOIR SUR BLANC<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


8<br />

JOANNA BATOR<br />

JOANNA BATOR (GEB. 1968) IST PROSAISTIN,<br />

PUBLIZISTIN UND EHEMALIGE LEHRBEAUFTRAGTE<br />

AN DER UNIVERSITÄT WARSCHAU. SIE BEFASST<br />

SICH U.A. MIT FEMINISMUS, POSTMODERNE<br />

UND PSYCHOANALYSE. BISHER SIND DIE<br />

BEIDEN ROMANE SANDBERG UND WOLKENFERN<br />

ERSCHIENEN, DEREN HANDLUNG IN BATORS<br />

HEIMATSTADT WAŁBRZYCH SPIELT, SOWIE<br />

DER JAPANISCHE FÄCHER, EIN EXZELLENTES<br />

BUCH, DAS JEDER JAPANLIEBHABER GELESEN<br />

HABEN SOLLTE.<br />

Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute<br />

Dunkel, beinah Nacht<br />

Mit ihrem neuen Buch beweist Joanna Bator wieder einmal, dass sie eine der<br />

interessantesten polnischen Schriftstellerinnen der mittleren Generation<br />

ist. Dunkel, beinah Nacht entführt den Leser – ähnlich wie die hervorragend<br />

aufgenommenen Vorgängerromane Sandberg und Wolkenfern – auf eine Reise<br />

nach Wałbrzych in Schlesien. Diesmal ist es allerdings eine etwas düsterere<br />

Erkundungsfahrt. Zusammen mit der Protagonistin des Buches, der<br />

Zeitungsreporterin Alicja Tabor, erfährt der Leser die schmerzliche, bis in<br />

den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Geschichte ihrer Familie und nahestehender<br />

Personen.<br />

Alicja fährt von Warschau in ihre Heimatstadt Wałbrzych, um einen Artikel<br />

über das geheimnisvolle Verschwinden dreier Kinder – Andżelika, Patryk<br />

und Kalinka – zu schreiben. Doch der Fall verbindet sich mit anderen, bislang<br />

unaufgeklärten Ereignissen: In der Stadt ist es zu einer Reihe von Fällen<br />

grausamer Tierquälerei gekommen, und selbsternannte Propheten sind<br />

am Werk. Alicja quartiert sich in dem alten, von den Deutschen erbauten<br />

Wohnhaus ihrer Kindheit ein und tritt mit den sich äußerst seltsam benehmenden<br />

Einwohnern der Stadt in Kontakt, um Material für die Reportage zu<br />

sammeln. Den verworrenen Geschichten entnimmt sie nach und nach die<br />

Wahrheit über sich selbst und ihre tragische Kindheit, auf die der Wahnsinn<br />

der Mutter und der Tod der Schwester, die von der Legende um Schloss Fürstenstein<br />

und seine schöne, von einem Bann belegte Bewohnerin Prinzessin<br />

Daisy fasziniert war, ihren Schatten warfen...<br />

Ähnlich wie in ihren bisherigen Büchern nutzt Bator auch hier die verschiedensten<br />

literarischen Gattungen, um daraus eine einzigartige Geschichte zu<br />

weben. Beherzt bedient sie sich der Konvention der Gothic Novel, aber auch<br />

des psychologischen und des Kriminalromans. Das Ergebnis dient jedoch<br />

nicht, wie man glauben könnte, der scherzhaften Parodierung literarischer<br />

Gattungen. Interessant ist nämlich, dass sich – auch wenn der Roman an die<br />

heute sehr zur humoristischen Lesart verleitende Schauerliteratur anknüpft<br />

– aus Dunkel, beinah Nacht eine ernsthafte Reflexion der Welt herauskristallisiert,<br />

einer Welt, durchdrungen vom Bösen (das hier den Phantasienamen<br />

der „Katzenfresser“ trägt), von historischem Leid, vom Wahnsinn und von<br />

der Tragödie derer, die diese Last ihrer Empfindsamkeit wegen nicht zu tragen<br />

imstande sind.<br />

Die Vergangenheit erweist sich als schwere, wenn nicht gar untragbare<br />

Bürde; die Geschichte wiederholt sich gern, schlafende Dämonen können<br />

jederzeit geweckt werden. Und irgendwo außerhalb dieser allgemeinen<br />

Reflexionen spielt sich schließlich auch noch die einsame Geschichte der<br />

Hauptfigur ab, die an der Unfähigkeit leidet, tiefere, zufriedenstellende Beziehungen<br />

mit anderen Menschen einzugehen. Bator beschreibt dies alles<br />

in einer Sprache, in der die stilistische Einfachheit dicht neben der Poesie<br />

liegt, die Legende sich mit der rauen Gegenwart verflicht. Ein interessantes,<br />

originelles Buch.<br />

Patrycja Pustkowiak<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


9<br />

Als<br />

ich die Tür hinter ihm zuknallte, fiel das Hufeisen herunter,<br />

das an ihrer Innenseite aufgehängt worden war, um Glück zu<br />

bringen – wobei das Glück diesen Wink jedoch übersehen haben<br />

musste. Und das Hufeisen war nicht die letzte Sache, die an diesem Tag abfiel,<br />

auseinanderfiel oder sich als hoffnungslos kaputt erwies. Das Haus starb vor<br />

meinen Augen, als wollte es sich dafür rächen, dass ich es so lange alleingelassen<br />

hatte. Im Tageslicht wurden Flecken abblätternder Farbe an der Decke<br />

und von Feuchtigkeit ausgebeulte Blasen unter den Tapeten sichtbar, verzogene<br />

Böden und Sofas, die von Motten so zerfressen waren, dass man an einigen<br />

Stellen nur noch den weißen Kettfaden sah. Das Abziehbild mit den Veilchen<br />

an der Badezimmertür hatte die Farbe verloren und die einst helllila Blüten<br />

und grünen Blätter sahen nun wie die Flügel toter Insekten aus. Ich stand in<br />

der rostgesprenkelten Wanne und wartete darauf, dass die betagte Gastherme<br />

ansprang und ich duschen konnte, doch als das warme Wasser endlich zu fließen<br />

begann, gab der Duschschlauch auf und platzte entzwei. „Wir machen Keramik-<br />

und Terrakottafliesen“, hatte mein Vater versprochen, „oder vielleicht<br />

statt einfacher Terrakotta lieber einen Zedernholzboden? Dazu ein Whirlpool,<br />

ihr könnt im Whirlpool herumplantschen wie die kleinen Seehunde im Zoo<br />

von Wrocław, was haltet ihr davon? Oder wir lassen uns aus Frankreich eine<br />

Messingwanne auf Löwenfüßen kommen?“, hatte er weiter überlegt und in<br />

großer Geste mit dem imaginären Geld um sich geworfen. Laufende Reparaturen<br />

schienen ihm bei solch hochfliegenden Plänen nicht der Rede wert gewesen<br />

zu sein. Ich ließ Wasser in diese schreckliche Wanne einlaufen und tauchte<br />

ganz unter, auch mit dem Kopf, wie als Kind, wenn meine Schwester daneben<br />

gesessen und aufgepasst hatte, dass ich nicht ertrank. Damals hatten mich die<br />

Geräusche unter Wasser fasziniert: das Klopfen, das Knirschen von Metall auf<br />

Stein, Rufe in verschiedenen Sprachen, hohle Klänge, Ächzer. Das war die<br />

Welt, in die unser Vater hinabstieg und für die er schlussendlich mit dem Leben<br />

bezahlt hatte. Es war vorgekommen, dass er an einem beliebigen Ort mit dem<br />

Finger nach unten zeigte, vor unsere Füße, und im Brustton der Überzeugung<br />

sagte: Irgendwo hier ist er. Irgendwo. Hier. Ist Hitlers Schatz. Wenn ich ihn<br />

finde, und ich habe jetzt eine Karte von wunderbarem Wert und zuverlässiger<br />

Zielsicherheit, ändert sich unser Leben bis zur Unkenntlichkeit. Er würde uns<br />

so glücklich machen, dass wir einander von Neuem kennenlernen müssten.<br />

Irgendwo unter dieser alten Wanne, in der die Geräusche der unterirdischen<br />

Stadt widerhallten, war der Schatz, den unser Vater gesucht hatte, wenn er sich<br />

in seinen ausgetretenen tschechoslowakischen Schuhen auf den Weg machte,<br />

eine Bergarbeiterleuchte vor der Stirn. Ich hatte versucht zu verstehen, warum<br />

er lieber dort war als hier, bei Ewa und mir. „Bitte sehr, meine Damen und<br />

Herren“, hatte meine Schwester gewitzelt, wenn ich tauchte, „hier sehen Sie<br />

Alicja Tabor, die Wasserkameldame, Forscherin der Meere und Ozeane, in<br />

die sie sich begibt, wenn sie von der Wüste genug hat! Die einzige Kameldame<br />

mit Flossen und Kiemen. Eine seltene Gattung. Unter strengem Artenschutz.<br />

Heute erzähle ich Ihnen, was sie im Unterwasserreich unserer Badewanne alles<br />

gesehen und gehört hat.“ Der Spaß hatte darin bestanden, dass ich wahrheitsgemäß<br />

erzählte, was ich gehört hatte – ein Klopfen, wie jemand auf Deutsch<br />

oder einer ähnlichen Sprache zählte, in der es ein statt eins hieß, wie ein Glas<br />

auf Steinboden fiel –, und Ewa dann den Rest dazudichtete. Sie hatte sich<br />

Geschichten ausgedacht, das konnte sie am besten. Und ich konnte zuhören.<br />

Vielleicht irrte ich mich ja, wenn ich glaubte, schon so stark zu sein, dass<br />

dieses Haus voller Tod und Geister mir nichts anhaben könnte. Ich wusste,<br />

dass ich der Angst nicht nachgeben durfte, und war deshalb hier abgestiegen<br />

und nicht in dem von der Redaktion reservierten Hotel, in der niemand eine<br />

Ahnung hatte, dass mir ein altes Haus in Wałbrzych gehörte. Ich redete nicht<br />

gern über die Vergangenheit und knüpfte selten so enge Kontakte mit anderen<br />

Menschen, dass Vertraulichkeiten von mir erwartet wurden. „Ich habe keine<br />

Familie“, sagte ich, wenn die Frage nach meinen Eltern und Geschwistern<br />

kam, die Frage, die meine Bekannten so liebten, denn sie konnten sich Ewigkeiten<br />

über das ihnen widerfahrene Unrecht auslassen, die Traumata und die<br />

Arten, mit ihnen fertigzuwerden, oder eher: nicht fertigzuwerden, indem man<br />

sich jahrelangen Therapien unterzog. Ich dagegen hatte mein ganzes erwachsenes<br />

Leben hindurch meine Kräfte gesammelt, wie man Vorräte für einen<br />

langen Winter zusammenträgt, und ich hatte das Gefühl gehabt, ganz gut<br />

auf diese Reise vorbereitet zu sein. Als in Wałbrzych Kinder zu verschwinden<br />

begannen, wusste ich, dass der Moment gekommen war und dass ich, die von<br />

den Kollegen aus der Redaktion „Alicja Panzernashorn“ genannt wurde, über<br />

sie schreiben musste. Nun war ich hier und das Haus, dessen Schlüssel ich<br />

immer bei mir trug, bleckte sein schadhaftes nachdeutsches Gebiss.<br />

Nach Bad und unterirdischem Konzert beschloss ich, durch alle Räume zu<br />

gehen und nachzusehen, wozu diese Bruchbude imstande war und wozu ich,<br />

Alicja Panzernashorn, imstande war. Im ersten Stock waren zwei Schlafzimmer,<br />

eins davon hatte früher Ewa und mir gehört, und hier, auf dem alten<br />

Doppelbett mit dem Eichenrahmen und der durchgelegenen Matratze, wollte<br />

ich auch jetzt schlafen. Der Tisch, an dem wir früher unsere Hausaufgaben<br />

gemacht hatten, zwei Stühle, ein leerer Schrank, ein Flickenteppich, weiter<br />

nichts. Das zweite Schlafzimmer war seit Jahren leer, dort stand nur ein matratzenloses<br />

Metallbett, traurig wie ein verlassenes Schiffswrack auf einer<br />

Sandbank. Früher einmal, in Zeiten, an die ich mich nicht erinnerte, war es<br />

das Ehebett meiner Eltern gewesen, aber später zog mein Vater nach unten<br />

um, und von da an war das Arbeitszimmer für ihn Schlafzimmer, Esszimmer<br />

und Zufluchtsort in einem. Dorthin ging ich als nächstes, über die Treppe,<br />

die so knarrte, dass ich fürchtete, sie könnte unter meinem geringen Gewicht<br />

zusammenbrechen. Die Banalität des Verfalls ärgerte mich, vielleicht weil ich<br />

im tiefsten Innern erwartet hatte, dieses Haus würde auf irgendeine spektakulärere<br />

und weniger absehbare Weise sterben. Als ich die Tür zu Vaters Zimmer<br />

öffnete, schlug die verdichtete Zeit mir wie eine Woge entgegen. Vor dem<br />

Fenster wuchs das Schloss Fürstenstein aus einem Buchenwald empor, und<br />

wenn unser Vater am Schreibtisch arbeitete, der immer von Stapeln verstaubter<br />

Papiere und Bücher überhäuft war, hatte er, sobald er den Blick von seinen<br />

historischen Abhandlungen, Karten und Plänen hob, dieses Gebäude gesehen.<br />

Nun blickte ich, seine jüngere Tochter, auf Schloss Fürstenstein und die Nebelschwaden<br />

am Fuße seiner Mauern, und es gehörte zu den wenigen Dingen,<br />

die mir immer noch so groß und schön erschienen wie in meiner Kindheit.<br />

Ich zog die alte Wanduhr auf, und als ihr Pendel zu schwingen begann, spürte<br />

ich, wie die hier gefangene Zeit in Bewegung geriet. Etwas machte Klick,<br />

als hätten die Zeit dieses Hauses und meine Zeit sich erst jetzt miteinander<br />

verflochten. Das mit gelblichem Leder bezogene Sofa, auf dem ich als Kind<br />

in den seltenen Momenten gesessen hatte, in denen unser Vater nicht mit der<br />

Schatzsuche beschäftigt war und sich gewachsen fühlte, dem Vatersein die<br />

Stirn zu bieten, gab unter meinem Gewicht einen seufzerähnlichen Ton von<br />

sich. Eine Zeitlang saß ich regungslos da und bemühte mich sogar, nicht zu atmen,<br />

aber ich spürte nichts als Trauer. Das Leder des Sofas war rau und rissig<br />

wie die Ferse eines alten Menschen, ich streichelte es zur Begrüßung. Ich warf<br />

einen Blick in die Küche, die in einem grauen Lichtschein schwamm, als wäre<br />

sie voller Wasser, und Wasser war es tatsächlich, das ununterbrochen in die<br />

Spüle tropfte, von einem kleinen Stalaktiten herab, der sich im Lauf der Jahre<br />

gebildet hatte. Von der Tür, die in den Garten führte, zog es kalt herüber,<br />

Nebel drängte gegen die Fensterscheiben. Der Tisch und die vier Stühle sahen<br />

aus wie die Skelette längst ausgestorbener Tiere, die niemand je zu benennen<br />

oder ins Herz zu schließen vermocht hatte.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

W.A.B., WARSZAWA 2012<br />

123 × 195, 528 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7747-628-4<br />

TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


10<br />

TOMASZ RÓŻYCKI<br />

TOMASZ RÓŻYCKI (GEB. 1970), LYRIKER, ESSAYIST,<br />

ÜBERSETZER AUS DEM FRANZÖSISCHEN, VERFASSER<br />

VON SIEBEN GEDICHTBÄNDEN, DARUNTER DAS<br />

WEITHIN BESPROCHENE POEM ZWÖLF STATIONEN<br />

(2004). GEBOREN UND UNUNTERBROCHEN<br />

WOHNHAFT IN OPPELN.<br />

Photo: Krzysztof Dubiel<br />

Bestiarium<br />

Bestiarium ist das späte Romandebüt dieses anerkannten Lyrikers, eines<br />

der interessantesten Autoren der mittleren Generation. Ein ungewöhnlich<br />

origineller Prosatext – eine sehr dichte, metapherngesättigte literarische<br />

Vision, die sich schwer in diskursive Sprache „übersetzen“ lässt. In einer<br />

Julinacht erwacht der namenlose Held in einer fremden Wohnung. Er verhehlt<br />

nicht, dass er dem Alkohol übermäßig zugesprochen hat. Desorientiert<br />

und gleichsam bewusstlos will er nach Hause zurückkehren, wo Frau<br />

und Kinder auf ihn warten, doch dieses banale Vorhaben gerät ihm zu einer<br />

geheimnisvollen, phantasmagorischen Reise – gar nicht einmal so sehr<br />

durch die Stadt, in der sich die Züge von Oppeln erkennen lassen, sondern<br />

durch die mäandernde Düsternis der Erinnerung. Es ist weniger die individuelle<br />

Erinnerung des Helden, als vielmehr eine Familienerinnerung von unbestimmtem<br />

zeitlichen Zuschnitt, und auch die Erinnerung des Ortes, einer<br />

Stadt also, die selbst aus vielen historischen Schichten (den Ebenen von<br />

Geschichte und Kultur) besteht und an ein Palimpsest erinnert.<br />

Von einer Handlung kann man schwerlich sprechen. Wollte man sie aber in<br />

ganz allgemeinen Zügen rekonstruieren, sähe sie folgendermaßen aus: zuerst<br />

kommt der Held – über der Stadt schwebend – in eine Wohnung, in der<br />

er seine Urgroßmutter Apolonia findet; diese händigt ihm einen Schlüssel<br />

aus, den er ihren Schwestern zukommen lassen soll (sowohl diesem Schlüssel<br />

wie praktisch allen Motiven im Bestiarium verleiht der Autor metaphorische<br />

Bedeutung). Dann taucht Onkel Jan auf, mit dem der Held eine<br />

seltsame Reise durch die unterirdische Stadt unternimmt. Der Onkel sagt<br />

eine Sintflut voraus, die gleich darauf zu einem Motiv wird, das die phantastischen<br />

Ereignisse miteinander verknüpft. Den Sinn der großen Sintflut<br />

wiederum versucht ein anderer Verwandter zu deuten – der Bruder des Vaters.<br />

Es geht um eine tiefe Reinigung – vielleicht der Geschichte, vielleicht<br />

der Gegenwart. Klar wird das nicht. Auch andere Ereignisse des Romans (die<br />

endlosen Wanderungen durch das Labyrinth der Keller, die unterirdischen<br />

Kanäle, Begegnungen mit Verwandten oder ihren Geistern) entziehen sich<br />

einer stabilen Deutung. Wie dem auch sei, die Sintflut kommt, und die vom<br />

Onkel gebaute Arche, die die Familie retten sollte, geht unter, auch wenn<br />

das Finale selbst keineswegs grauenerweckend ist. Dem Helden gelingt es<br />

am Ende, seinem Traum, oder waren es nur Übungen der Einbildungskraft,<br />

zu entsteigen. Nichts ist endgültig entschieden. Sicher ist dagegen, dass<br />

Różycki seinen früheren Themen und Obsessionen treu bleibt und uns Angelegenheiten<br />

serviert, die wir – zu einem gewissen Grad – aus seinen vorzüglichen<br />

Gedichten kennen, was keineswegs heißt, dass Bestiarium hinter die<br />

lyrische Erfahrung des Autors zurückfiele, es ergänzt sie vielmehr auf ganz<br />

erlesene Weise.<br />

Dariusz Nowacki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


11<br />

Mein<br />

Onkel, den funkelnden und wenig gegenwärtigen Blick<br />

nach vorn gerichtet, nahm mitten im Zimmer Aufstellung,<br />

hob den Finger und gebot mir ihm zu folgen. Er schaltete<br />

das Licht im Nachbarzimmerchen an, und meinen Augen bot sich ein ungewöhnliches<br />

Bild: In der Ecke am Fenster stand ein zerwühltes Bett, die<br />

Wäsche zerzaust, zerknüllt und wieder aufgebauscht zu skurriler Blüte. Der<br />

Rest des Zimmers war bis zur Decke mit Regalen vollgestellt, in denen Stapel<br />

von dunklen und durchsichtigen Flaschen lagerten, dicht aneinander wie edle<br />

Weine, die in irgendeinem Kellerchen besserer Zeiten harren. Erstaunlich war<br />

die Anzahl der Flaschen, von denen viele bemoost und verstaubt, andere glänzend<br />

und sauber waren. Die Regale, hergestellt von einem Fachmann für die<br />

Weinlagerung, belegten drei Wände und reichten so hoch, dass die zuoberst<br />

liegenden Flaschen, gar nicht mehr sichtbar, irgendwo verschwanden. Eine an<br />

die Regale gelehnte Leiter erleichterte dem Hausherrn den Zugang zu diesen<br />

entferntesten Regionen der Trunkenheit. Doch als ich genauer hinsah, stellte<br />

ich fest, dass die Flaschen, auch wenn jede von ihnen ihre eigene Form und<br />

Farbe besaß – und darunter waren Wodka-, Milch- und Limonadeflaschen,<br />

Bierflaschen, Öl- und Essigflaschen, Wein- und Cognacflaschen, Whisky-,<br />

Grappa-, Likör-, Champagner- und Bourbon-Flaschen, Porto- und Malaga-<br />

Flaschen, Portwein- und Eiercognac-Flaschen, Becherovka-, Żubrówka- und<br />

Ebereschenbranntwein-Flaschen, Krupnikflaschen, Mineralwasser-, Pfirsichwasser-,<br />

Met-, Calvados- und Raki-Flaschen, Flaschen von Selbstgebranntem,<br />

von Pfeffer- und Zuckerbranntwein, Bimber und Magenbitter, Saft-, Cider-,<br />

Brot-, Kwaß- und Sahneflaschen, Slivovitz- und Rumflaschen, Palinka- und<br />

Spiritusflaschen, Limoncello- und Amaretto-, Armaniak- und Bergerac-Flaschen,<br />

Wermut- und Absinth-Flaschen und Coca-Cola-Flaschen, Sake- und<br />

Reisweinflaschen, Arak-, Puntsch-, Grog- und Goldwasserflaschen, Ginflaschen,<br />

Kümmellikör-, Anis-, Himbeer- und Kirschwasserflaschen, Pastis- und<br />

Ouzoflaschen, Kornelkirschenlikör-, Brandy- und Malibuflaschen, Mondwasser-,<br />

Nusslikör-, Ratafia- und Tequila-Flaschen, Weinbrand-, Fusel- und<br />

Schnapsflaschen, Cherry-, Sangria-, Ciociosan- und Martiniflaschen, Campari-,<br />

Kumiss-, Dünnbier-, Porter- und Ale-Flaschen, Muskat-, Riesling-,<br />

Bordeaux-, Burgunder- und Tokajer-Flaschen, Flaschen von Rhein, Mosel,<br />

Cabernet, Sauternes, Retsina, Madera, Lager, Budweiser, Okowice, Gorzałka,<br />

Dom Perignon, Köllnisch Wasser, Birkenwasser, Gurkenwasser, Sirup, Rizinusöl,<br />

Formalin, Jodin und Atropin, Borsäure, Ameisenwasser, Glyzerin und<br />

Äthanol, Herbavit, Kefir, geweihtem Wasser aus Lourdes, Öl, Klemastin und<br />

Aldehyd – dass all diese Flaschen leider leer waren. Alle waren leer, doch steckte<br />

in jeder ein Korken oder sie war zugedreht, mit einem Lappen, zugestopft<br />

mit einem Papier oder mit rotem Lack versiegelt, abgesehen von denen auf den<br />

untersten Regalen – die ruhten geöffnet an ihrem Ort.<br />

die von Zeit zu Zeit irgendwo im Geäst zwitscherten und pfiffen, langsame<br />

Schritte auf einem Kiesweg. Dann gleich noch etwas, etwas dazwischen, herauszuhören<br />

unter diesen Stimmen, ein dumpfes, unterdrücktes Schluchzen.<br />

Weiter hatte ich den Eindruck, Geräusche eines Bahnhofs zu hören, die Menschenmenge,<br />

Männer- und Frauenrufe, Kinderweinen, Gelächter, die Pfiffe<br />

der Lokomotiven, das Keuchen der Dampfloks, das Klopfen der Wagenräder,<br />

man hörte Tiere, Hühnergegacker und Pferdewiehern, das Stimmengewirr einer<br />

Unterhaltung und das Geschrei von Streitenden, Flüche und das Geräusch<br />

vieler Schritte. Schließlich mächtiges Knallen, Rufe der Verabschiedung und<br />

Stille, und in ihr das anfangs gemächliche, dann immer schnellere Dröhnen<br />

der Zugräder.<br />

Die nächste Flasche enthielt den Klang einer Straßenbahnbimmel und eines<br />

von jemandem gesummten Liedes, dann Stimmen vom Markt, Zurufe und<br />

fröhliches Necken. Eine andere barg ein Gebet, wieder eine andere Kinderquietschen,<br />

Geräusche aus einer Wäscherei, einer Druckerei, einem Geschäft,<br />

einer Kirche, einer Schusterwerkstatt, die Stimme von jemandem, der seine<br />

eigene Kindheit in einer offenbar fremden und doch sehr gut verständlichen<br />

Sprache erzählte, irgendwelche Abenteuer, Schule, Ferien, Arbeit, Krieg, lächerliche<br />

und furchtbare Ereignisse, eine Stimme, die von den Kindern erzählte,<br />

von ihren Eltern, Freunden, Onkeln und Tanten, von Feiertagen und<br />

Sitten, eine Stimme, die von Zeit zu Zeit ein Lied sang, aber niemals das ganze,<br />

nur das ihr in Erinnerung gebliebene Fragment, oder ein Stück von einem<br />

Gedicht aus der Schule rezitierte, die Stimmen vermischten und überlagerten<br />

sich, nach kurzer Zeit schon schrie die Luft ringsum mit Tausenden von Stimmen<br />

und Lauten, doch all das in einem einzigen Seufzer, in etwas, das gleich<br />

darauf zuging, wie der schwere Deckel einer Kiste.<br />

„Hörst du?“ rief der Onkel, „ich habe sie hier alle, ein ganzes Archiv, in<br />

Flaschen abgefüllt, verstehst du? Ein ganzes Leben habe ich daran gesammelt,<br />

ein ganzes Leben. Zwanzig Jahre mit Flaschen herumgezogen. Ha!“ Und sein<br />

Blick war fürchterlich.<br />

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl<br />

Der Onkel holte eine verstaubte grüne Weinflasche hervor, die mit einem zusammengerollten<br />

bunten Lappen verstopft war, und hielt sie gegen das Licht.<br />

Ich sah, wie ein Glühbirnenfunke durch das matt gewordene, märchenhafte<br />

Glas im Farbton von Seegras fuhr. Darinnen war nichts. Jetzt gebot er mir mit<br />

einer Fingerbewegung Schweigen, entkorkte die Flasche langsam und hielt<br />

mir ihren schlanken Hals ans Ohr. Ich hörte zuerst ein Rauschen, so etwas wie<br />

ein schwaches, doch aufbrandendes Seufzen, das ferne, gedämpfte Summen<br />

eines Bienenschwarms. Das Rauschen wurde lauter, und bald darauf konnte<br />

ich ihm schon einzelne Laute entnehmen, Geräusche, ein Rascheln und Reiben.<br />

Aus diesem Abgrund, wie aus einem Meer, waren bald darauf einzelne<br />

Laute herauszuhören, Stimmen wie aus einer Ferne, Schritte auf Treppen, das<br />

Öffnen einer quietschenden Tür, ein Krachen, Schläge von einem Hammer,<br />

das Geschrei der Kinder, die aufgeregt im Kreise laufen, eine scharfe, ermahnende<br />

Frauenstimme. Dann Geschirrklappern, Besteckgeklingel, irgendwelche<br />

Geräusche und Laute, eine brummend böse Männerstimme, und dann<br />

wieder der Hammer, der etwas zerschlug. Ich hörte auch so etwas wie das<br />

Knurren eines Motors, das Rauschen von einer nahegelegenen Straße und ein<br />

Radio, das eine fünfzig Jahre alte Melodie spielte. „Pisma twoji polutschaja,<br />

slyschu ja golos rodnoj“ und weiter auf Russisch, das ich wegen des Knackens<br />

und Klopfens nicht verstand. Das alles verschloss sich langsam in Stille, das<br />

Stöhnen ließ nach, der Gesang der Teilchen verstummte.<br />

Mein Onkel öffnete eine zweite, kleine und bauchige Flasche. Feiner, schwer<br />

definierbarer Geruch, süßlich, eine Blume, ein Kraut? Eine Wiese? Eine Blüte,<br />

doch verwelkt. Das Rauschen, das ihr entstieg, verwandelte sich bald in Vogelgesang<br />

und so etwas wie das Rauschen des Windes in den Zweigen. Vögel,<br />

ZNAK, KRAKÓW 2012<br />

124 × 190, 198 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-1891-8<br />

TRANSLATION RIGHTS: ZNAK<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


12<br />

ZYTA ORYSZYN<br />

ZYTA ORYSZYN (GEB. 1940),<br />

SCHRIFTSTELLERIN UND PUBLIZISTIN,<br />

IN DEN ACHTZIGER JAHREN WAR SIE<br />

AKTIVISTIN DER OPPOSITION UND ALS<br />

REDAKTEURIN VON ZEITSCHRIFTEN TÄTIG,<br />

DIE INOFFIZIELL UND AUSSERHALB DER<br />

ZENSUR ERSCHIENEN. SIE DEBÜTIERTE<br />

1970 MIT DEM ROMAN NAJADE, SPÄTER<br />

PUBLIZIERTE SIE U. A. DIE ERZÄHLBÄNDE<br />

SCHWARZE ERLEUCHTUNG (1981) UND<br />

MADAME FRANKENSTEIN (1984). BIS<br />

ZUM ERSCHEINEN DER RETTUNG VON<br />

ATLANTIS (2012) GALT DER ROMAN<br />

GESCHICHTE EINER KRANKHEIT,<br />

GESCHICHTE EINER TRAUER (1990) ALS<br />

IHR AUFSEHENERREGENDSTES WERK.<br />

Photo: private<br />

Die Rettung von Atlantis<br />

Die Rettung von Atlantis ist kein klassischer Roman, es ist eher eine Sammlung<br />

von Erzählungen, die – durch Figuren, Ereignisse und die Erzählsituation<br />

– eng miteinander verbunden sind. In gewisser Hinsicht ist dieses Werk<br />

eine Zusammenfassung des bisherigen Schaffens der Autorin, es ergänzt<br />

Handlungsstränge aus ihrer früheren Prosa und führt sie zu Ende. Die Erzählungen<br />

in Die Rettung von Atlantis kreisen im Prinzip um ein Thema: die Auswirkung<br />

der großen Geschichte im Leben einfacher, durchschnittlicher Menschen.<br />

Die Autorin interessiert sich unverändert für die destruktive Kraft<br />

der Geschichte – vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zu den Jahren des<br />

Kriegsrechts in Polen. Zunächst führt uns Oryszyn in die östlichen Vorkarpaten,<br />

wo sich in einem Bunker, bzw. eher einem unterirdischen Versteck, eine<br />

polnische Familie zusammen mit Kriegsflüchtlingen aus dem Zentrum des<br />

Landes verbirgt. Draußen ziehen die Armeen, wüten die Partisanen. Oryszyn<br />

konzentriert sich auf die Emotionen der einfachen und unschuldigen<br />

Protagonisten. Hier regiert die Angst, und die Situation wird verglichen mit<br />

einer niemals endenden Jagd. Später befinden wir uns in der Realität der<br />

unmittelbaren Nachkriegsjahre. Die Familie verlässt den Osten, geht nach<br />

Niederschlesien und bezieht eine Wohnung in einem ehemals deutschen<br />

Haus. Die Traumata der jüngsten Geschichte überschneiden sich scheinbar<br />

mit aktuellen Traumata – Polen tritt in die Epoche des Stalinismus ein, das<br />

Misstrauen nimmt zu, es mehren sich die Denunziationen, es verschwinden<br />

Menschen, die vom Repressionsapparat verhaftet werden. Der Ort selbst<br />

(Leśny Brzeg, kurz zuvor noch das deutsche Waldburg) ist vom Drama der<br />

Vertreibungen gezeichnet, dem Leid der ehemaligen Bewohner, die einst für<br />

Hitler waren und an denen nach 1945 Rache geübt wurde. Von all diesen<br />

Dingen erzählt Oryszyn aus einer naiven und scheinbar verengten Perspektive.<br />

Die Protagonisten rechnen nicht mit der Geschichte ab, sie analysieren<br />

die Welt nicht nach moralischen oder soziopolitischen Kriterien – sie sagen,<br />

was ihnen oder jemandem aus ihrem engsten Umfeld widerfahren ist. Das<br />

ist ein Blick von unten, der auf konkreten Erfahrungen beruht, weitab von<br />

jeder Erhabenheit, und deshalb authentisch und berührend ist. Im letzten<br />

Kapitel des Buches findet sich ein Bezug auf den paradoxen Titel – das Leben<br />

wurde gerettet, aber es trägt schwer an der Gewalt, und unter so widrigen<br />

Bedingungen sollte es verschwinden wie Atlantis.<br />

Dariusz Nowacki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


13<br />

Die Gleise<br />

verschwanden im Wald hinter der<br />

Kurve.<br />

Hinter der Kurve begann die Welt.<br />

Durch die Welt fuhr man mit dem Zug bis nach Wrocław. Hinter Wrocław<br />

begann das Universum.<br />

Das Universum war von einem eisernen Vorhang in zwei ungleiche Teile<br />

geteilt.<br />

Die Hauptstadt des Universums von Olek Walewski war Moskau. Was die<br />

Hauptstadt des zweiten Universums war, war nicht so ganz klar. Die Amerikaner<br />

meinten, es sei Washington, aber die standen ja auf dem Kopf. Die<br />

Franzosen erklärten, es sei Paris, aber die aßen jeden Tag Frösche und Schnecken.<br />

Die Engländer beharrten darauf, es sei London. Was für ein lustiger<br />

Einfall. Olek Walewski konnte ihre Inselchen unter einem kleinen Tintenfass<br />

verschwinden lassen.<br />

Die Welt wurde von Buchen, Hainbuchen und Eichen, auch von Fichten<br />

und Tannen verdeckt. Einmal kletterte Olek Walewski auf die höchste Eiche.<br />

Das Wetter war kristallklar, wie die Oma bemerkte. Die Kokereien qualmten<br />

nicht, weil es einen Unfall gegeben hatte. Olek dachte sich, dass er unter so<br />

glücklichen Umständen nicht nur die Hügel Gedymina und Sobótka würde<br />

sehen können, sondern auch die Schneekoppe, auf der die Grenze verlief. Und<br />

wenn er schon die Schneekoppe sehen würde, dann auch den eisernen Vorhang,<br />

denn schließlich musste dieser Vorhang bis zum Himmel hinaufreichen.<br />

Es war überhaupt nicht klar, ob der eiserne Vorhang bis zum Himmel hinaufreichte,<br />

oder nur bis zu den erstbesten Wolken. Mietek Szczęsny meinte,<br />

dass er nur bis zu den ersten Wolken gehe. Denn wenn er bis zum Himmel<br />

hinaufreichen würde, dann müsste es in ihm irgendwelche Schleusen oder so<br />

geben, damit die Flugzeuge hindurchfliegen konnten.<br />

Es war auch nicht klar, wie weit dieser Vorhang nach unten ging. Ob er nur<br />

die Erde berührte. Oder ob er sich auch tief in sie eingegraben hatte. Denn<br />

wenn er sich eingegraben hatte, dann brauchte man unbedingt eine Pionierschaufel,<br />

um einen Gang darunter hindurchzugraben.<br />

Die Oma von Olek Walewski war der Meinung, dass der Vorhang nicht<br />

besonders hoch sei und dass man ihn wie einen Eisberg bezwingen könne, und<br />

sie überredete die anderen, sich mit Seilen und Haken einzudecken.<br />

Ihre Flitterwochen hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Chamonix verbracht,<br />

und dort hatte sie gesehen, wie angeseilte Alpinisten den Gletscher<br />

Bosson bezwangen. Sie hatten Spezialschuhe. Solche mit hervorstehenden<br />

Nägeln. Die Oma bestand darauf, dass sich alle vor der Expedition hinter<br />

den Vorhang die Schuhe mit Nägeln beschlügen. Und dass diese Nägel extra<br />

hervorstünden.<br />

Mietek Szczęsny und Franka Salatycka stimmten für die Pionierschaufel.<br />

Gegen die Seile und extra beschlagenen Schuhe.<br />

Erstens: Sie hatten keine Schuhe, nur Latschen mit Gummisohle.<br />

Zweitens: Interessant, wie Frau Walewska Senior am Eisen hinaufklettern<br />

wollte, selbst wenn es ein wenig rau war. Denn vermutlich war es rau, wo es<br />

doch die Sonnenstrahlen nicht so stark reflektierte, dass der Widerschein in<br />

Leśny Brzeg zu sehen war. Dieser Widerschein hätte einen geblendet und geleuchtet<br />

wie Schnee, und Olek Walewski blendete nichts, auch leuchtete ihm<br />

nichts entgegen, als er auf jener allerhöchsten Eiche saß.<br />

Der eiserne Vorhang hatte sich einige Monate vor dem Referendum gesenkt.<br />

Genau am fünften März 1946.<br />

Olek Walewski hockte gerade auf der Baustelle und beobachtete den Vorfrühling.<br />

Der Vorfrühling sah aus wie Frau Pitkowa im Morgenmantel, wenn<br />

sie morgens die Asche auf den Müll brachte. Unter dem Morgenmantel waren<br />

ihre gebräunten, rissigen Fersen und ein zerschlissenes, schmutzig graues<br />

Nachthemd zu sehen. Die von der ständigen Dauerwelle versengten Haare<br />

ragten im Wind empor wie ausgebleichtes, trockenes, knacksendes Unkraut.<br />

Frau Pitkowa atmete durch den Mund. Ihr halb geöffneter Mund zeigte<br />

schwarze Zähne. Der Mund und die Zähne sahen aus wie eine Baugrube.<br />

Die Baustelle, das waren Erdhaufen und eine Grube neben dem Mietshaus.<br />

Das waren mitsamt den Wurzeln ausgerissene und auf einen Haufen geworfene<br />

Bäume. Backsteine und Säcke mit versteinertem Zement. Zigarettenstummel,<br />

verdorrtes Gras und ein rostiger Bagger mit hoch erhobener Schaufel. Die<br />

Schaufel ähnelte einem Galgen.<br />

Unter dem Galgen standen zwei Hütten. Eine für Hunde und eine für<br />

Menschen. In der Hundehütte kläffte, ohne dass sie herauskam, tagelang eine<br />

schwarze Hündin. Nachts heulte sie, angeblich knabberte sie an ihren eigenen<br />

Pfoten. Das sagte der Wächter, und er gab ihr den Namen Fiśka.<br />

Der Wächter wohnte in der Hütte für Menschen. Er hatte einen Karabiner<br />

und ein Radio. Die Hütte hatte keine Fenster. Nur Ritzen in der Verschalung.<br />

In der Hütte stand eine Liege. Es gab darin elektrisches Licht.<br />

Der Wächter saß oft vor der Hütte für Menschen und hörte zu, wie Fiśka<br />

bellte. Manchmal schnappte er sich den Karabiner und schwor: „Es wird der<br />

Tag kommen, an dem ich dich umlege, du Dreckstöle.“<br />

Er hörte auch Radio. Er war der Meinung, dass alle Bewohner des Mietshauses<br />

Radio hören sollten. Weil man im Radio erfahren kann, wer fremd ist,<br />

und wer dazugehört. Und Fremden ist das Betreten der Baustelle verboten.<br />

Spionen zum Beispiel. Und jeder Spion ist ein Fremder. Auf einen Fremden<br />

muss man den Karabiner anlegen wie auf Fiśka und laut ausrufen: Halt, wer<br />

da, du Spion!<br />

Niemand wusste, wie der Wächter hieß. Es war komisch, eine Amtsperson<br />

nach dem Vornamen, Nachnamen und Geburtsort zu fragen wie beim Verhör.<br />

Als Olek Walewski genau am fünften März 1946 neben der Hütte für<br />

Menschen hockte und den Vorfrühling beobachtete, schaltete der namenlose<br />

Wächter das Radio ein. Fiśka begann zu bellen, und das Radio bummerte<br />

plötzlich los – bumm, bumm, bumm, bumm – und stellte sich um: „Hier<br />

spricht Radio London. Olek wunderte sich, dass der Wächter ein englisches<br />

und kein Radio von den Deutschen hatte, und als er sich genug gewundert<br />

hatte, hörte er in diesem englischen Radio, dass sich ein eiserner Vorhang auf<br />

die Erde gesenkt hatte. Einmal quer über den europäischen Kontinent.<br />

Daraus ging hervor, dass sich solche Hauptstädte wie Warschau, Berlin, Sofia,<br />

Prag oder Budapest und Bukarest vor diesem eisernen Vorhang befanden –<br />

auf der Seite Moskaus. Und der Rest des Universums hinter dem Vorhang war.<br />

Olek Walewski sprang auf, denn das war eine Hiobsbotschaft. Hals über<br />

Kopf lief er zur Oma, um ihr die Hiobsbotschaft zu überbringen. Unterwegs<br />

wiederholte er für sich, wer und wo entdeckt hatte, dass dieser Vorhang niedergegangen<br />

war: und zwar ein gewisser Churchill in der Ortschaft Fulton.<br />

Die Oma versteckte sich leider schon wieder. Er suchte sie an den üblichen<br />

Stellen – hinter der verzinkten Wanne im Flur, in der Wohnung unter dem<br />

Bett, hinter dem Schrank, aber er fand sie nicht.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012<br />

135 × 215, 272 PAGES<br />

ISBN: 978-83-273-0040-9<br />

TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


14<br />

KRZYSZTOF VARGA<br />

KRZYSZTOF VARGA (GEB. 1968),<br />

SCHRIFTSTELLER UND JOURNALIST,<br />

AUTOR VON 11 PROSABÄNDEN,<br />

VERÖFFENTLICHTE ZULETZT<br />

DIE ROMANE EIN GRABSTEIN<br />

AUS TERRAZZO (2007) UND<br />

UNABHÄNGIGKEITSALLEE (2010).<br />

Photo: Krzysztof Dubiel<br />

Späne<br />

Protagonist und gleichzeitig Erzähler von Späne ist der fünfzigjährige Piotr<br />

Augustyn, der als Handelsvertreter eines Warschauer Unternehmens<br />

unentwegt durch Polen reist. Der Roman enthält den Monolog dieser Figur,<br />

gestaltet als eine Art umfassende Beichte, als Generalabrechnung mit dem<br />

Leben, als Gewinn- und Verlustrechnung, obwohl von Gewinn eigentlich gar<br />

keine Rede sein kann. Schließlich bleibt diese Biografie in jeglicher Hinsicht<br />

unerfüllt, sie ist verdammt zu unzähligen Niederlagen, Enttäuschungen und<br />

Demütigungen; der unglückliche und im Grunde groteske Vertreter legt einen<br />

Widerwillen gegen alles und jeden an den Tag. Er verflucht seine Eltern,<br />

die ihm keine anständige Kindheit ermöglicht haben, seine gierige Frau, die<br />

sich, enttäuscht von ihrem Angetrauten, vor Jahren von ihm getrennt hat,<br />

seine Mitreisenden im Zug (er ist unterwegs von Warschau nach Wrocław),<br />

er verachtet die Mitarbeiter des Mutterkonzerns und die Angestellten anderer<br />

Firmen, mit denen er sich ständig trifft, er hasst Erfolgsmenschen<br />

und Verlierertypen, versnobte Jugendliche und modische Künstler. Diese<br />

Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen, Augustyn ist zutiefst frustriert,<br />

permanent läuft ihm die Galle über. Das einzige positive Merkmal des (gelinde<br />

gesagt) unsympathischen Vertreters ist seine große Liebe zur alten<br />

Musik, in der er sich bestens auskennt. Doch auch dieses Attribut wendet<br />

sich gegen ihn – Augustyn fühlt sich von der Gegenwart abgeschnitten und<br />

kann sie weder verstehen noch akzeptieren, das heutige Polen (der Protagonist<br />

monologisiert im Jahr 2011) gilt ihm als in jeder Hinsicht schlecht<br />

eingerichtet, seine Einwohner sind Versager wie er, nur unvergleichlich<br />

verlogener. Hier liegt der vielleicht größte Reiz von Späne. Vargas Roman<br />

lässt sich als radikales Pamphlet über die Gegenwart lesen. Die titelgebenden<br />

Späne sind der kümmerliche Stoff, aus dem die Seele des Protagonisten<br />

gemacht ist, sie kennzeichnen sein Bewusstsein, repräsentieren aber<br />

gleichzeitig, oder vielleicht sogar in erster Linie – so der Autor – das Wesen<br />

der Gesellschaft. Die Späne stehen für die allgemeine Verlogenheit, die allgegenwärtige<br />

Heuchelei und den billigen Schund, Verblödung, Neid und den<br />

Triumph des Zynismus, für intellektuellen und mentalen Murks. Natürlich<br />

entsteht so ein bewusst überzeichnetes, karikaturistisches Bild, das aber<br />

dennoch bezwingt. Das Finale, in dem ein letztlich unmotiviertes Verbrechen<br />

geschieht, darf als eigenwilliges Memento interpretiert werden. Der<br />

Autor legt nahe, dass Soziopathie und gewohnheitsmäßiger Hass auf die<br />

Mitmenschen nicht nur einer Geisteshaltung entspringen, sondern auch einer<br />

kriminellen Veranlagung.<br />

Dariusz Nowacki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


15<br />

Ich<br />

bin Vertreter für Verzichtbares, mein Job ist es, durch Polen<br />

zu fahren, mich mit fremden Menschen zu treffen, die ich gar<br />

nicht treffen möchte, mit ihnen Zeit zu verbringen, die ihren<br />

festen Preis hat, obwohl sie keinerlei Mehrwert erzeugt, dann nach Warschau<br />

zurückzukommen oder den nächsten Ort anzufahren, mal mehr, mal weniger<br />

weit entfernt. Ich bin ein professioneller Pilger, der für seine Akkordpilgerei<br />

bezahlt wird, der Geld bekommt für die vielen hundert Wallfahrtskilometer,<br />

die er fast täglich zurücklegt. Ich pilgere durch Polen, und das ist die schwerste<br />

Bußübung, die überhaupt verhängt werden kann, sie wird aber verständlich,<br />

wenn man bedenkt, dass derjenige, der sie verhängt hat, mir zuvor die Beichte<br />

abgenommen hat. (…)<br />

Ich werde wohl im Laufe meiner (nennen wir es hochtrabend) Berufslaufbahn<br />

in vielleicht hundert Städten gewesen sein, natürlich hauptsächlich in<br />

solchen der mittleren Kategorie, dieses Jahr waren es sechsunddreißig Städte,<br />

also rein statistisch drei Städte pro Monat, aber die Statistik verschleiert ja<br />

üblicherweise mehr als sie aufklärt, schließlich war ich in mehreren Städten<br />

mehr als einmal, und es ist gewiss keine Überraschung, dass dies vor allem die<br />

größten Städte betrifft, die Metropolen, jedenfalls für polnische Verhältnisse.<br />

Ich weiß genau, wo ich wie oft war, weil das alles in einem eigens angelegten<br />

Notizbuch mit festem Einband verzeichnet ist, das ich pedantisch führe:<br />

An- und Abreisedatum, Stadt, Hotel. Natürlich mache ich diese Buchführung<br />

nicht aus Sentimentalität, sondern aus Abrechnungsgründen, ich stelle meine<br />

Reisekosten in Rechnung, das heißt, ich bekomme die Fahrtkosten erstattet,<br />

leider nur 2. Klasse, immerhin Intercity, was aber auch nicht viel heißt, weil<br />

die sowieso immer Verspätung haben, und die Hotelkosten, natürlich maximal<br />

drei Sterne. Dieses Buch mit seinen Daten und Zahlenkolonnen ist meine<br />

Lebensgeschichte. (…)<br />

Meine Auslagen für Essen führe ich nicht auf, für die Verpflegung zahle ich<br />

nämlich selbst, deshalb kaufe ich mir Durchschnittsessen zu Durchschnittspreisen,<br />

nichts Repräsentatives, meistens Kaffee, meistens in einer Kette, Coffee<br />

Heaven, Starbucks oder so etwas, meine Vertragspartner haben ein Faible<br />

für Caféketten, sie denken, das steigere ihr Prestige, außerdem wissen sie, dass<br />

ich zahle, und es ist ja auf jeden Fall besser, im Starbucks seinen Kaffee zu<br />

bekommen als in irgendeinem Marysieńka’s oder so.<br />

Sie haben bei den Ketten dieses Profi-Gefühl; es geht nicht einmal darum,<br />

dass die Kaffeemenge größer ist und der Becher, oder dass statt der müden<br />

Frau mit nachgedunkeltem Haaransatz, die gelangweilt die Tassen bringt,<br />

eine forsche, junge Bedienung sie an den Tresen ruft, es geht allein darum,<br />

dass der Kunde dort dieses Profi-Gefühl hat. Jeder Versager mit seinem Pappbecher<br />

Café latte in der Hand, der so tut, als hätte er es eilig, vermittelt dieses<br />

Profi-Gefühl. Alle Vertragspartner verabreden sich mit mir an solchen Orten,<br />

der Pappbecher Café latte befördert sie von einem Niemand zu einem Niemand<br />

Plus, außerdem hoffen sie, von einem Bekannten gesehen zu werden,<br />

der sich zur selben Zeit mit einem meiner Vertreterkollegen trifft. Unmengen<br />

dieser mürrischen Burschen und genervten Frauen mit Pappbechern in<br />

der Hand habe ich auf meinen Wanderungen an mir vorbeiziehen sehen, in<br />

furchtbarer Eile zu einem Meeting von geradezu unsagbarer Wichtigkeit unterwegs,<br />

auf allen Kanälen funkend: Ich bin hier der Profi, ich habe keine Zeit<br />

für irgendetwas außer meinem Job, ich treffe mich nur mit Leuten meiner<br />

Kragenweite, ich interessiere mich nicht für Leute, die es nicht eilig haben<br />

und die nicht den Kaffee mit aufgeschäumter Milch von der Kette trinken,<br />

bei der ich ihn immer kaufe (obwohl ich jedes Mal heulen könnte, wenn es<br />

ans Bezahlen geht). Der einzige Trost für die Frauen ist, dass sie nur Geld<br />

für Kaffee und Wasser ausgeben, wenn es um – übertrieben gesprochen –<br />

Ernährung geht, manche auch noch für Mentholzigaretten, aber das immer<br />

seltener, ausnahmslos alle sind schlank und balancieren ihre bleichen Leiber<br />

auf dem schmalen Grat zum Untergewicht, diesen ewigen Kampf mit dem<br />

eigenen Körper können sie nur mit ihrem unsympathischen Auftreten kompensieren;<br />

bei meinen zahllosen Meetings hatte ich nicht ein einziges Mal mit<br />

einer sympathischen Vertragspartnerin zu tun, alle sind sie unterkühlt und<br />

zeigen unverhohlen, wie es sie ekelt, sich, und sei es nur beruflich, mit einem<br />

übergewichtigen Fünfzigjährigen mit zunehmend raumgreifender Platte treffen<br />

zu müssen.<br />

Die Caféketten haben w-lan, meine Partner kommen grundsätzlich mit<br />

Laptop, den sie während des Meetings hastig und ohne den geringsten Anlass<br />

hochfahren, aber ihre Laptops sind immer im Standby, ein Klick und über<br />

ihre Gesichter flackert ein zufriedenes Lächeln, das gleich wieder gespielter<br />

Konzentration weichen muss.<br />

Ich gebe ihnen meine Unterlagen, sie geben mir ihre Unterlagen, ich schaue<br />

mir ihre an, sie sich meine, unter Umständen ist eine Unterschrift gefragt, aber<br />

nicht zwangsläufig, es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Laptop mitzunehmen,<br />

alle Details sind vorab geklärt worden, per E-Mail, bei Meetings brauche<br />

ich keinen Laptop, ich habe ihn nur, um abends in meiner Hoteleinsamkeit,<br />

untermalt von Straßenlärm und Aufzuggeräuschen, meinen Posteingang zu<br />

überprüfen und der Zentrale die jüngsten überwältigenden Firmenerfolge zu<br />

melden.<br />

So sitzen wir mit unseren Café latte-Bechern herum, sehen wortlos die Papiere<br />

durch und unterschreiben sie anschließend, aber auch das nicht immer,<br />

manchmal unterbreiten wir einander auch lediglich Angebote, ich lege ihnen<br />

eine Offerte vor, sie nehmen sie entgegen, wie ein Einschreiben bei der<br />

Post, und tragen sie zu ihren Vorgesetzten, zu denjenigen, die tatsächlich entscheidungsbefugt<br />

sind, ich bin ja im Grunde eine gemeine Brieftaube, keine<br />

weiße, sondern ein grauer Straßentäuberich. Die Leute, mit denen ich mich<br />

treffe, haben meist keinerlei Befugnisse, sie sind Dienstboten, Piccolos, Laufburschen<br />

auf dem Caféketten-Parcours, die sich im Auftrag ihrer Arbeitgeber<br />

mit meinesgleichen treffen, obwohl sie natürlich ungeheuer wichtig tun, sich<br />

aufplustern, in die Brust werfen und ihr kümmerliches Pfauenrad zu schlagen<br />

versuchen, das ihnen die Vorgesetzten schon ordentlich gerupft haben. Sie<br />

sind belanglos, genau wie ich, alles nur Spiegelfechtereien, und dabei sind sie<br />

immer jünger als ich, Mitte zwanzig, höchstens dreißig, sie könnten meine<br />

Kinder sein, den mühseligen Aufstieg haben sie noch vor sich und sie glauben,<br />

sie könnten den Gipfel erreichen, ich weiß aber, dass sie jahrelang auf<br />

ihrem schmalen Felsvorsprung sitzen und sich daran festklammern werden,<br />

um durchzukommen.<br />

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2012<br />

125 × 205, 368 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-366-1<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


16<br />

SYLWIA CHUTNIK<br />

SYLWIA CHUTNIK (GEB. 1979), SCHRIFTSTELLERIN UND STADTFÜHRERIN DURCH WARSCHAU,<br />

HAT KULTURWISSENSCHAFTEN UND GENDER STUDIES STUDIERT, IST SOZIAL ENGAGIERT UND<br />

VORSITZENDE DER STIFTUNG MAMA, DIE SICH IN POLEN FÜR DIE RECHTE VON MÜTTERN EINSETZT.<br />

CWANIARY (DT. DIE SCHLAWINERINNEN) IST IHR DRITTER ROMAN.<br />

Photo: Mikołaj Długosz<br />

Die Schlawinerinnen<br />

„Es gibt keinen größeren Schlawiner als den Warschauer“, sang einst<br />

Stanisław Grzesiuk, polnischer Liedermacher im Warschau der Vorkriegszeit<br />

und unbestrittener Patron des neuesten Romans von Sylwia Chutnik. Der<br />

Rhythmus seiner Balladen, die hier so manches Mal zitiert werden, und er<br />

selbst, der namentlich genannt wird, machen den Ton, den Schick und den<br />

Charme des ganzen Romans aus. Chutnik zeigt, dass Grzesiuks Welt – oder<br />

eher Unterwelt – die nur selten mit der sogenannten großen Welt zusammentrifft,<br />

die Macht hat, die zeitgenössische, entzauberte, getünchte und<br />

modernisierte Wirklichkeit Warschaus zu überdecken. Man muss lediglich die<br />

Literatur und die Geschichte gut kennen, und den Rhythmus der Geschichten<br />

über Stasiek Messerstecher, Antek, den Sohn der Straße, über Geliebte,<br />

Säufer und Dirnen, und am Ende über den Henker, der schon am Galgen<br />

wartet, aufnehmen können. Sylwia Chutnik hat ein besonderes Gespür für<br />

diese Rhythmen. Und sie ist außergewöhnlich einfallsreich. Sie lässt sich<br />

inspirieren von Grzesiuks Balladen über Warschau, von Pola Gojawiczyńskas<br />

„Die Mädchen aus Nowolipki“ (dem Kultroman über das Leben junger Frauen<br />

im Warschau der Zwischenkriegszeit) und vom Anarcho-Punk-Feminismus.<br />

Sie hat einen eigenständigen, originellen Stil entwickelt, einen sowohl witzigen<br />

als auch bewegenden, melodramatischen, grausamen und politischen<br />

Roman. Denn es gibt durchaus einen größeren Schlawiner als den Warschauer<br />

– das ist die Schlawinerin, das unbesiegbare Banditen-Mädchen, das<br />

immer für eine gerechte Sache kämpft. Jedenfalls fast immer. Manchmal<br />

kämpft sie aus purem Vergnügen. Vor allem agiert eine Schlawinerin nicht<br />

allein. Chutniks Roman besingt die Erfolge einer ganzen Bande weiblicher<br />

Rächerinnen. Einer Bande, die soziale Schichten, Stadtbezirke und Generationen<br />

vereint, so wie einst in den Schulklassen. Celina, Halina, Stefa und<br />

Bronka spielen hier die erste Geige. Sie sprechen selbst Recht. Die Haupthandlung<br />

ist ein Rachefeldzug gegen einen brutalen Bauunternehmer, der<br />

eine Aktivistin der Mieterbewegung angezündet hat. Sie beruht auf einer<br />

wahren Geschichte, die in Warschau passiert ist. Die Täter wurden nie gefunden<br />

– die Schuld des Bauunternehmers ist lediglich eine symbolische. Im<br />

Roman nehmen sich die jungen Frauen der Sache an, und nur dank ihrer siegt<br />

die Gerechtigkeit. Die Geschichte beginnt auf dem Friedhof in Bródno und<br />

endet gewissermaßen auch auf einem Friedhof, denn das ist das Schicksal<br />

der Kriegerinnen, das grausame und traurige Ende der Ballade.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


17<br />

Halina,<br />

die Klinge, begann gedankenversunken ihre Hände<br />

zu bewegen. Erst als die Gabel herunterfiel,<br />

schreckte sie hoch. Sie sah sich um. Dann begann<br />

sie zu sprechen, als stünde sie neben sich. Erst leise, dann immer lauter und<br />

schneller.<br />

In der Schule wurde ich jedes Jahr für vorbildliche Leistungen ausgezeichnet.<br />

Das hat mich gewurmt, verstehst du. Habe mich gefragt, was das soll.<br />

Vorbildlich? Für wen denn? Für die anderen Mädchen, die genauso sind wie<br />

ich? Mit Schürze, mit Pferdeschwänzen oder geflochtenen Zöpfen und in<br />

Strumpfhosen. Wir alle sind aufgewachsen mit Ala aus der Fibel, die sich mit<br />

ihrer Mutter wie eine Maschine in der Küche abrackert, deren Bruder Kosmonaut<br />

ist oder Feuerwehrmann, oder weiß Gott wer. Was war ich schon für ein<br />

Vorbild für die anderen Kinder? Weil ich fleißig war und artig? Gott, wie ich<br />

es gehasst habe, artig zu sein. Ich habe absichtlich Unfug getrieben, gespuckt,<br />

geflucht, meine Schönschreibhefte zerfleddert. Aber das hat nichts geholfen.<br />

Einmal hat mir einer im Hausflur aufgelauert. Ich war sechzehn, mein Kopf<br />

leer, ich bin ständig auf Konzerte gerannt, in Springerstiefeln, und hab direkt<br />

vor der Bühne Pogo getanzt. Der Typ hält mir ein Messer an die Kehle und<br />

schreit: „Ausziehen!“, „Hose runter!“. Ich rufe nach Hilfe, darauf der, dass<br />

ich das Maul halten soll, sonst bringt er mich um. Ich weiter, Hilfe, und er,<br />

dass mich hier keiner hört, und tatsächlich – keiner wollte mich hören, im<br />

Wohngebiet zweitausend Menschen, Sommer, die Fenster stehen offen, aber in<br />

diesem Moment, Scheiße, sind die auf einmal alle taub. Ich schreie, aber viel<br />

zu leise. So in mir drin, innen ein einziger Schrei, außen Stille. Der fummelt<br />

an seinem Hosenstall, keucht, völlig im Wahn. Es war schwül, um meinen<br />

Kopf sirrte eine Fliege, und ich war mit den Gedanken schon ganz woanders,<br />

ich tat, als hätte ich mit dieser unangenehmen Szene nichts zu tun, und dachte<br />

mir nur, ach, ich ruhe mich dann zu Hause aus, ziehe mir die Decke über den<br />

Kopf und niemand kann mir was Böses. Da kommt plötzlich ein Nachbar mit<br />

seinem Mülleimer und schaut in unsere Richtung, und der Typ rennt weg,<br />

schafft es aber noch, mich hinzuschubsen. Bin mit voller Wucht auf meine<br />

Hand gefallen, das hat ziemlich weh getan.<br />

Da lag ich nun mit halb heruntergezogenem Schlüpfer und schwerem<br />

Schock. Der Nachbar machte einen großen Schritt über mich hinweg, weil<br />

ich im Weg lag. Dann knallte der Mülltonnendeckel, bumm, und weg war er.<br />

Ich konnte nicht aufstehen, hatte gehofft, er würde mir helfen, aber er wollte<br />

mich nicht hören, nicht bemerken, hatte verdammt noch Mal seine eigenen<br />

Sorgen: Frau, Kinder und so weiter.<br />

Also wirklich, die Hormonbomben liegen jetzt überall herum, sonnen sich<br />

und drücken ihre Pickel aus, dass es erschöpften Menschen geradezu ins Gesicht<br />

spritzt. Warum schert sich denn keiner darum, warum berichtet keiner<br />

im Fernsehen darüber? Wo sind die Eltern und die Erziehungskommission?<br />

Wo?<br />

meine Hand losgelassen und war vom Hocker aufgestanden. Sie war plötzlich<br />

Xena, Hothead Paisan und Göttin Kali in einem. Sie sprach, eigentlich zischte<br />

sie ganze Wortströme in mein Ohr, hämmerte sie mir ein, so wie man jemandem<br />

mathematische Formeln und heilige Gebote einschärft.<br />

Sie war mein Mahomet, der erschien, um die Wahrheit zu verkünden:<br />

Rache bringt dir Erlösung. Nur Rache bringt dir Erlösung, Mädchen. So<br />

eine Lebensweisheit findest du nicht in der Zeitung. So eine Lebensweisheit<br />

wird nur unter Eingeweihten weitergegeben.<br />

Noch einen Wodka bitte. Für die Dame auf dem Hocker hier natürlich.<br />

Halina setzte sich aufrecht hin und hörte auf, nervös an ihren Fingernägeln<br />

zu knabbern, ihre Zöpfe zu öffnen, vor sich hin zu murmeln, zu transpirieren.<br />

Jetzt ist alles wieder gut, die böse Geschichte ist abgeheftet unter „erledigt“.<br />

Jetzt ist alles gut, jetzt kann ich Karate und spüre die scharfen Waffen, die ich<br />

unterm Kleid trage.<br />

Es bringt nichts, über die Vergangenheit nachzusinnen. Schließen wir die<br />

verzierte Schatulle für Traumata und atmen tief durch. Hey, willkommen<br />

Abenteuer, morgen ist ein neuer Tag!<br />

Mädchengeschichten mögen plötzliche Wendungen in der Handlung. Da<br />

glaubst du, einfach ein bisschen zu plaudern, und plötzlich vertraut dir jemand<br />

so was an. Und schon nimmt das Gespräch eine andere Wendung, auf<br />

der Achterbahn geht es ganz nach oben, und dann saust der Wagen runter.<br />

Wenn du nicht hinterherkommst, halt den Mund.<br />

Halina wechselte das Thema, sprach über die neuesten Ausstellungen und<br />

das kaputte Fahrrad, das ihr Marek repariert hatte. Schnatter, schnatter, was<br />

für ein Tempo, was für eine Melodie! Die Geschichtenschatulle ist mit einer<br />

speziellen Mädchenchiffre verschlossen. Sie wird sich lange nicht öffnen lassen,<br />

weil sich kaum jemand diese Chiffre merken kann.<br />

„Ist das nicht ein bisschen viel Wodka?“, fragte Celina, als sie mit dem Essen<br />

fertig war.<br />

„Alkohol ist doch gesund, gut für die Verdauung, schwangere Frauen sollen<br />

Wodka trinken, weil das dem Babyblues und Blähungen vorbeugt. Das haben<br />

amerikanische Wissenschaftler bei Rattenexperimenten festgestellt. Da hatten<br />

die Weibchen die Wahl zwischen Wasser und Alkohol. Und sie entschieden<br />

sich für Letzteres. Na, die Ratten werden es wohl wissen. Dadurch wurde bewiesen,<br />

dass schwangere Frauen auf der ganzen Welt Alkohol trinken sollten.<br />

Sogar im Kreissaal fließt Spiritus statt Oxytocin aus dem Tropf, so hat das<br />

Neugeborene gleich zehn Punkte auf dem, na, wie heißt das gleich, auf dem<br />

Alko-Score.“<br />

Celina schaute ihre Freundin verwirrt an und wollte ihr schon widersprechen,<br />

es sei wohl ein symbolisches Glas Rotwein gemeint, aber sie war nicht<br />

mehr sicher und fürchterlich müde.<br />

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska<br />

Der Nachbar ging. Ich nicht.<br />

Die Clique tanzte. Ich nicht.<br />

Nach einer Weile erhob ich mich, stöhnte vor Schmerz und ging nach Hause.<br />

Und da drehte ich das kalte Wasser auf und hielt den Kopf drunter.<br />

Ist ja gar nichts passiert, dachte ich. Schließlich hatte er mich nicht vergewaltigt.<br />

Ich zitterte am ganzen Leibe und ging ins Treppenhaus, um eine zu<br />

rauchen.<br />

Da traf ich eine Bekannte, und die sagte: „Wie geht’s dir? Siehst so blass aus.“<br />

Die Hand, auf die ich geknallt war, war dick angeschwollen, kugelrund, als<br />

würde sie gleich platzen. Keine Ahnung, wieso ich genau in dieser Pfote die<br />

Kippe hielt und nichts sagte. Mir liefen die Tränen, aber ich schwieg, und die<br />

Bekannte zu mir: „Eh, hat dich dein Alter geschlagen?“ Ich schwieg weiter,<br />

und sie hat bestimmt gedacht, dass ich mich schäme, das zuzugeben, und<br />

wahrscheinlich tat ich ihr leid.<br />

Abends hatte ich den Eindruck, dass es mir besser geht. Dass diese dumpfe<br />

Wut nur ein vorübergehender Rausch ist. Eine Woche später habe ich mir zum<br />

ersten Mal die Pulsadern aufgeschnitten.<br />

Im Krankenhaus war eine tolle Schwester. Ich erzählte ihr, was passiert war,<br />

und dass ich mich lieber selbst umbringen würde, als den, der mir das angetan<br />

hatte.<br />

Sie wandte sich ab und schwieg lange. Als sie mich wieder ansah, war sie<br />

nicht mehr die freundliche Krankenschwester mit Käppi und Kittel. Sie hatte<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012<br />

135 × 215, 240 PAGES<br />

ISBN: 978-83-273-0187-1<br />

TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


18<br />

IGOR OSTACHOWICZ<br />

IGOR OSTACHOWICZ (GEB. 1968), STUDIERTE INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN, ARBEITETE ALS PFLEGER<br />

AN EINEM PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHEN INSTITUT UND IM MANAGEMENT ZAHLREICHER FIRMEN,<br />

SEIT EINIGEN JAHREN IM STAATSDIENST. GEGENWÄRTIG IST ER ALS STAATSSEKRETÄR IN DER KANZLEI<br />

DES POLNISCHEN MINISTERPRÄSIDENTEN DESSEN PR-BERATER UND REDENSCHREIBER.<br />

Photo: Maciej Śmiarowski<br />

Die Nacht der lebenden Juden<br />

„Die Nacht der lebenden Juden“ ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.<br />

Vor allem aber, weil es dem Autor gelungen ist, ein gewichtiges Thema des<br />

polnischen kollektiven Bewusstseins literarisch zu bearbeiten und eine Geschichte<br />

zu erzählen, die schon seit Jahren erzählt sein will: Das im Zweiten<br />

Weltkrieg dem Erdboden gleichgemachte Warschau als verwilderter Friedhof<br />

im Dämmerzustand, mit den damals Ermordeten als unvermittelt Fleisch<br />

gewordenen Geistern. Lebende und Tote – Aug in Auge. Wer ist nun wirklich<br />

zu Hause in Warschau, in Polen, an diesem vom Genozid gezeichneten Ort?<br />

Der wunderbar geschriebene Roman sucht nach Antworten und bedient sich<br />

dabei verblüffender, irritierend unkonventioneller Mittel. Die krasse, humoristische<br />

Poetik des popkulturellen Horrorgenres scheint im Grunde unvereinbar<br />

mit dem Shoah-Stoff. Schon der Titel, der in Anspielung auf einen<br />

Horrorfilm-Klassiker die „Toten“ durch „Juden“ ersetzt, wirkt verstörend.<br />

Ins Rollen gebracht wird die ganze Geschichte durch ein den Juden gestohlenes<br />

Amulett in Form eines silbernen Herzens, das seinem Besitzer Glück<br />

und Erfolg verheißt. Der Protagonist, der im Handlungsverlauf zunehmend<br />

an einen Comic-Superhelden im Kampf gegen die Judenvernichtung erinnert,<br />

lebt mit seiner Freundin in Muranów, einem auf den Trümmern des<br />

Ghettos errichteten Stadtteil von Warschau. Eines Tages entsteigen der Kellerluke<br />

(…) tote Juden in zerschlissenen Mänteln. Nach und nach wird deutlich,<br />

dass sie sich am liebsten im Arkadia aufhalten, einem nahe gelegenen<br />

Einkaufszentrum.<br />

Bei allen Pop-Elementen ist „Die Nacht der lebenden Juden“ ein stark reflektiertes,<br />

ein reifes Werk. Der Autor legt die Prinzipien der aus sich selbst<br />

geschaffenen Stadt nachvollziehbar offen. Das Einkaufszentrum Arkadia als<br />

Hort ewiger Glückseligkeit, geheiligt durch Handel und Umsatz, wird mit der<br />

gespenstisch anmutenden Aura von Muranów konfrontiert. Das hinlänglich<br />

bekannte Gefühl des Grauens und der Fremdheit, das über dem modernisierten,<br />

verwestlichten Stadtraum liegt, bricht sich in der Realität Bahn. Aus<br />

dem Horrorgenre entlehnt, ist das Romankonzept gleichzeitig poetisch und<br />

erstaunlich pointiert, vorgegeben durch historische Realien. Die jüdische<br />

Geschichte des Nicht-Seins muss ergänzt werden um das Grauen, die Materialisierung<br />

dessen, was verdrängt werden will. Die Bewusstwerdung des Protagonisten<br />

über diesen Prozess (und über die symbolische Macht des Amuletts)<br />

gibt die überzeugende, frappierende Dramaturgie des Romans vor.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


19<br />

Ich<br />

will nicht behaupten, sie wären überhaupt nicht angestarrt<br />

worden, aber man nimmt die anderen doch nur sehr flüchtig<br />

wahr, meist nur die Kleidung, wenn nicht erotische Attraktionen<br />

vorliegen, vielleicht ist es aber auch ein Zauber, der sie unsichtbar macht,<br />

geriet ich ins Grübeln. Mir war der Unterschied gleich aufgefallen, noch bei<br />

mir im Treppenhaus – nicht das übliche, akustisch verstärkte Gelächter und<br />

Geschrei, stattdessen merkliche Konzentration, das Knistern neuer Kleider<br />

und das Knirschen verdorrter Gelenke. Ich hatte ein ganzes Heftchen mit<br />

Fahrscheinen gekauft, jeder wollte seinen selbst entwerten, neugierige Blicke<br />

aus dem Fenster, nichts Besonderes, ein Betreuer fährt mit einer Gruppe Teenie-Leichen<br />

spazieren.<br />

Das Arkadia hatte sie schwer beeindruckt, Rachel und David spielten<br />

Stammkundschaft und trugen die Nase höher als alle anderen. Rachel begrüßte<br />

Chirico übertrieben herzlich, um aller Welt zu zeigen, dass sie eine<br />

lebendige Freundin hat, noch dazu aus Fernost. Selbstverständlich packte sie<br />

alle der Kaufrausch, und ich musste eine Pro-Kopf-Deckelung einführen, ich<br />

konnte ja nicht jedem in Warschau ermordeten Bengel Klamotten und Technik<br />

finanzieren. „Ich geh noch in die Insolvenz wegen euch.“ Und ständig<br />

aufpassen, dass sie zusammen bleiben, dass keiner verloren geht, ich war völlig<br />

fertig.<br />

„Die machen Fotos von ihnen.“<br />

Bei meinen mühsamen Versuchen, die Ordnung in der Gruppe aufrecht zu<br />

erhalten, drang diese Information nicht gleich zu mir durch. Meine Kids hielten<br />

im Empik-Store alle CD-Hörstationen besetzt, manche wälzten Bücher,<br />

Alben, Papierkram, dauernd fiel etwas herunter oder kippte um und ich fühlte<br />

mich zuständig, außerdem vergoss der kleine Aron, der nur noch ein Auge hat,<br />

mit diesem einen Auge bittere Tränen und schluchzte herzzerreißend, weil er<br />

nebenan im Musikgeschäft eine Geige entdeckt hatte, die er jetzt unbedingt<br />

haben musste, ich durfte ihm nun auseinandersetzen, dass solche Sonderwünsche<br />

über mein Budget gingen. Erst im dritten oder vierten Anlauf erreichte<br />

Chirico, die an meinem Ärmel zerrte, mit ihrer Meldung mein Gehirn:<br />

„Die machen Fotos von ihnen.“<br />

Tatsächlich, grinsende Skinheads fotografierten meine Schützlinge. Da ruft<br />

mich Chuda an. Sie schlürft ihren Kaffee und lässt mich wissen, dass gerade<br />

die Ambulanz da war und den alten Kerl und die dicke Omi mitgenommen<br />

hat, jetzt ist es endlich schön still in der Wohnung.<br />

„Wer heult denn da so?“, fragt sie.<br />

„Aron will eine Geige“, antworte ich.<br />

„Dann sei doch nicht so, kauf sie ihm“, kriege ich zu hören. „Der arme Junge,<br />

das ist doch der ohne Auge, sei so gut, schenk ihm ein bisschen Wärme.“<br />

Jetzt platzt mir doch der Kragen:<br />

„Ich bin hier mit fünfzehn Leichen im Einkaufszentrum unterwegs!“, brülle<br />

ich, aber Chuda kommt nicht mehr dazu, sich davon beeindrucken zu lassen.<br />

„Es hat geklingelt“, sagt sie. „Ich ruf nachher nochmal durch.“<br />

die ganze Truppe, instinktiv, wie die Hunde der Katze. Chirico bekommt von<br />

mir das Fahrscheinheft und den Auftrag, die Gruppe geschlossen nach Hause<br />

zu bringen, in den Keller. Ich nehme die Verfolgung von Szymek und den<br />

anderen auf. Zehn Skins und zwei Wachleute, es sieht aus, als liefen sie alle vor<br />

mir davon, jetzt müsste ich mich nur noch kurz umziehen, das blaue Trikot<br />

mit dem rot-gelben „S“ auf der Brust und das knappe rote Mäntelchen um die<br />

Schultern, ich verstoße gegen meine heilige Nichteinmischungsdoktrin, bin<br />

gleich als Held mit blankem Hintern vor Ort, kassiere meine Tracht Prügel<br />

und gut ist es, klassisches romantisches Verhaltensmuster, ich sollte besser in<br />

ein leeres Haus rennen, zu Chuda, einen schönen Grüntee trinken, solange ich<br />

noch alle Zähne habe. Was macht schon ein totes Jüdlein mehr oder weniger<br />

– ich denke ganz nüchtern, laufe aber weiter, in Schweiß gebadet.<br />

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler<br />

ZZ kontrollierte die Herztätigkeit, indem er einer Frau, die gerade jemanden<br />

zum Krankenwagen brachte, ungestraft in den Busen zwickte. Er glaubte<br />

sie zu kennen, wusste aber nicht mehr genau, woher. Aus Norwegen? Aber war<br />

ich denn in Norwegen gewesen? Bevor sie wegfuhr, ließ er sich Telefon und<br />

Adresse diktieren, sie diktierte anstandslos.<br />

Sie stiegen die Treppe hinauf. In der Wohnung war nur das Yoga-Mädchen.<br />

„Wo ist er?“, fragte ZZ und versuchte ihr unter den Rock zu fassen. Sie<br />

schüttelte ihn erschrocken ab. Unfähig etwas zu sagen, kreischte sie nur:<br />

„Hilfe!“<br />

Also wirkt das Artefakt bei ihr genauso wenig, wie bei ihrem Freund, dachte<br />

ZZ. Sie zogen die Tür hinter sich zu.<br />

„Das sind meine Kumpels, Bolo und Bandzioch, die werden dich liebend<br />

gerne durchpimpern.“<br />

Mist, ich will sie zusammentrommeln, kriege sie aber kaum los von ihren<br />

Kopfhörern, CDs, Comics und dem ganzen Kram, sie weinen, „ich hab noch<br />

fast nichts gehört, ich musste ja die ganze Zeit warten“ usw., ich bin schon<br />

ganz verschwitzt, jeder zweite heult laut, die Leute gucken schon, die Rechten<br />

knipsen mit ihren Fotohandys, zum Glück hilft Chirico mir ein bisschen.<br />

„Wir gehen jetzt, nichts wird gekauft, legt alles zurück in die Regale.“<br />

Die Skins lachen über die Tränen und über meine Panik, sie zeigen mir mit<br />

ihren Fäusten, was mich gleich erwartet. Als wir gehen, springt der Alarm an.<br />

Szymek rennt los, die Wachleute hinterher, dann folgen die Skins, zum Glück<br />

W.A.B., WARSZAWA 2012<br />

123 × 195, 256 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7747-700-7<br />

TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


20<br />

ZOŚKA PAPUŻANKA<br />

ZOŚKA PAPUŻANKA (GEB. 1978),<br />

THEATERWISSENSCHAFTLERIN,<br />

ARBEITET ALS POLNISCHLEHRERIN.<br />

PROMOVIERT IN LITERATURWISSEN-<br />

SCHAFT. „DAS AFFENHAUS“ IST IHR<br />

LITERARISCHES DEBÜT.<br />

Photo: Dawid Kozłowski<br />

Das Affenhaus<br />

Dieser Roman ist gewunden wie eine Sprungfeder. Komponiert aus kurzen<br />

Szenen erzählt er von mehreren Jahrzehnten einer Krakauer Familie, von einem<br />

Leben voller Spannungen, Konflikte und so tiefem Unverständnis, dass<br />

sich dem Leser die ganze Lektüre hindurch geradezu die Frage aufdrängt:<br />

Wieso hält das, warum bricht das nicht auseinander? Natürlich gibt es Hinweise,<br />

aus denen man die eine oder andere Antwort entnehmen kann, aber<br />

sie überzeugen nicht ganz: weil sie das heilige Sakrament der Ehe verbindet,<br />

weil Vorfälle aus der Vergangenheit auf ihr lasten, weil sie – zumindest für<br />

den Mann – eine Art Buße ist, und weil sich Gegensätze anziehen usw. Hier<br />

wird nichts endgültig geklärt – wir haben es nicht mit einem zweitklassigen<br />

Roman über die Hölle des Familienlebens zu tun. Das ist wirklich Literatur.<br />

Und zwar ernste Literatur. Mit Verve geschrieben, mit Ergriffenheit und literarischem<br />

Können. Papużanka operiert mutig mit der Literatursprache,<br />

ergeht sich in leichtfüßigen Wortspielen, beweist Feingefühl für die individuellen<br />

Sprachstile, die die Figuren besser charakterisieren als das eine<br />

potenzielle, von einem Erzähler gelenkte Beschreibung tun würde. All das<br />

ist großartig, die schriftstellerische Gerissenheit eingeschlossen, mit der<br />

die Autorin den Roman erdacht hat, , wobei sie sich gewiss von etwas hat<br />

lenken lassen, das man „schriftstellerische Bescheidenheit“ nennen mag<br />

– sie konstruiert keine ausschweifende Erzählung, was sich bei dem Thema<br />

eigentlich anbieten würde, sie entwickelt keine Familiensaga, sondern<br />

beschreibt lediglich in einer Art Telegrammstil Szenen aus verschiedenen<br />

Zeitabschnitten des Familienlebens, wobei sie die Erzählperspektive wechselt,<br />

so wie es im Übrigen im ersten Absatz des Romans angekündigt wird.<br />

Dieser Roman ist eine Art Konzentrat, zu dem man – um ein konventionelles<br />

Werk zu erhalten – „Wasser zum Verdünnen hinzufügen“ müsste. Allerdings<br />

bin ich nicht sicher, ob das dem Roman in der Gesamtbewertung gut tun würde,<br />

denn womöglich würde das die Kraft seiner Wirkung mindern, die sich<br />

mit einem Faustschlag vergleichen lässt.<br />

Leszek Bugajski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


21<br />

Es<br />

ist immer das Gleiche. Kinder verlaufen sich im Wald – die alte<br />

Leier. Da lässt sich nichts machen. Selbst wenn wir dem Instinkt<br />

ein Schnippchen schlagen wollten, nehmen wir die ausgetretenen<br />

Pfade. Verlorene Zeit, die man nie wieder bekommt. Selbst wenn wir nur einen<br />

Augenblick in Erinnerung behalten wollten, zeigt sich immer wieder, dass<br />

es anders war, dass keiner mehr weiß, wer was getan hat, wer was gesagt hat,<br />

dass uns nur Fetzen bleiben, Reste auf den Tellern, die zu niemandem gehören.<br />

Nie wird man wissen, wer Erzähler ist, wer Protagonist, wer Figur im<br />

Hintergrund, wessen Worte niedergeschrieben werden. Nur wer verliert und<br />

wer gewinnt, steht immer schon am Anfang fest.<br />

Es gab keinen Grund für diese Ehe. Keinen einzigen. Weder einen rationalen<br />

noch einen irrationalen. Keinerlei Gefühle, ganz sicher. Keine Situation,<br />

keinen Zufall, nicht einmal Geld. Weder mochten sie sich, noch passten sie<br />

zueinander. Sie war schon einmal verheiratet gewesen. Der Mann war zwar<br />

längst begraben, aber sie hätte es ja auch dabei belassen können. Man wusste<br />

nicht viel über ihn, sie selbst erzählte gern, dass er wunderschön gesungen<br />

hatte, weniger gern, dass er geplündert, Verbotenes getan und sie auf diese<br />

Weise unterhalten hatte.<br />

Als dieser Mann, der als Jánošík galt, Dreck in eine Wunde am Bein bekommen<br />

hatte und gestorben war, kehrte sie ins Elternhaus zurück, mit einem<br />

Koffer und einer dreijährigen Göre mit aufgeschürften Knien, die sie halb zog,<br />

halb trug. Ihre Mutter öffnete die Tür, seufzte, und ohne die heimkehrende<br />

verlorene Tochter eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ihren eigenen<br />

Dingen zu. Na bitteschön, eben erst waren wir diesen Lärm los, da ist er gleich<br />

doppelt wieder zurück. Die verlorene Tochter beachtete die Mutter gar nicht,<br />

setzte das Kind in eine Ecke, drückte ihm eine Scheibe Brot in die Hand,<br />

krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit.<br />

Sie nahm von niemandem etwas an, half aber allen hier und da. An sich<br />

selbst dachte sie fast gar nicht. Es wurde Herbst, es wurde Winter, es wurde<br />

Frühling, die alten Kleider begannen, über ihrem Bauch zu spannen,<br />

ihre Hände waren abgearbeitet vom Wäschewaschen und der Feldarbeit. Sie<br />

stemmte die Arme in die Hüften, stellte die Beine weit auseinander, um so viel<br />

Welt wie möglich hinter sich zu verdecken. Sie neigte den Kopf leicht, wie ein<br />

Huhn, das so tut, als verstünde es etwas. Sie sagte allen immer die Wahrheit,<br />

und zwar auf der Stelle, selbst Wahrheiten, die man nicht hören wollte. Dass<br />

der eine zu dünn sei, der andere verpickelt, und eine dritte nie einen Kerl<br />

finden würde, und schon gar nicht bei Tageslicht. Alle schätzten sie. Keiner<br />

mochte sie. Und genau das war ihr Ziel. Wenn sie die Kartoffelsetzlinge aus<br />

dem Korb genommen hatte, beugte sie sich über das schnurgerade Beet und<br />

platzierte ihren großen festen Hintern auf dem stabilen Gestell ihrer Beine, so<br />

dass alle wussten, wo sie sie mal konnten.<br />

Warum er sie geheiratet hat? Eine Witwe mit Kind? Gemein und ewig unzufrieden?<br />

Wahrscheinlich tat sie ihm leid.<br />

*<br />

„Lieber Bruder“, schrieb Bronek, „ich sende dir herzliche Grüße. Krakau ist<br />

riesig, es gibt hier viele Sehenswürdigkeiten. Wenn ich Zeit habe, gehe ich spazieren<br />

und besichtige sie, ich war bereits auf dem Wawel und in der Drachenhöhle.<br />

Hier ist alles anders. Ich habe eine gute Stelle in einem Geschäft. Im<br />

Moment wohne ich bei einem Bekannten, lege aber Geld zurück, um endlich<br />

etwas Eigenes zu kaufen. Ich habe nämlich ein Mädchen kennengelernt, als<br />

ich in einem Café war. Sie arbeitet dort als Kellnerin, kommt aber vom Lande.<br />

Wir wollen heiraten. Ja, es gibt viel Neues bei mir. Überleg nicht lange, pack<br />

deine Sachen und komm her, ich helfe dir, Arbeit zu finden, und auf meiner<br />

Hochzeit lernst du sicher jemanden kennen. Wie lange kann man denn allein<br />

leben? Dein dich liebender Bruder Bronisław.“<br />

„Lieber Bruder“, flitzte die fertige Antwort erst durch den Kopf und dann<br />

aufs Papier, „ich denke schon lange darüber nach. Mutter läuft im Zimmer<br />

auf und ab, die Kuh musste sie verkaufen, weil es zuhause immer schlechter<br />

geht. Stasia und ihr Mann wohnen noch immer bei uns, weil sie nirgends unterkommen,<br />

im Frühling kommt das dritte Kind. Valentin wird auch heiraten,<br />

und wo sollen sie wohnen, wenn nicht in unserem Haus? Jan als vollwertiger<br />

Landwirt sitzt hingegen auf seinen Hektars, die die Frau mit in die Ehe gebracht<br />

hat, und lässt niemanden über die Schwelle. Keiner braucht mich hier,<br />

ein hungriges Maul weniger, ich habe meine Sachen schon gepackt. Jan borgt<br />

mir Geld für die Fahrkarte, wenn ich verspreche, nie zurückzukehren.“<br />

Kaum war er aus dem Zug gestiegen, wurde er wie ein Schaf unter die Wölfe<br />

geschoben, auf halbem Wege zwischen Wodka und Häppchen, auf halber Zeit<br />

zwischen Bronek im neuen Anzug und seiner Braut mit den dicken Zöpfen<br />

und dem symbolischen Jungfrauenkranz – den echten hatte ihr Bronek eine<br />

Woche zuvor bereits in der Scheune entwendet, er hatte darauf bestanden,<br />

obwohl ihm dabei das Heu ordentlich in den Hintern gepiekt hatte. Man<br />

setzte ihn zwischen den Edelmann, den Schulzen und den Pfarrer auf einer<br />

unpoetischen Hochzeit bei Krakau, ohne Rachel, ohne goldene Hufe, dafür<br />

unter lauter Strohpuppen. Bronek schenkte dem Bruder immerfort Wodka<br />

nach, wie einer exotischen Pflanze, die Tanten der Braut kümmerten sich um<br />

ihn, wobei sie ihre Wurst- und Gurkenargumente anwendeten.<br />

Ein Opa – niemand wusste wessen, dafür war er mit Sicherheit hundert Jahre<br />

alt –, dessen gewaltiges Schnarchen die Tischdecke flattern ließ, erwachte<br />

plötzlich, und rief „Wer sagt denn, dass ich ein Hirsch bin?“, woraufhin er<br />

erneut in Glücksseeligkeit verfiel, wobei er mit seinen Händen sein gewaltiges<br />

Geweih bedeckte. Eine lustige Cousine, die eben noch traurig gewesen war<br />

vom Trinken, fasste plötzlich Mut und beschloss, laut die ganze Wahrheit<br />

über ihren Mann zu sagen, woraufhin dieser ihr öffentlich den Hintern versohlte,<br />

wobei sich herausstellte, dass dieser Hintern keine Unterwäsche kannte.<br />

Alle Mädchen schauten sich aufmerksam den Bruder des Bräutigams an,<br />

der von weit her gekommen war und lautstark vorgestellt wurde, was ihn sehr<br />

beschämte. Alle Mädchen beobachteten die Bewegungen seiner schlanken<br />

Hände, die mit Käsekuchen und Bigos beschäftigt waren, alle Mädchen, auch<br />

die, die mit anderen tanzen, die aus den Massen an Röcken und Unterröcken<br />

freudig ihre dicken prallen Knie hervorholten, alle Mädchen, selbst die, neben<br />

der Bronek dem Bruder den Platz angewiesen hatte, die, die am lautesten lachte,<br />

die am meisten tanzte und am meisten trank, die, die sich gerade dazusetzte<br />

und sich an der Wand abstützte, als wolle sie das ganze Haus umstürzen,<br />

und jetzt ihr Haar zu einem Knoten band, wobei sie die runden Schweißflecken<br />

auf ihrer weißen gestickten Bluse offenbarte, die, neben die Bronek ihn<br />

absichtlich gesetzt hatte, denn wie lange kann man denn allein leben. „Das<br />

ist mein Bruder, aus Pommern ist er angereist, er wird in Krakau mit mir<br />

zusammen arbeiten, ist ein guter Junge, aber mutterseelenallein auf der Welt,<br />

der soll mal einen Wodka trinken, dann findet er bestimmt alles nett hier, ich<br />

finde es schon nett. Liebes Fräulein, mit mir trinken sie keinen?“ „Von wegen<br />

Fräulein“, sagten zwei kräftige Zahnreihen, und kauten auf dem rosafarbenen<br />

saftigen Zungenfleisch, „von wegen Fräulein, Frau bitte, ich bin Witwe, ja, ja,<br />

so jung und schon Witwe.“ Das klang stolz, nicht traurig. „Mein Mann ist vor<br />

zwei Jahren gestorben, aber was soll ich mir das groß zu Herzen nehmen, das<br />

Leben ist beschissen genug, hat mir noch gefehlt, mir was zu Herzen zu nehmen,<br />

wir alle sterben doch, sind Sie für länger in Krakau?“ „Wahrscheinlich<br />

für immer, meine Liebe, wahrscheinlich für immer.“<br />

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012<br />

135 × 215, 208 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7799-824-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


22 MARIUSZ SIENIEWICZ<br />

MARIUSZ SIENIEWICZ (GEB. 1972),<br />

PROSASCHRIFTSTELLER UND FEUILLETONIST,<br />

GILT ALS EINER DER VIELVERSPRECHENDEN<br />

AUTOREN DER JÜNGEREN GENERATION,<br />

ZULETZT ERSCHIENEN DIE REBELLION (2007)<br />

UND DIE STADT DER GLASELEFANTEN (2010).<br />

Photo: private<br />

Dornröschens Beichte<br />

Mariusz Sieniewicz, einer der wichtigsten Prosaautoren seiner Generation,<br />

bleibt auch in seinem jüngsten Roman den Themenkreisen verhaftet, die<br />

ihn besonders interessieren. Die Dekonstruktion der nationalen wie lokalen<br />

kulturellen Identität, die schon seine früheren Arbeiten „Der vierte Himmel“<br />

und „Jüdinnen werden nicht bedient“ geprägt hatte, spielt auch in<br />

„Dornröschens Beichte“ eine gewichtige Rolle.<br />

Protagonistin des in drei Teile gegliederten Romans und gleichzeitig dessen<br />

Erzählerin ist die dreißigjährige Emila, die als Single ständig neue toxische<br />

Verbindungen mit Männern eingeht. Außerdem ist Emila Narkoleptikerin,<br />

sie erleidet täglich mehrere Schlafattacken. Dabei träumt sie die unglaublichsten<br />

Geschichten mit einem beharrlich wiederkehrenden Motiv – Selbstmord.<br />

Allerdings wird sie an der Ausführung immer wieder gehindert. Eines<br />

Tages tritt Swietka in ihr Leben, eine geheimnisvolle Belarussin, die erklärt,<br />

sie sei Emilas Schwester. Und weiter geht die Jagd nach dem nächsten Mann,<br />

dem nächsten „Bärchen“. Das Bärchen ist eine besondere Gattung Mann, die<br />

jedoch zahlreiche Untergruppen kennt: Selbstverliebte, Depressive, fanatische<br />

Patrioten …<br />

Die Welt in „Dornröschens Beichte“ balanciert auf dem schmalen Grat zwischen<br />

Traum und Wachzustand, für zusätzliche Effekte sorgt der spöttischgroteske<br />

Erzählstil. Unter dem Deckmantel einer leicht absurden Märchengeschichte,<br />

wirft der Autor einen kritischen Blick auf die Lebenswirklichkeit<br />

im heutigen Polen (im Hintergrund spielen auch die 1980er Jahre eine<br />

Rolle) mit ihren kulturell verankerten Erwartungen an Rollenbilder (für die<br />

unter anderem das titelgebende Dornröschen steht) und den Möglichkeiten<br />

der virtuellen Kommunikation im Netz. Sieniewicz bedient sich sprachlicher<br />

Floskeln, die er mit seiner einzigartigen Erzählweise als lächerlich bloßstellt,<br />

und zeigt so die ganze Absurdität der beherrschenden Kultur. Hier<br />

erklingt die ausdrucksstarke, groteske, polen- und gegenwartskritische<br />

Stimme eines Vierzigjährigen.<br />

Marcin Wilk<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


23<br />

Emilas<br />

aktuellen Geliebten kann man nicht gerade als<br />

ausgemachten Single bezeichnen, der die ganze<br />

Welt als seine Geburtstagstorte begreift und beim<br />

bloßen Klang des Wortes „Ich“ nicht nur mentale Erektionen bekommt. So<br />

eine Emila könnte dem Single höchstens eine von vielen Kerzen sein, die er<br />

auspusten darf, nachdem er sich etwas gewünscht hat. Als Emila damals die<br />

Gombrowicz-Tagebücher gelesen hatte, war ihr sofort aufgefallen, dass der<br />

Autor auf der ersten Seite die Verfassung des Singles niedergeschrieben hatte.<br />

Die in einen Single verschossene Frau hat ihren Wochenrhythmus nach dem<br />

folgenden Muster zu organisieren: Montag – er, Dienstag – er, Mittwoch und<br />

Donnerstag – er und er, Wochenende – er, mit ihm, ihn, ihm, über ihn. Die<br />

sieben Single-Fälle.<br />

Das hat Emila zu einem apokalyptischen Schluss kommen lassen: Der<br />

Menschheit steht eine Katastrophe bevor, die alles bisher Dagewesene in den<br />

Schatten stellt, schlimmer als der Dschihad. Die Ichitis. Denn der Tag wird<br />

kommen, da nur noch Singles diese Welt bevölkern. Und es wird ekstatisch<br />

schallen von überall her: ich, für mich und über mich vor allen Dingen! Die<br />

Singles werden sich gegeneinander wenden, wenn ihr Verlangen nach Verehrung<br />

auf taube Ohren stößt. Und ein Single wird die Hand erheben wider<br />

seinen Single-Bruder. Und mit dem Hohelied des „Ich“ auf den Lippen werden<br />

sie übereinander herfallen. Sie werden einander hinterrücks erschießen,<br />

sich sehenden Auges mit Stöcken erschlagen. Und die Erde wird in Single-<br />

Blut ertrinken. Und ein Krieg wird ausbrechen, wie ihn die Welt noch nicht<br />

gesehen hat. Ein Krieg der Ein-Mann-Heere. Und diese Heere werden in die<br />

Millionen gehen. Emila hofft nur, dass sie diese blutigen Konsequenzen der<br />

Ichitis nicht mehr miterleben muss.<br />

Mit ihrem Verlobten verhält es sich anders. Er ist jederzeit verfügbar. Nachts<br />

genauso wie am helllichten Tag, selbst während der sonntäglichen Messe, ihr<br />

Geliebter kann das geheime Spiel der Lust eröffnen, dem Emila sich nicht<br />

entziehen kann und will: streichelnde Finger, heißer Atem, behutsame Berührungen<br />

an Brüsten und Hüfte. Will Emila lieber alleine sein, wartet er geduldig<br />

in der Küche oder im Esszimmer. Auch er hat seine Ruhephasen. Alle<br />

drei bis vier Tage liegt er einmal rücklings vor ihrem dem Bett, das schwarze<br />

Köfferchen im Arm.<br />

Emilas Liebhaber ist nicht der Gesprächigste, das schätzt sie an ihm ganz<br />

besonders. Er langweilt sie nicht mit diesen im Fernsehsessel geschauten typischen<br />

Bärchen-Weisheiten über diese unsere Welt, schon gar nicht mit denen<br />

aus Discovery Science. Sie brechen sich in aller Regel nach dem Mittagessen<br />

Bahn. Emila nennt diese Philosophie nur den „Nachmittagismus“. Der Nachmittagismus<br />

ist eine Kombination aus „Scheißegalismus“ und „Neopenetrantismus“.<br />

Und wie Cato immer gepredigt hat, dass Karthago zerstört werden<br />

müsse, so beschließen diese Philosophen ihre Weisheitsausbrüche mit dem<br />

Ausruf:<br />

– Alles Verbrecher! Alle wegsperren! Steht noch ein Bier kalt?<br />

Papi und Mami stehen ihrer Beziehung nicht im Weg. Sie protestieren nicht<br />

einmal, wenn Emila ihn beim Essen begehrlich berührt und unter ihren Fingerkuppen<br />

die Lust aufleben lässt. Nie würde ihnen einfallen, ihre Tochter mit<br />

Fragen nach Verlobung oder Hochzeit zu bedrängen.<br />

Einmal nur hatte ihre Mutter gefragt, ob er nicht etwa Finne oder Schwede<br />

sei, sein Name wäre so komisch, so gar nicht polnisch. Und warum er denn<br />

so ein Hänfling wäre, ein richtiger Däumling. Sicher, eine Basketballkarriere<br />

stand ihm nicht bevor, aber so hatte sie ihn wenigstens fest im Griff. Mäkeleien<br />

wären in ihrem Alter ohnehin ein unzulässiger Luxus. „Kugelrund, spindeldürr,<br />

riesengroß, miniklein – alle, alle, alle können Ehemänner sein“ – das<br />

Lied war ihnen auf den Leib geschrieben.<br />

Und der Name? Weil er allzu fremd klang, nannte sie ihn irgendwann einfach<br />

Eryk. Ihre Eltern behandeln Eryk wie Luft. Nur ganz ab und zu bitten<br />

sie ihn reichlich kühl, etwas für sie zu erledigen: Schlangestehen vor dem Ärztehaus,<br />

die Gasrechnung überprüfen oder rausfinden, was es bei Tante Krystyna<br />

in Deutschland neues gibt. Eryk erfüllt jeden Wunsch im Handumdrehen.<br />

Er ist ausgesprochen hilfsbereit und würde sich – im Gegensatz zu ihren<br />

verflossenen Bärchen – nie ein abfälliges Wort erlauben, keine aufgetakelten<br />

Perückenschnepfen oder verklemmten Betbrüder.<br />

Eryk hat noch einen weiteren, viel wichtigeren Vorzug: Er hat vollstes Verständnis<br />

für Emilas krankhafte Neigungen, die für ihre meisten Bärchen ein<br />

unüberwindliches Hindernis darstellten. Schon nach zwei oder drei Anfällen<br />

suchten ihre potenziellen Zukünftigen panisch das Weite. Sie gaben Emila<br />

und ihren Zweitzahnbürsten den Laufpass. Der lachende Dritte war ihr Vater.<br />

Der Zahnbürstenvorrat, den er für seine wenigen noch verbliebenen Zähne<br />

angesammelt hatte, würde bis ans Ende seiner Tage reichen. Oder ihrer.<br />

Eryk fürchtete Emilas Krankheit nicht. Allerdings muss man Frauen ohne<br />

Anomalien heutzutage auch mit der Lupe suchen. Jede hat ihre Wehwehchen<br />

und einen bunten Strauß psychischer Devianzen.<br />

So auch Emila. Aber der Reihe nach: Wenn es Schnapsdrosseln und<br />

Kräuterhexen gibt, wenn man auf Schritt und Tritt über Ökofaschistinnen,<br />

Gralshüterinnen von Männerkonten, über Fitness- und Vollkornpäpstinnen<br />

stolpert, wenn man die Mitglieder der als Club der Cappuccino-Freunde getarnten<br />

Geheimen Silikon- und Botox-Schwesternschaft identifizieren kann,<br />

wenn man auf den ersten Blick erkennt, wer der Hedone zu Diensten ist, wer<br />

aus der heilen Pfarrei-Idylle ins kalte Lebenswasser gestürzt ist und wer den<br />

Hammerhai im Rock spielt, dann ist Emila …<br />

Emila ist narkoleptikerin.<br />

Da hilft keine Spezialdiät und auch kein Nordic Walking. Also gibt Emila<br />

ihrer Krankheit nach, statt gegen sie zu kämpfen. Sie räumt der Narkolepsie<br />

ein, nicht ihre zweite, sondern ihre erste Natur zu werden. So kommt Emila<br />

zu einer zusätzlichen Biografie. Die eine ist korrekt und glatt wie der Lebenslauf<br />

aus einer Bewerbung als Bürokraft. Die andere ist verschlafen, verborgen,<br />

unterirdisch, eine Art venezianischer Spiegel.<br />

Wenn Emila kollabiert und ihre Flashbacks hat – die zynischen Wachseins-<br />

Apostel sprechen vom „Nageleinschlagen“ – kann nur Eryk sie wieder zu Bewusstsein<br />

bringen. Die narkoleptischen Schübe dauern mal eine Minute, mal<br />

eine halbe Stunde, aber wenn es vorbei ist, fragt Eryk nicht blöde, was sie<br />

geträumt hat, oder ob er den Krankenwagen rufen soll.<br />

Gerade summt Eryk, der auf dem Rand des Kissens liegt, Never Ending<br />

Story. Emila spielt die Verschlafene. Sie streckt die Hand nach ihm aus, um<br />

sich sogleich auf die andere Seite zu drehen. Eryk verstummt und gönnt seiner<br />

Liebsten ein paar Minuten Schlaf.<br />

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler<br />

ZNAK, KRAKÓW 2012<br />

140 × 205, 260 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-1896-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: ZNAK<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


24<br />

ADAM WIEDEMANN<br />

ADAM WIEDEMANN (GEB. 1967), LYRIKER,<br />

PROSASCHRIFTSTELLER, LITERATUR- UND<br />

MUSIKKRITIKER, ZEICHNER, ÜBERSETZER<br />

AUS DEM UKRAINISCHEN, SLOWENISCHEN<br />

UND ENGLISCHEN (U.A. HARRY MATHEWS<br />

UND GERTRUDE STEIN)<br />

Photo: <strong>Instytut</strong> Książki<br />

Entsprechungen<br />

Adam Wiedemann, der in letzter Zeit eher als Lyriker in Erscheinung getreten<br />

ist, hat ein neues Prosawerk vorgelegt. Seit seinem letzten Erzählband<br />

(„Gewaltige Verschlechterung des Gehörs“, Hainholz Verlag 2001) ist mehr<br />

als ein Jahrzehnt vergangen, die Neuerscheinung ist also bezeichnend, bemerkenswert<br />

und obendrein gelungen. Bei den „Entsprechungen“ handelt<br />

es sich wiederum um eine Sammlung von (insgesamt 20) mal längeren, mal<br />

kürzeren Geschichten. Diese in Polen heute nicht sonderlich beliebte Form<br />

liegt Wiedemann immer noch am besten, glücklicherweise verfällt er nicht<br />

in die verbreitete Unsitte, Erzählungen zu Romanen aufzublasen.<br />

Abgesehen von wenigen pasticheartigen Texten erzählt Wiedemann über<br />

das, was er am besten kennt – über sein Leben. In diesem Erzählen über sich,<br />

einen Künstler mittleren Alters, der in reichlich mittelmäßigen Zeiten sein<br />

Leben lebt, legt er allerdings eine Verve und einen Humor an den Tag, die<br />

von jeglichem Mittelmaß weit entfernt sind; er stellt sich mit unverhohlener<br />

Sympathie in die Traditionslinie eines Modus des Erzählens über das eigene<br />

Leben, den in der polnischen Literatur Miron Białoszewski geprägt hat. Nur<br />

überwiegt in den „Entsprechungen“ nicht die Beschreibung des häuslichen<br />

Treibens, sondern das Auswärtsspiel in reportageartigen Erzählungen über<br />

die Abenteuer („Geschehnisse“ wäre der treffendere Ausdruck) bei den zahlreichen<br />

Festivals, Messen und Stipendienaufenthalten im Ausland, die sich<br />

über die Jahre angesammelt haben.<br />

Wir haben es also mit sehr persönlichen Berichten über ein „normales“<br />

Einzelleben mit (zumal für Leser jenseits des Literaturbetriebs) durchaus<br />

exotischen Zügen zu tun, die sich stets der sprachlichen Fallstricke bewusst<br />

sind, die alles Erzählen durchkreuzen. „Du denkst, du erlebst etwas, du erlebst<br />

es sogar wirklich, und dann weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt,<br />

und das ist auch kein Schaden.“ Wir haben sogar alle einen ästhetischen,<br />

ja einen existenziellen Nutzen davon. „Es ist kein Schaden, dass du nichts<br />

mehr davon weißt, was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du<br />

dachtest, du würdest es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt,<br />

und es hat dir sogar etwas gebracht“, schreibt Wiedemann in seinem<br />

kurzen Text über eine Stipendiatenepisode in Iowa City.<br />

Freuen wir uns, dass es Wiedemann (und den Lesern) so viel gebracht hat.<br />

Marcin Sendecki<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


25<br />

Du<br />

denkst, du erlebst etwas, du erlebst es sogar wirklich, und dann<br />

weißt du plötzlich, du hast nichts erlebt, und das ist auch kein<br />

Schaden. Es ist kein Schaden, dass du nichts mehr davon weißt,<br />

was du nicht erlebt und was du erlebt hast, obwohl du dachtest, du würdest<br />

es vielleicht nicht mehr erleben. Du hast es noch erlebt, und es hat dir sogar<br />

etwas gebracht.<br />

Ich erinnere mich dunkel an Zimmer, Häuser. An Menschen. Diese Menschen<br />

gibt es nicht und ich weiß nicht mehr, wovor sie Angst hatten.<br />

Mary hatte mich geweckt, sie hatte einen Umschlag mit meiner EC-Karte<br />

dabei. Ich hatte auf etwas Netteres gehofft, möglichst ohne Mary-Dreingabe,<br />

dabei war Mary höchst wahrscheinlich. Mary ist wie eine Mutter für uns, sie<br />

liebt uns, weil sie uns geboren hat, was verständlicherweise für Unmut sorgt,<br />

denn wer will schon das Kind von einer wie Mary sein.<br />

Jetzt frage ich mich nur noch, ob dieser ganze düstere Alptraum durch<br />

das Poltern an der Tür ausgelöst wurde, oder ob das Poltern mich vor dem<br />

Schlimmsten bewahrt hat.<br />

Die Karte war sehr hübsch und es stand drauf, man sollte etwas mit ihr tun.<br />

Das verschob ich auf später, so schnell geht das nicht, vor dem Aufstehen, vor<br />

dem ersten Drink. Ich ließ sie auf der Schlafcouch zurück und machte mich<br />

an Gertrude Stein, die auf dem Tisch lag. Man stelle sich nur einmal vor,<br />

Gertrude Stein hat das alles im nüchternen Zustand geschrieben. Sie hat das<br />

alles im nüchternen Zustand geschrieben, heißt es. Ein nüchterner Mensch.<br />

Ordentlich. Solche Menschen muss man lieben. Ich muss Schwester Teresa<br />

schreiben, dachte ich.<br />

Aber ich schrieb nicht. Ich übersetzte ein paar Seiten „Useful Knowledge“,<br />

bis sie for, four und fortunately stapelte, das war zu viel. Es war schon halb fünf.<br />

Auf der Schlafcouch sah ich die Karte liegen.<br />

Die Karte ließ mir drei Optionen: hingehen, mailen oder anrufen. Ich rief<br />

an. Es meldete sich ein Automat, ließ mich verschiedene Dinge tun, ich tat<br />

sie, solange ich konnte. Als ich nicht mehr konnte, meldete sich eine andere<br />

Stimme. Bist du ein echter Mensch?, fragte ich.<br />

Jawohl, das bin ich, antwortete die Stimme. Sie ließ mich dasselbe tun wie<br />

der Automat. Das war ganz einfach. Wir verabschiedeten uns in beiderseitigem<br />

Einvernehmen auf das herzlichste. Diese Stimme gibt es noch. Ich mag<br />

sie. Ich könnte sie noch einmal anrufen.<br />

Ich könnte sie in der Realität treffen. Ich könnte mich mit ihr verabreden.<br />

Ich könnte, könnte, aber nüchtern betrachtet, was soll die Quälerei.<br />

Ich zog mich an und verließ die Wohnung. In einem Antiquariat gab es das<br />

Buch „Wars I Have Seen“ für 6 $, ich nahm es und ging zur Kasse. Könnte ich<br />

das kaufen?, fragte ich.<br />

Ich denke, du könntest, sagte die Kassiererin. Sie war dick. Ich lachte laut.<br />

Ich bezahlte 6.80 inklusive tax. Und ich ging in die Bar nebenan, eine Hamburger-Bar.<br />

John hatte nämlich gesagt, dort gibt es die authentischsten Hamburger,<br />

die muss man probiert haben.<br />

Ich setzte mich und nahm mir die Karte, es gab alle Arten von Hamburgern.<br />

Ich wollte einen ganz normalen, bestellte aber einen mit Speck, das klang irgendwie<br />

besser. Und eine Limo, hier haben sie überall Limo und man kann sie<br />

einfach so bestellen, ohne zu erklären, was man will und wie das geht. Willst<br />

du was zum Hamburger dazu?, fragte die Bedienung. Pommes? Für Hamburger<br />

mit Pommes ist es noch zu früh, antwortete ich und meinte damit,<br />

vielleicht beim nächsten Mal. Die Bedienung ging den Hamburger holen. Ich<br />

zog „Wars I Have Seen“ heraus und begann zu lesen. Gertrude kann man in<br />

der Bar lesen. Man kann sie überall lesen, sie gebraucht keine überqualifizierten<br />

Verben. Die Bedienung brachte die Limo, sie war riesig. Mir gegenüber<br />

setzte sich ein älterer Mann ohne Arm, er war sehr unglücklich oder verrückt.<br />

Er bestellte etwas und beklagte dann lauthals sein Schicksal. Adam, beruhige<br />

dich, rief eine Bedienung von hinten.<br />

Der Mann ohne Arm beruhigte sich. Wir bekamen unsere Hamburger. Der<br />

Speck in meinem war gut gewürzt, das Brötchen gut gebacken, man konnte<br />

das gut essen. Willst du noch was?, fragte die Bedienung und setzte sich zu den<br />

Leuten am Nebentisch.<br />

Oh, Adam, sagten die, wie geht’s, schön dich hier zu sehen. Lesend leerte ich<br />

die Limo, Gertrude wurde immer besser, die Limo wurde wässrig.<br />

Ich stand auf und ging zur Kasse, ich hatte 6 $ klein. Die Rechnung belief<br />

sich auf 6,41 inklusive tax, ich hielt einen Hunderter hin. Ich muss dir in Fünfern<br />

rausgeben, sagte die Kassiererin. Und wenn ich mit Karte zahle?, sagte ich<br />

und zahlte mit Karte, obwohl ich die Karte das erste Mal vielleicht lieber unter<br />

erhebenderen Umständen gebraucht hätte. Hier ist Platz für den tip, sagte die<br />

Kassiererin, schreib soviel du willst. Aber der tip war doch schon mit drin?,<br />

sagte ich und verwechselte tip mit tax. Tax ist immer schon mit drin, sagte<br />

die Kassiererin, hier kannst du den tip für mich hinschreiben. Ich schrieb 29<br />

Cent, damit es aufging, trat vor die Tür und machte mir klar, dass ich 69 hätte<br />

schreiben sollen. Nein, 59, was habe ich nur mit den Zahlen?<br />

Ich ging die Straße hinab und dachte an die tips oder taxes. Dass man nie<br />

wusste, wie viel man zahlt. Was schert mich die Kassiererin, was schert mich<br />

die Bedienung, ich gehe da nie mehr hin, das waren meine Gedanken. Zwei<br />

Jungs joggten vorbei, einer oben ohne, sehr attraktiv. Ich ging um ihn herum,<br />

er hatte nämlich an einer Ampel gestoppt, Schweißtropfen auf der Haut,<br />

schwer atmend, umsonst. In einem Geschäft suchte ich Kuchen, ich fand Bio-<br />

Kekse für 3 $. Der Kassierer war komplett tätowiert, er bekam tax. Tax bekommen<br />

die, die es nicht verdienen, dachte ich, obwohl dieser tax tip für den<br />

Kassierer war. Alle sind hier total tattooed, machen aus sich einen Text.<br />

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler<br />

RITA BAUM, WROCŁAW 2012<br />

130 × 178, 228 PAGES<br />

ISBN: 978–83–924251–8–2<br />

TRANSLATION RIGHTS: ADAM WIEDEMANN<br />

CONTACT: RITA BAUM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


26<br />

ŁUKASZ ORBITOWSKI<br />

ŁUKASZ ORBITOWSKI (GEB. 1977), PROSAIST UND<br />

POPULÄRER PUBLIZIST, AUTOR REALISTISCHER<br />

HORROR- UND SCIENCE-FICTION-LITERATUR, VON<br />

SEINEN LESERN WIRD ER AUCH FÜR DIE SAMMLUNG<br />

MÄRCHENHAFTER ERZÄHLUNGEN DER VORSITZENDE<br />

UND DER STRICH. WIE KATZEN SICH DIE WELT<br />

ERKLÄREN GESCHÄTZT.<br />

Photo: Bartłomiej Kwasek<br />

Gespenster<br />

Łukasz Orbitowski beweist in Gespenster, dass er zu jenen Autoren gehört,<br />

die die ungezügelte narrative Imagination der phantastischen Literatur<br />

geschickt mit der Aufmerksamkeit eines scharfsinnigen Psychologen und<br />

Beobachters der Wirklichkeit zu verbinden wissen.<br />

Die breit angelegte Handlung des Romans beginnt mit einer beunruhigenden<br />

Szene, an der ein kleines Mädchen und ein Soldat beteiligt sind. Die geheimnisvolle<br />

Schachtel, die hier auftaucht, ist das Leitmotiv, das sich durch<br />

die gesamte Erzählung zieht. Die eigentliche Verbindung wird jedoch nach<br />

einem guten Dutzend Seiten hergestellt, vor dem für den 1. August 1944<br />

geplanten Warschauer Aufstand. Krzyś (er ist dem jungen und berühmten<br />

Dichter Krzysztof Kamil Baczyński nachempfunden, der im Aufstand ums<br />

Leben kam) wird daran teilnehmen, er ist auf dem Weg zum Sammelpunkt.<br />

Seine Verlobte, Basia, soll eine Schachtel verstecken, ohne dass ihr zukünftiger<br />

Mann etwas davon mitbekommt. Aber es kommt nicht zum Aufstand.<br />

Die Waffe funktioniert nicht. Die Geschichte Polens nimmt einen anderen –<br />

alternativen – Lauf, auch für Krzyś, der in Orbitowskis Buch nicht bei Kampfhandlungen<br />

ums Leben kommt. Jener Krzysztof lebt im sozialistischen Polen<br />

und versucht einen Roman zu schreiben, der den aktuellen politischen<br />

Bedürfnissen gerecht wird. Das bereitet ihm riesige Schwierigkeiten. Außerdem<br />

kämpft er mit gewöhnlichen Alltagsproblemen im Kontakt mit anderen<br />

Menschen und sich selbst. Im Hintergrund der Abenteuer von Krzysztof<br />

kommt es zur gleichen Zeit zu schicksalshaften Ereignissen zwischen dem<br />

Milizionär Wiktor und dem politischen Gefangenen Janek.<br />

Der Roman Orbitowskis schillert in vielen Farben. Die phantastische Narration<br />

vermischt sich mit realistischen Schilderungen, von einer historischen<br />

Aura umgebene Motive entpuppen sich plötzlich als identisch mit der Gegenwart,<br />

und der Elan bei der Darstellung der Figuren hat direkt zu tun mit<br />

der psychologischen Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf<br />

diese Weise jongliert Orbitowski ausgezeichnet mit Stilen, Perspektiven und<br />

Atmosphären. Seine solide, mitunter filmische Prosa hat ohne Zweifel ihren<br />

Platz im Kreis der wichtigsten Autoren der phantastischen polnischen Gegenwartsliteratur.<br />

Marcin Wilk<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


27<br />

Krzyś<br />

zog die Papiere aus dem Versteck, es waren dort ein<br />

paar Untergrundzeitungen, zerknitterte Exemplare<br />

des Neuen Spatzen, militärische Lehrbücher aus<br />

der Vorkriegszeit und das schon unter deutscher Besatzung im Untergrund<br />

herausgegebene Buch Emotionale Psychologie von Petrażycki. Darunter lagen<br />

Karten und Schulungsmaterialien, die die wahren Schätze verdeckten: eine<br />

Thompson mit langem Kolben, zwei Sten Guns, eine Schmeisser, außerdem<br />

ein paar Granaten und ein wenig Munition. General Monter hatte gesagt,<br />

falls jemand keine Waffe habe, solle er einen Stein nehmen und eine erbeuten.<br />

Krzyś hatte eine Waffe.<br />

Er krümmte sich einen Moment über dem kleinen Kasten zusammen, aber<br />

nicht wegen des Asthmaanfalls, wer hätte sich an so einem Tag um Asthma<br />

geschert? Krzyś überlegte, was er nehmen sollte, schließlich gehörten ihm die<br />

Waffen nicht, aber mit leeren Händen in die Focha-Straße zu gehen hatte nun<br />

auch keinen Sinn. Und was ist, wenn ihn eine Patrouille anhält?<br />

Es war ein warmer Tag, eine Sten würde er unter dem Mantel verstecken<br />

können, nur dass ein Mantel am 1. August verdächtig aussah. Doch sollten<br />

an jenem Tag auf Warschaus Straßen jede Menge Menschen im Mantel zu<br />

sehen sein. Krzyś wusste, dass Soldaten außer Mänteln und Stens auch Schuhe<br />

brauchten, und er musste sich welche organisieren. Es war nicht genug Zeit.<br />

Er verspürte einen komischen Unwillen, es war, als ob ihm mit diesem Auftrag<br />

zu verstehen gegeben worden wäre, dass er sich im Hintergrund halten<br />

und den Kämpfenden behilflich sein sollte, als ob man den Gedanken von<br />

seinen Augen hätte ablesen können, dass Kämpfen bedeutete zu töten; Krzyś<br />

hingegen schien ein Mensch zu sein, der stirbt, ohne zu murren, aber mit dem<br />

Töten ein Problem hat. Er verscheuchte diese Gedanken und tröstete sich damit,<br />

dass jetzt alle in Warschau von Zweifeln geplagt wurden und ein jeder<br />

anderswo sein wollte, in einem anderen Kommando, in einem anderen Haus<br />

oder einer anderen Einfahrt als der, in der er gerade saß, und ganz sicher gab<br />

es Menschen, die in diesem Moment gerne vor einem Versteck voller Waffen<br />

gekniet hätten.<br />

Er legte zwei Granaten aufs Bett, räumte das Papier zurück und setzte die<br />

Parkettstäbe wieder ein. Er schob die Couch zur Seite und setzte sich darauf, er<br />

war außer Atem. Basia fehlte ihm, ihre Worte und ihr Mund am allermeisten,<br />

aber auch dieser einfache Handgriff: immer, wenn er das Versteck geschlossen<br />

hatte, war Basia mit Besen und Wischlappen gekommen, sie war erstaunlich<br />

vorsichtig, dafür, dass sie so ein schönes Mädchen war. Er konnte sich nicht<br />

erklären, warum Basia das tat, schließlich war es überflüssig; wenn jemand<br />

sie denunziert hätte oder irgendein Deutscher zufällig hereingekommen wäre,<br />

hätte er sofort die Couch bemerkt und an die Dielen darunter gedacht, da<br />

hätte kein Fegen geholfen. Aber Basia fegte, sie fegte immer wieder.<br />

Er dachte jetzt daran, wo sie wohl sein mochte, ob sie schon in der Pańska-<br />

Straße war, und falls nicht, ob sie dorthin gelangen wird, bevor es losgeht,<br />

schließlich muss man kein General sein, um zu wissen, was sich zusammenbraut.<br />

Die Mobilmachung dauerte schon einige Tage an, von Praga, von<br />

Radzymin und Otwock feuerte die sowjetische Artillerie ihre Salven ab, und<br />

Fischers Befehl, Gräben auszuheben, war anstelle der ganzen Stadt nur eine<br />

Handvoll Idioten nachgekommen. Basia – die nie etwas hatte wissen wollen<br />

– weiß Bescheid, es lohnt sich zu fragen, was sie mit diesem Wissen macht,<br />

verkriecht sie sich irgendwo oder folgt sie Krzyś? Diese Frage setzte ihm zu,<br />

und ein Schmerz breitete sich in seinem Körper aus, arm und dürr wie er war.<br />

Krzyś wusch sich das Gesicht, steckte die Granaten in die Hose und verdeckte<br />

sie mit seinem sandfarbenen Mantel, der für seine schmalen Schultern<br />

zu groß war, aus den überlangen Ärmeln ragten dünne Handgelenke, aus<br />

dem gestärkten Kragen der Kopf eines Jungen mit ängstlichen Augen hervor.<br />

Er warf einen Blick durch das Fenster, auf die Uhr und wieder durch das<br />

Fenster, dort eilten Menschen über gepflasterte Gehwege, strebten in chaotischen<br />

Grüppchen den ihnen bekannten Zielen zu; wenn irgendein Gesicht<br />

im Fenster erschien, dann nur, um gleich wieder zu verschwinden, aus einer<br />

dunklen Einfahrt sprang barfuß ein stinkender Hosenmatz hervor, auch ihn<br />

verschluckte umgehend eine andere dunkle Einfahrt. Die Phantasie des Poeten<br />

ergänzte den Rest: die Mauern des Wohnhauses in der Hołówka-Straße<br />

reißen auf wie frisch vernarbte Wunden, unter dem Putz scheinen feuchte rote<br />

Backsteine hervor, die Tore sind hoch, schmal, haben die Form uralter Steine,<br />

das leere Abbild heidnischer Kreise, aus denen diejenigen herausfallen, die<br />

von Warschau gefressen wurden, die auf die Teller der Moskowiter, Sowjets<br />

und Deutschen geworfen wurden, sie werden verputzt mit Besteck aus den<br />

Knochen der Volksdeutschen, zerbissen, zerkaut – nun sind sie wieder heil,<br />

sie stürmen in die Freiheit – die beim Massaker von Praga abgeschlachteten<br />

Jungs, die vom sibirischen Frost Dahingerafften, die auf der Szuch-Allee Erschossenen,<br />

die Verhungerten, das Lebendige in der Asche des vor kurzem<br />

noch existierenden Ghettos, alle sausen im Wind aus den Eingeweiden der<br />

Stadt. Über dieses Bild schob sich ein anderes, das sogar Krzyś überraschte:<br />

Es herrscht Frieden, die Deutschen sind vernichtet, die befreiten Geister<br />

verbrüdern sich, Freunde und Liebende finden zueinander, endlose Kolonnen<br />

schwarzer Autos jagen zum Spaß dahin und feiern den Sieg, wo furchterregende<br />

Kapellen lebhaft spielen, suchen sich Verliebte einen Platz in den oberen<br />

Rängen oder paaren sich direkt vor aller Augen, überzeugt davon, dass sie,<br />

da sie doch tot sind, für ihre Ausschweifungen nicht werden büßen müssen.<br />

Erschlagene Legionäre dreschen einen Skat oder Poker, abgestochene Huren<br />

flirten mit ihnen, von den Toten auferstandene Kinder werfen fröhlich die<br />

Scheiben in den Häusern ein, schließlich sind sie schon im September, vor<br />

fünf Jahren, zu Bruch gegangen.<br />

Und dann schweben die Gespenster, was noch schöner ist, in Richtung Altstadt,<br />

auf die Marszałkowska-Straße, wo sie sich in einen Leichenreigen ergießen,<br />

der erstrahlt im Glanze des Sieges. Jeder trägt eine lustige Mütze oder<br />

farbige Kleidung, rotes Konfetti schießt in den Himmel, es ertönt Gelächter,<br />

es erklingt ein Lied von Akkordeons, Gitarren und Leierkästen, und jene<br />

Fröhlichen, Siegreichen, Verstorbenen reißen die Lebenden mit sich in ihren<br />

freudigen Taumel, heben die Krüppel aus ihren Rollstühlen, stoßen den Greisen<br />

ihre Stöcke weg und ziehen sie mit sich, sie drücken Soldaten, deren Frauen,<br />

Mütter an sich, feuern Salutschüsse ab, schneller und schneller, Lebende<br />

und Tote, Könige und Unteroffiziere, vereint in einem Reigen auf den Straßen<br />

Warschaus. Wo auch immer man hinblickt, kein einziges trauriges Gesicht,<br />

es sei denn die Fresse eines Schmalzowniks oder Volksdeutschen – oder eines<br />

an der Laterne aufgeknüpften Blauen Polizisten, der eine wütende Grimasse<br />

schneidet. Warschau lacht, Warschau tanzt, zusammen mit den Menschen<br />

tanzen Tiere und Häuser, die Stadt fährt auf in den Himmel in diesen heiligen<br />

Tagen des August. So sah es zumindest Krzyś, eindeutig erschrocken über sich<br />

selbst überlegte er, ob er das nicht aufschreiben und irgendwie Basia geben<br />

sollte, als gutes Omen – wenn man dem Dichter den Kopf aufschneiden und<br />

daraus die Zukunft lesen könnte, wäre das Leben einfacher. Er lächelte bei<br />

diesem Gedanken – dem Anblick der Priester über dem gespaltenen Schädel<br />

des einen oder anderen Dichterpropheten – und entschied, dass er es nicht<br />

aufschreiben würde, weil er sich beeilen musste. Wo auch immer Basia war,<br />

sie würde sicher warten.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel<br />

WYDAWNICTWO LITERACKIE, KRAKÓW 2012<br />

145 × 205, 544 PAGES<br />

ISBN: 978-83-08-04774-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: WYDAWNICTWO LITERACKIE<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


28<br />

MAŁGORZATA SZEJNERT<br />

MAŁGORZATA SZEJNERT (GEB. 1936),<br />

JOURNALISTIN, REPORTERIN,<br />

SCHRIFTSTELLERIN. MITBEGRÜNDERIN<br />

DER ZEITUNG „GAZETA WYBORCZA”,<br />

BEI DER SIE 15 JAHRE LANG DAS<br />

REPORTAGERESSORT LEITETE UND<br />

ZAHLREICHE JUNGE REPORTER<br />

AUSBILDETE UND SCHULTE.<br />

Photo: Andrzej Bernat<br />

Das Heim der Schildkröte. Sansibar<br />

Małgorzata Szejnerts neues Reportageabenteuer nahm seinen Anfang bei<br />

der Begegnung mit einer … Schildkröte.<br />

Szejnert fuhr nach Sansibar, um tauchen zu lernen. Kaum unter Wasser, begegnete<br />

sie einer Grünen Meeresschildkröte, der heute äußerst seltenen Königin<br />

der sansibarischen Gewässer. – „Die Sonnenstrahlen beleuchteten sie;<br />

sie sah aus wie eine goldene Honigwabe“, sagte Szejnert später.<br />

Als sie aufgetaucht war und das Tauchgerät abgenommen hatte, setzte<br />

Małgorzata Szejnert sich an den Computer, um mehr über die Grüne Meeresschildkröte<br />

zu erfahren. Und erfuhr, dass diese Tiere 170 Jahre alt werden<br />

– könnten, gäbe es da nicht den Schädling namens Homo sapiens. Dass<br />

das Schildkrötenweibchen seine Eier an dem Strand ablegt, an dem es selbst<br />

geboren wurde. Und dass es an diesem Strand immer häufiger ein vom Homo<br />

sapiens errichtetes Hotel vorfindet. Und Beton, durch den die Schildkrötenflossen<br />

sich keinen Weg bahnen können.<br />

„Diese Heimatlosigkeit der Schildkröte, die schließlich auf dem Rücken ihr<br />

eigenes Heim mit sich herumträgt, hat mich sehr berührt“, sagt Małgorzata<br />

Szejnert. Und so wurde die Schildkröte zum Leitmotiv ihres Buches, das die<br />

Geschichte der Insel im Zeitraum von ebendiesen 170 Jahren schildert.<br />

Dabei zeigt sich, dass die Menschen im Laufe des Lebens einer einzigen<br />

Schildkröte imstande sind, sich ein wahres Kaleidoskop von Geschehnissen,<br />

Haltungen, Ideologien, Kriegen, Revolutionen, Wortbrüchen und Fanatismen<br />

zu bereiten. Małgorzata Szejnerts Sansibar sprudelt über von außergewöhnlichen<br />

Ereignissen und Gestalten – kaum zu glauben, dass das alles auf<br />

einer einzigen kleinen Insel geschehen sein soll. Ein fieser Sklavenhändler<br />

rettet einen eingefleischten Gegner der Sklaverei vor dem Tod; ein polnischer<br />

Aufständischer ertränkt (als französischer Konsul) seinen Kummer in<br />

der Dichtkunst; ein britischer Reisender bricht zum Herzen Afrikas auf und<br />

verfällt dem Wahnsinn, woraufhin Träger ihn neun Monate lang weitertransportieren,<br />

damit er in Westminster beerdigt werden kann.<br />

Das Sansibar Małgorzata Szejnerts ist die Welt im Miniaturformat; hier<br />

finden alle großen Übel der vergangenen zwei Jahrhunderte ihren Widerhall.<br />

Zuerst der Kampf um die Rechte der schwarzen Sklaven, später dann<br />

der Schatten des im fernen Deutschland aufkeimenden Imperialismus, der<br />

sich mit der Zeit zum Faschismus auswuchs. Der Kommunismus, der sich in<br />

eine blutige Revolution verwandelte. Schlussendlich dann die heutigen<br />

Zeiten: das wachsende Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Und die<br />

Zubetonierung der Strände, an denen reiche Touristen sich wie zu Hause<br />

fühlen und Schildkrötenweibchen keinen Platz zur Eiablage finden. Dafür<br />

allerdings scheint sich, außer der polnischen Reporterin, kaum jemand zu<br />

interessieren.<br />

Witold Szabłowski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


29<br />

Gewürznelken. Unguja und Pemba, Sansibar<br />

Die Zeugnisse der Sklavenarbeit sind verschwunden – die Rikschas von den<br />

Straßen in Stone Town, die Nelkenknospen von Sansibars Flagge.<br />

Pflückt man die Knospen nicht rechtzeitig, sind sie, wie man weiß, nichts<br />

mehr wert. Doch wer sollte sie pflücken? Vor der Revolution sammelten Saisonarbeiter<br />

vom afrikanischen Festland sie ein. Jetzt halten Engpässe bei der<br />

Nahrungsversorgung auf den Inseln die Arbeiter von der Herfahrt ab. Die<br />

Ernten werden zusätzlich dadurch beeinträchtigt, dass die Vereinigung der<br />

Nelkenanbauer der staatlichen Kontrolle unterstellt wurde und ihre Erfahrungen<br />

kaum noch weitergeben kann. Die Organisation der Arbeit verkommt. Es<br />

ist bequemer, nur die Knospen von den unteren Zweigen zu pflücken und die<br />

oberen am Baum zu lassen. Auf einigen Plantagen bleiben angeblich vierzig<br />

Prozent der Knospenstände an den Bäumen. Die von der Regierung festgelegten<br />

Nelkenpreise sind um vieles niedriger als die auf dem Weltmarkt, und<br />

so wird bereits ein Teil der Ernten nach Festlandafrika geschmuggelt. Die<br />

Behörden drohen mit Todesstrafe für dieses Verbrechen, aber Unguja und<br />

Pemba verfügen über historische Erfahrung im Schmuggeln: So wie einst<br />

Sklaven unter einer Abdeckung in den kleinen dhows befördert wurden, fahren<br />

die flinken und leisen Segelboote heute mit Gewürznelken beladen gen<br />

Westen, hauptsächlich nach Kenia, und bringen wertvolle Gebrauchsartikel<br />

mit zurück, Zucker, Mehl, Öl, Kleidung, Zahnpasta, Seife, Streichhölzer und<br />

so weiter. Der Nelkenschmuggel nimmt solch mächtige Ausmaße an, dass<br />

sein jährlicher Wert in die Millionen Dollar geht. Die Regierung schätzt, dass<br />

1975 ein Drittel der Ernte aus Sansibar herausgezogen wurde.<br />

An Daten zu kommen, ob und wie viele Personen mit dem Tod bezahlen<br />

mussten, ist nicht möglich. Vielleicht bekam sogar niemand je die Höchststrafe,<br />

weil die Schmuggler so viel verdienten, dass sie Aufseher und Gerichte<br />

bestechen konnten.<br />

Ajit Singh. Ng’ambo, Sansibar<br />

Ajit Singh Hoogan verlässt Sansibar nicht, obwohl er diese Möglichkeit sicher<br />

in Betracht zieht. Doch er muss sein Haus bewachen. Pretty One ist prächtig<br />

genug, um sich auf der Verstaatlichungsliste wiederzufinden, die von Ali Sultan<br />

Issa, Vater von Raissa, Fidel, Maotushi und Stalin, aktuell gehalten wird.<br />

Der Verlust dieses Hauses, bei dessen Bau er Gottes Liebe gespürt hatte,<br />

wäre sehr schmerzlich für Singh. Aber nicht nur deshalb bleibt er auf der Insel.<br />

Die neue Regierung will die Stadt Sansibar völlig umgestalten. Bislang wurde<br />

das arabische Stone Town mit der Hauptstadt gleichgesetzt, und daran änderten<br />

auch Duttons und Singhs frühere Projekte auf der anderen Seite nichts.<br />

Obwohl Sansibars revolutionäre Regierung selbst die vornehmen, von der<br />

Vorgängerregierung übernommenen Gebäude nutzt, entthront sie das arabische<br />

Stone Town und lenkt den gesamten Investitionsstrom nach Ng’ambo.<br />

Auf Ajit Singh, den Gestalter des Raha Leo Civic Centers, das bei der Revolution<br />

eine so wichtige Rolle spielte, warten große Aufgaben.<br />

In der Hoffnung auf Arbeit und Aufstieg strömt Sansibars Bevölkerung in<br />

die Stadt. Die Populationskurve der Hauptstadt, in weit gefassten Grenzen,<br />

steigt ab 1964 steil nach oben. Im Jahrzehnt nach der Revolution verdoppelt<br />

sich die Stadtbevölkerung und übersteigt gegen Ende die Hundertfünfundzwanzigtausend.<br />

Transparente werben für die Idee einer sozialistischen Stadt,<br />

und der beliebteste Slogan der damaligen Zeiten lautet: Unsere Mutter ist die<br />

Revolution, unser Vater die Afro-Shirazi-Partei.<br />

Das Vorzeigeprojekt trägt den Namen Michenzani.<br />

Abdul Sheriff, Historiker und Professor an der Universität von Daressalam<br />

und Autor zahlreicher Bücher über Sansibar, nannte dieses Projekt Die Kreuzigung.<br />

Heute, im Jahr 2010, braucht man nur eine Satellitenaufnahme der Hauptstadt<br />

auf dem Computer aufzurufen, um die Richtigkeit dieser Behauptung zu<br />

überprüfen. Von oben sieht die Stadt aus wie eine kunstvolle Patchworkarbeit<br />

aus lauter winzigen Rechtecken und Quadraten. Die linke Seite – Stone Town<br />

– ist dicht gearbeitet, keine Spur von Rissen oder platzenden Nähten. Die<br />

rechte Seite – Ng’ambo – durchschneiden von Ost nach West, Nord nach Süd<br />

die Arme eines riesigen Kreuzes. Sogar auf einem Foto aus großer Höhe weckt<br />

sein Anblick Besorgnis und Neugier. Das Kreuz erinnert nicht an Gebäude,<br />

sondern an Ingenieurskonstruktionen – Festungen, Kanäle, Startbahnen?<br />

Es sind aber Häuser, oder eher Blocks. Der undeutliche Kreis an der Stelle,<br />

wo die Arme des Kreuzes sich überschneiden, ist das Becken eines Springbrunnens.<br />

Auf der Luftaufnahme sieht man, dass kein Wasser darin ist,<br />

sondern Müll, und dass verrostete Rohre herausragen. Im Übrigen kommt<br />

niemand an das mit Beton ausgekleidete Becken heran; es liegt in der Mitte<br />

eines Kreisverkehrs. Die Wohnblocks sind je dreihundert Meter lang und haben<br />

fast alle sechs Stockwerke. Sie sind aus grauem Beton gebaut und werden<br />

von Außengalerien im Zickzack gekreuzt. Alle Module sind gleich schmutzig,<br />

abgeblättert, rissig, Aufgänge und Wohnungen sind nicht gekennzeichnet;<br />

unverständlich, wie Tausende von Bewohnern hier ihre Wohneinheiten wiederfinden.<br />

Wohneinheiten sind es nämlich, und die haben mit der afrikanischen<br />

Art des Haushalts und familiären Zusammenlebens nichts gemein; zwei<br />

Zimmer und Küche in Beton. Die Blocks bilden endlose, wie ausgestorbene<br />

Perspektiven, die auch heute – im Jahr 2010 – kein Straßenverkehr beleben<br />

kann, keine an die Mauern gesprayten Schriftzüge, kein Handel mit Sofas,<br />

Sesseln, Puffs, die an den Wänden im Erdgeschoss entlang aufgestellt werden<br />

wie Reihen von alternativen, niedrigen, aber – der Abwechslung halber – weichen<br />

und bunten Gebäuden.<br />

Nicht Ajit Singh ist jedoch verantwortlich für dieses Kreuz. Abeid Karume<br />

ist es, der sich mit der Bitte um Hilfe beim Umbau der Hauptstadt an Architekten<br />

aus der Deutschen Demokratischen Republik wendet. Der leitende<br />

Architekt heißt Hubert Scholz. Das Architektenteam sieht den Bau von zweihundertneunundzwanzig<br />

Gebäuden mit insgesamt fast sechstausend Wohnungen<br />

für dreißigtausend Menschen vor. Das erfordert den Abriss von über<br />

fünftausend alten Häusern in Ng’ambo.<br />

Doch die Eltern Partei und Revolution sind nicht in der Lage, Scholz’ Projekt<br />

in Gänze zu verwirklichen. Das Land ist zu arm, und Ng’ambo wird nicht<br />

vollständig in eine sozialistische Stadt umgestaltet. Bi Kidude wohnt noch immer<br />

in ihrem kleinen Haus in der Nähe von Raha Leo, sitzt auf dem steinernen<br />

Treppchen davor und raucht Zigarette um Zigarette. Manchmal nimmt<br />

sie sich ein Stück Schokolade, manchmal einen Schluck aus der Flasche. Ihrer<br />

Stimme schadet das nicht; sie ist bei guter Gesundheit. In Berlin, wie sie die<br />

Wohnblocks nennt, hätte sie nicht lange überlebt, meint sie.<br />

Garth Andrew Myers, ein amerikanischer Professor mit dem Fachgebiet der<br />

afrikanischen Urbanistik, meint, die enormen Investitionen in Ng’ambo, die<br />

größten in der Geschichte der Stadt Sansibar, hätten das Problem der Überbevölkerung<br />

in der Stadt nicht gelöst. Sie hätten so gut wie gar nichts genützt.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

ZNAK, KRAKÓW 2011<br />

165 × 235, 400 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-1819-2<br />

TRANSLATION RIGHTS: ZNAK<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


30<br />

WOJCIECH JAGIELSKI<br />

WOJCIECH JAGIELSKI (GEB. 1960),<br />

JOURNALIST, REPORTAGENSCHREIBER.<br />

THEMEN SEINER BERICHTE SIND<br />

DIE WELTWEIT WICHTIGSTEN<br />

POLITISCHEN EREIGNISSE RUND UM<br />

DIE JAHRTAUSENDWENDE, WOBEI ER<br />

SICH AUF DIE LÄNDER AFRIKAS, DES<br />

MITTLEREN OSTEN UND DES KAUKASUS<br />

SPEZIALISIERT. JAGIELSKIS BÜCHER<br />

WURDEN BEREITS INS ENGLISCHE,<br />

SPANISCHE, NIEDERLÄNDISCHE,<br />

ITALIENISCHE UND DEUTSCHE<br />

ÜBERSETZT, UND ER SELBST WIRD<br />

HÄUFIG MIT RYSZARD KAPUŚCIŃSKI<br />

VERGLICHEN.<br />

Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute<br />

Brennendes Gras<br />

Wojciech Jagielskis aktuelles Buch handelt von einem Land, das es in dieser<br />

Form – glücklicherweise – nicht mehr gibt. Doch die Idee, die hinter der<br />

Organisation dieses Landes steckte, war so voller Gift, und das Leben seiner<br />

Einwohner so bis ins Detail strukturiert, dass die neuen Regelungen eine<br />

Sache sind, der Alltag aber eine ganz andere; eigentlich hat sich alles geändert,<br />

aber so, dass sich fast nichts änderte. Da wirkliche Veränderungen<br />

gewöhnlich viel länger brauchen, als es jedermann scheinen mag, lassen<br />

sie sich nicht verordnen, und ihr willkürlich festgelegter Beginn bezeichnet<br />

nicht den Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich Wurzeln schlagen.<br />

Die Republik Südafrika, eine Kleinstadt in der Provinz Transvaal mit dem Namen<br />

Ventersdorp: Hier herrschte Eugène Terre’Blanche, Bure und Nachfahre<br />

holländischer calvinistischer Siedler, Populist und Poser, mit Sicherheit leidenschaftlicher<br />

Redner und Mythomane, vor allem aber eifriger Anhänger<br />

der Apartheid, die Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen,<br />

gemeinsame Schulen, Krankenhäuser, Strände, Sportplätze, Parkbänke<br />

und Bushaltestellen verbot, ganz zu schweigen von den Bussen selbst. Die<br />

Regeln für die Menschen sollen ebenfalls auf die Tiere übertragen worden<br />

sein – Friesenpferde wurden nicht mit Arabern gekreuzt, schreibt Jagielski<br />

in Brennendes Gras.<br />

Obwohl Terre’Blanche in der Kleinstadt offiziell keinerlei Funktion ausübte,<br />

galt er als ihr König. Darüber hinaus hatte er zahlreiche Anhänger in der<br />

ganzen Republik Südafrika. Sein Traum war eine unabhängige Burenrepublik,<br />

in der die rassistischen Regelungen für weitere Jahrhunderte beibehalten<br />

werden sollten. Er starb, zu Tode geprügelt von schwarzen Arbeitern seiner<br />

eigenen Plantage; der Grund war ein Streit um die Lohnauszahlung. Mit<br />

dem Tag des Mordes an diesem weißen Volksführer beginnt Jagielskis Buch.<br />

Es ist jedoch weder eine Kriminalgeschichte mit gesellschaftspolitischem<br />

Aufhänger noch eine Reportage von der Art, für die sein Autor berühmt ist:<br />

Jagielski setzte sich hier anspruchsvollere Ziele. Seine bis ins kleinste Detail<br />

gehende Analyse der Apartheid zeigt die finsteren Seiten der menschlichen<br />

Natur, die uns einerseits andere verachten und andererseits niemals<br />

den Wunsch nach Rache vergessen lassen. Eher als die klassische Reportage<br />

ist das Buch daher ein Studium eines durch ein vorsehungshaftes Verständnis<br />

der Glaubenswahrheiten gestützten ideologischen Wahnsinns. Für ein<br />

solches Studium eignet sich die Sprache der Reportage ganz ausgezeichnet.<br />

Paweł Smoleński<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


31<br />

Bereits<br />

den ganzen Nachmittag versuchte Martha<br />

Terre‘Blanche, ihren Mann am Telefon zu erreichen.<br />

Eugène führte schon immer sein eigenes Leben, zu dem sie keinen Zugang<br />

hatte. Er konnte für ganze Tage verschwinden oder sich in seine Gedankenwelt<br />

zurückziehen. Sie wohnten sogar getrennt: Er auf der Farm, sie in der<br />

Stadt. An Einsamkeit und Schweigen hatte sie sich gewöhnt. Die Unruhe, die<br />

die Abwesenheit ihres Mannes gerade an diesem Tag in ihr weckte, überraschte<br />

sie selbst. Sie wuchs mit jedem vergeblichen Anruf, schnürte ihr den Hals<br />

zu, lähmte.<br />

Durch das Fenster sah sie einige Schwarze beim Zaun warten. Sie erkannte<br />

Chris, den Eugène ein halbes Jahr zuvor zum Rinderhüten auf der Farm<br />

und für Gartenarbeiten beim Haus in der Stadt angestellt hatte. Er stand mit<br />

einem Jungen, den sie auch schon auf der Farm gesehen hatte, vor dem Tor.<br />

Später fuhr Eugène in einem weißen Lieferwagen vor. Er wies die Schwarzen<br />

an, sich auf die Ladefläche hinter dem Fahrerhäuschen zu setzen, und<br />

machte sich dann zurück auf den Weg zur Farm nach Ratzegaai, etwa fünfzehn<br />

Kilometer hinter der Stadt. Von da an ging er nicht mehr ans Telefon.<br />

Ernsthaft besorgt beschloss sie gegen Abend, die van Zyls anzurufen, deren<br />

Landbesitz der Farm der Terre‘Blanches gegenüberlag, nur durch einen Weg<br />

getrennt. Am Telefon meldete sich Dora, Eugènes Schwester, die er sehr liebte.<br />

„Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, sagte sie. „Aber am Abend<br />

wollte er bei uns vorbeikommen.“<br />

An diesem Samstagabend vor dem Ostersonntag, dem Fest der Auferstehung<br />

und Erlösung, wollten sie den Geburtstag ihres ältesten Sohnes feiern.<br />

„Er ist sicher ausgeritten und hat das Telefon zu Hause gelassen“, sagte Dora.<br />

„Ich sage Dan, dass er nachsehen soll, was drüben los ist.“<br />

Auf der Veranda warf Dan van Zyl einen Blick auf die Uhr. Es war fast fünf.<br />

Die Schatten im Tal wurden länger und dichter. Dan van Zyl setzte sich, um<br />

dem Schauspiel zuzusehen.<br />

Normalerweise verbrachte er seine Abende nicht so, für solche Dinge hatte<br />

er keine Zeit. Aber an diesem Tag setzte er sich auf die Veranda seines Hauses<br />

und schaute zu, ganz so, als folge er einer inneren Eingebung.<br />

Von seinem Haus auf dem Hügel hatte er einen guten Blick auf den Feldweg<br />

im grünen Tal und die dichten Haine, die das Gelände der Farm am gegenüberliegenden<br />

Abhang bewuchsen. Sie gehörte seinem Schwager, Eugène<br />

Terre‘Blanche. In den letzten Jahren war Eugènes Hof stark verfallen. Van<br />

Zyl saß auf der Veranda und sann darüber nach, wie das mit der Erde so war.<br />

Wenn jemand nicht das Herz oder den Kopf für sie hatte, war auch sie ihm<br />

nicht geneigt und hörte auf, Früchte hervorzubringen.<br />

Eugène lebte für die große Politik. Seine Welt, das waren endlose Debatten<br />

darüber, wie schlecht die Dinge im Land vorangingen und wie schlimm es<br />

noch werden würde, wenn die Schwarzen am Ende die Macht übernähmen.<br />

Er trommelte seine Anhänger zu Beratungen und Demonstrationen zusammen,<br />

zerbrach sich den Kopf, wie eine Regierung der Schwarzen verhindert<br />

werden konnte. Und die Erde verkam.<br />

Eugènes Welt, das waren nächtliche Kundgebungen im Fackelschein. Er<br />

pflegte zu Pferd einzureiten, hielt festlich herausgeputzt in einer Paradeuniform<br />

und inmitten flatternder Fahnen flammende Reden und drohte mit<br />

Krieg. Konnten Menschen wie er sich mit der Erde befassen?<br />

Eugène schmeichelte es, dass die Zeitungen ihn einen Burenkommandanten,<br />

General, den letzten Verteidiger der weißen Rasse nannten. Obwohl er<br />

im heimischen Ventersdorp kein besonderes Amt ausübte, galt er als der wichtigste<br />

Bürger der Stadt, als unantastbar und keinen Rechten unterlegen außer<br />

denen, die er selbst festgesetzt hatte. Bei den Schwarzen rief er echte Furcht<br />

hervor, aber auch die Weißen wagten nicht, sich ihm zu widersetzen.<br />

„Was für eine Verschwendung“, seufzte Dan van Zyl mit einem Blick auf die<br />

Familienfarm der Terre‘Blanches, die Eugène vom Vater übernommen hatte.<br />

Das Unkraut breitete sich mit jedem Jahr mehr im hohen, ungemähten Gras<br />

aus, auf dem Terre‘Blanche das Vieh weiden ließ, und auf dem Weideland<br />

waren hier und da Gruppen junger Bäume und Büsche aufgeschossen.<br />

Abwesend und in Gedanken versunken betrachtete Dan van Zyl die wandernden<br />

Schatten im Tal. Er rührte sich nicht einmal, als im Wohnzimmer<br />

das Telefon klingelte. Das Klingeln hörte auf, setzte aber nach einer Weile<br />

noch lauter und drängender wieder ein.<br />

Er hörte die Stimme seiner Frau. Am Apparat war Terre‘Blanches Ehefrau<br />

Martha. Sie wohnte nicht auf der Farm, sondern im Städtchen. Auf dem weitab<br />

gelegenen Landgut fühlte sie sich nicht sicher. In den letzten Jahren war es<br />

auf den rund um die Kleinstadt gelegenen Farmen immer häufiger zu Überfällen<br />

und Morden gekommen, und viele Farmer hatten für ihre Familien<br />

Häuser in Ventersdorp gekauft. Auf ihre Farmen fuhren sie wie ins Büro und<br />

kehrten für die Nacht in die Stadt zurück.<br />

Die Sonne ging langsam unter, und Dan wollte schon ins Haus gehen, als<br />

sich von Terre‘Blanches Hof den Hügel herab ein schwarzes Pferd näherte. Es<br />

durchquerte die Wiese am Abhang, wobei es eine Spur in dem hohen gelblichen<br />

Gras hinterließ, und galoppierte bis zum Zaun am Feldweg, dann machte<br />

es kehrt und jagte im selben Tempo in Richtung des Hauses zurück.<br />

Van Zyl kannte dieses Pferd gut und wusste sofort, dass etwas Schlimmes<br />

geschehen war.<br />

Chris Mahlangu und Patrick stiegen durch das nicht ganz geschlossene<br />

Fenster ins Schlafzimmer ein. Drinnen herrschte Halbdunkel. Der Farmer<br />

lag auf dem Rücken auf einem ausladenden Bett, die Arme weit ausgebreitet,<br />

vollständig angekleidet, nur die Hose war aufgeknöpft. Er schlief.<br />

Eine Weile standen sie da und betrachteten den schlafenden Mann. Schon<br />

der erste Schlag, den Mahlangu ihm mit einer Metallstange versetzte, raubte<br />

Terre‘Blanche das Bewusstsein.<br />

Chris Mahlangu schlug weiter zu, wieder und wieder, legte in jeden Schlag<br />

all seine Kraft, seinen Hass, seine Wut und Angst. Die Schläge trafen den<br />

liegenden Farmer am Kopf, den Schultern, der Brust. Mahlangu hörte das<br />

Krachen berstender Knochen, roch Blut in der Luft.<br />

Als die Kräfte ihn verließen, reichte er die Eisenstange an Patrick weiter, der<br />

danebenstand und ihm unverwandt beim Morden zusah. Nun jedoch ergriff<br />

er wortlos die Stange und ließ sie drei Mal auf Kopf und Brust des Weißen<br />

niedersausen. Jeder der Schläge riß Terre‘Blanches Körper hoch, als gebe er<br />

ihm das Leben zurück.<br />

Im Schlafzimmer war es nun fast ganz dunkel und sehr stickig. Schwer atmend<br />

betrachteten sie den blutüberstömten Leichnam, der in nichts mehr an<br />

den furchteinflößenden weißen Farmer erinnerte. Sein Gesicht war bis zur<br />

Unkenntlichkeit entstellt, einer der Schläge hatte den Kiefer zertrümmert,<br />

Wange und Zunge zerfetzt. Das Blut schien überall zu sein, auf dem Bett,<br />

dem Kopfkissen und dem Körper des Opfers, an Wänden und Decke, den<br />

Kleidern und Händen der Mörder, auf ihren Gesichtern und in ihren Haaren.<br />

Chris Mahlangu zog ein Messer hinter seinem Gürtel hervor. Gerade beugte<br />

er sich über den geschundenen Körper des Toten, als Terre‘Blanches Handy<br />

und Autoschlüssel aus der Tasche seiner verrutschten Hose auf den Boden<br />

fielen. Das metallische Klirren tönte unangenehm laut in der Stille. Mahlangu<br />

zuckte zusammen. Er warf noch einen Blick auf den übel zugerichteten Leichnam,<br />

verstaute jedoch wortlos das Messer in seiner Hosentasche und bückte<br />

sich nach Handy und Schlüsseln. Das Handy läutete, kaum dass er es berührte.<br />

Er steckte es tief in seine Tasche und gab Patrick ein Zeichen.<br />

„Gehen wir.“<br />

Beim Hinausgehen warfen sie die Küchentür hinter sich zu.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

ZNAK, KRAKÓW 2012<br />

140 × 205, 256 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-2255-7<br />

TRANSLATION RIGHTS: ZNAK<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


32<br />

JACEK HUGO-BADER<br />

JACEK HUGO-BADER (GEB. 1957), POLNISCHER<br />

JOURNALIST UND REPORTER, ARBEITET SEIT 1990 FÜR<br />

DIE „GAZETA WYBORCZA”. SEIN ZUVOR ERSCHIENENES<br />

BUCH „WEISSES FIEBER“ ERHIELT SEHR POSITIVE<br />

REZENSIONEN IN AUSLÄNDISCHEN MEDIEN.<br />

Photo: Julia Pychałowa<br />

Kolyma-Tagebücher<br />

Das neueste Buch von Jacek Hugo-Bader, Journalist der Gazeta Wyborcza<br />

und Autor von „Weißes Fieber“ sowie „W rajskiej dolinie wśród zielska“ (Im<br />

paradiesischen Tal inmitten von Unkraut), ist eine Wegerzählung. Denn die<br />

„Kolyma-Tagebücher“ sind Reiseaufzeichnungen, die der Reporter während<br />

seiner Fahrt entlang der Kolyma-Trasse gemacht hat. Er hat 2025 Kilometer<br />

zurückgelegt - das sind über zwei Millionen Meter, wie er selbst ausrechnet.<br />

Millionen Meter von Erfahrungen, Begegnungen, Emotionen.<br />

Die Kolyma ist wegen des Klimas und ihres düsteren Erbes aus den Zeiten<br />

der Sowjetunion ein besonders attraktiver Ort. Hugo-Bader bezieht sich<br />

mehrmals auf den „Archipel Gulag“ von Solschenizyn und noch öfter auf<br />

die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow. Doch auch wenn in<br />

Hugo-Baders Buch das kommunistische Regime hier und da auftaucht, so<br />

sind seine wichtigsten Protagonisten die Menschen. Aber vielleicht sollte<br />

man eher schreiben: die Wesen dort, die fähig sind, in den schweren sozialen,<br />

kulturellen und klimatischen Bedingungen zu überleben.<br />

Da ist der Tschekist Dima, der „am lautesten spricht, am unflätigsten<br />

flucht, am häufigsten rülpst. Alles was er macht, macht er widerwärtiger,<br />

abscheulicher, ekelhafter als andere. Groß, dick, verkatert“. Die neunundsiebzigjährige<br />

Natascha, Tochter von Nikolai Iwanowitsch Jeschow, der die<br />

„eiserne Faust Stalins genannt wurde, Chef der sowjetischen Geheimpolizei<br />

war und Hunderttausende auf dem Gewissen hat... Ach wo - Millionen von<br />

menschlichen Existenzen“. Aleksandr Basanski, der goldene Oligarch, der<br />

unter anderem an „sechsundzwanzig Arten von Süßwasser für eine Million<br />

Dollar im Jahr“ verdient. Bobik, der Hund, „ein hohes Tier, außerdem ein<br />

Genie, aristokratisch, und obwohl ein Mischling, so doch wahrscheinlich<br />

entfeeeernt verwandt mit einem Laika“.<br />

Hugo-Baders Reise dauert ein paar Wochen, und die einzelnen Etappen der<br />

Trasse verleihen der Erzählung einen gleichmäßigen literarischen Rhythmus.<br />

Die kurzen Reportagen, die eigentlich Porträts sind, wechseln sich ab<br />

mit Tagebuchnotizen. Der Autor versteckt sich nicht hinter seinen Protagonisten,<br />

ganz im Gegenteil: man spürt seine Anwesenheit. Auf diese Weise<br />

markieren die „Kolyma-Tagbücher“ - als Erzählung über die journalistische<br />

Arbeit eines Menschen, der in Russland zu überleben versucht – eine neue<br />

Qualität der polnischen Schule zeitgenössischer Reportage, deren Meister<br />

auf der einen Seite Ryszard Kapuścinski und auf der anderen Mariusz Wilk<br />

sind.<br />

Marcin Wilk<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


33<br />

Die<br />

Hauptschlagader, der Hauptnerv der Kolyma war und ist der<br />

Kolyma-Trakt, also die Trasse. Ich werde – so wie viele ältere<br />

Bewohner der Kolyma – trakt und trasse groß schreiben.<br />

Denn es handelt sich um eine über zwei Tausend Kilometer lange Straße, die<br />

mit Menschenleben gepflastert ist. Sie liegt auf Knochen. Und das ist keine<br />

Metapher. Denn wieso gibt es entlang der ganzen Trasse nicht einen einzigen<br />

alten Friedhof?<br />

Deshalb, weil die Toten einige Zentimeter unter der Straßenoberfläche<br />

liegen. Tausende Menschen. Die Arbeit am Bau des Trakts war neben dem<br />

Goldabbau die schwerste in Kolyma. Wer dabei umgefallen war, dem wurden<br />

die Lager-Lumpen heruntergerissen (sie würden noch von Nutzen sein), er<br />

wurde mit dem Gesicht nach oben hingelegt und mit der Erde der Kolyma<br />

zugedeckt, mit der die Trasse aufgeschüttet ist.<br />

Worüber denken die Leute in den ersten Tagen der Reise am intensivsten<br />

nach? Wie kann man hier pissen? Ich steige aus dem Wagen und in meinem<br />

Schädel bohrt ständig der Gedanke, dass ich irgendeinem armen Teufel auf<br />

den Kopf pinkle.<br />

Vielleicht ist es einer von uns, ein neunzehnjähriger, kleiner Soldat, der nach<br />

dem Überfall auf Polen 1939 unter dem Befehl meines Großvaters stand, ein<br />

armer Junge aus meinem Warschau, der noch nie ein Mädchen hatte, und als<br />

er vor Hunger starb, flüsterte er... Eben, was hat er wohl gesagt? Und ich alter<br />

Zyniker schäme mich jetzt, dass ich so einen Schwachsinn, wie für eine Telenovela,<br />

schreibe. Doch wenn du am Ende der Welt, in einem schäbigen Hotel<br />

alleine da sitzt und dir zum Heulen ist, weil dich die MS überfällt, schreibst<br />

du, um Hände und Hirn zu beschäftigen, ein Tagebuch, und dann entstehen<br />

solche Stilblüten. (MS steht nicht für Multiple Sklerose sondern für Melancholie<br />

des Schreibenden).<br />

Der Bau der Trasse beginnt 1932, als Trust Dalstroj gegründet wird. Am<br />

Ende des Jahrzehnts zieht sich die Straße bis zur Siedlung Ust-Nera beim Kilometer<br />

1007. In den vierziger Jahren wird sie bis Chandyga verlängert, das am<br />

Angara-Fluss, Kilometer 1065, liegt. Das ist die westliche Grenze des Trusts.<br />

Der Bau am letzten Abschnitt bis Jakutsk, Kilometer 2025, wurde Anfang der<br />

fünfziger Jahre beendet, doch das ist ein so genannter zimowik – eine Straße,<br />

die man nur im Winter benutzen kann, wenn der Matsch gefriert. Erst seit<br />

den neunziger Jahren ist auch im Sommer der ganze Kolyma-Trakt passierbar.<br />

Ich folge ihm auf den Spuren von Warlam Tichonowitsch Schalamow, mit<br />

seinem dicken Sammelband Erzählungen aus Kolyma, der über tausend Seiten<br />

zählt. Das ist große, russische Literatur – das erschütterndste, ungewöhnlichste<br />

Bild einer Lagerzivilisation, die Schalamow in drei Gebote zu verdichten<br />

weiß: glaube nicht, hab keine Angst, bitte nie um etwas. Und noch eine ’Tugend’,<br />

ohne die du im Lager nicht überlebst: du musst stehlen können, angefangen<br />

mit dem Brot deiner Mitgefangenen. Im Lager kann der Mensch nur<br />

schlechter werden. Schalamow entdeckt, dass dort auch Gott stirbt, während<br />

für Aleksander Solschenizyn der Gulag den Charakter auf die Probe stellt –<br />

eine Situation, aus der der Gefangene als Sieger hervorgehen kann.<br />

Schalamow sitzt achtzehn Jahre in den Lagern, plus zwei als ‚Freier’, doch<br />

ohne das Recht, wegzufahren (davon verbringt er siebzehn Jahre in Kolyma).<br />

Er wird nach Stalins Tod 1953 entlassen. Bis zum Ende seines Lebens bleibt er<br />

dem Lager-Thema besessen treu.<br />

Er ist also mein erster, ständiger Paputschik. Paputschik, das ist eins meiner<br />

russischen Lieblingswörter. Es bedeutet Reisebegleiter, ein Mensch, der denselben<br />

Weg einschlägt (auf Russisch: po puti). Wörtlich und im übertragenen<br />

Sinne. Jemand, mit dem du dieselbe Route fährst, in demselben Zugabteil und<br />

mit dem du dich zum Beispiel in politischen Dingen gut verstehst. Ihr habt ein<br />

Ziel, das ihr verfolgt. Dieses Buch ist im Grunde über solche Menschen, doch<br />

nicht nur über diejenigen, mit denen ich gefahren bin, sondern auch über<br />

solche, die ich auf der Strecke getroffen habe.<br />

In diesem Teil werden viele Fahrer vorkommen. Die Lastwagenfahrer werden<br />

in Russland meistens Dalnobojeschtschiks genannt. Das sind Menschen<br />

des weiten Kampfes (auf Russisch: dalno – weit; boj – Kampf), der langen<br />

Trasse, bei uns heißen sie Fern- oder Brummifahrer. Manchmal werden sie<br />

auch Kamazisten genannt, auch wenn ihre Lastwagen keine Kamaz sind, oder<br />

Ugolschtschiks, wenn sie Kohle transportieren, weil ‚ugol’ Kohle bedeutet.<br />

Doch in der Kolyma wurde schon zu Zeiten des Gulags ein eigenes Wort für<br />

sie erdacht: Die einheimischen Fahrer heißen die Trassowiks (von Trasse).<br />

Die Kolyma-Trasse ist ein sehr gefährlicher Weg. Sie besteht aus aufgeschüttetem,<br />

gelblichem Kolymer Boden, in dem mehr Steine sind als Erde.<br />

Die Straße hat keinen festen Straßenbelag, also wird sie von jedem stärkeren<br />

Regenschauer unterspült, der Dauerfrostboden bricht und zerbröckelt sie. Im<br />

Winter macht der Schnee das Leben schwer, und wenn nicht viel von ihm da<br />

ist, wandelt er sich zum rutschigen, weißen Asphalt. Im Sommer setzt einem<br />

der furchtbare, gelbe Staub zu, der lange in der Luft wirbelt; dann gibt es Auffahrunfälle<br />

wie im Nebel. Am Weg sind viele ’Grabmale’: statt eines Kreuzes<br />

hängt an einem kleinen Pfahl ein zerbrochenes Lenkrad, statt eines Grabsteins<br />

– eine Komposition aus Reifen oder ein löchriger Kühler.<br />

An vielen Stellen am Rand stehen Zaunreste gegen Schneeverwehungen.<br />

Die Gulag-Gefangenen haben sie aus Lärchenzweigen geflochten. Der Trakt<br />

ist für die Fahrt gefährlich, doch das Leben auf ihm ist sicher. Das allgemeine<br />

Banditentum ist selten. Hier gab es sogar in den schrecklichen neunziger Jahren<br />

keinen, damals ganz Russland quälenden, Straßenraub, als Schutzgelder<br />

für die Durchfahrt erpresst wurden.<br />

Die schlimmste Zeit, was die Kriminalität angeht, macht Kolyma 1953<br />

durch, als sich nach Stalins Tod die Lager leeren und Tausende von Menschen<br />

in die Freiheit entlassen werden. Darunter sind viele Kriminelle, denen jedoch<br />

nicht erlaubt wird, auf den Kontinent zurückzukehren. Um sich in den Städten<br />

sicherer zu fühlen, laufen dort die Menschen in Gruppen herum. Männer<br />

bringen ihre Frauen zur Arbeit, weil viele der entlassenen Gauner seit Jahren<br />

keine Frau gesehen haben.<br />

In diesem Moment macht sich ein ehemaliger Politischer mit dem Nachnamen<br />

Riabokoń – ein Soldat der anarchistischen, revolutionär-aufständischen<br />

Ukrainischen Armee des Atamans Nestor Iwanowitsch Machno – entlang der<br />

Trasse auf den Weg. Schalamow widmet ihm eine Erzählung.<br />

Der Anarcho-Veteran bildet eine vierköpfige Bande, die mit leichter Hand<br />

über ein Jahr lang jeden, der ihren Weg kreuzt, ausraubt und mordet. Die<br />

Männer streiten sich jedoch bei der Aufteilung der Beute und verraten sich<br />

gegenseitig. Alle bekommen fünfundzwanzig Jahre Gulag.<br />

Diese Zeiten sind längst vorbei. Jede Begegnung mit einem Menschen auf<br />

der Trasse ist heute pures Vergnügen, und die Bars an der Kolyma-Straße<br />

liebe ich einfach. Es gibt vielleicht etwas mehr als zehn von ihnen zwischen<br />

Magadan und Jakutsk. Ich kann stundenlang drin sitzen und mir die einfachen,<br />

ehrlichen Gesichter, die Menschen aus der Taiga in Tarnanzügen, die<br />

Fernfahrer mit ölverschmierten Händen (Technikschmutz sei kein Schmutz<br />

– sagen sie) und die vom Rheuma gezeichneten Goldsucher anschauen. Ich<br />

fühle Erleichterung, dass ich nicht in die roten, überfressenen Gesichter der<br />

Oligarchen schauen muss, in die hervorstehenden Augen der versoffenen Offiziere.<br />

Endlich höre ich „danke“, „bitte“ und das Mütterchen, das in der Bar in<br />

Larjukowa, bei Kilometer 386, mit einem dreckigen Lappen über den Boden<br />

schmiert, sagt sogar „Entschuldigung“ zu mir. Das hört man von den Städtern<br />

aus Magadan nur selten.<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2011<br />

133 × 215, 320 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-292-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


34<br />

KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA<br />

KATARZYNA SURMIAK-DOMAŃSKA (GEB. 1967), POLNISCHE JOURNALISTIN. SIE PUBLIZIERT<br />

HAUPTSÄCHLICH REPORTAGEN UND INTERVIEWS ZU AKTUELLEN GESELLSCHAFTLICHEN THEMEN.<br />

Photo: Julia Domańska<br />

Sumpflein<br />

Die bekannte Reporterin der Gazeta Wyborcza, Katarzyna Surmiak-Domańska,<br />

hat – wie es scheint – ihr bestes Buch geschrieben. „Sumpflein“ ist ein<br />

realistisches, der Wirklichkeit entnommenes Porträt der tiefen polnischen<br />

Provinz. Doch es ähnelt nicht den stereotypen Bildern einer Marienfrömmigkeit,<br />

oder, zur Abwechslung, der anhaltenden Pathologie und Armut<br />

nach dem Ende des Kommunismus und dem Schock des Systemwechsels.<br />

Nichts dergleichen werden wir hier finden. Sumpflein ist aber auch kein typisches<br />

Dorf, schreibt die Autorin im Vorwort. Es ist eher die Vorstadtsiedlung<br />

einer mittelgroßen Stadt, eine Gegend, in der das patriarchale Muster<br />

der Familienbeziehungen in einer, seit Jahrhunderten unveränderten,<br />

Form fortzubestehen scheint, und wo die sichtlichen Anzeichen einer Idylle<br />

mit dem düstersten, unter der Oberfläche fließenden Strom des Gemeinschaftslebens<br />

verflochten sind. Sumpflein, das ist so etwas wie Dogville<br />

im Film des Regisseurs Lars von Trier; ein uralter Ort mit üppig blühenden<br />

Vorgärten, Schweigen, Lügen und Gewalt. Die Protagonisten der von Katarzyna<br />

Surmiak-Domańska festgehaltenen Welt sind eine Ansammlung von<br />

Archetypen wie Opfer, Henker, Richter und Kommentator: Mutter, Vater,<br />

Ehemann, Geliebter, Schwiegermutter, Freundin, Schwägerin. Ihre Stimmen<br />

bilden eine mehrdimensionale Studie der Gesellschaftspsychologie, die genauso<br />

flach und offensichtlich ist, wie undurchdringlich und rätselhaft.<br />

Die Autorin folgt der Protagonistin aus einem ihrer Interviews. Halszka<br />

Opfer (der Name wurde, ähnlich wie die Ortsnamen, geändert), eine reife,<br />

früher völlig unbekannte Frau, hat in Polen vor ein paar Jahren eine laute<br />

Diskussion ausgelöst. Sie publizierte ihre Bekenntnisse, in denen sie detailliert<br />

und drastisch über das Trauma berichtet, vom eigenen Vater sexuell<br />

missbraucht worden zu sein. Sie beschrieb, wie sie, ein vierjähriges Mädchen,<br />

von ihrer Mutter eigenhändig ins Bett des Vaters getragen wurde. Wie<br />

sie, während sie aufwuchs, zur ’bewussten’, auf die Geschenke erpichten,<br />

Geliebten des Vaters wurde. Wie die Mutter ihr ganzes Leben schwieg und<br />

sich einem düsteren, maskierten Schatten gleich durch das Haus bewegte.<br />

Dieses Buch – wie Surmiak-Domańska schreibt – wurde zu einem großen<br />

Erfolg in Sumpflein, dem Wohnort von ’unserer Halszka’. Ähnlich wie zuvor<br />

ein sehr ähnliches, doch aus dem Deutschen übersetztes Buch. In der Ortsbibliothek<br />

haben sich alle ‚normalen’, ’wir’, ’einfachen Leute’, auf die Liste<br />

setzen lassen, um das zu erfahren, was „einem nicht in den Kopf gehen will“.<br />

‚Unsere Halszka’, das ist klar, ist gar nicht ’unsere’. Sie ist fremd, merkwürdig,<br />

anders. Wie wir erfahren, war sie schon immer so. Das sagen die Ortsansässigen.<br />

Trotz der offensichtlichen Mechanismen ist für die Autorin eine<br />

Sichtweise, die lieber die Schuld dem Opfer gibt als den „Henker-Vater“ zu<br />

verurteilen, nicht ohne Belang. Im Gegenteil. Sie versucht, diese Sicht aufzuzeigen<br />

und zu vertiefen, sie anderen Erzählungen gegenüberzustellen. So<br />

gelingt es Katarzyna Surmiak-Domańska, etwas sehr Flüchtiges zu greifen:<br />

das Gefühl, dass die Wirkung des Bösen unumkehrbar ist und dass Schutzprojekte,<br />

Therapien und die Situation, wenn Opfer zu Wort kommen, sehr<br />

fragil sein können.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


35<br />

Sumpflein<br />

ist kein typisches Dorf. Hier gibt es<br />

keine Bauernhütten oder Scheunen,<br />

eher solide mehrstöckige Häuser mit<br />

Thujen vor den Eingängen und gepflegten Rasen auf der Rückseite. Niemand<br />

züchtet hier Kühe, die Männer fahren täglich mit ihren eigenen Autos in die<br />

nah gelegene Stadt zur Arbeit, die Frauen kümmern sich für gewöhnlich um<br />

den Haushalt. Obwohl die Böden hier feucht sind, an manchen Stellen geradezu<br />

sumpfig, wächst die Bevölkerung stetig, da die Gegend als die schlesische<br />

Enklave der Ruhe, der Natur und der sauberen Luft bekannt ist. Im Dorf gibt<br />

es einen Gasthof und ein Kulturhaus, und viele der zweitausend Einwohner<br />

nutzen regelmäßig die Ortsbibliothek, die selbst an Samstagen geöffnet hat.<br />

In der Geschichte der Bibliothek von Sumpflein gab es zwei Bücherhits; das<br />

erste Mal gegen Ende der 1990er Jahre. Damals handelte es sich um die deutsche<br />

Reportagen-Erzählung Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter, die von<br />

der Journalistin Karin Jäckel in enger Zusammenarbeit mit der Titelheldin<br />

herausgegeben wurde. Monika B., eine über dreißigjährige Deutsche, enthüllte<br />

darin die Wahrheit über ihre Kindheit; über ihren Vater, der sie zehn Jahre<br />

lang regelmäßig vergewaltigte und den Söhnen zum Vergewaltigen überließ,<br />

sowie über die Mutter, die die Augen davor verschloss.<br />

’Für Monika’ trugen sich die Einwohner von Sumpflein auf einer Warteliste<br />

in der Bibliothek ein. Danach stellte so mancher fest, es sei das erschütterndste<br />

Buch gewesen, das er in seinem Leben gelesen habe. Die Bibliotheksleiterin<br />

erinnert sich an die allgemeine Solidarität, die der jungen Frau entgegengebracht<br />

wurde, an das Wettern gegen die Eltern: „Solche gehören mit dem Tod<br />

bestraft“, und an die Kommentare: „Wie war so etwas in der zweiten Hälfte<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts möglich, in diesem – wie man meinen könnte<br />

– zivilisierten Deutschland?!“<br />

Zehn Jahre später kam der zweite Bücherhit heraus. Diesmal war es das polnische<br />

Buch Kato-tata. Nie-pamiętnik (Henker-Vater. Nicht-Erinnerungen),<br />

deren Autorin eine gewisse Halszka Opfer war.<br />

Auch bei diesem Buch handelte es sich um Tatsachenliteratur, und es erzählt<br />

eine ähnliche Geschichte wie die von Monika B. Die Autorin beschließt als<br />

reife Frau, sich ihre Vergangenheit genau anzuschauen. Sie beschreibt, wie sie<br />

über zwanzig Jahre die Geliebte des eigenen Vaters war. Laut Halszka hatte der<br />

Vater nicht nur sie zum Sex gezwungen, sondern auch ihre Geschwister und<br />

die Mutter körperlich und psychisch misshandelt. Er hatte zum Beispiel die<br />

Angewohnheit, seine Frau zu ’erziehen’, indem er sich in ihre Handtasche oder<br />

auf das nicht abgewaschene Geschirr entleerte. Sie hingegen brachte abends<br />

die gebadete und in ein Handtuch eingewickelte Halszka, die gerade ein paar<br />

Jahre alt war, zu ihm ins Bett und zog sich diskret in ein anderes Zimmer<br />

zurück.<br />

Auch ’Halszka’ haben fast alle in Sumpflein gelesen, und man musste sich<br />

wieder auf eine Warteliste setzen lassen. Und auch diese Bekenntnisse riefen<br />

große Emotionen hervor. Doch die Haltung gegenüber der Heldin war eine<br />

völlig andere als beim ersten Buch.<br />

Das, was die zwei Bücher vor allem unterscheidet, fasste die Bibliothekarin<br />

nach einiger Überlegung zusammen, ist die Tatsache, dass Monika B. in<br />

Deutschland wohnt und niemand hier sie persönlich kennt. Dagegen wissen<br />

alle im Dorf, dass sich hinter dem Pseudonym Halszka Opfer die eigene Nachbarin<br />

und langjährige Einwohnerin von Sumpflein verbirgt.<br />

Ich habe Halszka Opfer im Winter 2008 kennengelernt, als ich ein Interview<br />

zu ihrem Buch mit ihr führte. Schon damals machte mich, mehr als<br />

der degenerierte Vater, die Gestalt der Mutter neugierig: eine Frau, die unerschütterlich<br />

die Fakten verdrängte, Dinge rationalisierte, die – könnte man<br />

meinen – unmöglich zu rationalisieren sind, die jedoch dabei nicht für einen<br />

Moment aus ihrer Rolle als polnische Mutter, Christin und gute Hausfrau<br />

fiel. Für mich war es unvorstellbar, wie die zwei Frauen miteinander reden<br />

konnten, in einem Moment, als der Verfolger schon nicht mehr lebte, als es<br />

also niemanden mehr gab, vor dem sie sich hätten fürchten müssen und das<br />

Buch bereits erschienen war.<br />

Als ich zwei Jahre später nach Sumpflein zurückkehrte, nahm ich wieder<br />

Kontakt mit Halszka auf, und überredete sie, mich mit ihrer Mutter bekannt<br />

zu machen. Darauf fragte sie, ob ich mich einer delikaten Mission annehmen<br />

könnte, und diese Mission wurde zum Kern meiner Erzählung.<br />

Halszka Opfer bekam nach dem Erscheinen ihres Buchs viel Unterstützung<br />

und man bewunderte sie. Dank ihr haben viele Frauen den Mut gefunden,<br />

über den eigenen Missbrauch laut zu reden und sich damit von der Scham<br />

und dem Gefühl der Schuld zu befreien, die so erfolgreich die Täter schützen.<br />

Die Sache ist nur die, dass für all diese Personen Halszka als Person genauso<br />

weit weg ist wie Monika B. aus dem deutschen Buch für die Einwohner von<br />

Sumpflein.<br />

Ich wollte wissen, was Halszkas Buch in ihrem näheren Umfeld verändert<br />

hat. Ich wollte wissen, wie man im Alltag mit jemandem lebt, der sich selbst<br />

den Namen ‚Opfer’ gegeben hat. Deshalb habe ich außer der Mutter noch ein<br />

paar andere Personen aus Halszkas Umfeld besucht und sie gebeten, mir zu<br />

erzählen, wie sie die Autorin und ihr Buch sehen.<br />

Auf ihren Wunsch nenne ich keine Nachnamen und nicht die wirklichen<br />

Vornamen oder andere Details, die dazu führen könnten, dass man die Personen<br />

außerhalb ihrer Familie oder Nachbarschaft erkennen könnte. Ich behielt<br />

Halszkas Pseudonym bei, um vor allem ihre Mutter und ihre Geschwister zu<br />

schützen. Für andere Angehörige aus ihrer Familie, die in meinem Buch auftreten,<br />

habe ich die Namen übernommen, die Halszka in Kato-tata (Henker-<br />

Vater) und Monidło (Retusche), das 2011 herauskam, verwendet hatte. Für die<br />

übrigen Personen habe ich mir die Namen ausgedacht. Ich werde auch den<br />

wirklichen Namen von Sumpflein nicht preisgeben, sowie von Kormoranów,<br />

dem Heimatort von Halszka, wo ihre Mutter, Frau Karolina, immer noch<br />

wohnt – eine Frau, die von niemandem mit dem Namen Opfer oder mit irgendeinem<br />

Buch in Verbindung gebracht wird. Höchstwahrscheinlich.<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2012<br />

125 × 195, 144 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-364-7<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


36<br />

PAWEŁ SMOLEŃSKI<br />

PAWEŁ SMOLEŃSKI (GEB. 1959),<br />

REPORTER, PUBLIZIST, JOURNALIST.<br />

ARBEITET SEIT 1989 FÜR DIE „GAZETA<br />

WYBORCZA”, ZUVOR WAR ER FÜR DIVERSE<br />

UNTERGRUNDZEITSCHRIFTEN TÄTIG. SEIN<br />

BUCH „BEGRÄBNIS FÜR EINEN BANDITEN”<br />

WURDE 2003 MIT DEM PREIS FÜR<br />

POLNISCH-UKRAINISCHE VERSÖHNUNG<br />

AUSGEZEICHNET. DIES IST SEIN 10. BUCH.<br />

Photo: Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute<br />

Der Araber schießt, den Juden freut‘s<br />

Paweł Smoleński, Publizist und Reporter bei der „Gazeta Wyborcza“, setzt<br />

sich in seinen Texten seit Jahren mit israelischen Fragen auseinander. In<br />

seinem Buch mit dem provokanten Titel Der Araber schießt, den Juden freut‘s<br />

beschäftigt er sich größtenteils mit dem israelisch-arabischen Konflikt.<br />

Smoleńskis Erzählung beginnt auf sinnbildliche Weise, nämlich mit einem<br />

alten Fotoalbum. Es stammt von der armenischen Familie Kahvedjian aus<br />

dem christlichen Teil der Jerusalemer Altstadt, sodass die Bilder darin auf<br />

vielsagende Weise die Kreuzungspunkte der verschiedenen Kulturen festhalten.<br />

Doch nicht die Kultur an sich oder die sich aus dem kulturellen Leben<br />

ergebenden politischen Konsequenzen sollen Smoleński in Der Araber<br />

schießt, den Juden freut‘s interessieren. Die wichtigste Geschichte gestalten<br />

hier die Menschen selbst – jeder seine eigene, wahre Geschichte, die zusammen<br />

mit den anderen ein umfassendes, vielschichtiges Bild der Situation in<br />

Israel ergibt.<br />

Das Buch ist in Kapitel zu einzelnen Städten gegliedert. In jedem dieser Kapitel<br />

begegnet der Leser anderen Charakteren. In Akkon versuchen die Regisseure<br />

des städtischen Theaters – der sephardische Jude Moti, der Araber<br />

Chalid – das Wesen des Konflikts zu ergründen. Hauptperson in Be‘er Scheva<br />

wiederum ist Riad Abarii, Professor der Pharmakologie an der Ben-Gurion-<br />

Universität, an der bis vor Kurzem nur zwei Professoren von insgesamt 500<br />

arabischer Abstammung waren (mittlerweile sind es schon 20 arabische Professoren).<br />

Chalil aus Jaffa wiederum hält sich bedeckt, was sein Arabertum<br />

angeht – „ein Macho“ zwar, schreibt Smoleński, „aber nicht von arabischer<br />

Fasson“. Viel über den Konflikt weiß Wadi aus Haifa zu berichten: „Wir alle,<br />

Araber und Juden, haben dieselbe grässliche Eigenschaft. Jeder spricht nur<br />

über sich. Wir reden nur von unserem eigenen Leid.“<br />

In Smoleńskis Buch erhält jeder der Protagonisten seine „fünf Minuten“ –<br />

egal, welchen gesellschaftlichen Status er besitzt oder für welche Seite er<br />

sich einsetzt. Das Buch bildet ein Mosaik der verschiedensten Einstellungen,<br />

Gefühle, persönlichen Geschichten. Von der Qualität des Erzählten künden<br />

hingegen die einzelnen, so einfach wie möglich gehaltenen Sätze sowie die<br />

Distanz und der zeitweise sogar sarkastische Humor, die Smoleński stilistisch<br />

in die Nähe Etgar Kerets rücken.<br />

Marcin Wilk<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


37<br />

Fangen<br />

wir bei einem Foto an, das – denke ich – sinnbildlich<br />

für Israel ist. Die steinernen Wohnblocks<br />

sind die gleichen wie heute, und sogar die Pflanzen,<br />

die es geschafft haben, einen Platz in den Mauerritzen zu finden, sind die<br />

gleichen. Nur die Enge verwundert; die Häuser drängen sich geradezu gegen<br />

die Mauer, der Gehsteig ist schmal und überfüllt. Und die Mauer: eine Mauer<br />

eben, nichts weiter. Dennoch sehen wir ins Gebet versunkene Menschen direkt<br />

neben gleichgültigen Fußgängern, mit Waren beladene Esel, einen Händler<br />

und ekstatische Gesichter. Das ist die Klagemauer; heute erstreckt sich<br />

vor ihr herrschaftlich ein Platz. Der Anfang aller Dinge, für manche jedoch<br />

auch – das Ende von allem. Wäre diese uralte Mauer an anderer Stelle erbaut<br />

worden, gäbe es die heutigen Streitigkeiten nicht.<br />

Betrachten wir das Bild einiger weiser Männer. Sie sehen wie Wüstenscheiche<br />

aus: alt, bärtig und weißhaarig, in langen Gewändern, die auf dem Foto<br />

würdevoll wirken, in Wirklichkeit jedoch abgetragene Fetzen sein konnten.<br />

Sie beugen sich – so habe ich es in Erinnerung – über ein dickes Buch, fahren<br />

mit den Fingern die Zeilen nach, haben die Stirnen in Falten gelegt und tiefe<br />

Runzeln auf den Wangen. Es sind allerdings keine Scheiche, sondern sephardische<br />

Juden beim Studium der Thora.<br />

Nehmen wir nun die Mitleid erregenden Fotografien einiger Blinder; es sind<br />

die Jahre, in denen der damals unheilbare Grüne Star einen hohen Tribut<br />

forderte. Sitzen sie auf dem weißen Pflaster vor der Klagemauer, wissen wir,<br />

dass es Juden sind; sitzen sie auf dem weißen Pflaster des Innenhofes der Al-<br />

Aqsa-Moschee, müssen es Araber sein. Sie betasten die Steine, flüstern etwas,<br />

heben die vom Grünen Star getrübten Augen zur Sonne, vielleicht beten sie,<br />

vielleicht sprechen sie auch Verwünschungen aus. In ihrem Aussehen, und erst<br />

recht in ihrer Krankheit, unterscheiden sie sich in nichts voneinander; ihre<br />

Brüderschaft ist in ihrem Unglück mit eingeschlossen. Wären die Fotos nicht<br />

mit Ort und Datum versehen, könnte man meinen, es wären verschiedene<br />

Aufnahmen derselben Szene.<br />

Oder die Segelboote, die auf die Mündung des schmalen und flachen Flusses<br />

Yarkon zusteuern, der heute die Innenstadt von den reichen, nördlichen<br />

Vierteln Tel Avivs trennt. Rumpfform und Flaggstöcke sind wie bei den Booten,<br />

die sich auf den ältesten arabischen Abbildungen den Weg über das Meer<br />

bis nach Indien und zu den Molukken bahnen. Schwer zu erraten, was diese<br />

Segelboote geladen haben, aber von anderen Fotos wissen wir, dass der heutige<br />

Hafen von Jaffa, der vielleicht größte Hafen dieser Erde, die Anlegestelle für<br />

ein paar Dutzend Fischerboote war; Ufer und Mole sahen aus wie heute.<br />

Der Hafen von Tel Aviv dagegen muss sich – einem weiteren Bild zufolge<br />

– erst in jenen Hafen verwandeln, der den von Jaffa übertrumpfen wird, so<br />

wie auch Tel Aviv selbst Jaffa übertrumpfte. Heute kann man sich in dieser<br />

Stadt bis zum Morgengrauen in gut besuchten Bars und Clubs amüsieren.<br />

Man kann ein Vermögen in eleganten Boutiquen ausgeben. Den Hafen gibt<br />

es schon lange nicht mehr, auch wenn es vor nicht allzu langer Zeit ohne ihn<br />

Tel Aviv gar nicht gegeben hätte.<br />

Einige Bilder haben mich in ihren Bann gezogen: die Schuhputzer beim<br />

Jaffator in Jerusalem. Ein arabischer Mann, der Mokkakannen verkauft.<br />

Aber auch ein Beduinenmädchen hat es mir angetan. Auf dem Kopf trägt es<br />

einen Korb voller Kräuter, oder vielleicht auch frisch gewaschener Wäsche. Es<br />

ist sehr jung, hübsch und offensichtlich ohne Schamgefühl; das aufgeknöpfte<br />

Kleid gibt den Blick auf die nackten, kleinen Brüste frei. Wie kam es, dass Elia<br />

Kahvedijan in dieser Zeit und an diesem Ort ein solches Modell fand? Hat er<br />

den richtigen Moment abgepasst? Hat er sie überredet, für ihn zu posieren?<br />

Keine Ahnung.<br />

Unter diesen Bildern ist plötzlich eines, das wohl den Ausgangspunkt aller<br />

dieser Geschichten darstellt. Ein so trauriges Bild, dass es schmerzt. Es zeigt<br />

zwei alte Menschen, sicherlich Mann und Frau, oder auch ein Geschwisterpaar;<br />

sie müssen sich lieben, da sie sich so fest aufeinanderstützen. Sie haben<br />

runzlige Gesichter und tragen weiße Kopftücher. Ihre Kleider sind zerlumpt<br />

und schmutzig. Sie sind barfuß, was allerdings kaum verwundert, und – ob<br />

ihr es glaubt oder nicht – bis zu den Knien mit schwerem, lehmigem Schlamm<br />

beschmiert; zu all dem Unglück mussten sich auch noch ein Regenguss und<br />

(wir sehen es, spüren es fast körperlich) eine schneidende Kälte gesellen. Die<br />

Frau hält einen dicken Ast in der Hand. Der Mann stützt sich auf einen Stock.<br />

Sie blicken auf die Erde. Vor ihnen ist nur die vom Regen aufgeweichte, öde<br />

und traurige Landschaft.<br />

Wer ist dieses Paar? Der armenische Fotograf hat vergessen, zu fragen. Wohin<br />

gehen sie? Wir wissen es nicht. Das Foto ist wirkungsvoll genug, um uns<br />

die Antwort einzugeben: Sie gehen ins Ungewisse, einem schlimmen Schicksal,<br />

dem Verderben entgegen. Sie gehen dorthin, wo sie nicht hingehen wollen<br />

und sollten. Doch sie gehen, weil sie müssen. Unter dem Bild die Beschriftung:<br />

„An Nakba“, und das Datum: 1948. Soll es für die ganze Geschichte gelten.<br />

Für die Juden ist 1948 das Jahr des Unabhängigkeitskrieges: Einige verbündete<br />

arabische Länder überfielen damals das Land Israel, um das zu zunichte<br />

zu machen, was erst im Entstehen war, und die Juden im Mittelmeer zu ertränken.<br />

Für die in Palästina lebenden Araber (damals sagte noch niemand<br />

„Palästinenser“; dieses Volk, und nicht nur dieses, erschien erst später, und ich<br />

habe das Gefühl, dass an so etwas zu der Zeit noch niemand gedacht hätte)<br />

ist es „An-Nakba“ – die Katastrophe. Das Ende war eingetreten, die Endzeit<br />

erreicht. Ohne An-Nakba sähe alles anders aus.<br />

Jeder Krieg hat seine Symbole – sicher jede der kämpfenden Seiten ihre eigenen.<br />

Sie erklären, warum das geschah, was geschah. Für die palästinensischen<br />

Araber ist das Dorf Deir Yassin zweifellos so ein Symbol. Frühmorgens im April<br />

1948 wurde die Siedlung von der Irgun, einer rechtsextremen, paramilitärischen<br />

jüdischen Organisation, umstellt. Hundert Untergrundkämpfer (man<br />

sagt auch, nicht völlig zu Unrecht, Terroristen) töteten über hundert Araber,<br />

ohne Rücksicht auf Frauen, Säuglinge, alte Menschen; auf einen jüdischen<br />

Kämpfer kamen Eins-Komma-irgendwas arabische Tote. Alles zusammen<br />

dauerte nur wenige Stunden und hatte, scheint‘s, militärisch keine besondere<br />

Bedeutung. Es gab in diesem Krieg Ereignisse von größerem Gewicht, und<br />

auch dramatischere. Doch nach Deir Yassin ging ein Aufschrei durch Palästina:<br />

Flieht, Araber, sonst ergeht es euch ähnlich.<br />

So schrien manche Juden, aber auch die Politiker aus Amman, Damaskus,<br />

Kairo, Bagdad, Beirut, Riad. Wäre da nicht die Angst vor den Juden gewesen,<br />

aber auch das Zureden von arabischer Seite, hätten die 700.000 arabischen Bewohner<br />

Palästinas ihre Häuser nie verlassen. Was nicht heißt, dass das Morden<br />

in Deir Yassin irgendeine Rechtfertigung erfahren soll. In den israelischen Geschichtsbüchern<br />

wird es, wohlgemerkt, als ein Massaker beschrieben, das den<br />

Geburtstag Israels befleckt hat. Die arabischen Schulen in Israel begehen den<br />

Tag der Nakba. Das heißt – manchmal gibt es Politiker (in letzter Zeit leider<br />

immer öfter), die fordern, das zu verbieten, da es ihrer Meinung nach nicht sein<br />

dürfe, dass irgendein israelischer Bürger den Unabhängigkeitstag als den Tag<br />

einer Katastrophe in Erinnerung hat. Allerdings, und das wissen wir mit Sicherheit,<br />

reagiert das menschliche Gedächtnis nicht auf Gebote und Verbote.<br />

Nach dem Blutbad in Deir Yassin nannte David Ben-Gurion, der erste Premierminister<br />

des jüdischen Staates, den damaligen Leiter der Irgun und späteren<br />

Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin „Menachem<br />

Hitler“. Es hätte kaum stärkere Worte geben können; die Öfen der<br />

Krematorien waren noch warm. Die Araber griffen einen Sanitätskonvoi auf<br />

dem Weg nach Jerusalem an und ermordeten alle Verwundeten. In Kairo, Rabat<br />

und Tunis gab es antijüdische Pogrome. In der Jerusalemer Altstadt blieb<br />

nicht ein einziger Jude. Alle Synagogen der Altstadt wurden zerstört.<br />

Doch es sind die Juden, die letzten Endes diesen Krieg gewannen, auch<br />

wenn sie ihn nicht gewinnen sollten. Sieger richtet man nicht, heißt es. Was<br />

das betrifft, bin ich mir nicht ganz sicher. Ich kenne viele israelische Bürger –<br />

Juden und Araber –, die ähnlich denken. Und selbst Ben-Gurion hat einmal<br />

gesagt, dass man sein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen könne.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012<br />

135 × 215, 272 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7799-006-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


38<br />

MARIUSZ WILK<br />

MARIUSZ WILK (GEB. 1955), PROSAIST,<br />

JOURNALIST, REISENDER, AKTIVIST DER<br />

DEMOKRATISCHEN OPPOSITION, DER ENDE<br />

DER ACHTZIGER JAHRE DIE POLITIK UND<br />

EUROPÄISCHE ZIVILISATION AUFGAB,<br />

UM SICH IM HOHEN NORDEN RUSSLANDS<br />

NIEDERZULASSEN.<br />

Photo: Piotr Wójcik<br />

Der Zug der Gänse<br />

Der neueste Teil des Nördlichen Tagebuchs von Mariusz Wilk mit dem Titel<br />

Der Zug der Gänse scheint den vorhergehenden Büchern der Serie zu ähneln,<br />

in denen der Autor seine Streifzüge durch den hohen Norden beschrieben<br />

hat. Noch immer scheint er in kurzen Tagebuchnotizen die Erlebnisse seiner<br />

realen und intellektuellen Streifzüge einfangen zu wollen, die ihn zu<br />

einer befreienden Leere führen, mit der er sich vom Trubel der Wirklichkeit<br />

abgrenzt, um in sich selbst vorzudringen und sich kontemplativen Betrachtungen<br />

der ihn umgebenden Welt hinzugeben. Noch immer scheint Wilk sich<br />

desselben, einzigartigen Stils zu bedienen, in dem er Phrasen und Worte<br />

aus dem Russischen mit dem Altpolnischen mischt – und doch ist Der Zug der<br />

Gänse im Werk des Autors von Voloki ein außergewöhnlicher Band.<br />

Wilk ist Vater geworden, seine Tochter Marta bewirkte, dass – wie er selbst<br />

anmerkt – „meine Welt durcheinandergeraten ist, das heißt, sie hat sich<br />

auf den Kopf gestellt. Obwohl manche meiner Bekannten behaupten, es<br />

sei umgekehrt – sie habe sich auf die Füße gestellt.“ Die Geburt des Kindes<br />

zwang den Autor und Vagabunden zu einer grundlegenden Revision seiner<br />

Lebensstrategien, zu neuen Zielsetzungen. Zwar begibt er sich weiterhin<br />

auf Wanderschaft und erstattet dem Leser Bericht von seinen Fahrten. In<br />

dem neuen Buch beschreibt er Petrosawodsk und Menschen, die mit der<br />

Stadt in Zusammenhang stehen (Wasserspiegel), einen Abstecher nach Labrador<br />

(Karibu-Hackfleisch) oder eine weitere Jahreszeit im alten Holzhaus<br />

am Onegasee (Hinter den Spiegeln), stellt weitere Lieblingsautoren vor (vor<br />

allem den Autor und Weltenbummler Kenneth White, den Schöpfer solcher<br />

Begriffe wie „intellektueller Nomade“ oder „Geopoetik“) und macht uns mit<br />

seinen geistigen Eingebungen bekannt. Jedoch hat er pausenlos das Bild<br />

des geliebten Töchterchens im Hinterkopf und den Gedanken, dass er von<br />

nun an der Spur, dem Pfad seines Lebens vor allem mit dem Ziel folgen wird,<br />

Marta darauf vorzubereiten, die Spur aufzunehmen, wenn er selbst nicht<br />

mehr weiter wird gehen können.<br />

Der Autor hat sich verändert, ebenso seine Prosa. Der Zug der Gänse ist vor<br />

allem eine berührende und tiefgründige Erzählung von den Freuden und<br />

Sorgen einer späten Vaterschaft.<br />

Robert Ostaszewski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


39<br />

11. August<br />

Derweil werden die Nächte wieder dunkel und immer länger. Morgens steigt<br />

dichter Dampf (Peter zufolge ist es die Schlacke unter Pudosch) über dem<br />

aufgeheizten Zaoneschje auf. Am Himmel grollt es ein wenig und jeden Tag<br />

toben Gewitter mit unvorstellbarer Macht. Vielleicht hat die Erde es satt und<br />

versucht, uns abzuwerfen? Wie Rentiere, die hochgiftige Parasiten und Fliegen<br />

abschütteln.<br />

Der ängstliche Zustand der Natur ließ mich Die Straße von Cormac Mc-<br />

Carthy zur Hand nehmen, auch wenn ich keinen Geschmack an Katastrophenromanen<br />

finde. Die Straße handelt von einer postapokalyptischen Welt,<br />

durch die ein Vater mit seinem kleinen Sohn wandert. Man weiß nicht, was<br />

die Katastrophe ausgelöst hat, vielleicht ein Atomkrieg, vielleicht die Kollision<br />

unseres Planeten mit einem Asteroiden – aber das ist auch unwichtig … Die<br />

Welt liegt in Schutt und Asche, die Sonne scheint nicht, es gibt weder Vögel<br />

noch Pflanzen noch irgendwelche Nahrung, deshalb machen die wenigen<br />

Menschen, die überlebt haben, des Fleisches wegen Jagd aufeinander. Ich hätte<br />

Die Straße rasch beiseitegelegt, wenn ich nicht auf den Gedanken des Autors<br />

aufmerksam geworden wäre, dass, wenn du ein guter Vater bist, zwischen dir<br />

und deinem Tod einzig dein Kind steht. Etwas wurde mir klar.<br />

Seit unsere Marta auf die Welt gekommen ist, mache ich mir sehr oft Gedanken<br />

über den eigenen Weg. Die Geburt meiner Tochter hat mir das baldige<br />

Ende vor Augen geführt. Sie war ein eigenartiges Erwachen, der Stock des<br />

Zen-Meisters, der zuschlägt, um den Schüler aus der Lethargie einer wohligen<br />

Meditation zu reißen. Vielleicht mag sich jemand darüber entrüsten, dass ich<br />

vom baldigen Ende schreibe, obwohl ich gerade einmal fünfundfünfzig Jahre<br />

alt bin. Nun ja, aber vor ihr liegt der Weg eines ganzen Lebens, auf dem ich sie<br />

nur ein kurzes Stück begleiten kann, soweit die Beine mich tragen. Deshalb<br />

hat mich dieser Gedanke von McCathy so berührt.<br />

12. August<br />

Der Wind zerzaust die Pappeln vor dem Fenster, er wirft ein bewegliches Netz<br />

von Blättern auf die Wand – wie auf einen Bildschirm –, die Sonne flimmert<br />

und streut ihre Lichttupfen über den Boden. Der Schimmer auf der Holzdecke<br />

wiederholt das Spiel der Ohrenquallen im See, und selbst die Wiege, die<br />

an einem Deckenbalken aufgehängt ist, schaukelt im Rhythmus des Onega.<br />

Das ganze Haus ist in ein sanftes, zitterndes Netz aus Licht gehüllt.<br />

Marta ist ein Jahr alt. Obwohl sie, streng genommen, schon älter ist, denn<br />

für mich – genau wie für die Saami – beginnt das Leben des Menschen im<br />

Moment der Empfängnis und nicht beim Verlassen des Mutterleibes. Ich erinnere<br />

mich, wie wir sie beim Ultraschall betrachtet haben. Sie schwamm im<br />

Fruchtwasser wie im kosmischen Ozean aus Tarkowskis Solaris.<br />

Noch bis zu ihrer Geburt standen wir vor dem Dilemma, wo wir mit dem<br />

winzigen Kind leben sollten: in der Stadt oder hier, auf dem halb ausgestorbenen<br />

Dorf. Bekannte rieten uns zur Stadt, weil es sowohl einen Arzt in der<br />

Nähe als auch warmes Wasser aus der Wand gibt und hier bekanntlich die<br />

Wege im Winter nicht geräumt werden, und falls dann, Gott bewahre, etwas<br />

passiert, dann kommt kein Notarztwagen rechtzeitig. Genau, und außerdem<br />

– fragten sie –, wie kommt ihr denn ohne fließendes Wasser zurecht, in alten<br />

Zimmern, die man nie und nimmer bis zur durchschnittlichen Raumtemperatur<br />

aufheizen kann? Wo wascht ihr, wo badet ihr die Kleine?<br />

An Ärzte hatte ich nicht gedacht, denn wenn ich das Leben mit der kleinen<br />

Marta von einem Krankenhaus abhängig gemacht hätte, dann hätte ich<br />

mich sicherlich nie dafür entschieden, ihr so etwas anzutun. Und was den<br />

sogenannten Komfort betrifft, also fließendes Wasser und eine warme Toilette<br />

– das sind Bequemlichkeiten für die Eltern, folglich muss man sich nicht hinter<br />

dem Säugling verstecken. Dagegen hat das Leben in Konda unvergleichlich<br />

viel mehr Vorteile als in Petrosawodsk. Erstens Ruhe und Frieden, keine<br />

Autosirenen, die mit ihrem durchdringenden Geheul die Nacht in der Stadt<br />

zerreißen, keine Nachbarn hinter der Wand. Zweitens ist hier ringsum Natur,<br />

man muss weder Park noch Ufermauer suchen, um ein wenig frische Luft zu<br />

schnappen, es genügt, die Kleine im Kinderwagen vor das Fenster zu stellen,<br />

um sie im Auge zu haben, und das Rauschen des Sees und das Rascheln der<br />

Pappeln wiegen sie von selbst in den Schlaf. Drittens beginnt Marta ihr Leben<br />

hier umgeben von Schönem, schließlich ist die Umgebung das Erste, was<br />

den Verstand prägt (erst danach kommen Sprache, Schule …), zudem ist es<br />

von Beginn an von Bedeutung, was sie sieht, riecht, was sie berührt und in<br />

den Mund nimmt, ob das Holz, Lehm und Gras ist oder Duraluminium,<br />

Polyethylen und Beton. Hier wird ihr Bewusstsein geformt vom Raum eines<br />

großen Hauses, den bernsteinfarbenen Lichttupfen auf dem Fußboden, dem<br />

richtigen Feuer im Ofen, dem Rhythmus der Natur, dem Gesang der Vögel<br />

und den Gerüchen von draußen; dort würde sie pausenlos attackiert werden<br />

vom Gestammel der Reklame (das überall erschallt), von Neonlichtern und<br />

abwechselnd dem Geruch von Deodorants und Abgasen. Viertens wird hier<br />

der erste Geschmack geprägt von frischen Nahrungsmitteln – frisch aus dem<br />

Garten, See und Wald –, es ist also nicht verwunderlich, dass Marta das von<br />

ihrer Mutter gebackene Vollkornbrot und den Schnittlauch sehr gern hat, den<br />

sie selbst aus den Beeten reißt; in der Stadt würde sie bestimmt von irgendwelchen<br />

Bebivita-Gläschen kosten … Noch lange könnte ich so die Vorteile<br />

aufzählen, die das Leben mit dem Kind in Konda bietet, jedoch meine ich,<br />

dass ich den denkenden Leser überzeugt habe.<br />

Ich werde nicht so tun, als ob es einfach gewesen wäre. Vor allem der Winter<br />

hat uns zugesetzt, obwohl wir uns frühzeitig auf ihn vorbereitet hatten, indem<br />

wir die Böden erneuert haben, damit es nicht von unten zieht, und indem wir<br />

die Zimmer über uns abgedichtet haben, damit die Wärme nicht durch die<br />

Holzdecke entweicht. Wer hätte vorhersehen können, dass es wieder einen<br />

Jahrhundertwinter geben würde (der zweite in diesem Jahrhundert!), wir so<br />

einfrieren und eingeschneit werden, dass ich die meiste Zeit jeden Tages mit<br />

Schneeschippen verbringe?<br />

Trotz der Beschwerlichkeiten war es der zauberhafteste Winter in meinem<br />

Leben, denn alles war zum ersten Mal, obwohl es das zweite Mal war – der<br />

erste Schnee und die ersten Lichtlein am Weihnachtsbaum, der erste Heiligabend,<br />

das erste Silvester und das erste Neujahr. Auch wenn ich das selbst<br />

irgendwann schon einmal zum ersten Mal erlebt habe, ohne es zu verstehen, so<br />

konnte ich dank der Kontemplation von Marta dieses erste Mal wiederholen<br />

– mit ihr. Denn in Wirklichkeit habe ich mich, dank meiner Tochter, auf die<br />

weiteste Reise meines Lebens begeben – eine Expedition zum Ursprung begonnen.<br />

Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zum eigenen Ursprung durch<br />

die Blutsgemeinschaft, das kommt später, wenn wir gemeinsam Märchen lesen<br />

werden, jetzt geht es ganz allgemein um die Anfänge des Menschen.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel<br />

NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012<br />

145 × 235, 210 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7392-372-0<br />

TRANSLATION RIGHTS: NOIR SUR BLANC<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


40<br />

OLGA TOKARCZUK<br />

OLGA TOKARCZUK (GEB. 1962)<br />

IST DIE BEKANNTESTE UND<br />

ANGESEHENSTE POLNISCHE<br />

SCHRIFTSTELLERIN. SIE WURDE MIT<br />

ZAHLREICHEN LITERATURPREISEN<br />

AUSGEZEICHNET UND IHR WERK<br />

IN 21 SPRACHEN ÜBERSETZT. AUF<br />

DEUTSCH ERSCHIENEN SIND ZULETZT<br />

SPIEL AUF VIELEN TROMMELN (2006),<br />

UNRAST (2008) UND DER GESANG DER<br />

FLEDERMÄUSE (2009).<br />

Photo: Wojciech Wojtkielewicz<br />

Der Moment des Bären<br />

Olga Tokarczuks neuestes Buch stellt eine besondere Art der Einheit dar,<br />

auch wenn es nicht als Einheit geschrieben wurde. Die Sammlung von Artikeln,<br />

Vorworten, Gelegenheitsauftritten, Gedankenspielen und manches<br />

Mal auch feuilletonistischen Scherzen wird unerwartet zu einem wichtigen<br />

Kompendium der Philosophie der Schriftstellerin. Und auch zu einem Manifest<br />

der politischen Ideen. Tokarczuk hat das politische Potenzial ihres<br />

Schreibens nie bestritten, es nie der eigenen künstlerischen Freiheit oder<br />

Vervollkommnung der literarischen Form entgegengestellt. Ganz im Gegenteil<br />

betrachtet sie gerade die Fähigkeit zur Reaktion auf Gewalt, Ausbeutung,<br />

propagandistische Lügen in der Welt der Herrschenden als eine ihrer<br />

schriftstellerischen Pflichten. Unter einer einzigen Bedingung allerdings:<br />

Dass sie selbst in ihrer eigenen Sprache und nach ihren eigenen Vorstellungen<br />

die Ideen formuliert und ausspricht, die heute Gesellschaft und Generationen<br />

zusammenhalten. Das Politische und das Literarische trennt die<br />

Autorin von Der Moment des Bären nie voneinander.<br />

Tokarczuk bedient sich häufig der Form des ausgebauten Aphorismus, schafft<br />

manches Mal eigentümliche, sich zu Zyklen zusammenfügende Gleichnisse<br />

und dann wieder scherzhafte Reiseführerartikel – wie den „Kleinen Polenführer<br />

für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts“. Den Vorrang gab sie<br />

hier jedoch den „Heterotopien“. Der hinterlistig im Untertitel ein „Gesellschaftsspiel“<br />

genannte Text „Wie erfindet man eine Heterotopie?“ ist ein<br />

gut verständlicher – und literarisch hervorragend verarbeiteter! – Vortrag<br />

über Olga Tokarczuks politische Philosophie. Diese ist, führt man sie auf ihre<br />

Grundlagen zurück, keine großartige Entdeckung. Eine Entdeckung ist die<br />

Sprache, welche die Schriftstellerin den Ideen gibt. „Eine andere Welt ist<br />

möglich. Man muss sie sich nur zuerst denken und dann aufschreiben“ – so<br />

lautet, in aller Kürze, das Credo, dem Tokarczuk ihr ganzes Werk verschreibt.<br />

Ihre Heterotopien sind Welten, die beispielsweise die Heteronorm mit ihrer<br />

Anprangerung sexueller Minderheiten in Frage stellen; es ist in ihnen auch<br />

großer Raum für einen heftigen Protest gegen die Misshandlung und den<br />

Verzehr von Tieren.<br />

Manches Mal ist Tokarczuk in Der Moment des Bären todernst, nur um dem Leser<br />

kurz darauf den goldenen Sand des Scherzhaften, Erdachten, Amüsanten<br />

in die Augen zu streuen. Radikale Gegnerin jeglicher nationaler Ideologien,<br />

vermag sie ihrem eigenen Polentum auf exzellente Weise Stimme zu verleihen.<br />

Und schließlich: der „Moment des Bären“ aus dem Titel, ein Gleichnis<br />

darüber, dass die Verzauberung der Welt nur unter der Bedingung gelingt,<br />

dass vom monotheistischen Verständnis des Wahrheitsbegriffs abgewichen<br />

wird. Ein entschiedenes „Ja!“ zur Literatur, diesem „seltsamen und von<br />

Kraft erfüllten Ort zwischen vielen individuellen Wahrheiten“.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Kleiner subjektiver Polenführer<br />

für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts<br />

41<br />

Lage<br />

Ungünstig. Großes Flachlandgebiet zwischen Osten und Westen, zwei raubgierigen<br />

Großmächten, zwei zivilisatorischen Urgewalten, erinnert an eine<br />

Ping-Pong-Platte. Von Napoleon bis zum Zweiten Weltkrieg Bühne aller großen<br />

Schlachten. Das Gute an einer solchen Lage: Überallhin ist es nah.<br />

Grenzen<br />

Recht flexibel. In einigen geschichtlichen Epochen weit, manchmal gar von<br />

der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In anderen ganz verschwunden. Zuletzt<br />

in Jalta von drei Großmächten – USA, Großbritannien, Sowjetunion – nach<br />

eigenem Ermessen festgelegt, wodurch Polen Lwów und Wilno verlor und<br />

Wrocław und Szczecin gewann. Ob das gut oder schlecht ist, wird noch immer<br />

diskutiert.<br />

Sprache<br />

Slawisch, angeblich sehr schwierig wegen der vielen Zischlaute (wer das nicht<br />

glaubt, der lese laut „Chrząszcz brzmi w trzcinie“). Etablierte sich nach der<br />

Abschaffung des Lateinischen im multikulturellen polnischen Staat als gemeinsame<br />

Sprache und war, als es den polnischen Staat nicht gab, einziger<br />

Träger der gemeinsamen Identität. Wird deswegen von den Polen hoch geschätzt,<br />

die sogar den Ausdruck „ojczyzna-polszczyzna“ schufen, der so viel<br />

bedeutet wie: „Unsere Heimat ist die polnische Sprache“. Heute sprechen auf<br />

der Welt über 50 Millionen Menschen Polnisch.<br />

Bevölkerung<br />

Fast 40 Millionen im In- und um die 10 Millionen im Ausland (siehe „Emigration”).<br />

Das Ergebnis einer jahrhundertelangen ethnischen Durchmischung<br />

(Ukrainer, Juden, Weißrussen, Litauer, Deutsche, Schlesier und sogar Tataren).<br />

Dass jeder Pole einen Schnauzbart trägt, ist nicht wahr.<br />

Frauen<br />

Hier gibt es das noch nicht ganz aufgeklärte soziologische Phänomen, dass<br />

ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Polinnen auswandert und im Ausland<br />

heiratet, wodurch inoffizielle diplomatische Minivertretungen entstehen.<br />

Dank diesen trifft man, wenn man als Pole durch die Welt reist, überall auf<br />

die Seinen. Möglicherweise befassen sich mit diesem Phänomen aber schon<br />

die Geheimdienste der anderen Länder.<br />

Religion<br />

Der polnische Katholizismus. Eine besondere Art des Katholizismus: Es kennzeichnen<br />

ihn eine starke Verbundenheit mit der nationalen Identität und dem<br />

Gefühl einer Mission (siehe „Große Mythen“) und ein besonders ausgeprägter<br />

Marienkult. Der Kirche zufolge ist die Muttergottes die unstürzbare und<br />

einzige Königin Polens. Von diesem Gesichtspunkt her kann die polnische<br />

Staatsform zu den Monarchien gezählt werden. Die Zugehörigkeit zur katholischen<br />

Kirche erklären in Polen 95,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung<br />

(in Spanien sind es 94,1 und in Italien 97,1 Prozent; die statistischen Jahrbücher<br />

geben nicht an, welcher Prozentsatz seinen religiösen Glauben auch<br />

praktiziert). Dieser Zustand besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges,<br />

als Polen infolge dieses Krieges und der geopolitischen Verschiebungen (siehe<br />

„Grenzen“) aufhörte, ein multikultureller und multiethnischer Staat zu sein.<br />

Kunst und Kultur<br />

Der höchste Pro-Kopf-Poetisierungsfaktor. In Polen schreiben ungefähr hunderttausend<br />

Menschen Gedichte, darunter zwei Nobelpreisträger, die noch<br />

dazu in ein und derselben Stadt lebten – Krakau.<br />

Wissenschaft<br />

Polen ist eine der bedeutenderen Eliteschmieden der Wissenschaft. Die überwiegende<br />

Mehrheit der in Polen ausgebildeten Wissenschaftler arbeitet jedoch<br />

außerhalb Polens und trägt so zum Wohle der Menschheit bei (siehe „Emigration“).<br />

Achtung: In Polen hat niemand Zweifel daran, dass Kopernikus Pole war.<br />

Stabilisierter Krisenzustand<br />

Der natürliche gesellschaftspolitische Zustand, an den die Polen seit Generationen<br />

gewöhnt sind und mit dem sie wunderbar zurechtkommen. Es steht zu<br />

befürchten, dass jedwede Normalisierung der Verhältnisse zu gesellschaftlichen<br />

Unruhen führt.<br />

Nationaler Charakter<br />

Die Polen machen auf den ersten Blick einen recht mürrischen Eindruck, wirken<br />

manchmal gar arrogant. Individualisten kommen vor, Exzentriker eher<br />

nicht. Häufig verhalten sie sich um des lieben Friedens willen konformistisch,<br />

auch wenn paradoxerweise jede Art der Herrschaft ihr Misstrauen weckt und<br />

sie somit geborene Anarchisten sind. Achtung: Polenwitze mögen sie nicht.<br />

Ihre Laune pendelt zwischen Bewunderung für sich selbst und einem melancholischen<br />

Minderwertigkeitsgefühl.<br />

Große Mythen<br />

Erstens: Polen ist das Antemurale Christianitatis, das Bollwerk der Christenheit.<br />

Damit verbindet sich die Pflicht zur Verteidigung der westlichen Zivilisation<br />

gegen die Barbaren (hier findet sich eine entfernte Ähnlichkeit zum Selbstbild<br />

der Ungarn und Spanier). Zweitens: Vor zweihundert Jahren bildete sich aus<br />

einem sehr engen Zusammenleben mit der jüdischen Kultur bei den Polen der<br />

Begriff des nationalen Messianismus heraus. Das ist die Überzeugung von der<br />

eigenen Außergewöhnlichkeit und der Mission, den Rest der Welt zu erlösen,<br />

wobei die Leiden der Nation Teil dieser Mission sind. Die Polen sind bekannt<br />

dafür, überall auf der Welt sofort zur Hilfe zu eilen, wo Freiheit und Unabhängigkeit<br />

in Gefahr sind. Die Realisierung dieser Mythen ist sehr kostspielig und<br />

wird von den Verteidigten und Geretteten normalerweise nicht verstanden.<br />

Küche<br />

Wenig spektakulär, der deutschen recht ähnlich. Als typisch polnische Gerichte<br />

gelten ukrainischer Borschtsch, russische Piroggen und Karpfen nach jüdischer<br />

Art. Empfehlenswert sind hingegen die Pilzgerichte und der polnische<br />

Bergkäse. Polen gehört zu den unglückseligen Orten Europas, an denen keine<br />

Weinreben wachsen und die Bewohner somit lernten, Wodka zu produzieren.<br />

In letzter Zeit nimmt jedoch im Zusammenhang mit der Erderwärmung der<br />

Genuss importierter Weine zu. Es ist nicht wahr, dass der Pole in Europa den<br />

meisten Alkohol zu sich nimmt. Statistiken zeigen, dass der Alkoholgenuss<br />

sich nur leicht über dem Durchschnitt ansiedelt.<br />

Städte<br />

Warszawa – das Hongkong Mitteleuropas. Hauptstadt des Landes und Sitz<br />

der Politiker. Eine eilige Stadt mit einer Besessenheit für Neues, Erfolg und<br />

Geld. Polenweit die stärkste Invasion von Anglizismen. Bewohner der Provinzen<br />

verstehen hier nicht viel. Eine schöne neue Altstadt.<br />

Kraków – hält seit Jahren traditionell an der Einteilung der Bevölkerung<br />

fest: die Hälfte sind Künstler, die Hälfte Philister. Dank dieser dialektischen<br />

Spannung blühen hier Kunst und Kultur.<br />

Wrocław – eine deutsche Stadt, vollkommen zerstört von den Deutschen,<br />

wiederaufgebaut und bewohnt von den Polen, hauptsächlich aus Lwów und<br />

Umgebung.<br />

Land<br />

In westlichen Dokumentarfilmen über die polnische Landwirtschaft werden<br />

mit großer Vorliebe und in langen Sequenzen Pferdewagen gezeigt. Es besteht<br />

der Verdacht, dass irgendein Logistikunternehmen ihren Verleih organisiert.<br />

Verdienste für die Welt<br />

Erstens: die fachmännische und diskrete Demontage des Kommunismus.<br />

Zweitens: die Einführung des Kaffeetrinkens in Europa und Eröffnung der<br />

ersten Kaffeehäuser in Wien. Drittens: die Erfindung des Baseballs für die<br />

Amerikaner (was diese bis heute viel Aufmerksamkeit kostet); laut Norman<br />

Davies soll er vom Schlagballspiel der polnischen Emigranten abgeleitet sein.<br />

Viertens: die polnische Wurst.<br />

Was Polen in die EU einbringen kann<br />

Die Fähigkeit, in schwierigen Situationen zurechtzukommen (siehe „Stabilisierter<br />

Krisenzustand“).<br />

Das Talent, Löcher im Steuerrecht ausfindig zu machen. Den Bialowiezer<br />

Urwald. Etwas Chaos.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ, WARSZAWA 2012<br />

125 × 195, 192 PAGES<br />

ISBN: 978-83-62467-36-5<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


42<br />

FILIP SPRINGER<br />

FILIP SPRINGER (GEB. 1982),<br />

JOURNALISTISCHER AUTODIDAKT,<br />

ARBEITET SEIT 2006 ALS<br />

REPORTER UND FOTOGRAF.<br />

VERGANGENES JAHR DEBÜTIERTE<br />

ER MIT DEM REPORTAGEBUCH<br />

MIEDZIANKA. HISTORIA ZNIKANIA<br />

[MIEDZIANKA. EINE GESCHICHTE<br />

DES VERSCHWINDENS].<br />

Photo: private<br />

Von schlechter Geburt<br />

Bücher und Ausstellungen wie David Crowleys Cold war modern haben gezeigt,<br />

dass die Architektur und die Ideologie der späten Moderne eine wichtige<br />

Front im ideologischen Krieg zwischen den beiden Seiten des eisernen<br />

Vorhangs waren. In den ehemaligen Ostblockländern fand sich diese Architektur<br />

auf der Müllhalde der Geschichte wieder. Besonders die kritiklos kapitalismusfaszinierten<br />

Polen zerstören bis heute mit der Leidenschaft von<br />

Neophyten alles an die Vergangenheit Erinnernde. Auf den Trümmern des<br />

Warschauer Supermarktes Supersam oder des brutalistischen Kattowitzer<br />

Bahnhofes erschien jedoch eine junge Generation von Aktivisten, Kunsthistorikern,<br />

Künstlern und Schriftstellern. Weitere Ausstellungen, Publikationen<br />

und Bücher verteidigen oder beschreiben ganz einfach die Kunst<br />

zur Zeit des Kommunismus, inklusive der sozialistischen Moderne, die sich<br />

als von „schlechter Geburt“ erwies, was der Titel von Filip Springers Buch<br />

ausgezeichnet wiedergibt. Der Journalist und Fotograf betrachtet die Denkmäler<br />

der vorherigen Epoche mit dem unschuldigen Blick des gerade einmal<br />

sieben Jahre vor den ersten freien Wahlen Geborenen und stellt fest, das sei<br />

doch „gute Architektur“!<br />

Von schlechter Geburt ist sowohl ein mit wertvollen archivalischen und Springers<br />

gegenwärtigen Aufnahmen gefülltes Fotoalbum als auch eine Sammlung<br />

von Reportagen über bauliche Stiefkinder. Beide Narrationen ergänzen<br />

einander hervorragend. Wichtiger als die gebrandmarkten Bauprojekte<br />

erweisen sich nämlich die Architektenschicksale, die die Wirklichkeit der<br />

Volksrepublik Polen in den vielfältigsten Schattierungen zeigen. Der Autor<br />

deckt die Schicksale der Kriegsgeneration auf, die nach dem Sieg des<br />

Kommunismus an Weichsel und Oder nach einer lokalen Version der Moderne<br />

suchte. Besonders spannend sind deren Spiele mit den Machthabern. In den<br />

Zeiten des Stalinismus, als die Behörden mit bitterem Ernst auf dem historisierenden<br />

Stil des Sozrealismus bestehen, errichtet der Kunsthistoriker und<br />

Architekt Marek Leykam für die Regierung eine eklektische Kopie der italienischen<br />

Renaissancedenkmäler. In Kattowitz bekommen die Architekten<br />

Buszko und Franta den besonderen Segen des lokalen Parteibonzen erteilt.<br />

Der Warschauer Architekt und Städteplaner Jerzy Hryniewiecki spottet öffentlich<br />

über die Regierung und ihre Machthaber und erhält trotzdem die<br />

Aufsicht über die wichtigsten und ehrgeizigsten Projekte, indem er sie dank<br />

seiner Beziehungen aus der Zeit in einem deutschen Gefangenenlager durch<br />

die entsprechenden Kabinette schleust.<br />

Der Reportagenschreiber Filip Springer baut daher im Grunde auf die Menschen<br />

und nicht auf die Architektur. Doch zwischen den Zeilen seines Buches<br />

scheinen auch die Schicksale der Gebäude nach dem Jahr 1989 durch,<br />

der Umbau und die Eingrenzung von Wohnsiedlungen, die Zerstörung ihrer<br />

Struktur durch neue Investitionen. Immer noch offen bleibt hingegen die<br />

Frage: Lässt es sich in diesen künstlerisch genialen, modernen Symbolen für<br />

den Stil eines offiziellen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ überhaupt<br />

wohnen?<br />

Max Cegielski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


Lord Vader gegen<br />

die Quelle der Wahrheit<br />

43<br />

In tiefstem Granitschwarz schimmernd tauchte er recht unvermittelt an der<br />

Bracka-Straße auf und füllte die Lücke in der südlichen Frontfassade an den<br />

Jerozolimskie-Alleen. Es war das Jahr 2011, eben waren die Baugerüste verschwunden,<br />

und so blieben die Vorbeigehenden stehen und legten den Kopf<br />

in den Nacken, um ihn sich anzusehen. Gewöhnlich schauten sie schweigend<br />

und gingen nach einer Weile in ihre Richtung weiter. Er zog jedoch magisch<br />

an, sie drehten sich noch einmal um und schenkten ihm einen letzten Blick.<br />

Vielleicht dachten sie sogar noch an ihn, wenn sie in den Bus stiegen oder um<br />

die Ecke bogen.<br />

Andere Bezeichnungen für Lord Vader: Sarkophag, Totenschuh, Monolith.<br />

Mit einem Wort: Die dunkle Seite der Macht.<br />

Es ist eines der letzten Bauprojekte Stefan Kuryłowiczs. Das pechschwarze<br />

Einkaufs- und Bürozentrum ließ die bekannte Krakauer Familie Likus hier<br />

erbauen. Mit seinen abgerundeten Ecken korrespondiert das von Kuryłowicz<br />

entworfene Gebäude mit dem gegenüberliegenden Zentralen Warenhaus,<br />

heute allgemein „Smyk“ („Knirps“) genannt. Der helle, modernistische Sandsteinblock<br />

des Smyk und Kuryłowiczs schwarzer Monolith begannen einen<br />

Dialog, eine architektonische Konversation. Das ist gut. Vielleicht blieben die<br />

Vorbeigehenden – wenn auch völlig unbewusst – gerade deshalb hier stehen,<br />

um sich diese Schwärze anzusehen.<br />

Darth Vader zog jedoch nicht nur magisch an. Der schwarze undurchdringliche<br />

Block hatte noch eine weitere Eigenschaft. Er konnte vernichten. Das,<br />

was er absorbierte, war seine Antithese, sein völliges Gegenteil. Es war eine<br />

Wolke aus Licht und Luft, ein Glänzen. Ein Kritiker schrieb gar darüber:<br />

„Wer das nicht gesehen hat, wird die Quelle der Wahrheit nie begreifen.“<br />

Diese Quelle nannte sich „Chemiepavillon”. Entworfen haben ihn Jan<br />

Bogusławski und Bohdan Gniewiewski, und in Trümmern lag er am elften<br />

April 2008.<br />

Die Kritiker konnten sich kaum fassen vor Begeisterung über das, was im<br />

Jahr 1960 an der Ecke Bracka- und Nowogrodzka-Straße im Entstehen begriffen<br />

war. Bereits der Ort war nicht zufällig gewählt – die Bracka war die<br />

natürliche Fußwegsverbindung zwischen dem Trzech Krzyży-Platz und dem<br />

Zentralen Warenhaus an den Jerozolimskie-Alleen und, etwas weiter, der<br />

Chmielna-Straße. Gerade aus städtebaulichen Gründen wurde hier ein Spalt<br />

in der Bebauung und ein kleiner Platz gelassen. Den Pavillon selbst beherrschten<br />

asymmetrische Formen und viel Licht. Er war fast vollständig verglast,<br />

stützte sich auf kunstvolle, V-förmige Pfeiler und einen von außen unsichtbaren<br />

Betonsockel. So erweckte er den Eindruck, ganz aus Glas zu sein und sich<br />

nur dank unsichtbarer Kräfte zu halten. Oder eben dank des Lichtes, das an<br />

den Abenden sein ganzes Inneres ausfüllte. Es war geradezu ein Übermaß an<br />

Licht, und so drang es durch die unsichtbaren Wände und überflutete die ganze<br />

Umgebung. Von der Straße sah der Chemiepavillon wie eine Lichtwolke<br />

aus, eine übernatürliche Kumulation von Energie. Er sah wie etwas Gutes aus.<br />

(Darth Vader sieht wie etwas Schlechtes aus, auch wenn er in Wirklichkeit<br />

nichts Schlechtes ist.)<br />

Ganze Jahre hindurch zog der Chemiepavillon auch wegen seines Warenangebots<br />

an, von dem wir heute sagen würden, dass es nicht besonders erlesen<br />

war und in jedem größeren Supermarkt eher einen unteren Rang einnähme.<br />

In den schlichten Zeiten ihrer Geburt lieferte die Quelle der Wahrheit aus<br />

Kunststoff gemachte Schüsseln und Schälchen, Eimer, Bürsten und Deckchen.<br />

Sie waren die in exakten Reihen angeordneten Beweise dafür, dass die<br />

heimatliche chemische Industrie nicht nur Düngemittel mit den wundersamen<br />

Eigenschaften von Raketentreibstoff produzierte.<br />

Als die Zeit der Lügen vorbei war, fiel die Quelle der Wahrheit in Ungnade.<br />

Sie wurde mit Werbeplakaten zugehängt und ihre Neonbuchstaben<br />

verschwanden unter immer neuen Bannern. Die Vitrinen vor dem Eingang<br />

wurden zerstört und mussten entfernt werden, um den dort parkenden Autos<br />

Platz zu machen. Drinnen richtete sich eine private Initiative ein. Alles wurde<br />

hoffnungslos schmutzig und grau. Die wie in einem Kaleidoskop wechselnden<br />

Mieter hatten nicht die Zeit, die Mittel und die Lust, sich um das Gebäude zu<br />

kümmern. Die Quelle der Wahrheit hatte keine begeisternde Wirkung mehr,<br />

sondern nur noch eine abschreckende. Es musste etwas mit ihr geschehen.<br />

Im Jahr 2001 kaufte die Krakauer Familie Likus den Abschnitt zwischen<br />

Nowogrodzka- und Bracka-Straße und den Jerozolimskie-Alleen. Der in seiner<br />

Mitte stehende verwahrloste, einst so ätherische Pavillon interessierte sie<br />

nicht im Geringsten. Für das Grundstück hatten sie dicke Millionen ausgegeben,<br />

die Investition musste sich lohnen. Sie beschlossen also, Darth Vader hier<br />

hinzustellen, die Verkörperung der dunklen Seite der Macht: ein randvoll mit<br />

Luxusartikeln angefülltes Einkaufszentrum, das die weltweit teuersten und<br />

namhaftesten Marken in sich versammelte. Es sollte ein in Warschau noch nie<br />

dagewesener Ort sein.<br />

Ein Konflikt war unausweichlich. Zur ersten Schlacht gegen das Imperium<br />

rückten die Bewohner eines nahen, in der Bracka-Straße 13 gelegenen Mietshauses<br />

aus. Nach den Plänen Stefan Kuryłowiczs sollte sich die schwarze und<br />

fast fensterlose Wand des neuen Einkaufszentrums gerade einmal zwölfeinhalb<br />

Meter vor ihren Fenstern und Balkonen befinden. Und das bedeutete de<br />

facto die völlige Verdunklung ihrer Wohnungen. Der gerichtliche Kampf um<br />

das Licht dauerte fünf Jahre – dann kamen Wojewodschafts- und Oberstes<br />

Berufungsgericht zu dem Schluss, die Klagen der Bewohner seien unbegründet<br />

und das Gebäude könne entstehen. Von Journalisten nach dieser Sache<br />

gefragt, antwortete Kuryłowicz: „Es tut mir ehrlich leid für die Bewohner der<br />

Bracka-Straße 13, aber das ist die Warschauer Innenstadt. Jahrelang war dort<br />

ein scheußlicher Parkplatz. Das Gebäude hat eine Bebauungslücke gefüllt.“<br />

Auf diesem scheußlichen Parkplatz stand auch die Quelle der Wahrheit.<br />

Kuryłowicz muss ihren Wert gekannt haben. Er hatte einen Professorentitel<br />

und zu seinen Seminaren an der Fakultät für Architektur am Warschauer Polytechnikum<br />

strömten die Studenten in Massen.<br />

Trotzdem wird am elften April 2008 der Platz eingezäunt und die ersten<br />

Bulldozer fahren beim Chemiepavillon vor. Sein Abriss dauert nicht lange.<br />

Viele Warschauer bemerkten ihn erst, als ihnen auffiel, dass mit dem Pavillon<br />

auch der Secondhandshop verschwunden war, in dem sie sich mit billiger,<br />

gebrauchter Kleidung eingedeckt hatten.<br />

Am Tag nach dem Abriss der Quelle der Wahrheit erscheint in der „Gazeta<br />

Wyborcza” ein Text von Jerzy Majewski. Er schreibt darin, dass die Sache<br />

mit dem Chemiepavillon vor allem ein Zusammenprall der bekanntesten Namen<br />

in der Geschichte der polnischen Architektur sei – auf der einen Seite<br />

Bogusławski und Gniewiewski, auf der anderen der absolute Star des freien<br />

Polen, Stefan Kuryłowicz: „Es ist auch ein Zusammenprall zweier verschiedener<br />

Denkweisen über die Stadt – die modernistische aus den 1960er Jahren,<br />

voller freier Räume, und die postkommunistische, zufällig erbaute Stadt. Und<br />

schließlich ist es ein Kampf zwischen David und Goliath, in dem zu unserer<br />

Verwunderung Goliath sich als der Gewinner herausstellt.“<br />

2011 ist Kuryłowiczs Einkaufszentrum schließlich fertig, die finstere<br />

schwarze Wand nimmt den Bewohnern der Bracka-Straße 13 erfolgreich die<br />

Sicht auf die Welt. Von der Quelle der Wahrheit, der ätherischen Lichtwolke,<br />

ist nicht die kleinste Spur geblieben. Man könnte sagen, die Dunkelheit ist an<br />

ihre Stelle getreten.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />

KARAKTER, KRAKÓW 2012<br />

190 × 245, 272 PAGES<br />

ISBN: 978-83-62376-12-4<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


44<br />

MARTA GUZOWSKA<br />

MARTA GUZOWSKA, HAT EINEN<br />

DOKTOR IN ARCHÄOLOGIE UND IST<br />

SEIT ZWÖLF JAHREN MITGLIED DES<br />

AUSGRABUNGSTEAMS IN TROJA.<br />

„DIE OPFERUNG DER POLYXENA“<br />

IST DER ERSTE BAND DER REIHE<br />

VON ARCHÄOLOGIE-KRIMIS UM<br />

DEN PROTAGONISTEN MARIO YBL.<br />

DIE AUTORIN ARBEITET GERADE<br />

AM NÄCHSTEN BAND.<br />

Photo: Farkas Pinter<br />

Die Opferung der Polyxena<br />

Der polnische Kriminalroman wird immer vielseitiger. Zwar dominieren in<br />

diesem Genre immer noch Gegenwarts- und Retro-Krimis, doch immer interessanter<br />

präsentieren sich auch Unterarten dieser Gattung, zum Beispiel<br />

der archäologische Kriminalroman, der bei Ausgrabungen spielt und in dem<br />

Wissenschaftler als Ermittler fungieren. Für diese Variante des Genres entschied<br />

sich Marta Guzowska in ihrem Debüt „Die Opferung der Polyxena“. Der<br />

Roman eröffnet die Reihe um den Anthropologen Mario Ybl.<br />

Die Autorin hat einen Doktor in Archäologie und ist seit mehreren Jahren<br />

Mitglied des Ausgrabungsteams in den Ruinen des antiken Troja. Kein Wunder<br />

also, dass der Roman gerade an diesem Ort spielt. In einem außergewöhnlich<br />

heißen Sommer entdeckt ein internationales Team von Wissenschaftlern<br />

unterschiedlicher Fachrichtungen auf einer Nekropole in der<br />

Nähe von Troja ein ungewöhnliches Grab mit den Überresten einer Frau. Die<br />

Forscher vermuten, dass sie einen sensationellen Fund gemacht haben: die<br />

Knochen der mythischen Polyxena. Es stellt sich jedoch heraus, dass das<br />

Skelett durchaus modern ist. Die Wissenschaftler sind nicht nur frustriert,<br />

sondern auch entsetzt, denn jemand fängt an, nach dem Muster antiker<br />

Überlieferungen in Troja Frauen zu morden.<br />

Der Roman von Guzowska verzaubert vor allem aus zwei Gründen. Zum einen<br />

ist man von der Szenerie hingerissen: der Roman spielt in der Türkei und die<br />

Autorin beschreibt vor dem Hintergrund der Intrige das heutige Land, aus<br />

der Sicht eines westlichen Besuchers. Zum anderen fasziniert der Protagonist<br />

(und gleichzeitig der Erzähler der Story): der brillante Anthropologe<br />

Mario Ybl.<br />

Es ist schwer, diese Figur in wenigen Worten zu beschreiben. Ybl ist eine<br />

Kreuzung aus Adrian Monk, Indiana Jones und Philipp Marlowe, ein „Säufer,<br />

Possenreißer und Zyniker“, wie er sich selbst charakterisiert. Ein Mann mit<br />

einem ausgesprochen losen Mundwerk und der Gabe, sich die Menschen zu<br />

Feinden zu machen; ein unangepasster Typ, der stets nur das tut, war er will,<br />

ohne Rücksicht auf jegliche Regeln.<br />

Ybl leidet unter Nyctophobie, der krankhaften Angst vor der Dunkelheit,<br />

und er bändigt diese Angst auf die denkbar einfachste Art, indem er sich<br />

abends bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt. Er ist ein einsamer Wolf, der<br />

letztlich – auf eigene Faust und unter zahlreichen Gefahren – das Rätsel der<br />

Morde klären wird.<br />

Robert Ostaszewski<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


45<br />

Wenn<br />

euch jemand erzählen sollte, dass die Arbeit eines<br />

Archäologen spannend sei, könnt ihr ihn gleich auslachen.<br />

Spannend sind Filme mit Indiana Jones und<br />

Lara Croft. Wobei die letzteren sogar noch besser sind, wegen der ästhetischen<br />

Vorzüge von Angelina Jolie in Shorts. Die Archäologie ist so dermaßen langweilig,<br />

dass es einem den Magen umdreht.<br />

Ihr denkt bestimmt, dass das alles so romantisch ist: ein Archäologe in coolen<br />

Klamotten steht über einem Erdloch und schaut zu, wie immer weitere<br />

Hiebe mit einer Spitzhacke immer weitere Schichten von Ruinen vergangener<br />

Zivilisationen enthüllen. Tut mir Leid, wenn ich euch enttäuschen sollte, aber<br />

das ist kompletter Schwachsinn. Erstens: vergesst die Spitzhacke. Die meiste<br />

Arbeit auf einer Ausgrabung wird mit einer kleinen Spachtel und einem Pinsel<br />

ausgeführt. Wisst ihr, wie lange es unter solchen Bedingungen dauert, nicht<br />

eine Zivilisation, sondern auch nur einen blöden kaputten Tonkrug auszugraben?<br />

Ihr wisst es nicht? Dann stellt es euch vor.<br />

Zweitens, meine werten Herrschaften: es gibt keine verborgenen Zivilisationen.<br />

Sie wurden allesamt schon längst entdeckt, katalogisiert und mit Laufzetteln<br />

versehen. Die Archäologie ist ungefähr genauso romantisch wie die<br />

Buchhaltung. Auch die Arbeit sieht ähnlich aus, denn sie besteht aus dem<br />

Notieren von Hunderten und Tausenden von Nummern. Nummern von Erdschichten,<br />

Nummern von Objekten, Nummern von Scherben, Nummern von<br />

Was-Auch-Immer, verdammt noch mal. Diese Nummern werden später in<br />

eine Datenbank eingearbeitet, analysiert, und anschließend wird ein Bericht<br />

verfasst, der so viel Romantik enthält wie die Quartalsabrechnung eines Zeitungskiosks.<br />

Außerdem fällt es einem normalen Menschen schwer, einen Arbeitstag zu<br />

ertragen, der mit Aufstehen um fünf beginnt, noch vor Sonnenaufgang, und<br />

der lange nach Mitternacht in einem Besäufnis endet – einen Tag, der voller<br />

unendlicher Stunden in der heißen Sonne ist, in einer Hitze, die durch die<br />

Genfer Konvention verboten werden sollte. Ich sage nur eines: wenn irgendein<br />

Gefangener, egal ob ein Politischer oder ein stinknormaler Krimineller, unter<br />

solchen Bedingungen arbeiten müsste, hätte Amnesty International schon<br />

längst eingegriffen.<br />

Heute war es genauso wie gestern, vorgestern und an jedem der beschissenen<br />

letzten vierzehn Tage. Die Sonne brannte wie ein atomarer Scheiterhaufen<br />

und der Himmel, von der Farbe und dem Gewicht wie flüssiges Blei, hing zwei<br />

Zentimeter über meinem armen Kopf. Die Erde erhitzte meine Füße durch die<br />

dicken Schuhsohlen hindurch. Nicht einmal der Wind brachte Linderung,<br />

sondern verbrannte die Haut und trieb mir Staub in den Rachen.<br />

Die Bäume waren schon längst zu raschelnden Skeletten geworden, der<br />

Fluss zu einem schlammigen Bachbett, und das Meer zu einem nach Algen<br />

stinkendem Brei. Hinter dem Vorhang aus vibrierender Luft schoben sich weiße<br />

Schiffe wie Gespenster durch den engen Hals der Dardanellen. Von dem<br />

Platz aus, an dem ich stehen geblieben war, um zu Atem zu kommen, konnte<br />

man nicht genau sehen, ob sie über das Wasser fuhren oder über die glühenden<br />

Felder marschierten. Ein feuchter Dunst verbarg die Inseln Bozcaada und<br />

Tavşan Adası. Nur abends fletschte die untergehende Sonne ihre Zähne und<br />

die Konturen der Eilande wurden lebendig, wie die Figuren aus Kamelhaut<br />

vor dem Seidenvorhang im türkischen Schattentheater.<br />

(…)<br />

Als mich Pola vor einem halben Jahr angerufen hatte, frühmorgens, schlief<br />

ich selbstverständlich noch.<br />

„Erzähl keinen Unsinn“, meinte sie. „Wie spät ist es eigentlich?“<br />

„Mmmm.“<br />

Ich versuchte, auf den Wecker zu schauen. Ich lupfte das Augenlid. Das<br />

Licht der Nachttischlampe blendete mich.<br />

„Egal. Du musst jetzt zuhören. Wir haben eine Nekropole. Die Bulldozer<br />

haben die Fundamente für irgendwelche Datschen gegraben und sind dabei<br />

direkt auf ein Grab gestoßen. Nicht in Troja selbst, zehn Kilometer weiter, an<br />

der Küste. Du weißt, was das bedeutet?“ Pola hielt einladend inne.<br />

„Eee …“<br />

Ich verzichtete auf einen erneuten Versuch, die Augen aufzumachen und<br />

tastete blindlings auf dem Nachtschränkchen herum, auf der Suche nach dem<br />

Wasserglas.<br />

„Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, was es zu bedeuten hat! Das bedeutet,<br />

dass es die Begräbnisstätte der Achaier sein könnte!“<br />

„Aha …“, murmelte ich.<br />

„Das erste Grab, das die Planierraupe zerstört hatte, war eine Urne. Also<br />

eine Feuerbestattung. Die Fotos sind ein bisschen undeutlich, aber alles<br />

spricht dafür, dass …“<br />

Sie verstummte.<br />

„Du weißt, wovon ich spreche, oder?“<br />

„Nein.“<br />

„Du Banause!“<br />

„Pola“, röchelte ich. „Rufst du mitten in der Nacht an, um mich zu beleidigen?<br />

Kannst du nicht bis um neun warten?“<br />

„Kann ich. Die Achaier kamen nach Troja, um die schöne Helena zurückzuholen.<br />

Der Trojanische Krieg, vielleicht sagt es dir etwas?“<br />

„Verdammte Scheiße!“<br />

Das Wasserglas tat genau das, was alle Gläser tun, wenn man sie im Dunkeln<br />

sucht: es fiel auf den Boden und zerstob in winzige Teilchen.<br />

„Genau!“ In Polas Stimme schwang Befriedigung mit. „Frank hat eine Lizenz<br />

und hat mir versprochen, dass ich die Grabung leiten werde. Im ganzen<br />

Abschnitt der Begräbnisstätte. Begreifst du das?“<br />

„Klar.“<br />

„Und du weißt, worum es mir geht?“<br />

„Sicher.“<br />

„Und du weißt, welchen Frank ich meine?“<br />

„Sicher.“<br />

Ein Moment der Stille im Hörer.<br />

„Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, oder? Und es interessiert dich<br />

nicht einmal besonders. Oder irre ich mich?“<br />

„Nein.“<br />

Ein Moment der Stille.<br />

„Ich werde einen Anthropologen brauchen.“<br />

Mit zugekniffenen Augenlidern setzte ich mich auf den Bettrand und stellte<br />

die Füße auf dem kalten Fußboden ab. Von den Fenstern her zog es fürchterlich;<br />

ich konnte mich die ganze Zeit nicht aufraffen, sie abzudichten. Ich rieb<br />

mit den Handflächen über die Stoppeln in meinem Gesicht und räusperte<br />

mich ein paar Mal.<br />

„Was hat das mit mir zu tun?“<br />

„Im Juli. Oder Anfang August. Und ich möchte, dass du mindestens zwei<br />

Studenten mitbringst.“<br />

„Pola …“<br />

„Ehrlich gesagt hätte ich gerne jemanden von den höheren Semestern. Oder<br />

Doktoranden, damit du sie nicht ständig beaufsichtigen musst.“<br />

„Pola …“<br />

Es gelang mir endlich, ein Auge aufzumachen und einen Blick auf den Wecker<br />

zu werfen. Der rote Doppelpunkt zwischen der Zwei und der Dreißig<br />

pulsierte in einem hypnotischen, schläfrigen Rhythmus.<br />

„Pola, es ist halb drei Uhr. Morgens. Am siebten Januar.“<br />

Sie verstummte für einen Augenblick und sagte dann leise:<br />

„Ich dachte, du würdest dich freuen …“<br />

Also freute ich mich. Hatte ich eine andere Wahl?<br />

Aus dem Polnischen von Paulina Schulz<br />

W.A.B., WARSZAWA 2012<br />

123 × 195, 432 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7747-646-8<br />

TRANSLATION RIGHTS: W.A.B.<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


ADRESSEN DER VERLAGE<br />

UND AGENTEN<br />

CZARNE<br />

Wołowiec 11<br />

38-307 Sękowa<br />

phone: +48 18 351 00 70<br />

fax : +48 18 353 58 93<br />

redakcja@czarne.com.pl<br />

czarne.com.pl<br />

KARAKTER<br />

ul. Kochanowskiego 19/1<br />

31-127 Kraków<br />

redakcja@karakter.pl<br />

www.karakter.pl<br />

OFICYNA LITERACKA NOIR SUR BLANC<br />

ul. Frascati 18<br />

00-483 Warszawa<br />

phone: +48 22 625 19 55<br />

fax: +48 22 625 08 12<br />

redakcja@noir.pl<br />

www.noir.pl<br />

RITA BAUM<br />

Box 971<br />

50-950 Wrocław 68<br />

redakcja@ritabaum.pl<br />

www.ritabaum.pl<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI<br />

W.A.B.<br />

ul. Usypiskowa 5<br />

02-368 Warszawa<br />

phone / fax: +48 22 646 05 10, +48 22 646 05 11<br />

b.woskowiak@wab.com.pl<br />

www.wab.com.pl<br />

WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ<br />

Ul. Nowy Świat 63<br />

00-042 Warszawa<br />

phone: +48 22 505 66 90<br />

fax: +48 22 505 66 84<br />

redakcja@krytykapolityczna.pl<br />

www.krytykapolityczna.pl<br />

WYDAWNICTWO LITERACKIE<br />

ul. Długa 1<br />

31-147 Kraków<br />

phone: +48 12 619 27 40<br />

fax: +48 12 422 54 23<br />

j.dabrowska@wydawnictwoliterackie.pl<br />

www.wydawnictwoliterackie.pl<br />

ZNAK<br />

ul. Kościuszki 37<br />

30-105 Kraków<br />

phone: +48 12 619 95 01<br />

fax: +48 12 619 95 02<br />

rucinska@znak.com.pl<br />

www.znak.com.pl<br />

Weltbild Polska LTD<br />

ul. Hankiewicza 2<br />

02-103 Warszawa<br />

phone: +48 22 517 50 18<br />

agata.pieniazek@weltbild.pl<br />

www.weltbild.pl<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis


DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT / INSTYTUT KSIĄŻKI<br />

ul. Szczepańska 1<br />

PL 31-011 Kraków<br />

Tel. : +48 12 433 70 40<br />

Fax : +48 12 429 38 29<br />

office@bookinstitute.pl<br />

Warschauer Filiale des Polnischen Buchinstitutes<br />

Pałac Kultury i Nauki<br />

Pl. Defilad 1, IX piętro, pok. 911<br />

PL 00-901 Warszawa<br />

Tel. : +48 22 656 63 86,<br />

Fax : +48 22 656 63 89<br />

warszawa@instytutksiazki.pl<br />

Warszawa 134, P.O. Box 39<br />

©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2012<br />

Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph<br />

Übersetzung: Olaf Kühl, Joanna Manc, Lisa Palmes, Antje Ritter-Jasińska,<br />

Paulina Schulz, Benjamin Voelkel, Thomas Weiler<br />

Weitere Informationen über die polnische Literatur auf:<br />

www.bookinstitute.pl<br />

Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel<br />

New Book From Poland Fall 2012 kann über<br />

das Buchinstitut bezogen werden.<br />

Graphik und Satz:<br />

Studio Otwarte, Krakau<br />

studiotwarte<br />

www.otwarte.com.pl<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!