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Untitled - Instytut Książki

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13<br />

Die Gleise<br />

verschwanden im Wald hinter der<br />

Kurve.<br />

Hinter der Kurve begann die Welt.<br />

Durch die Welt fuhr man mit dem Zug bis nach Wrocław. Hinter Wrocław<br />

begann das Universum.<br />

Das Universum war von einem eisernen Vorhang in zwei ungleiche Teile<br />

geteilt.<br />

Die Hauptstadt des Universums von Olek Walewski war Moskau. Was die<br />

Hauptstadt des zweiten Universums war, war nicht so ganz klar. Die Amerikaner<br />

meinten, es sei Washington, aber die standen ja auf dem Kopf. Die<br />

Franzosen erklärten, es sei Paris, aber die aßen jeden Tag Frösche und Schnecken.<br />

Die Engländer beharrten darauf, es sei London. Was für ein lustiger<br />

Einfall. Olek Walewski konnte ihre Inselchen unter einem kleinen Tintenfass<br />

verschwinden lassen.<br />

Die Welt wurde von Buchen, Hainbuchen und Eichen, auch von Fichten<br />

und Tannen verdeckt. Einmal kletterte Olek Walewski auf die höchste Eiche.<br />

Das Wetter war kristallklar, wie die Oma bemerkte. Die Kokereien qualmten<br />

nicht, weil es einen Unfall gegeben hatte. Olek dachte sich, dass er unter so<br />

glücklichen Umständen nicht nur die Hügel Gedymina und Sobótka würde<br />

sehen können, sondern auch die Schneekoppe, auf der die Grenze verlief. Und<br />

wenn er schon die Schneekoppe sehen würde, dann auch den eisernen Vorhang,<br />

denn schließlich musste dieser Vorhang bis zum Himmel hinaufreichen.<br />

Es war überhaupt nicht klar, ob der eiserne Vorhang bis zum Himmel hinaufreichte,<br />

oder nur bis zu den erstbesten Wolken. Mietek Szczęsny meinte,<br />

dass er nur bis zu den ersten Wolken gehe. Denn wenn er bis zum Himmel<br />

hinaufreichen würde, dann müsste es in ihm irgendwelche Schleusen oder so<br />

geben, damit die Flugzeuge hindurchfliegen konnten.<br />

Es war auch nicht klar, wie weit dieser Vorhang nach unten ging. Ob er nur<br />

die Erde berührte. Oder ob er sich auch tief in sie eingegraben hatte. Denn<br />

wenn er sich eingegraben hatte, dann brauchte man unbedingt eine Pionierschaufel,<br />

um einen Gang darunter hindurchzugraben.<br />

Die Oma von Olek Walewski war der Meinung, dass der Vorhang nicht<br />

besonders hoch sei und dass man ihn wie einen Eisberg bezwingen könne, und<br />

sie überredete die anderen, sich mit Seilen und Haken einzudecken.<br />

Ihre Flitterwochen hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Chamonix verbracht,<br />

und dort hatte sie gesehen, wie angeseilte Alpinisten den Gletscher<br />

Bosson bezwangen. Sie hatten Spezialschuhe. Solche mit hervorstehenden<br />

Nägeln. Die Oma bestand darauf, dass sich alle vor der Expedition hinter<br />

den Vorhang die Schuhe mit Nägeln beschlügen. Und dass diese Nägel extra<br />

hervorstünden.<br />

Mietek Szczęsny und Franka Salatycka stimmten für die Pionierschaufel.<br />

Gegen die Seile und extra beschlagenen Schuhe.<br />

Erstens: Sie hatten keine Schuhe, nur Latschen mit Gummisohle.<br />

Zweitens: Interessant, wie Frau Walewska Senior am Eisen hinaufklettern<br />

wollte, selbst wenn es ein wenig rau war. Denn vermutlich war es rau, wo es<br />

doch die Sonnenstrahlen nicht so stark reflektierte, dass der Widerschein in<br />

Leśny Brzeg zu sehen war. Dieser Widerschein hätte einen geblendet und geleuchtet<br />

wie Schnee, und Olek Walewski blendete nichts, auch leuchtete ihm<br />

nichts entgegen, als er auf jener allerhöchsten Eiche saß.<br />

Der eiserne Vorhang hatte sich einige Monate vor dem Referendum gesenkt.<br />

Genau am fünften März 1946.<br />

Olek Walewski hockte gerade auf der Baustelle und beobachtete den Vorfrühling.<br />

Der Vorfrühling sah aus wie Frau Pitkowa im Morgenmantel, wenn<br />

sie morgens die Asche auf den Müll brachte. Unter dem Morgenmantel waren<br />

ihre gebräunten, rissigen Fersen und ein zerschlissenes, schmutzig graues<br />

Nachthemd zu sehen. Die von der ständigen Dauerwelle versengten Haare<br />

ragten im Wind empor wie ausgebleichtes, trockenes, knacksendes Unkraut.<br />

Frau Pitkowa atmete durch den Mund. Ihr halb geöffneter Mund zeigte<br />

schwarze Zähne. Der Mund und die Zähne sahen aus wie eine Baugrube.<br />

Die Baustelle, das waren Erdhaufen und eine Grube neben dem Mietshaus.<br />

Das waren mitsamt den Wurzeln ausgerissene und auf einen Haufen geworfene<br />

Bäume. Backsteine und Säcke mit versteinertem Zement. Zigarettenstummel,<br />

verdorrtes Gras und ein rostiger Bagger mit hoch erhobener Schaufel. Die<br />

Schaufel ähnelte einem Galgen.<br />

Unter dem Galgen standen zwei Hütten. Eine für Hunde und eine für<br />

Menschen. In der Hundehütte kläffte, ohne dass sie herauskam, tagelang eine<br />

schwarze Hündin. Nachts heulte sie, angeblich knabberte sie an ihren eigenen<br />

Pfoten. Das sagte der Wächter, und er gab ihr den Namen Fiśka.<br />

Der Wächter wohnte in der Hütte für Menschen. Er hatte einen Karabiner<br />

und ein Radio. Die Hütte hatte keine Fenster. Nur Ritzen in der Verschalung.<br />

In der Hütte stand eine Liege. Es gab darin elektrisches Licht.<br />

Der Wächter saß oft vor der Hütte für Menschen und hörte zu, wie Fiśka<br />

bellte. Manchmal schnappte er sich den Karabiner und schwor: „Es wird der<br />

Tag kommen, an dem ich dich umlege, du Dreckstöle.“<br />

Er hörte auch Radio. Er war der Meinung, dass alle Bewohner des Mietshauses<br />

Radio hören sollten. Weil man im Radio erfahren kann, wer fremd ist,<br />

und wer dazugehört. Und Fremden ist das Betreten der Baustelle verboten.<br />

Spionen zum Beispiel. Und jeder Spion ist ein Fremder. Auf einen Fremden<br />

muss man den Karabiner anlegen wie auf Fiśka und laut ausrufen: Halt, wer<br />

da, du Spion!<br />

Niemand wusste, wie der Wächter hieß. Es war komisch, eine Amtsperson<br />

nach dem Vornamen, Nachnamen und Geburtsort zu fragen wie beim Verhör.<br />

Als Olek Walewski genau am fünften März 1946 neben der Hütte für<br />

Menschen hockte und den Vorfrühling beobachtete, schaltete der namenlose<br />

Wächter das Radio ein. Fiśka begann zu bellen, und das Radio bummerte<br />

plötzlich los – bumm, bumm, bumm, bumm – und stellte sich um: „Hier<br />

spricht Radio London. Olek wunderte sich, dass der Wächter ein englisches<br />

und kein Radio von den Deutschen hatte, und als er sich genug gewundert<br />

hatte, hörte er in diesem englischen Radio, dass sich ein eiserner Vorhang auf<br />

die Erde gesenkt hatte. Einmal quer über den europäischen Kontinent.<br />

Daraus ging hervor, dass sich solche Hauptstädte wie Warschau, Berlin, Sofia,<br />

Prag oder Budapest und Bukarest vor diesem eisernen Vorhang befanden –<br />

auf der Seite Moskaus. Und der Rest des Universums hinter dem Vorhang war.<br />

Olek Walewski sprang auf, denn das war eine Hiobsbotschaft. Hals über<br />

Kopf lief er zur Oma, um ihr die Hiobsbotschaft zu überbringen. Unterwegs<br />

wiederholte er für sich, wer und wo entdeckt hatte, dass dieser Vorhang niedergegangen<br />

war: und zwar ein gewisser Churchill in der Ortschaft Fulton.<br />

Die Oma versteckte sich leider schon wieder. Er suchte sie an den üblichen<br />

Stellen – hinter der verzinkten Wanne im Flur, in der Wohnung unter dem<br />

Bett, hinter dem Schrank, aber er fand sie nicht.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel<br />

ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2012<br />

135 × 215, 272 PAGES<br />

ISBN: 978-83-273-0040-9<br />

TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI<br />

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