Untitled - Instytut KsiÄ Å¼ki
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Sumpflein<br />
ist kein typisches Dorf. Hier gibt es<br />
keine Bauernhütten oder Scheunen,<br />
eher solide mehrstöckige Häuser mit<br />
Thujen vor den Eingängen und gepflegten Rasen auf der Rückseite. Niemand<br />
züchtet hier Kühe, die Männer fahren täglich mit ihren eigenen Autos in die<br />
nah gelegene Stadt zur Arbeit, die Frauen kümmern sich für gewöhnlich um<br />
den Haushalt. Obwohl die Böden hier feucht sind, an manchen Stellen geradezu<br />
sumpfig, wächst die Bevölkerung stetig, da die Gegend als die schlesische<br />
Enklave der Ruhe, der Natur und der sauberen Luft bekannt ist. Im Dorf gibt<br />
es einen Gasthof und ein Kulturhaus, und viele der zweitausend Einwohner<br />
nutzen regelmäßig die Ortsbibliothek, die selbst an Samstagen geöffnet hat.<br />
In der Geschichte der Bibliothek von Sumpflein gab es zwei Bücherhits; das<br />
erste Mal gegen Ende der 1990er Jahre. Damals handelte es sich um die deutsche<br />
Reportagen-Erzählung Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter, die von<br />
der Journalistin Karin Jäckel in enger Zusammenarbeit mit der Titelheldin<br />
herausgegeben wurde. Monika B., eine über dreißigjährige Deutsche, enthüllte<br />
darin die Wahrheit über ihre Kindheit; über ihren Vater, der sie zehn Jahre<br />
lang regelmäßig vergewaltigte und den Söhnen zum Vergewaltigen überließ,<br />
sowie über die Mutter, die die Augen davor verschloss.<br />
’Für Monika’ trugen sich die Einwohner von Sumpflein auf einer Warteliste<br />
in der Bibliothek ein. Danach stellte so mancher fest, es sei das erschütterndste<br />
Buch gewesen, das er in seinem Leben gelesen habe. Die Bibliotheksleiterin<br />
erinnert sich an die allgemeine Solidarität, die der jungen Frau entgegengebracht<br />
wurde, an das Wettern gegen die Eltern: „Solche gehören mit dem Tod<br />
bestraft“, und an die Kommentare: „Wie war so etwas in der zweiten Hälfte<br />
des zwanzigsten Jahrhunderts möglich, in diesem – wie man meinen könnte<br />
– zivilisierten Deutschland?!“<br />
Zehn Jahre später kam der zweite Bücherhit heraus. Diesmal war es das polnische<br />
Buch Kato-tata. Nie-pamiętnik (Henker-Vater. Nicht-Erinnerungen),<br />
deren Autorin eine gewisse Halszka Opfer war.<br />
Auch bei diesem Buch handelte es sich um Tatsachenliteratur, und es erzählt<br />
eine ähnliche Geschichte wie die von Monika B. Die Autorin beschließt als<br />
reife Frau, sich ihre Vergangenheit genau anzuschauen. Sie beschreibt, wie sie<br />
über zwanzig Jahre die Geliebte des eigenen Vaters war. Laut Halszka hatte der<br />
Vater nicht nur sie zum Sex gezwungen, sondern auch ihre Geschwister und<br />
die Mutter körperlich und psychisch misshandelt. Er hatte zum Beispiel die<br />
Angewohnheit, seine Frau zu ’erziehen’, indem er sich in ihre Handtasche oder<br />
auf das nicht abgewaschene Geschirr entleerte. Sie hingegen brachte abends<br />
die gebadete und in ein Handtuch eingewickelte Halszka, die gerade ein paar<br />
Jahre alt war, zu ihm ins Bett und zog sich diskret in ein anderes Zimmer<br />
zurück.<br />
Auch ’Halszka’ haben fast alle in Sumpflein gelesen, und man musste sich<br />
wieder auf eine Warteliste setzen lassen. Und auch diese Bekenntnisse riefen<br />
große Emotionen hervor. Doch die Haltung gegenüber der Heldin war eine<br />
völlig andere als beim ersten Buch.<br />
Das, was die zwei Bücher vor allem unterscheidet, fasste die Bibliothekarin<br />
nach einiger Überlegung zusammen, ist die Tatsache, dass Monika B. in<br />
Deutschland wohnt und niemand hier sie persönlich kennt. Dagegen wissen<br />
alle im Dorf, dass sich hinter dem Pseudonym Halszka Opfer die eigene Nachbarin<br />
und langjährige Einwohnerin von Sumpflein verbirgt.<br />
Ich habe Halszka Opfer im Winter 2008 kennengelernt, als ich ein Interview<br />
zu ihrem Buch mit ihr führte. Schon damals machte mich, mehr als<br />
der degenerierte Vater, die Gestalt der Mutter neugierig: eine Frau, die unerschütterlich<br />
die Fakten verdrängte, Dinge rationalisierte, die – könnte man<br />
meinen – unmöglich zu rationalisieren sind, die jedoch dabei nicht für einen<br />
Moment aus ihrer Rolle als polnische Mutter, Christin und gute Hausfrau<br />
fiel. Für mich war es unvorstellbar, wie die zwei Frauen miteinander reden<br />
konnten, in einem Moment, als der Verfolger schon nicht mehr lebte, als es<br />
also niemanden mehr gab, vor dem sie sich hätten fürchten müssen und das<br />
Buch bereits erschienen war.<br />
Als ich zwei Jahre später nach Sumpflein zurückkehrte, nahm ich wieder<br />
Kontakt mit Halszka auf, und überredete sie, mich mit ihrer Mutter bekannt<br />
zu machen. Darauf fragte sie, ob ich mich einer delikaten Mission annehmen<br />
könnte, und diese Mission wurde zum Kern meiner Erzählung.<br />
Halszka Opfer bekam nach dem Erscheinen ihres Buchs viel Unterstützung<br />
und man bewunderte sie. Dank ihr haben viele Frauen den Mut gefunden,<br />
über den eigenen Missbrauch laut zu reden und sich damit von der Scham<br />
und dem Gefühl der Schuld zu befreien, die so erfolgreich die Täter schützen.<br />
Die Sache ist nur die, dass für all diese Personen Halszka als Person genauso<br />
weit weg ist wie Monika B. aus dem deutschen Buch für die Einwohner von<br />
Sumpflein.<br />
Ich wollte wissen, was Halszkas Buch in ihrem näheren Umfeld verändert<br />
hat. Ich wollte wissen, wie man im Alltag mit jemandem lebt, der sich selbst<br />
den Namen ‚Opfer’ gegeben hat. Deshalb habe ich außer der Mutter noch ein<br />
paar andere Personen aus Halszkas Umfeld besucht und sie gebeten, mir zu<br />
erzählen, wie sie die Autorin und ihr Buch sehen.<br />
Auf ihren Wunsch nenne ich keine Nachnamen und nicht die wirklichen<br />
Vornamen oder andere Details, die dazu führen könnten, dass man die Personen<br />
außerhalb ihrer Familie oder Nachbarschaft erkennen könnte. Ich behielt<br />
Halszkas Pseudonym bei, um vor allem ihre Mutter und ihre Geschwister zu<br />
schützen. Für andere Angehörige aus ihrer Familie, die in meinem Buch auftreten,<br />
habe ich die Namen übernommen, die Halszka in Kato-tata (Henker-<br />
Vater) und Monidło (Retusche), das 2011 herauskam, verwendet hatte. Für die<br />
übrigen Personen habe ich mir die Namen ausgedacht. Ich werde auch den<br />
wirklichen Namen von Sumpflein nicht preisgeben, sowie von Kormoranów,<br />
dem Heimatort von Halszka, wo ihre Mutter, Frau Karolina, immer noch<br />
wohnt – eine Frau, die von niemandem mit dem Namen Opfer oder mit irgendeinem<br />
Buch in Verbindung gebracht wird. Höchstwahrscheinlich.<br />
Aus dem Polnischen von Joanna Manc<br />
CZARNE, WOŁOWIEC 2012<br />
125 × 195, 144 PAGES<br />
ISBN: 978-83-7536-364-7<br />
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />
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