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Neue Bücher - Instytut Książki

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<strong>Neue</strong> <strong>Bücher</strong><br />

AUS POLEN<br />

N0<br />

52.<br />

WIESŁAW MYŚLIWSKI<br />

JERZY PILCH<br />

IGNACY KARPOWICZ<br />

JUSTYNA BARGIELSKA<br />

PAWEŁ POTOROCZYN<br />

HUBERT KLIMKO-DOBRZANIECKI<br />

BEATA CHOMĄTOWSKA<br />

JAN KRASNOWOLSKI<br />

PIOTR PAZIŃSKI<br />

ANDRZEJ STASIUK<br />

ARTUR DOMOSŁAWSKI<br />

KATARZYNA PAWLAK<br />

WOJCIECH TOCHMAN<br />

ANGELIKA KUŹNIAK<br />

FILIP SPRINGER<br />

MAŁGORZATA REJMER<br />

WITOLD GOMBROWICZ<br />

WISŁAWA SZYMBORSKA<br />

CZESŁAW MIŁOSZ<br />

MAŁGORZATA I. NIEMCZYŃSKA


DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT<br />

INSTYTUT KSIĄŻKI<br />

Ul. Szczepańska 1<br />

PL 31-011 Kraków<br />

Tel: +48 12 433 70 40<br />

Fax: +48 12 429 38 29<br />

office@bookinstitute.pl<br />

Warschauer Filiale<br />

des Polnischen Buchinstitutes<br />

Pałac Kultury i Nauki<br />

Pl. Defilad 1, IX piętro, pok. 911<br />

PL 00-901 Warszawa<br />

Tel: +48 22 656 63 86,<br />

Fax: +48 22 656 63 89<br />

warszawa@instytutksiazki.pl<br />

Warszawa 134, P.O. Box 39


ADRESSEN DER VERLAGE<br />

UND AGENTEN<br />

AGENCE LITTÉRAIRE<br />

PIERRE ASTIER & ASSOCIÉS<br />

142, rue de Clignancourt<br />

750018 Paris<br />

T: +33 (0)1 53 28 14 52<br />

pierre@pierreastier.com<br />

www.pierreastier.com<br />

GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL<br />

ul. Foksal 17<br />

00-372 Warszawa<br />

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F: +48 22 380 18 01<br />

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www.gwfoksal.pl, www.wab.com.pl<br />

THE WYLIE AGENCY<br />

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London WC1B 3JA<br />

T: +44 020 7908 5900<br />

F: +44 020 7908 5901<br />

mail@wylieagency.co.uk<br />

www.wylieagency.com<br />

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00-732 Warszawa<br />

T: +48 22 555 60 00, +48 22 555 60 01<br />

F: +48 22 555 48 50, +48 22 555 47 80<br />

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31-127 Kraków<br />

debowska@polishrights.com<br />

www.polishrights.com


AUSGEWÄHLTE<br />

PROGRAMME<br />

DES BUCHINSTITUTS<br />

DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND<br />

ÜBERSETZERKOLLEGIUM<br />

Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur<br />

zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen<br />

Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere<br />

Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur,<br />

Sachbücher.<br />

Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden,<br />

die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine<br />

fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben<br />

wollen.<br />

Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten<br />

finanziert werden:<br />

• bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs<br />

• bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes<br />

aus dem Polnischen.<br />

Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit<br />

mit dem Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität<br />

durchgeführt. Es richtet sich an Übersetzer polnischer<br />

Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur<br />

oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne<br />

übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte<br />

in Krakau.<br />

TRANSATLANTIK<br />

Transatlantik ist der alljährlich von dem Buchinstitut vergebene<br />

Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung<br />

der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der<br />

Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer,<br />

Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden.<br />

SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND<br />

Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer<br />

polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische<br />

Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische<br />

<strong>Bücher</strong> ausländischen Verlegern zu präsentieren.<br />

Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung.<br />

Die Bewerbungsformulare beider Programme können<br />

postalisch beim Buchinstitut in Krakau angefordert, oder<br />

von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen<br />

werden.<br />

KONTAKT:<br />

Das Polnische Buchinstitut<br />

ul. Szczepańska 1<br />

PL 31-011 Kraków<br />

E-mail: office@bookinstitute.pl<br />

Phone: +48 12 433 70 40<br />

Fax: +48 12 429 38 29<br />

www.bookinstitute.pl<br />

Direktor des Polnischen Buchinstituts:<br />

Grzegorz Gauden


WIESŁAW<br />

MYŚLIWSKI<br />

ENDSPIEL<br />

Wiesław Myśliwski (geb. 1932), Schriftsteller, Essayist,<br />

Dramaturg. Er debütierte 1967 mit dem<br />

Roman „Nagi sad”, drei Jahre später veröffentlichte<br />

er „Pałac”. Er ist der Autor eines der wichtigsten<br />

polnischen Nachkriegsromane „Kamień na<br />

kamieniu“ (1984). Er veröffentlicht selten, meistens<br />

im Abstand von 10 Jahren. Er erhielt zweimal<br />

den renommierten Nike-Preis – für die Romane<br />

„Widnokrąg“ (1996) und „Traktat o łuskaniu fasoli“<br />

(2006).<br />

In seinem Roman „Endspiel” verwendet der Schriftsteller erneut<br />

seine bevorzugte narrative Form: den sich über den ganzen<br />

Text erstreckenden inneren Monolog eines namenlosen<br />

Protagonisten, der am Ende seines Lebens mit seiner Biographie<br />

abzurechnen versucht. In diesen weitläufigen Monolog<br />

schneiden sich Reminiszenzen hinein, Bilder und Szenen aus<br />

der Vergangenheit, die ohne Rücksicht auf die Chronologie<br />

eingebaut werden. Diese zerstreuten Stücke sind meist dramatisiert,<br />

in dialogischer Form.<br />

Ein Novum ist das Auftauchen eines Liebesmotivs. Der<br />

Monolog wird ergänzt durch Briefe, die die alte Jugendliebe<br />

des Protagonisten, Maria, ihm durch die Jahrzehnte geschrieben<br />

hat. Eigentümlich ist, dass der Protagonist des „Endspiels“<br />

auf keinen dieser Briefe geantwortet hat – obwohl sie alle voller<br />

Emotionen und Leidenschaft waren, obwohl ihm Maria<br />

ewige Liebe geschworen hat.<br />

Während der Lektüre entdeckt der Leser, dass diese Grausamkeit<br />

Maria gegenüber eine tiefere Motivation hat: Der<br />

Protagonist hängt obsessiv an der Idee der Freiheit. Er hatte<br />

mehrmals und absichtlich Berufe und Wohnorte gewechselt,<br />

nie ein Haus oder Möbel besessen (aus freier Entscheidung<br />

lebte er lediglich in möblierten, gemieteten Wohnungen) und<br />

war niemals eine längere Beziehung eingegangen.<br />

Er spricht davon, dass er „sich selbst freiwillig von allem<br />

enterbt hatte”, und stellt sich die Frage: „Im Namen wessen?<br />

Der Freiheit? Unsinn. Es sei denn, man begreift die Freiheit<br />

als eine permanente Flucht vor sich selbst.” Die grausamste<br />

seiner Fluchten war die vor Maria – die dümmste die Flucht<br />

vor der Malerei und seinem Talent.<br />

Er war ein vielversprechender Maler, doch er gab sein Studium<br />

an der Akademie der Schönen Künste auf und begann<br />

eine Lehre als Schneider. Diese Wahl war, wie alles in seinem<br />

Leben, zufällig und flüchtig. Aber liegt dem Leser hier eine<br />

Erzählung über ein schlimmes Schicksal, ein verpfuschtes<br />

Leben vor? Mitnichten.<br />

Was bedeutet denn ein gelungenes oder nicht gelungenes<br />

Leben? Was ist das Leben an sich? Solcher Art Fragen – elementare,<br />

endgültige, mit philosophischem Anspruch – findet<br />

man in diesem Buch viele. Auch wenn es pathetisch klingt:<br />

Myśliwski versucht, den Sinn des Lebens und das Geheimnis<br />

der menschlichen Existenz zu durchdringen, ohne dabei jedoch<br />

endgültige Wahrheiten zu formulieren oder eindeutige<br />

Antworten zu geben.<br />

Es wäre wichtig, auf den Titel des Romans einzugehen.<br />

Der Held des Buches ist leidenschaftlicher Kartenspieler; am<br />

liebsten spielte er Poker mit dem Schuster Mateja; doch seine<br />

wichtigste Partie spielt er auf dem Friedhof – man kann es gar<br />

nicht anders verstehen – mit dem Geist Matejas.<br />

Im gewissen Sinne hebt der Autor die bedrohliche Bedeutung<br />

des Wortes „Ende“ im Titel wieder auf, was seine völlige<br />

Bestätigung im Finale des Werkes finden wird:<br />

Der letzte Brief Marias, einer lebensmüden alten Dame,<br />

informiert den Protagonisten über ihre Absicht, Selbstmord<br />

zu begehen. Dieser Abschiedsbrief ist jedoch keinesfalls der<br />

letzte – was sich nicht nur dadurch erklärt, dass Maria von<br />

ihrem Plan zurückgetreten war. Woher sie ihn abschickte, ist<br />

leicht zu erraten.<br />

Es ist schwer, eine schönere Coda für ein ergreifendes Liebeslied<br />

zu finden, als sie Myśliwski im „Endspiel“ anstimmt:<br />

Das Paar, das im Leben keine Erfüllung fand, findet sich im<br />

Jenseits, unter ungleich angenehmeren Bedingungen; dort,<br />

wo die vergehende Zeit keine Bedeutung hat, wo Jugend und<br />

Schönheit keine Rolle spielen.<br />

WIESŁAW MYŚLIWSKI<br />

„OSTATNIE ROZDANIE”<br />

ZNAK, KRAKÓW 2013<br />

140×205, 448 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-2780-4<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

ZNAK<br />

Dariusz Nowacki


ENDSPIEL<br />

ÜBER DEM SEE<br />

lag um diese frühe Zeit ein Nebel, der stellenweise so dicht<br />

war, dass man – wenn man vom hohen Ufer hinunterschaute<br />

– mit dem Blick den unten liegenden Wasserspiegel nicht<br />

erfassen konnte. Erst als die auf der anderen Seite, am gegenüberliegenden<br />

Ufer aufgehende Sonne begann, den<br />

Nebel zu durchdringen, tauchte der See allmählich aus der<br />

Tiefe auf. Es war etwas Einzigartiges in dieser Sonne, die<br />

sich so hartnäckig durch den Nebel kämpfte – der sich dabei<br />

zusammenzog, als würde er sich wehren. Vielleicht habe<br />

ich aber mittlerweile vergessen, wie die Sonne aufgeht, und<br />

ich entdeckte es in diesem Moment aufs <strong>Neue</strong>. Wann habe<br />

ich wohl zum letzten Mal den Sonnenaufgang gesehen, versuchte<br />

ich mich zu erinnern. Es musste schon so lange her<br />

sein, dass der Gedächtnisfaden abgerissen war.<br />

Ich bedauerte, dass ich nicht mehr malte. Würde ich<br />

malen, würde ich die Staffelei am Ufer aufstellen und versuchen,<br />

diese Sonne auf Leinwand zu übertragen. Ich hätte<br />

sogar einen Titel: „Die Geburt der Sonne“. Sie war beinahe<br />

lichtlos, der Strahlen und ihrer Wärme beraubt, verdünnt<br />

durch den Nebel, der sie aus der Welt heraussaugte; so<br />

dass nicht einmal die Erde stark genug war, ihr zu helfen.<br />

Ich spürte den Schmerz der Sonne, ihre unglaubliche Anstrengung,<br />

wenn sie sich selbst auf diese Welt presste. Es<br />

schien mir, als würde sie die ganze Erde mit sich reißen,<br />

zusammen mit diesem bodenlosen, endlosen Nebel. Und<br />

ich war geradezu erleichtert, als sie sich endlich freigekämpft<br />

hatte. Danach wanderte sie in einem breiten Band<br />

über den Wald, der wie speziell für sie herausgeschlagen<br />

worden war, damit sie nichts mehr auf ihrem Weg zum See<br />

aufhalten konnte. Sie erreichte auf der anderen Seite das<br />

Ufer und tauchte dort ein, wusch ihre Qualen ab. Und dann<br />

wandelte sie über den Wasserspiegel, offenbar auf uns zu,<br />

zerschnitt den Nebel mit ihren Strahlen, und ich spürte<br />

eine sonderbare Anspannung, die wohl jeder Erwartung<br />

inne wohnt. Ich wartete, bis sie an das hohe Ufer kam, wo<br />

ich mit meinem Oskar wartete. Er spürte wohl dasselbe,<br />

denn er ließ sich niemals fortziehen, bevor die Sonne so<br />

nahe an uns herangekommen war, dass ich sagen konnte:<br />

Ich danke dir, Sonne, dass du aufgegangen bist – und Oskar<br />

fröhlich bellte. Nach einigen Tagen zog er mich schon von<br />

alleine an dieses Ufer. Dort setzte er sich auf die Hinterpfoten<br />

und gab keinen Laut von sich, kein Winseln, Knurren<br />

oder Bellen. Er hob nur den Kopf und schaute mich beunruhigt<br />

an. Und wir warteten, bis die Sonne aufging. Erst,<br />

wenn sie an uns herangekommen war, ließ sich Oskar in<br />

den Wald führen.<br />

Auf der anderen Seite des Sees war ein Gebäude zu sehen,<br />

ein Ferienhaus oder eine Pension. Es schien viel größer


als das unsere, doch sogar in der vollen Sonne konnte man<br />

nichts weiter erkennen, außer, dass es da stand. Unsere<br />

Pension war nicht groß, man könnte sagen, bescheiden,<br />

aber die Anzeige in der Zeitung hatte mich gelockt: „Wo,<br />

wenn nicht hier, inmitten der Wälder, wollen Sie sich erholen?“<br />

Ich habe gedacht, dass es bestimmt nicht voll sein<br />

würde, denn wer sollte wegfahren zu einer Zeit, da die Blätter<br />

beinahe vollständig von den Bäumen gefallen sind und<br />

die Nächte kalt werden.<br />

Und tatsächlich: Außer mir wohnte dort nur der zuvor<br />

erwähnte Herr Dionizy. Wären die Besitzerin und ihr Sohn<br />

nicht gewesen (der zwei-drei Mal die Woche vorbeischaute,<br />

weil er woanders wohnte), hätte man meinen können,<br />

die Pension sei ausgestorben. Ich wohnte alleine im ersten<br />

Stock und Herr Dionizy im Erdgeschoss, weil er Schwierigkeiten<br />

mit dem Gehen hatte. Schwer stützte er sich auf<br />

seinen Stock, als ob er jeden Schritt mit Schmerzen bezahlen<br />

würde. Wahrscheinlich ging er gar nicht spazieren, zumindest<br />

habe ich ihn nie draußen gesehen, weder morgens<br />

noch nachmittags oder abends. Angeblich hatte er ein Auto<br />

voll mit <strong>Bücher</strong>n dabei. Der Sohn der Besitzerin (der die<br />

Versorgung der Pension und diverse Reparaturen besorgte,<br />

und im Herbst, so wie jetzt, das Laubrechen), erzählte,<br />

dass er zwei Mal gehen musste, um die <strong>Bücher</strong> ins Haus zu<br />

bekommen. Außerdem musste er jetzt auch noch Samstag<br />

Abend beinahe alle Zeitungen und Zeitschriften der ganzen<br />

Woche zusammensuchen und sie Herrn Dionizy vorbei<br />

bringen.<br />

Ich überlegte, wann er Zeit hatte zu schreiben, wenn er<br />

das alles las. Er hatte mir immer mal eine Zeitung oder eine<br />

Zeitschrift angeboten, in der, seiner Meinung nach, etwas<br />

Interessantes stand. Ich bedankte mich, sagte, ich würde<br />

es gerne lesen, aber dass ich ebenfalls zum Arbeiten her<br />

gekommen sei und keine Zeit habe. Außerdem bekam ich<br />

jedes Mal mit, wenn ich spazieren oder mit Oskar Gassi ging,<br />

dass Herr Dionizy Radio hörte. Entweder war er schwerhörig<br />

oder mochte es sehr laut, um nichts zu verpassen. Es gibt<br />

Menschen, die die Stille nicht vertragen, weil sie sich darin<br />

verlieren, wie im Nebel. Vielleicht ist für sie Stille gleichbedeutend<br />

mit Einsamkeit.<br />

Auch wenn ich schon ein gutes Stück von der Pension<br />

weg war, hörte ich das Radio noch. Abends wiederum, wenn<br />

die Nachrichten begannen, setzte sich Herr Dionizy regelmäßig<br />

in den Speiseraum vor den Fernseher. Er ließ keinen<br />

Tag aus, und oft schaute er bis tief in die Nacht. Nicht nur<br />

die Tagesschau, auch Talkshows, Pressekonferenzen, Kommentare,<br />

Interviews, er sprang zwischen den Sendern hin<br />

und her und drehte die Lautstärke so weit hoch, dass ich es<br />

noch hinter meiner Tür im ersten Stock hörte.<br />

Zugegeben: Er hatte er sich gefreut, als ich angekommen<br />

war. Er kam an seinem Gehstock herausgehumpelt und begrüßte<br />

mich herzlich, als hätten wir uns schon öfter in dieser<br />

Pension getroffen:<br />

„Ah, endlich jemand, mit dem man ein Wort wechseln<br />

kann. Ich heiße Sie hier hoffnungsvoll willkommen!“<br />

Schon am nächsten Tag beim Mittagessen (er verspeiste<br />

gerade das Hauptgericht), griff er sich seinen Teller und<br />

Besteck und setzte sich an meinen Tisch.<br />

„Sie erlauben? Es isst sich so schlecht alleine. Für wie lange<br />

sind Sie hergekommen?“<br />

Am nächsten Tag überreichte er mir seine Visitenkarte:<br />

„Da steht auch die Mobilnummer. Ich gebe sie nur vertrauenswürdigen<br />

Menschen. Sollten Sie in meiner Stadt<br />

sein, besuchen Sie mich bitte. Sie sind herzlich eingeladen.<br />

Nur rufen Sie bitte vorher an.“<br />

Ich warf einen Blick darauf. Dionizy Orzelewski. Die Adresse.<br />

Mehr nicht.<br />

„Danke“, erwiderte ich. „Wenn ich dort sein sollte, werde<br />

ich es nicht versäumen, Ihrer Einladung zu folgen.“ Ich<br />

stellte mich ebenfalls vor und schob seine Visitenkarte in<br />

die Brusttasche meines Jacketts. Später, zu Hause, nach<br />

meiner Rückkehr, steckte ich sie in mein Adressbuch, obwohl<br />

ich noch überlegte, warum ich es tue. Auch wenn<br />

ich jemals in die Stadt kommen sollte, in der Herr Dionizy<br />

wohnte, würde ich ihn eh nicht anrufen. Und ich hatte nicht<br />

vor, nochmal in diese Pension zu kommen. Ich habe seine<br />

Visitenkarte in meinem Notizbuch nie wieder gesehen;<br />

womöglich klebte sie an einer anderen. Visitenkarten hängen<br />

manchmal so aneinander, wenn man nicht regelmäßig<br />

reinschaut.<br />

Ein paar Tage später fing er an, mir zu erzählen, was er<br />

gerade in den Zeitungen gelesen hatte. Danach ging es darum,<br />

was im Radio kam und schließlich, was er am Abend<br />

zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Ich tat so, als ob ich zuhören<br />

würde, doch mit den Gedanken war ich woanders. Ich<br />

habe mir diese Fähigkeit erarbeitet, damit niemand merkte,<br />

dass ich nicht zuhörte.<br />

Er hatte den Mund voller Essen, so dass sich die Worte<br />

da durch pressen mussten, undeutlich waren, wie vermengt<br />

mit den Speisen, so dass nur wenige zu verstehen waren.<br />

Und an einem weiteren Tag, seiner wohl sicher, dass er<br />

mich mit seinem Vertrauen bedenken konnte, wurde er<br />

hitzig – als ob er an einer der Fernsehdebatten teilnehmen<br />

würde, die er abends zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Er<br />

hob die Stimme, sie schwoll vor Wut und Spott, er lästerte,<br />

lachte sarkastisch, warf mit Beleidigungen um sich, doch es<br />

fiel mir schwer zu erkennen, wen er denn meinte.<br />

„Was glauben die, wer sie sind, diese Idioten, dieses<br />

Pack!“ Vor Wut knallte er mit seiner Gabel auf den Teller,<br />

also verstand ich soviel, dass es um irgendwelche Idioten<br />

und irgendwelches Pack gehen musste.<br />

Ungefähr in der Mitte meines Urlaubs war ich so erschöpft<br />

von seiner Anwesenheit, dass ich überlegte, wie ich<br />

ihn loswerden könnte. Ich kam auf die Idee, schon früher<br />

zu den Mahlzeiten zu erscheinen, doch es half nichts. Dann<br />

ging ich später als gewohnt essen, aber auch das brachte<br />

nichts. Von irgendeinem Instinkt geführt, kam er ebenfalls<br />

früher oder später zum Essen. Ich überlegte schon, ob ich<br />

nicht abreisen sollte. Wenn ich mir seine Ausführungen bei<br />

jeder Mahlzeit anhören müsste, bis zum Schluss, würde ich<br />

mich nicht erholen. Und wegen der Erholung war ich doch<br />

hergekommen.<br />

Irgendwann setzte er sich beim Mittagessen wieder an<br />

meinen Tisch, offenbar aufgebracht, denn kaum machte er<br />

es sich auf dem Stuhl bequem (er hatte wegen seines kaputten<br />

Beins auch mit dem Sitzen Probleme) schon bombardierte<br />

er mich mit der Frage:<br />

„Was halten Sie davon, was gerade los ist?“<br />

Aus dem Polnischen von Paulina Schulz


JERZY<br />

PILCH<br />

DER DÄMONEN<br />

VIELE<br />

Jerzy Pilch (geb. 1952), einer der bekanntesten<br />

und beliebtesten polnischen Schriftsteller der Gegenwart.<br />

Autor von neunzehn <strong>Bücher</strong>n, übersetzt<br />

in siebzehn Sprachen. Pilch wurde sieben Mal für<br />

den Nike-Preis nominiert und erhielt ihn 2001 für<br />

den Roman „Pod Mocnym Aniołem“. „Wiele demonów”<br />

ist sein erster Roman seit fünf Jahren.<br />

Der von den Kritikern enthusiastisch aufgenommene neue<br />

Roman von Jerzy Pilch nimmt zwei große Themen der Weltliteratur<br />

auf: Liebe und Tod, Begierde und Verlust, Ekstase<br />

und das Nichts.<br />

Ein düsterer Pessimismus wechselt sich hier ab mit dem<br />

orgiastischen Rhythmus der Freude am Erzählen, Entzücken<br />

alterniert mit Spott, Glauben mit Gottlosigkeit. Überaus realistisch<br />

wird hier das Leben der polnischen Lutheraner in<br />

einem Ort namens Sigła dargestellt, in den sechziger Jahren<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts.<br />

Das Lokale und das Private sind den Lesern von Jerzy Pilch<br />

wohlbekannt – denn Sigła ist nichts Anderes als der Heimatort<br />

des Schriftstellers Wisła; der Geburtsort nicht nur von Pilch,<br />

sondern beinahe seiner gesamten literarischen Welt. Die Symbolik<br />

von „Der Dämonen viele“ rührt aus der protestantischen<br />

Theologie, die Struktur ähnelt einem literarischen Mythos –<br />

zwar einem Mythos, der von dem Nichts und der Erschöpfung<br />

durchsetzt ist, der aber den Leser dennoch durch die Suggestivität<br />

der Bilder erstaunt und ihn mit dem Spannungsbogen<br />

des Plots und dem Tempo der Erzählung begeistert.<br />

Das Leben der Bewohner von Sigła ist scheinbar kalt und<br />

düster – denn die Protestanten sparen am Heizmaterial und<br />

sitzen in nicht ausreichend beleuchteten Räumen herum. Hier<br />

pulsieren Leidenschaften und Süchte, und dennoch herrscht<br />

hier Ordnung. Die Welt kann von schmerzhafter Schönheit<br />

sein, wenn morgens das Gras in der Oktober-Sonne dampft<br />

oder wenn „der Frost die Welt festhält wie ein kristallener<br />

Schraubstock“. Ebenso kann sie von durchdringender Widerlichkeit<br />

sein:<br />

„Der Mensch wird am Boden eines entsetzlichen Abgrundes<br />

geboren, lebt ohne jeglichen Sinn, und stirbt unter Qualen.“<br />

Der Tod – mit verschiedenen Formen und Gesichtern<br />

– sucht den Erzähler und die Romanfiguren heim, lockt und<br />

entsetzt sie gleichermaßen.<br />

Dabei ist der Erzähler eine durchsichtige Gestalt, die dem<br />

Autor selbst sehr nahe verwandt ist.<br />

Die kindlichen Ängste kennen den Tod besser als die Wirklichkeit.<br />

„Die Diele ist eine düstere, eiskalte Fieberphantasie.<br />

Sie werden sterben, sterben, sterben. Unter dem vom bräunlichen<br />

Frost bezogenen Dachfirst glimmt eine schwache Funzel.<br />

Jemand schleicht durch den Garten.“<br />

Das Verschwinden und die Suche nach einer der schönen<br />

Töchter des Pastors Mrak machen aus dem Roman eine Art<br />

Krimi; doch es ist nur scheinbar ein Krimi, dessen Wesen das<br />

Geheimnis, und nicht dessen Lösung ist.<br />

Zugegeben: Nach „Jahren der Überlegung“ weist der hellsichtige<br />

Briefträger tatsächlich auf einen Ort, an dem der<br />

„von niemals tauenden braungrünen Eisschollen zugewucherte,<br />

kirschrote, so dunkelkirschrote, dass er fast schwarz<br />

war“ Schlafanzug des jungen Fräuleins Mrak liegt. Doch die<br />

angebliche Leiche erscheint nur in gelegentlichem Aufblitzen,<br />

außerhalb des Erzählstranges. Es ist ein Verschwinden wie<br />

aus dem Film „Picknick on Hanging Rock“ von Peter Weir, wie<br />

es der Autor selbst beschreibt.<br />

Das Mädchen wird zu einem Geist dieses Romans, zu<br />

einem jungfräulichen Engel, eingetaucht in einen dichten,<br />

sinnlichen Nebel. Ola ist wie Ophelia, ein Symbol für die Unmöglichkeit<br />

der erotischen Erfüllung. Das Geheimnis um ihr<br />

Schicksal ist ein Köder für den Leser; ihr Körper ein immer<br />

weiter rückendes Versprechen, nicht nur für die Männer, sondern<br />

auch für ihre Mutter und ihre Schwestern.<br />

Das wahre Entsetzen spielt sich in den Häusern ab, im Alltag,<br />

im Leben, das man fleißig in die Hölle verwandelt. Das<br />

Dämonische, Teuflische der Existenz in einer religiösen Gemeinschaft<br />

ist ein Paradox der Pilch-Protestanten, die seine<br />

autobiographischen Romane bevölkern.<br />

Dennoch ist dieses Buch kein düsterer Horror. Es ist eine<br />

dichte, narkotische Erzählung über die Dämonen der Literatur<br />

und die Unausweichlichkeit des Todes.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

JERZY PILCH<br />

„WIELE DEMONÓW”<br />

WIELKA LITERA, WARSZAWA 2013<br />

215×130, 480 PAGES<br />

ISBN: 978-83-63387-91-4<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM


DER DÄMONEN<br />

VIELE<br />

In der Mitte<br />

des vergangenen Jahrhunderts arbeitete bei der Post in<br />

Sigła der Briefträger Fryderyk Moitschek, der das Geheimnis<br />

des menschlichen Lebens kannte, der wusste, wohin<br />

wir gehen und was nach dem Tode sein würde. Nur eine<br />

Handvoll Menschen glaubte ihm – obwohl alles, was er vorhergesagt<br />

hatte, oder vielmehr alles, was er aus einer dicken<br />

Kladde herauslas, auf Punkt und Komma stimmte.<br />

Die Menschen starben, erkrankten und wurden gesund<br />

nach seinen Prophezeiungen, das Wetter wurde so, wie er<br />

es gesagt hatte, gezielt sagte er die Föhnwinde voraus, stickig<br />

wie Friedhofserde, die Hochwasser, die so schlimm waren,<br />

dass sie Brücken abrissen, die Hitzewellen, die sich wie<br />

Öl über die Welt legten, sowie die unerwartet von allen Seiten<br />

herankommenden eiskalten und schneereichen Winter.<br />

An Fußball hatte er lediglich mittelmäßiges Interesse,<br />

nur hin und wieder; also konnte man ihn nur schwer überreden,<br />

die Ergebnisse vorauszusagen. Aber wenn er schon<br />

tippte, dann fehlerfrei: Real Madrid, Ruch Chorzów, FC<br />

Santos, Wisła Kraków, ja, sogar unsere Elf aus der A-Liga!<br />

Überhaupt schossen und verloren alle Mannschaften, auf<br />

die er seinen Blick richtete, immer genauso viele Tore, wie<br />

es ihm beliebte.<br />

Es geschah selten, denn er vermied Situationen, in denen<br />

seine Gabe nicht nur mit dem leichten Geldverdienen,<br />

sondern überhaupt mit irgendwelchen unanständigen Manipulationen<br />

in Verbindung gebracht werden konnte. Ohne<br />

den Schatten eines Zweifels – man spürte, dass Fryderyks<br />

Heiligkeit nicht darin begründet liegt, das Wunder der wöchentlichen<br />

Fußballergebnisse zu vollbringen, die Lotto-<br />

Zahlen vorherzusagen oder konsequent die Nieten bei einer<br />

Tombola zu vermeiden; man spürte es, man spürte es ganz<br />

eindeutig, und man drängte nicht, mit aller Diskretion.<br />

Bringe mich nicht auf böse Gedanken, Antichrist! Weiche<br />

von mir, Satan! „Und da der Teufel alle Versuchung<br />

vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang.“ (Lukas 4, 13)<br />

Fryc war kein Illusionist, der seinen Lebensunterhalt mit<br />

atemberaubenden Tricks verdiente. Er war Prophet, mit<br />

Leib und Seele. Mit dem Leib unseres Herrn und der Seele<br />

des Heiligen Geistes. Sein Königreich war nicht von dieser<br />

Welt. Geld hatte er ohne Ende, woher, wusste keiner, aber<br />

es waren auf keinen Fall Honorare für prophetische Dienste<br />

an der Menschheit.<br />

Zuza Bujok hat er Koma und Aufwachen aus dem Koma<br />

geweissagt, Józek Lumentiger Abstinenz und das Verwerfen<br />

dieser Abstinenz, Polen den Kommunismus und das Ende<br />

des Kommunismus. Alles selbstverständlich gratis, im letzten<br />

Falle nicht nur gratis, sondern auch mit einem enormen<br />

patriotischen Enthusiasmus .


So war es mit allem und so war es immer: gratis, gratis<br />

und nochmal gratis. Niemals hatte er für etwas Geld genommen,<br />

keinen Pfennig, obwohl er oft genug Auslagen hatte,<br />

obwohl er Zeit ohne Ende opferte, obwohl er seine Gesundheit<br />

und somit sein Leben aufs Spiel setzte. Wohl nur Gott<br />

der Herr, der Geist der literarischen Fiktion und einige wenige<br />

andere Transzendenzen wissen, welcher Anstrengung<br />

Fryc seinen Körper unterwarf und welchen Raubbau er an<br />

seiner irdischen und somit fragilen Existenz betrieb.<br />

Seine Leute hat er immer ernst genommen, da kann<br />

man nichts sagen, mit großer Hingabe half er, wo er konnte,<br />

kümmerte sich überaus aufopferungsvoll, und unterstützte<br />

die Seinen nicht nur in Krankheit. Leider verwendete er seine<br />

Kräfte, Fähigkeiten und die glühende Leidenschaft eines<br />

begabten Heilers nicht nur an uns. Anderen diente er auch,<br />

oft vollkommen Fremden, die nicht aus Sigła, sondern aus<br />

aller Herren Länder kamen – er half ihnen mit derselben,<br />

oder sogar mit noch glühenderer Hingabe (man konnte es<br />

nur schwerlich erkennen); er löste ihre Probleme, kurierte<br />

sie von diversen Phobien, fand unrettbar verlorene Dinge<br />

wieder, warnte vor konkreten Gefahren, empfahl detaillierte<br />

Hauskuren.<br />

Und er diente vor allem (was sollen wir die Wahrheit<br />

verschleiern) überaus eifrig den Vertreterinnen des schönen<br />

Geschlechts: wenn er mit ihnen all die wichtigen und<br />

unwichtigen Details der Therapie besprach, ihnen eine positive,<br />

endlich positive Veränderung ihres Schicksals versprach,<br />

gut, kleinere Hindernisse sah er immer noch, aber<br />

er erklärte gleichzeitig, wie man sie mit links überwinden<br />

konnte und erörterte die Situation eingehend. Alles tipptopp,<br />

aber zu welchem Preis? Wenn man sagen würde, dass<br />

er Raubbau mit seiner Existenz, seiner körperlichen Form<br />

und seiner Kondition betrieb, wäre dies mehr als untertrieben;<br />

es war räuberisch und leichtsinnig, in seiner aufopferungsvollen<br />

Haltung unverantwortlich – denn nie sah<br />

jemand Fryc beispielsweise etwas essen.<br />

Niemand. Nie. Versteht ihr das? Niemand, niemals, und<br />

er musste doch etwas essen! Musste er nicht? Aß er gar<br />

nichts? Lebte er von Luft? Die ganzen Fälle und Unfälle beschäftigten<br />

ihn demnach so stark, dass er nicht einmal für<br />

ein belegtes Brot Zeit hatte? Nur ein Apfel zwischen Tür<br />

und Angel? Aber auch einen Apfel hat ihn keiner je essen<br />

sehen! Man sprach nur davon. Die Erzählungen und Legenden<br />

über Fryc' Apfel. Anekdoten? Dies und das. Hunderte<br />

von Fragen, doch im Grunde nur eine Frage: Hat unser Heiler<br />

und Wohltäter heute schon etwas gegessen? Einen Apfel,<br />

zum Mittagessen. Einen. Eher klein als groß. Fryc lebt von<br />

einem Apfel am Tag? So sieht es aus.<br />

Eines Tages wird er umfallen und alles wird vorbei sein.<br />

Schluss mit den Prophezeiungen, Schluss mit den Wundern,<br />

Schluss mit den Rezepten gegen Selbstmordgedanken. Nein,<br />

Fryc wird nicht umfallen, er sieht nicht schwächlich aus.<br />

Und das ist das Schlimmste! Es wäre tausend Mal besser,<br />

wenn man ihm seine Anstrengungen, seine Qualen, sein<br />

Hungern und seine Schwäche ansehen würde. Im Gesicht<br />

sieht es zwar schlimm aus, aber es ist nicht gefährlich. Unsichtbar,<br />

verborgen in Herz und Hirn droht es mit einer<br />

Explosion. Fryc explodierte, in der Tat – aber mit seinen<br />

Wundern.<br />

Aus dem Haus der Familie Kubatschke hatte er den Geist<br />

des Ehemannes vertrieben, der zu Lebzeiten eifersüchtig,<br />

und nach seinem Tode wahnsinnig eifersüchtig war. Dem<br />

Doktor Nieobadany hatte er vier Töchter vorausgesagt,<br />

und als er den Braten roch, korrigierte er auf sieben. Herrn<br />

Ujma, Direktor der Mineralbrunnen-Anlage, heilte er von<br />

seinen homosexuellen Neigungen. Emilka Morzolikówna<br />

schlug er die Selbstmordgedanken aus dem Kopf. Und das<br />

alles quasi fastend? Spürte er keinen Hunger, weil er keinen<br />

Appetit hatte? War sein sanfter Körper so von der Kraft<br />

seines Geistes erschlagen, dass er nicht einmal die Mindestrationen<br />

an Essbarem verlangte? Um es weiter zu fassen:<br />

die Verdauungsprozesse (von der Ausscheidung ganz zu<br />

schweigen) ziemen sich offenbar nicht für den wahren<br />

Propheten? Nein. Ehrlich gesagt sind für einen Propheten<br />

sogar die subtilsten somatischen oder biologischen Aspekte<br />

ungehörig. War Fryc ein Geist? Er hatte nie jemandem die<br />

Hand gegeben, und unvermeidlich ergibt sich die Frage, ob<br />

ihn jemals jemand berührt hatte? Wenigstens die zahlreichen<br />

Frauen, die ihn zu besuchen pflegten? Ihr würdet euch<br />

wundern, und wie! Und ihr werdet euch wundern, zweifelsohne,<br />

nur etwas später.<br />

Angeblich hatte Fryc bereits einige Jahre vor dem Krieg<br />

und einige Jahrzehnte vor dem Fall der Berliner Mauer in<br />

seinem Notizbuch neue Landkarten von Europa und Asien<br />

mit Bleistift gezeichnet. Diejenigen, die sie gesehen haben,<br />

behaupteten, dass mit Ausnahme von Ostpreußen und<br />

Turkmenistan alles bis auf den Millimeter stimmte.<br />

Ob er Tote ins Leben zurückgerufen hatte ist nicht gewiss.<br />

Doch mit absoluter Gewissheit hat er den praktisch<br />

toten Liebling der Pastorenfrau, Juda Tadeusz, die klügste<br />

der drei Pfarrkatzen, zurück ins Leben geholt. Greta und<br />

Maryna, den beiden Kühen von Józef aus Ubocze, hatte er<br />

die schmerzhafte Schwellung von den Eutern genommen<br />

– auf den ersten Blick nichts Besonderes, doch Fryc hat es<br />

aus der Entfernung getan. Den gelähmten Schäferhund,<br />

den Rädelsführer vom Rudel der Frau Scherschenick, rief<br />

er mit schrecklicher Stimme an: „Wirf deinen Stock von<br />

dir! So sage ich dir, wirf deinen Stock von dir!“ Das vor<br />

Angst beinahe wahnsinnig gewordene Tier hatte den Stock<br />

zwar nicht von sich geworfen, denn es hatte, man wird es<br />

beschwören, gar keinen benutzt, doch es erhob sich auf<br />

alle Viere. Nicht nur, dass sich der Hund erhoben hätte! Er<br />

schlich noch einige Jahre eher recht als schlecht durch die<br />

Welt. Und wenn er Fryc erblickte oder schon von Weitem<br />

seine Witterung aufnahm, so fuhren weitere heilenden<br />

Energien in ihn ein, denn er floh mit äußerst gesundem<br />

Heulen, wohin der Pfeffer wächst.<br />

Und ob; auch wenn Fryc Moitschek kein hundertprozentiger<br />

Wunderheiler sein mochte – aber er hatte eine<br />

Gabe. Er betrat ein Haus und bemerkte sofort und fehlerfrei<br />

eine sinnlose Bewegung in den elektrischen Leitungen.<br />

„Da leuchtet wo was“, sagte er und schaute sich in aller<br />

Ruhe um. „Irgendwo leuchtet was. Schon die ganze Zeit.<br />

Helllichter Tag, noch lange bis zum Abend, und bei Euch,<br />

guter Mann, brennt eine Glühbirne: seit gestern oder seit<br />

sonstwann.“ Alle Familienmitglieder sprangen auf die Beine<br />

und überprüften sämtliche Räume, in denen elektrische<br />

Leitungen vorhanden waren. Und immer, egal ob auf dem<br />

Dachboden oder im Keller oder in einer seit ewigen Zeiten<br />

verschlossenen und verriegelten Kammer, da fanden sie<br />

eine umsonst glimmende gelbliche 40-Watt-Birne.<br />

Aus dem Polnischen von Paulina Schulz


IGNACY<br />

KARPOWICZ<br />

HEITEN/KEITEN<br />

Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaautor, Reisender,<br />

Übersetzer; einer der spannendsten Autoren<br />

der jüngeren Generation. Seit seinem Debüt<br />

2006 sind vier weitere Romane erschienen; zwei<br />

Nominierungen für den NIKE-Preis, ausgezeichnet<br />

mit dem Paszport POLITYKI 2010.<br />

Ignacy Karpowicz, ausgezeichnet mit dem Literaturpreis Paszport<br />

Polityki, meldet sich mit einem neuen, interessanten Roman<br />

zurück. heiten/keiten erzählt humorvoll vom Bedürfnis<br />

nach Nähe und Liebe, vor allem aber vom Anderssein, das in<br />

der Romanlandschaft zur Normalität wird. Wieder einmal<br />

stellt der Autor unter Beweis, dass er in seiner Entwicklung<br />

nicht stehen bleibt – jedes seiner <strong>Bücher</strong> unterscheidet sich<br />

deutlich von den Vorgängern: Das enthusiastisch gefeierte Debüt<br />

Niehalo [Nicht der Hit] war eine groteske Tour durch die<br />

polnische Wirklichkeit im Zeitalter des Kapitalismus, Gesty<br />

[Gesten] analysierte eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung,<br />

und das preisgekrönte Balladyny i romanse [Balladynen und<br />

Romanzen] entpuppte sich als origineller Beitrag zur Präsenz<br />

der Religion in der modernen Welt.<br />

Diesmal setzt Karpowicz auf einen kollektiven Helden,<br />

wenn er seinen neugierig-warmen Blick auf (nicht gar so<br />

schreckliche) Vertreter des Bürgertums richtet, die in ihren<br />

persönlichen Sorgen, zumeist in Liebesdingen, befangen sind.<br />

Die Romanfiguren entstammen der polnischen Mittelschicht,<br />

sie decken das gesamte Spektrum an Einstellungen und Haltungen<br />

ab. Da wäre zum Beispiel Norbert, der nicht eben viel<br />

für Homosexuelle übrig hat, selbst aber mit dem Vietnamesen<br />

Kuan anbändelt (der sich abends in die berühmte Dragqueen<br />

Kim Lee verwandelt). Aber auch die Gesellschaft der brillanten<br />

Professorin Ninel ist ihm durchaus nicht unangenehm…<br />

Diese wiederum pflegt eine sonderbare Beziehung zu Szymon,<br />

dem Angetrauten der launischen Maja, ihrerseits Mutter eines<br />

pubertierenden Sohnes und Schwester der fanatisch katholischen<br />

Faustyna. Und Freundin von Andrzej, der mit dem chaotischen<br />

Krzyś zusammenlebt… Und so geht es immer weiter –<br />

eine Zusammenfassung des neuen Karpowicz läse sich wie das<br />

Drehbuch eines Almodóvar-Films. Nur präsentiert der Autor<br />

seine Truppe schillernder Figuren (die er übrigens stets wunderbar<br />

im Griff hat) ohne jeglichen Furor. Er erzählt eine stimmige,<br />

rundum vergnügliche Alltagsgeschichte, die etwas außer<br />

Kontrolle gerät, aber darüber keine Dramen auslöst, sondern<br />

im Gegenteil eine neue, zufriedenstellende (?) Ordnung stiftet.<br />

Die Brosamen, nein, die Gräten, die uns im Alltag im Halse<br />

stecken bleiben, sind im Grunde halb so wild. Karpowicz<br />

gelingt es nämlich, sie zu entschärfen, bevor sie ihre Sprengkraft<br />

entfalten können. Mit seinem engagierten Buch, seinem<br />

Entwurf einer idealen Gesellschaft, die offen ist für das Andere,<br />

tolerant und vorurteilsfrei, erzählt er die Geschichte einer<br />

Handvoll netter, leicht orientierungsloser Menschen, die geprägt<br />

ist von Normalität.<br />

Wie könnte es auch anders sein, ist doch unser Leben – wie<br />

der Autor zeigt – mag es uns noch so fundamental wichtig erscheinen,<br />

eingebunden in Millionen Strukturen und Systeme,<br />

die bedeutend größer und wichtiger sind als wir. Daher gibt<br />

gerade das Kleine den geeigneten Maßstab vor, diese Irrungen<br />

und Wirrungen zu beschreiben.<br />

Patrycja Pustkowiak<br />

IGNACY KARPOWICZ<br />

„OŚCI”<br />

WYDAWNICTWO LITERACKIE<br />

KRAKÓW 2013<br />

145×205, 472 PAGES<br />

ISBN: 978-83-08-05118-4<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

WYDAWNICTWO LITERACKIE


HEITEN/KEITEN<br />

– Maja,<br />

du bist der tollste Mensch der Welt.<br />

– Verzeihung, haben Sie etwas gesagt?<br />

Erst jetzt wurde Maja bewusst, dass sie vom Modus ‚lautloses<br />

Mantra‘ in den Modus ‚gesprochenes Mantra‘ gefallen<br />

war. Sie wurde rot. Nicht, weil sie etwas gesagt hatte.<br />

An den Irren, die in Bussen und Bahnen mit Gott und den<br />

Musen plauderten, konnte sie nichts Schlechtes finden.<br />

Die hatten wenigstens ein Anliegen, da sollten sich eher<br />

die schweigenden Fahrgäste schämen. Aber der Inhalt des<br />

Gesagten beschämte sie. Aus Sicherheitserwägungen heraus,<br />

und mit Rücksicht auf meine Würde, sollte ich wohl<br />

ein weniger persönliches Mantra wählen. Sie schwankte<br />

zwischen den in Sachen Ego neutralen ,,Drängeln Sie nicht<br />

so“ und ,,Die Fahrscheine bitte“; sie würde es mit der ersten<br />

Variante probieren, wenngleich sie bezweifelte, dass diese<br />

ähnlich schnell die Laune heben würde wie „Maja, du bist<br />

der tollste Mensch der Welt“.<br />

Kaum hatte sie den neuen therapeutischen Satz zweimal<br />

im Geiste gesprochen, war diese Stimme wieder da:<br />

– Ich habe es doch gehört. Sie haben etwas gesagt.<br />

Sie kapitulierte. Langsam hob sie den Blick, um die Quelle<br />

des nervenden Geredes ausfindig zu machen. Sie hatte<br />

nichts Besonderes erwartet, einen Lautsprecher vielleicht,<br />

am wenigsten aber das, was sie nun zu sehen bekam. Vor<br />

ihr stand ein breitschultriger Mann um die Dreißig; sorgsam<br />

gegeltes Haar, Rechtsscheitel, ebenmäßige Züge, tadellose<br />

Haut, keine Warze, kein Pickelchen, glatt rasierte<br />

Wangen, der Bartansatz so markant wie die Toleranzgrenze<br />

des Vatikans zur Gleichstellung von Mann und Frau. Unter<br />

dem offenen grauen Mantel blitzte ein schneeweißes Hemd<br />

hervor. Seine Hose hatte sie nicht beachtet, und jetzt wollte<br />

sie den Blick nicht mehr senken – das hätte sicher ausgesehen,<br />

als wollte sie seinen Schritt taxieren, als gehörte sie<br />

zu den sexuell Unterversorgten; selbst wenn es komplett<br />

anders ausgesehen hätte, nun hatte Maja einmal gedacht, es<br />

hätte so ausgesehen und nicht anders, deshalb hielt sie jetzt<br />

mit eisernem Willen den Nacken steif.<br />

Sie wollte ihn Auge in Auge fragen, was er für Hosen<br />

trug, da sie aus übergeordneten, quasi objektiven Gründen<br />

außerstande war, dies selbständig und eigenen Auges in Erfahrung<br />

zu bringen. Glücklicherweise verkniff sie sich die<br />

Frage. Der Mann präsentierte sich für Majas Geschmack<br />

derart aufgeräumt, ordentlich und sauber, dass seine Akkuratesse<br />

übertrieben und irritierend wirkte. Vor ihr stand<br />

der Bilderbuchsohn von Bilderbucheltern.<br />

Ein nervöser Schauder lief ihr über den Rücken: Dieser<br />

Mann war in einer kranken Familie aufgewachsen, allmorgendlich<br />

brachte seine sadistische Mutter ihm das Haar in


Form und zwängte ihn in die Kleider ihres modisch um ein<br />

Jahrhundert hinterherhinkenden Albtraums vom perfekten<br />

Kind, während Vater Rohrstock Morgen für Morgen wiederholte:<br />

„Denk dran, mein Sohn, sieh deinem Gegenüber<br />

immer in die Augen, wenn du sprichst.“<br />

Majas Fantasie kam allmählich auf Touren. Sie sah Meister<br />

Proper am Mittagstisch sitzen; auf seinem Teller, der so<br />

blank war, als wäre er immer schon leer gewesen, lag die<br />

letzte Erbse. Jeder normale Mensch hätte mit seiner Gabel<br />

diese Erbse minutenlang gejagt, nicht so Herr Sauber-Ausgeführt.<br />

Mit einer einzigen, präzisen Bewegung spießte er<br />

die Erbse auf und führte die Gabel zum Mund. Maja wurde<br />

immer unruhiger. Kein Zweifel, sie sah sich einem lebensgefährlichen<br />

brünetten Barrakuda gegenüber. Um jeden<br />

Preis musste jetzt ein positives Gegenbild her. Sie dachte an<br />

ihren Sohn, seinen Irokesenschnitt, seinen hemdsärmeligen<br />

Umgang mit Wasser und Seife, aber das Bild ihres Sohnes<br />

machte die Situation auch nicht besser. Entsetzt malte sie<br />

sich aus, wie ihr geliebter Bruno zufällig dieser Bestie im<br />

blütenreinen Kragen begegnet, sich infiziert, den Iro abrasiert<br />

und sich einen Seitenscheitel zulegt. Gütiger Gott, bitte<br />

nicht Bruno!<br />

– Ich hätte ein Taxi nehmen sollen.<br />

– Wie bitte?<br />

– Im Bus begegnet man immer so widerlichen Typen.<br />

– Typen wie mir, meinen Sie?<br />

– Gleich kommt eine Bedarfshaltestelle – ihre Stimme<br />

zitterte und wurde leiser. – Ich melde Bedarf an, dass Sie<br />

aussteigen.<br />

Er lächelte.<br />

– Sie würden meiner Mutter gefallen.<br />

– Ich bin schlecht in Müttern. Ich fürchte, ich könnte die<br />

Gefühle Ihrer Mutter nicht erwidern.<br />

Sie wollte noch anfügen: „schließlich hat sie ein Monstrum<br />

großgezogen“, konnte sich aber zurückhalten. Dieser<br />

schöne Erfolg – Maja gelang es nicht immer, nicht zu sagen,<br />

was sie nicht sagen wollte – gab ihr neuen Mut. Der Bus war<br />

voll besetzt, sie hatte nichts zu befürchten, höchstens eine<br />

Grippe oder einen Pilz von ihren Mitfahrern; Gewaltexzesse<br />

standen aller Voraussicht nach nicht an. Die Situation gestaltete<br />

sich so ungemütlich wie folgt: Sie unterhielt sich<br />

mit einem höflichen, erschreckend reinlichen, hochwertigen<br />

Mannsbild hyperrealistischer Machart.<br />

– Sie brauchen nicht an der nächsten Haltestelle auszusteigen<br />

– lenkte sie nach einer ausgedehnten Pause begütigend<br />

ein. – Steigen Sie aus, wann Sie wollen.<br />

Er neigte leicht den Kopf und räusperte sich verlegen.<br />

– Ich würde Sie gern näher kennenlernen. Ich muss gestehen,<br />

Sie haben mich mächtig beeindruckt.<br />

Jetzt sah sie ihn mit anderen Augen. Weil er sein Interesse<br />

bekundet hatte, konnte Maja ihre erste Einschätzung<br />

noch einmal korrigieren und den Sympathiefaktor erhöhen<br />

bzw. den Antipathiefaktor minimieren. Sie erkannte, dass<br />

man ihn nur ein wenig beschmutzen, die Haare zausen<br />

und zwei bis drei Pickel auf den Wangen platzieren müsste,<br />

schon sähe er den anderen Chef-Gorillas gar nicht mehr so<br />

unähnlich. Man könnte ihn sogar in den Club mitnehmen.<br />

Wahrscheinlich war er gar kein Psychopath, sondern nur<br />

geistig, kulturell oder hygienisch behindert.<br />

– Haben Sie im Novemberaufstand, aus dem Sie offenbar<br />

gerade kommen, erfolgreich fremde Bräute im ÖPNV abgeschleppt?<br />

Während er sich seine Antwort zurechtlegte, stellte sie<br />

sich vor, dass Meister Ich-pinkle-kohlensäurearmes-Mineralwasser<br />

mit jüngeren Geschwistern gesegnet war. Dass<br />

die ganze Sippe bei Tisch auf Kommando Erbsen aufspießt.<br />

Diese Szene geriet Maja so anrührend komisch, dass sie<br />

nicht einmal versuchte, ihr Lächeln zu verbergen.<br />

– Ich sehe mich – gestand er ernsthaft – zu einer intelligenten<br />

und geistreichen Antwort nicht in der Lage.<br />

– Bei mir ist das umgekehrt. Intelligente Antworten habe<br />

ich immer parat. Ist doch egal, dass ich die Fragen nicht abwarten<br />

kann!<br />

– Gestatten Sie mir eine Einladung zum Abendessen.<br />

Maja zeigte sich an dem Unbekannten und seinem untadeligen<br />

Äußeren zunehmend interessiert. Sie kam sich vor<br />

wie eine Archäologin, eine Epidemologin, eine Biologin bei<br />

der Erforschung einer extraterrestrischen Lebensform. Sie<br />

kam sich vor, als hätte sie das Teflon erfunden, die reinste<br />

Substanz überhaupt; na ja, vielleicht ex aequo mit der<br />

Hostie.<br />

– Schwitzen Sie?<br />

– Hmm. Ja, in diesem Moment habe ich beispielsweise<br />

vor Aufregung schwitzige Hände. Handflächen.<br />

– Haben Sie …<br />

– Ich beantworte all Ihre Fragen unter der Bedingung,<br />

dass wir uns treffen.<br />

– Gut. An einem öffentlichen, gut ausgeleuchteten Ort.<br />

Haben Sie manchmal Schnupfen? So richtig mit Rotz?<br />

– Ich muss gleich aussteigen, das ist meine Haltestelle.<br />

Bitte geben Sie mir Ihre Nummer.<br />

Maja diktierte, und er zog aus seiner manierlichen ledernen<br />

Brieftasche eine Visitenkarte.<br />

– Morgen rufe ich an. Die bekommen Sie für den Fall der<br />

Fälle. Auf Wiedersehen.<br />

Er stieg aus, und sie sah ihm nach. Sie wusste nicht, was<br />

sie mehr schmerzen würde: Wenn er stehen bliebe und<br />

schaute, oder wenn er sich abwandte und seiner Wege ging.<br />

Maja schaute nicht gerne, wenn sie nicht wusste, was sie sehen<br />

wollte. Undefiniertes Schauen konnte sehr riskant sein,<br />

und eine Bindehautentzündung wollte sie sich jetzt ganz bestimmt<br />

nicht einhandeln.<br />

In ihrem Kopf war ein Rauschen, aber nicht das zarte Gesäusel<br />

von Champagnerbläschen, etwas Massiveres, eindeutig<br />

Sanitäres. In etwa das Freilegen eines verstopften Jacuzzi.<br />

Bulb-bulb-bulb. Wie exakt ich den Klempner in meinem Kopf<br />

wiedergeben kann, staunte sie.<br />

Das Gespräch im Bus erschien ihr bald als völlig unglaubwürdiges<br />

Produkt ihrer Antidepressiva, bald als große Peinlichkeit,<br />

als hätte sie versucht, den Teenager zu spielen, der<br />

sie seit Jahren nicht mehr war. Es klang in der Endlosschleife<br />

mit dem ewigen verkorksten Prolog (Maja, du bist der tollste<br />

Mensch der Welt) hoffnungslos selbstgefällig. Wirklich intelligente<br />

und wohlerzogene Menschen sollten ihre Intelligenz<br />

und ihre gute Erziehung nicht so direkt herauskehren. Intelligente<br />

Menschen mit sozialen Umgangsformen hätten sich<br />

ein ordentliches Thema gesucht. Das Wetter. Die Erhöhung<br />

des Renteneintrittsalters. Ein Zugunglück. Opferzahlen.<br />

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler


JUSTYNA<br />

BARGIELSKA<br />

KLEINE<br />

FÜCHSE<br />

Justyna Bargielska (geb. 1977), Lyrikerin und<br />

Prosaistin. Ausgezeichnet u.a. mit dem Literaturpreis<br />

Gdynia. Małe lisy [Kleine Füchse; 2013] ist<br />

ihr zweiter Prosaband.<br />

In „Kleine Füchse” gibt die glasklare Stimme einer jungen<br />

Frau Geschichten zum Besten, eigene Geschichten oder Geschichten<br />

geradewegs aus dem Leben. Der Gegenstand: die<br />

Kinder, der Ehemann, der Hund, die Mutter, die Schwester<br />

und die Nachbarinnen. Die Wohnsiedlung, daneben der Wald.<br />

Der Haushalt, in der U-Bahn aufgeschnappte oder zu Hause<br />

von der Tochter geträllerte Rhythmen, der Vorstadtbus. Im<br />

Heimeligen lauert jedoch das Unheimliche, im Vertrauten das<br />

Sündhafte. Der märchenhaft angehauchte Liebesroman, die<br />

weltweit populärste frauenliterarische Gattung, erhält hier<br />

eine komplexe, ironische Dimension. „Hattet ihr denn mal<br />

was, Mädels, mit einem Gangster aus dem Wald? Denn genau<br />

das, Mädels, hatte ich” – so beginnt „Kleine Füchse”.<br />

Der Titel ist so vieldeutig wie einleuchtend. Sie sind es, die<br />

biblischen kleinen Füchse, die kleinen Sünden – in diesem Fall<br />

die Sünden der Hausfrauen – die die Weinberge verwüsten.<br />

Wie ist es doch verlockend, ein kleiner Fuchs zu sein und einfach<br />

im Wald bei der Siedlung herumzustreifen! Die in einem<br />

Grenzbereich von Traum, Erinnerung und Phantasie gesponnenen<br />

Märchen über den Messerstecher als Geliebten fordern<br />

alles in allem doch ihren Preis. Das alltägliche Familienleben,<br />

seine Materie selbst unterliegt einer gewissen Erosion, da das,<br />

was die Welt zu einem verzauberten Ort macht – die Poesie,<br />

und manchmal sogar die Religion – sich nun auf einen Bereich<br />

außerhalb des Hauses verlagert, in den Wald. Der tiefe Blick<br />

in die Dynamik dieses Prozesses ist jedoch nicht identisch mit<br />

Schuldgefühl. „Das geht mir am A... vorbei” ist die Autorin imstande<br />

zu schreiben, die sonst fast nie zu Vulgarismen greift.<br />

Der Sinn dieser Umschreibung ist einfach. Für die Frau sind<br />

Freiheit und Schaffenskraft seltene und unschätzbare Werte,<br />

die es mit dem eigenen Körper zu schützen gilt.<br />

Bargielskas poetischer Redefluss spaltet sich in zwei Figuren<br />

auf, die alltägliche, aber dadurch nicht weniger dramatische<br />

existentielle Erfahrungen dokumentieren. Agnieszka, die<br />

„Forschontärin”, eine der „Damen von der Stiftung”, ist eine<br />

selbständige junge Singlefrau, die u.a. einen Schreibkurs im<br />

Kulturzentrum der Siedlung leitet. Die Figur des literarischen<br />

Schaffens erscheint hier als grenzenloses kollektives Projekt,<br />

welches das eindeutige Verständnis der Autorschaft in Frage<br />

stellt. Auf diese Weise deklariert Bargielska, die scheinbar<br />

obenhin verschiedenste Frauennamen in den Text einfließen<br />

lässt, „Kleine Füchse” zwar zu ihrem, aber nicht allein von ihr<br />

stammenden Werk. In diesem weiblichen, von der Definition<br />

her leicht obszönen Redeschreibfluss, in dessen Zuge Leiden<br />

und Begehren auf die Bühne des Alltags vordringen, erweisen<br />

sich Worte, Gedanken, Orte und Erfahrungen als gemeinsam.<br />

Agnieszkas Geschichte verflicht sich erstaunlich eng mit der<br />

Mikroperspektive einer anderen Figur, einer Hausfrau und<br />

Mutter, die zum Glück oder Unglück für die Wirklichkeit<br />

selbst eine empfindsame Intellektuelle ist. Beide Frauen schlafen<br />

ganz offensichtlich mit demselben betörenden Räuber aus<br />

dem Wald.<br />

In „Obsoletki” [Obsoletes], Bargielskas letztem Buch, war<br />

es die Trauer, die dem Ganzen seinen Ton verlieh. Eine tiefe<br />

und zugleich problematische Trauer, zeichnete die Autorin<br />

doch die Erfahrung einer Fehlgeburt nach, den Verlust einer<br />

Person, die es in der realen Welt noch gar nicht gegeben hatte.<br />

Die medizinische Erfahrung fand einen religiösen Rhythmus<br />

und eine religiöse Bebilderung, der dunkle Schein von Trauerritualen<br />

erfüllte die Welt. „Kleine Füchse” ist da ganz anders.<br />

Die Rückkehr auf die Seite des Lebens bedeutet den Eintritt in<br />

die Sphäre erhöhter Gefahr, illegaler erotischer Leidenschaften<br />

und der Phantasie, von zu Hause wegzulaufen, auch wenn<br />

man dafür durch die Kanalisation abfließen müsste. Doch wie<br />

zu erwarten bleibt die große Katastrophe hier aus. Die Kinder,<br />

imaginär beim Versuch eines erweiterten Selbstmords mit<br />

Schlaftabletten betäubt, wachen doch am Schluss wieder auf.<br />

Und auch ihre Mutter kehrt ins Leben zurück. Die Aspekte des<br />

schriftstellerischen Ichs fügen sich zusammen, gemeinsam gehen<br />

die beiden Geliebten des Messerstechers zum Wohnblock<br />

zurück, gemeinsam tragen sie die Kinder. Die Handlung ist bei<br />

dieser Erzählung zwar wichtig und fesselnd, aber dennoch in<br />

gewissem Sinne konventionell. Das Wichtigste ist die Begabung<br />

der Autorin, alles zu Literatur zu verdichten, zu einer<br />

bündigen, ironischen, manchmal etwas surrealen Literatur,<br />

die aber immer von der Schönheit und der Bedrohung handelt,<br />

die sich in der Unbestimmtheit der Existenz verbergen.<br />

JUSTYNA BARGIELSKA<br />

„MAŁE LISY”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

125×195, 112 PAGES<br />

ISBN 978-83-7536-505-4<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM<br />

Kazimiera Szczuka


KLEINE<br />

FÜCHSE<br />

Hattet ihr<br />

denn mal was, Mädels, mit einem Gangster aus dem Wald?<br />

Denn genau das, Mädels, hatte ich.<br />

Aber heute haben wir den Dienstag, bevor irgendetwas<br />

begann, und ich bin immer noch Laborleiterin, Forscherin,<br />

und auch freiwillige Mitarbeiterin der Stiftung, Volontärin.<br />

Forschontärin. Aus dem Bus, der an einer roten Ampel steht,<br />

beobachte ich zwei Jungen mit Rucksäcken, die Eis aus einer<br />

Pfütze brechen. Sie halten große Stücke davon in den Händen.<br />

Die Ampel springt auf Grün, der Bus fährt an, ich überlege,<br />

wozu sie das Eis brauchen, die einzige Erklärung ist,<br />

dass sie die vorbeifahrenden Autos damit bewerfen wollen.<br />

Ich kehre zu meinem Buch zurück, aber ich sollte im Bus<br />

nicht lesen, denn es nimmt mich immer alles sehr mit, was<br />

ich lese. Am meisten nimmt mich Frauenliteratur mit, aber<br />

auch einige wissenschaftliche Werke haben emotionalen<br />

Einfluss auf mich.<br />

Ich bin erleichtert, dass mein Bus losgefahren ist, bevor<br />

die Jungen angefangen haben, die vorbeifahrenden Autos<br />

mit Eis zu bewerfen. Nicht ausgeschlossen, dass ich irgendeinen<br />

Sport machen sollte. Mir ist aufgefallen, dass ich meinen<br />

Zustand – je nachdem, wie kontrovers das Gelesene war<br />

– mit psychosomatischen Formulierungen beschreibe: dass<br />

mir die Knie zittern, die Hände oder überhaupt meine ganze<br />

kritische Person. Nach der Lektüre muss ich oft zu einem<br />

bestimmten Regalbrett gehen und etwas anderes, Bekanntes,<br />

Offensichtliches lesen, zur Beruhigung. Am liebsten<br />

Darwin. Ich glaube, mir fehlt Bewegung.<br />

Eigentlich mag ich frische Luft. Sie hilft, brachliegende<br />

Gehirnstrukturen zu nutzen. Einmal war ich in den Ferien<br />

auf dem Land und eines Tages fiel mir unvermittelt eine<br />

Entgegnung auf etwas ein, was eine Frau vom Ministerium<br />

beim Vorjahrestreffen gesagt hatte: dass sie uns über<br />

den Termin des nächsten Treffens informieren werde, aber<br />

verhandelt werde nicht, denn die Damen von der Stiftung<br />

hätten ja viel Zeit.<br />

Ich hätte ihr sagen sollen, dass die Damen von der Stiftung<br />

unbezahlt ihre Freizeit opfern, um das wieder geradezubiegen,<br />

was solche fetten Scheusale wie sie in ihren Amtsstunden<br />

für öffentliche Gelder kaputtmachen! Ich weiß nur<br />

nicht, ob ich es mit Ausrufungszeichen oder ohne hätte<br />

sagen sollen. Im Grunde ist es gut, dass mir diese scharfe<br />

Entgegnung nicht gleich vor Ort eingefallen ist, denn ich<br />

hätte dadurch, dass ich über das Ausrufungszeichen nachgegrübelt<br />

hätte, sowieso die ganze Wirkung verdorben.<br />

Für diese Gehirnstrukturen habe ich mir neulich einen<br />

Hund angeschafft. Einen Westie. Sein weißes Fell ruft keine<br />

Allergien hervor. Ich gehe zweimal am Tag mit ihm auf<br />

den Rasen hinter der Siedlung, und einmal am Tag in den


Wald auf der anderen Straßenseite. Im Schnee sieht man<br />

ihn schlecht.<br />

Und eines Tages bin ich mit meinem Westie im Wald,<br />

und es kommt aus einer Entfernung von ungefähr hundert<br />

Metern ein Mann auf mich zu. Groß, graumelierte lockige<br />

Haare, Anzughose, Flanellhemd und knielanger Mantel,<br />

aufgeknöpft.<br />

„Was für ein Arschloch muss man sein!“, ruft er.<br />

Er kommt näher, grüßt und erklärt, dass er denjenigen<br />

gemeint habe, der seinen Müll in den Wald geschmissen hat.<br />

Den Müll sieht man im Schnee sehr gut.<br />

„Da hinten liegen noch zwei Monitore“, sage ich. Der<br />

Hund des Mannes kommt angerannt und der Mann fragt,<br />

ob unsere Hunde miteinander spielen dürfen. Das dürfen<br />

sie, auch wenn sein Hund etwas lustlos ist und meinen Westie<br />

höchstens ein bisschen um sich herumspringen lässt.<br />

„Wir sind in Trauer“, erklärt der Mann. „Er hatte eine<br />

Freundin, aber ich musste sie einschläfern lassen, weil sie<br />

Krebs hatte. Es war dumm von mir, sie zu begraben, als er<br />

zusah. Er hat nicht kapiert, dass das ein Begräbnis war, das<br />

letzte Geleit, und so. Ist schließlich ein Hund, der muss das<br />

nicht verstehen.“<br />

An die hundert Meter tiefer im Wald habe ich einmal ein<br />

Portraitfoto von einer Bulldogge im Schnee liegen sehen.<br />

Die Glasscheibe hatte einen Sprung, wahrscheinlich vom<br />

Frost. Ich male mir aus, dass das ein Tierfriedhof ist, vor<br />

dem Winter habe ich hier manchmal Schnittblumen liegen<br />

sehen. Mein Westie gibt auf, der Hund des Mannes im aufgeknöpften<br />

Mantel will alleine sein.<br />

Die nächsten Tage führe ich meinen Westie auf der Wiese<br />

an der anderen Seite der Siedlung spazieren. Über der<br />

Wiese hören die niedrig gespannten Hochspannungsleitungen<br />

nicht auf zu sirren. Ich mag ihr Sirren, denn dank ihm<br />

habe ich eine Wiese nebenan und nicht die nächste Wohnsiedlung.<br />

Später kehre ich wieder zum Wald zurück.<br />

Einmal beim Spazierengehen habe ich ein Foto von etwas<br />

gemacht, das ich nicht verstehen konnte. Ich habe es<br />

auf meinen Computer geladen und vergrößert, aber ich<br />

weiß immer noch nicht, wozu diese Installation dienen sollte.<br />

An vier Bäumen, die grob gesehen im Quadrat wuchsen,<br />

hingen Beutel mit etwas, das gefroren war und sogar auf<br />

den Fotos hart aussah. In der Mitte stand ein großer Stein,<br />

aber kein Felsblock, sondern einfach ein Stein, der so groß<br />

war, dass er wie extra hergebracht aussah, und nicht wie<br />

zufällig im Wald gefunden. Neben dem Stein stand eine<br />

Blechdose, die so aufgeschnitten war, dass ihr Boden einen<br />

Greifer bildete und die Wände zwei schräge Schneiden.<br />

Also, ich weiß nicht.<br />

Ich habe den Mann in dem aufgeknöpften Mantel getroffen.<br />

Er hat mich wohl kaum an mir erkannt, denn ich hatte<br />

mich fast bis unter die Brauen in meinen Schal eingewickelt,<br />

so kalt war es. Wahrscheinlich hat er mich an meinem Westie<br />

erkannt.<br />

„Soll ich Ihnen was zeigen?“, fragte er.<br />

Wir gingen tief in den Wald, in die Tiefe zu dem Einfamilienhaus<br />

auf der anderen Seite hin. Er zeigte mir so etwas<br />

wie die Reste einer Hütte.<br />

„Hier hat Pajda gewohnt“, sagte er. „Mit seiner Geliebten.“<br />

Irgendwas hatte ich gelesen.<br />

„Ein Messerstecher, wissen Sie. Hat sich hier eine Hütte<br />

hingestellt, eigentlich ein Zelt, und das Zelt mit Zweigen<br />

überdeckt. Zur Tarnung. Den ganzen Sommer hat er hier<br />

gewohnt, mit der Geliebten und zwei Kindern.“<br />

„Und zwei Kindern?“<br />

„Schwangeren Geliebten.“<br />

Darüber hatte ich tatsächlich was gelesen. Unsere Siedlung<br />

bekommt keine Lokalzeitung, die Einfamilienhäuser<br />

rundherum natürlich schon, da wird das „Echo“ an die<br />

Gartentore gehängt, in speziellen Plastiktüten mit Henkel,<br />

aber bei uns wird es nicht ausgeteilt, wer würde es auch in<br />

die dreihundert Briefkästen stecken wollen, und vor allem<br />

wozu, wo doch mindestens die Hälfte von uns Wochenende<br />

für Wochenende in ihr richtiges Haus fährt, weit außerhalb<br />

von Warschau, und erst dort Interesse hat, sich die Lokalnachrichten<br />

anzueignen. Und auch, Steuern zu zahlen. Und<br />

so habe ich mir das „Echo“ eines Tages aus dem Laden geholt.<br />

Wie dieser Pajda sein Unwesen getrieben hat! In einem<br />

Vorstadtbus, mit dem er im Sommer vom Stausee zurückgekommen<br />

ist, an einem Juliabend, hat er den Fahrer überfallen.<br />

Der Bus stand an der Wendeschleife, und Pajda und sein<br />

Kumpel wollten noch was trinken und ein bisschen herumfahren.<br />

Der Fahrer hat sie gebeten, auszusteigen, denn es<br />

gibt ein Gesetz, das besagt, dass man an der Wendeschleife<br />

aussteigen muss. Da hat Pajda sein Messer gezogen und den<br />

Fahrer verletzt, der ins Krankenhaus musste, und so haben<br />

Pajda und sein Kumpel es zu einem Steckbrief gebracht.<br />

„Oh, hier“, sagte der Mann im aufgeknöpften Mantel.<br />

„Hier hatte er sein Zelt.“<br />

Vom Zelt war nur die organische Hülle geblieben: ein<br />

paar kahle Zweige, die an einem Balken zwischen zwei nebeneinanderstehenden<br />

Bäumen befestigt waren.<br />

„In diesem Zelt haben sie ihn geschnappt. Die Geliebte,<br />

ihre beiden Kinder, ein und drei Jahre alt, ja und diese<br />

Schwangerschaft, ich weiß nicht, wie man das mitzählen<br />

soll. Handys, Schmuck, DVDs.“<br />

„DVDs?“<br />

„Leider. Den ganzen Sommer haben sie hier gewohnt.“<br />

Mir fiel ein, ich könnte den Mann im aufgeknöpften<br />

Mantel beim nächsten Mal fragen, ob er der Mann aus der<br />

Anzeige ist. In unserem Treppenhaus hängt eine Vermisstenanzeige<br />

aus, es wird jemand gesucht, der auch hier gewohnt<br />

hat und jetzt verschwunden ist, aber ich kann auf<br />

dem Foto, oder eigentlich der Kopie von dem Foto, nicht<br />

genau erkennen, wie dieser Mann aussehen soll. Übrigens<br />

kann ich sowieso sehr schlecht Gesichter wiedererkennen,<br />

ich frage viel lieber einfach, ob jemand jemand ist, oder<br />

jemand anderer, oder überhaupt niemand.<br />

An Pajda denke ich hauptsächlich unter der Dusche.<br />

Meine Wohnsiedlung hat eine defekte Warmwasserinstallation,<br />

jedenfalls beurteile ich das so. Aber es ist auch<br />

möglich, dass meine Nachbarn von unten sich einfach seltener<br />

waschen. Wenn ich dusche, muss ich zwei Minuten<br />

warten, bis das Wasser so aus dem Hahn fließt, wie ich<br />

es angefordert habe, nämlich warm. Zuerst kommt kaltes<br />

Wasser, dann abwechselnd kaltes und heißes, schließlich<br />

stabilisiert sich die Temperatur und ich kann mich<br />

waschen. Wie man es auch nimmt, das ist für mich sehr<br />

lästig, und genau dann denke ich am häufigsten an Pajda<br />

in seiner Hütte.<br />

Ich denke auch an Pajdas Geliebte. Ich war noch nie<br />

schwanger, aber ich kann mir vorstellen, dass Hygiene in<br />

dieser Zeit entscheidend ist. Denn über Kinder wiederum<br />

habe ich gelesen, dass sie dreckig glücklich sind. Wasser<br />

laufen zu lassen, bis das mit der richtigen Temperatur<br />

kommt, ist unökologisch, aber daran will ich gar nicht<br />

denken. Eine Hütte aus Zweigen dagegen ist ökologisch,<br />

und an sie denke ich die ganze Zeit.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes


PAWEŁ<br />

POTOROCZYN<br />

IRREN IST<br />

MENSCHLICH<br />

Paweł Potoroczyn (geb. 1961), Diplomat, Verleger,<br />

Musik- und Filmproduzent. Er war Konsul in<br />

Los Angeles und Direktor der Polnischen Kulturinstitute<br />

in New York und London. Seit 2008 ist<br />

er Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts, einer<br />

Institution, deren Auftrag die Verbreitung der polnischen<br />

Kultur im Ausland ist. Irren ist menschlich<br />

ist sein literarisches Debüt.<br />

Ein spätes, überraschendes Debüt. Irren ist menschlich ist der<br />

Versuch, die Geschichte der polnischen Gesellschaft nicht mit<br />

Blick auf „den Hof“, sondern auf das Dorf zu skizzieren – auf<br />

Bauern, Juden, Pfarrer, Partisanen und natürlich volkstümliche<br />

Frauen. Das Dorf heißt Piórków. Seine Bewohner sind<br />

die Piórkówer; eine düstere, rachsüchtige, von Instinkten<br />

geschüttelte Gemeinschaft aufrechter Menschen, die übereinander<br />

wachen und sich über ganze Generationen hinweg<br />

Leid antun, ganz menschlich, ganz normal. Irren ist menschlich<br />

wurde von der Kritik gut aufgenommen, das Buch ist in einer<br />

sorgfältig präparierten, stilisierten, geschmeidigen Sprache<br />

geschrieben, die bäuerliche Wirklichkeit, Ironie des Autors<br />

und eine Umwertung der heroisch-martyrologischen polnischen<br />

Matrize miteinander vereint. Ein Element der Erzählung<br />

ist die groteske Deutlichkeit, die spöttische Reduktion<br />

nationaler Motive – beispielsweise des Widerstands gegen die<br />

deutschen Okkupanten – auf das Konkrete, die Erde, den Körper.<br />

Alles beginnt mit einem Begräbnis, denn, wie wir lesen,<br />

„die Begräbnisse in Piórków waren lebendiger als Hochzeiten,<br />

der Kinematograph oder die Elektrizität“. Dieser ländliche<br />

Brauch – denn auf eine Beerdigung geht jeder, es gibt weder<br />

Eintrittskarten noch Einladungen, und wenn ein Feind bestattet<br />

wird, dann ist es „die reine Freude“ – scheint eine Figur für<br />

die Existenzweise der gesamten polnischen Gemeinschaft zu<br />

sein, die sich auf Trauerrituale konzentriert und den finsteren,<br />

ursprünglichen Jähzorn hinter lobpreisenden Bildnissen<br />

des Erlösers und Marias verbirgt. Für den Autor von Irren ist<br />

menschlich gehört das Brauchtum der bäuerlichen Kultur an<br />

sich weder dem sacrum noch dem profanum an. Diese Sphären<br />

sind genauso von Zufall, Schicksal und Psychologie geprägt<br />

wie die Geschichte, die das Dorf überrollt. Gut und Böse<br />

hausen und mischen sich immer und überall. Die Pendelbewegung<br />

von Leben und Tod, dargestellt von durch das Dorf<br />

ziehenden Hochzeits- und Trauerzügen, ist weder in der Lage,<br />

das ungleiche Ausmaß der Tugenden und Missetaten zu beurteilen,<br />

noch es zu erfassen oder zu bändigen. Das eine besteht<br />

für sich und das andere besteht für sich.<br />

Im Roman sind mehrere zentrale Handlungsstränge verflochten,<br />

der markanteste von ihnen schildert die Liebesbeziehung<br />

von Jaś Smyczek, einem Musiker und Weiberhelden,<br />

und Wanda, der schönen Bäckerin. Das Leben in Sünde verzeihen<br />

weder der Pfarrer noch das Dorf, aber Smyczek stirbt in<br />

der ersten Szene des Romans, getroffen von einer deutschen<br />

Kugel, als Partisan. Wir dringen in die Vergangenheit vor,<br />

ins Gewirr der Piórkówer Schicksalswege. Von vornehmen<br />

Herren, Bauern und Juden, ja sogar von Deutschen. Es gibt<br />

hier Kommunistinnen, Künstler und Weltenbummler. Potoroczyn<br />

schreibt eine neue Dorfprosa, befreit von Eindeutigkeit<br />

und religiösem Patriarchalismus. Er wandelt die Traditionen<br />

Reymonts, Kawalec’ und Myśliwskis ab, aber man erkennt in<br />

dieser Prosa auch eine an Gombrowicz gemahnende Ironie<br />

und die deutlichen Rhythmen der lokalen Erzählungen Jerzy<br />

Pilchs. Die verborgene „Seite“ von Irren ist menschlich ist die<br />

Kunst, die Frage danach, wer Künstler ist und wer diese Rolle<br />

nur anstrebt, sich in ihr ausprobiert. Diese Fragen des frischgebackenen<br />

Autors sind reich an Selbstironie.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

PAWEŁ POTOROCZYN<br />

„LUDZKA RZECZ”<br />

GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL<br />

WARSZAWA 2013<br />

123×195, 352 PAGES<br />

ISBN 978-83-7747-833-2<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL


IRREN IST<br />

MENSCHLICH<br />

Das Briefchen<br />

von Pfarrer Morga an Gutsherrn Radecki enthielt nur zwei<br />

Sätze. Erstens: „Grzegorz, am Samstag kündige ich mich<br />

zum Nachmittagskaffee und zur Préférence an.“ Und zweitens:<br />

„Was auch immer Du für den Unglückseligen tun wirst,<br />

der Dir dieses Briefchen überreicht, tu es, als tätest Du es<br />

für Deinen Bruder und mich selbst.“<br />

Beide Sätze nahm sich der Gutsherr zu Herzen. Für den<br />

Nachmittagskaffee legte er sich ins Zeug wie für ein Abendmahl:<br />

Steinpilzsuppe, Zander und Ente, Mohnkuchen, Honigwein,<br />

Liköre und Starka, für die Préférence war der<br />

Abend zu kurz. Smyczek wies er an, auf dem Dachboden<br />

Quartier zu beziehen, aber im Gutshof. Als die Britschka,<br />

die Morga nach Hause brachte, in der Pappelallee verschwunden<br />

war, machte er sich daran, ein Empfehlungsschreiben<br />

an einen Freund der Familie aus alten Tagen<br />

aufzusetzen.<br />

Herr Radecki hatte keinen Grund, Smyczek zu mögen.<br />

Er mochte ihn nicht, weil Wanda die Avancen des Gutsherrn<br />

zurückgewiesen hatte, obendrein zwei Mal. Einmal<br />

nach dem Tod des Bäckers, als sie vor den Menschen Trauer<br />

trug und es unter dem Federbett, wie sich herausstellte,<br />

mit Smyczek trieb. Und zum wiederholten Mal, als Jaś in<br />

Tarnów im Gefängnis saß.<br />

Er mochte ihn nicht, weil er zur Jagdzeit, wenn er den<br />

Gästen Rebhuhn oder Hasen auftischen wollte, Smyczek holen<br />

lassen musste, er selbst hätte nicht mal aus fünf Schritt<br />

Entfernung den Heuwagen getroffen.<br />

Er mochte ihn nicht, weil er ihn, nachdem er den Halunken<br />

bei sich aufgenommen hatte, unwillkürlich, sogar<br />

gegen seinen Willen, besser behandelte als den Rest der Dienerschaft,<br />

sogar besser als die Hausbewohner, damals war<br />

der Gutshof in Olszany noch ein Haus gewesen. Er mochte<br />

ihn nicht, weil er, nachdem er Smyczek den Flügel gezeigt<br />

hatte, dem er noch nie reine Klänge hatte entlocken können,<br />

das Instrument und den Rest seines Überlegenheitsgefühls<br />

verloren hatte.<br />

Nun, er mochte ihn ganz einfach nicht.<br />

Der Gutsherr wäre bereit gewesen für Talent über Leichen<br />

zu gehen, für irgendein Talent, für einen Talentersatz,<br />

für den Schatten eines Talents, in einer beliebigen Kunst,<br />

in der zu betätigen es sich schickte. Er konnte Noten lesen,<br />

aber kein Instrument spielen, allerhöchstens konnte<br />

er assistieren, die Seiten umblättern, sich beim Pianisten<br />

mit einer vielsagenden Verbeugung revanchieren, die zu<br />

verstehen gab, dass er mindestens ein ihm ebenbürtiger<br />

Künstler war, der sich nur aufgrund seiner Schüchternheit<br />

mit der Nebenrolle abfand, einer Verbeugung, welche die<br />

Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass wahre Genies


escheiden und nur Talentierte hochmütig sind. Die Ermattung<br />

in seiner Darbietung war so überzeugend, er ließ so<br />

aufrichtig die Augenlieder sinken und legte seinen Kopf in<br />

den Nacken, er warf die Schöße seines Gehrocks mit einer<br />

solch vollkommenen Bewegung hinter sich, wenn er sich<br />

auf das Stühlchen im Rücken des Pianisten setzte, dass es<br />

schien, als sei der Maestro in den Gutshof gekommen, um<br />

der Hausmusik die Ehre zu erweisen. Die Etüden des Gutsherrn<br />

waren so suggestiv, dass ohne Zweifel ein Teil des<br />

Applauses, verdientermaßen und gerechterweise, ihm galt.<br />

Von seiner frühen Jugend an bis ins reife Alter versuchte<br />

sich der Gutsherr in der Poesie, von der Annahme ausgehend,<br />

dass diese keiner angeborenen Begabungen bedarf<br />

wie die Musik oder die Malerei, dass die Worte genauso<br />

Tauben und Blinden zugänglich sind und die Bedeutungen<br />

gerecht verteilt sind zwischen allen, die die Schrift beherrschen.<br />

Die Annahme war ebenso falsch wie seine Poesie,<br />

ohne Rücksicht darauf, ob er Oden auf Russisch schrieb,<br />

englische Sonette oder ein Haiku. Die verheerende Neigung<br />

zur Pointe, der Fallstrick der Lyrik, machte das zunichte,<br />

was Herr Radecki selbst als Wesen der Poesie ansah – die<br />

Freiheit von den der Literatur auferlegten Pflichten und die<br />

Freiheit des eigenen Ausdrucks. Die Rhythmen, Melodien<br />

und Farben, jenen vorbehalten, denen das Schreiben die<br />

allergrößte Schwierigkeit bereitet, und irgendwie gegenwärtig<br />

in seinen Gedichten, erklangen in allen Sprachen mit<br />

dem leichten blechernen Echo eines Emailleeimers.<br />

Malen konnte er wohl, aber es verriet ihn eine künstliche<br />

Distanz, die bewirkte, dass nicht einmal die schlechtesten<br />

Bilder aussahen, als hätte sie ein Weitsichtiger gemalt,<br />

der vier Schritte von der Leinwand entfernt stehen muss,<br />

um zu erkennen, welche Formen und Farben sich darauf<br />

ereignen, von Nahem hingegen sieht er nichts als Striche<br />

und Farbpartikel. Vielleicht konnte er es auch, aber mochte<br />

es nicht, es sei denn schüchterne Akte kleiner Jungen, deren<br />

zarte, in banalen Posen erstarrte Substanz die kognitive<br />

Unsicherheit beweist und deren kleine Münder und große<br />

Glieder den Zwiespalt des Künstlers erkennen lassen. Die in<br />

größtem Maße unangenehmen Bemühungen um Modelle<br />

trugen auch erheblich dazu bei, dass er selten und furchtsam<br />

malte.<br />

Das Unglück des Gutsherrn und der Fluch seiner sorgfältigen<br />

Ausbildung und seines wahrhaft guten Geschmacks<br />

war es, dass er sich dessen bewusst war. Was er leider nicht<br />

wusste, war, dass man, um sich ausdrücken zu können, wissen<br />

muss, wer man ist.<br />

Das Singen hatte er noch als Junge aufgegeben, als er<br />

eine gewisse Verlegenheit in den Gesichtern der eigenen<br />

Eltern bemerkte. „Du musst nicht singen, mein Sohn“, sagte<br />

die Mutter, „erzähl uns das doch vielleicht lieber.“<br />

Der Gutsherr hatte sich oft Gedanken darüber gemacht,<br />

warum Morga, letztlich ein Zugezogener – und für die Radeckis<br />

und Gieskaners, deren Wurzeln in jener Gegend<br />

vierhundert Jahre zurückreichten, ganz einfach ein Landstreicher<br />

–, warum Morga eine solche Geltung unter den<br />

Bauern besaß, dass sie alles, was er befahl, sofort taten, und<br />

das manchmal sogar ohne Murren und das übliche Meckern.<br />

Er war weder besonders klug noch gelehrt, in seiner Überheblichkeit<br />

gnadenlos, wenn auch auf seine Art gerecht.<br />

Wenn ihm wenigstens das Alter die Autorität verliehen<br />

hätte, aber Morga war nicht einmal sehr alt. Vielleicht genoss<br />

er deshalb weniger Respekt bei den Frauen, für die ein<br />

lebhafter Kerl, und sei es im Kleid, immer nur ein Kerl sein<br />

wird, vor allem wenn er keusch ist, denn nichts steigert die<br />

Neugier der Weiber so wie Lust- und Kraftlosigkeit, und<br />

nichts schwächt den Respekt mehr als diese Neugier. Und<br />

vielleicht wurde er aus demselben Grund von den Bauern<br />

geachtet, weil er noch nicht alt war, aber freiwillig schon<br />

so gut wie auf der anderen Seite.<br />

Bei alledem hatte der Gutsherr, ohne den Gehorsam<br />

Smyczeks zu verstehen, der auf Befehl Morgas die schönste<br />

Frau verlassen hatte, die er jemals gesehen hatte, seine<br />

eigenen Gründe und Verpflichtungen dafür, auf den Pfarrer<br />

zu hören. Er schrieb also einen Brief, der mit den Worten<br />

begann: „Werter Onkel, vergib mir, dass ich mich direkt an<br />

Ihn wende, aber ich habe keine Beziehungen im gunbatsu.<br />

Seit unserem letzten Treffen in den Gärten des Kaiserpalastes<br />

habe ich gnädigen Onkel um nichts gebeten, und ich<br />

würde niemals Seine Zeit in eigener Angelegenheit vergeuden<br />

oder Ihm Unannehmlichkeiten bereiten, doch die Zeit<br />

ist gekommen, dem einfachen Menschen zu helfen, den<br />

gnädiger Onkel damals erwähnte.“<br />

Der Brief endete mit den Worten: „... sonst kommt er<br />

wieder in den Knast, es ist eine Frage der Zeit.“<br />

Die Rechnung des Gutsherrn war einfach wie ein<br />

Stummfilm im Tschenstochauer Kinematographen. Im<br />

ersten Akt begibt sich der schändliche Smyczek in die verdiente<br />

Verbannung. Im zweiten legt der Gutsherr Wanda<br />

die Welt zu Füßen (berauschend schnelle Schlittenfahrt<br />

auf glitzerndem Schnee, die Sonne in den Baumkronen). Im<br />

dritten Akt erliegt Wanda dem Gutsherren (alles beginnt<br />

im Kreis herumzuwirbeln), im vierten plagen sie Gewissensbisse<br />

(Untertitel: Ach, was habe ich nur getan), doch der<br />

Gutsherr bittet um ihre Hand (der Verlobungsbrillant im<br />

Kerzenschein).<br />

Fünfter Akt: Der schändliche Smyczek erweist sich als<br />

unschuldig und flieht, insgeheim unterstützt durch den<br />

Gutsherrn, aus der Verbannung, aber er fügt sich in sein<br />

Schicksal und der Gutsherr heiratet Wanda.<br />

Oder:<br />

Fünfter Akt: Der zu Unrecht verurteilte Smyczek kehrt<br />

aus der Verbannung heim und vergibt Wanda, der Gutsherr<br />

bietet den Neuvermählten in einem Anfall von Reue eine<br />

großzügige Reise an.<br />

Oder:<br />

Fünfter Akt: Smyczek heiratet eine andere oder fällt im<br />

Krieg, der unglückliche Gutsherr löst unter dem Druck der<br />

Familie und Gesellschaft die Verlobung, Wanda schleudert<br />

den Ring in den Teich von Piórków und schluchzt ob ihres<br />

Schicksals (O was bin ich unglücklich!).<br />

Eine Antwort des Marschalls ist nie eingetroffen, obwohl<br />

der Brief Wirkung gezeigt hat. Nach zwei Monaten<br />

kam ein Militärkurier auf einem Motorrad zum Gutshof<br />

und brachte den Einberufungsbescheid für Smyczek.<br />

Das erste Mal unterschrieb Jaś einen Brief an Wanda<br />

mit einem Violinenschlüssel. Ohne aus dem Beiwagen des<br />

Motorrads zu steigen, gab er ihn Wawerek mit der Bitte,<br />

ihn zu überreichen. Wawerek erklärte sich einverstanden,<br />

zog den Hut und ging in Richtung Zatylna. Smyczek<br />

setzte vorschriftsmäßig die Brille auf, das Motorrad heulte,<br />

qualmte, wendete auf der Stelle und verschwand dann auf<br />

dem Weg nach Broniszewska in einer Staubwolke und dem<br />

aufregenden violetten Gestank der Abgase.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel


HUBERT<br />

KLIMKO-DOBRZANIECKI<br />

GRIECHEN STERBEN<br />

ZU HAUSE<br />

Hubert Klimko-Dobrzaniecki (geb. 1967),<br />

Schriftsteller und Lyriker, lebt seit vielen Jahren<br />

im Ausland (unter anderem auf Island, gegenwärtig<br />

in Österreich). Er schrieb mehrere Erzählungen<br />

und Romane, bisher erschienen von ihm<br />

neun Bände. In seinen Werken wimmelt es geradezu<br />

von Sonderlingen, Verrückten, Eigenbrötlern,<br />

entwurzelten und verkrachten Existenzen,<br />

die entweder unfähig oder unwillig sind, einen<br />

festen Platz im Leben zu finden.<br />

Nach dem Ende des griechischen Bürgerkriegs und der Niederlage<br />

der linken Volksfront kamen Ende der 40er- und Anfang<br />

der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehrere<br />

Tausend politischer Flüchtlinge nach Polen. Die meisten von<br />

ihnen siedelten sich in Niederschlesien an, z. B. in Bielawa, wo<br />

auch Hubert Klimko-Dobrzaniecki seine Kindheit und frühe<br />

Jugend verbrachte. Der Autor erzählt in seinem neuesten Roman<br />

von ebenjenen damaligen „Bielawa-Griechen“ und greift<br />

damit erneut ein Thema auf, das ihm sehr am Herzen liegt:<br />

die schmerzhafte Erfahrung eines Lebens in der Emigration.<br />

Das zentrale Thema ist das Gefühl des Fremdseins und der<br />

Wurzellosigkeit – übrigens in zweifacher Hinsicht. Der Held<br />

des Romans, Sakis Sallas, gilt in Polen, obwohl er in diesem<br />

Land geboren, zur Schule gegangen und vollständig assimiliert<br />

ist, sein Leben lang als ein Fremder. Als er 1980 in das<br />

Land seiner Vorfahren zurückkehrt, macht er dieselbe Erfahrung:<br />

In den Augen der Griechen ist er ein „Polonos“. Doch<br />

ist dies der Grund dafür, dass sein Privatleben eine einzige<br />

Abfolge von Misserfolgen ist? Wir begegnen ihm als einem<br />

verbitterten Fünfzigjährigen, ehemaligen Journalisten einer<br />

Athener Tageszeitung und beginnenden Schriftsteller, wie<br />

er gerade auf einer griechischen Insel ankommt, um im dortigen<br />

Schriftstellerhaus einen Roman über seine Eltern zu<br />

schreiben. Es geht ihm jedoch nicht darum, das Andenken<br />

seines über alles verehrten Vaters und seiner über alles geliebten<br />

Mutter zu wahren und einen nostalgischen Blick auf<br />

seine glückliche und unbeschwerte Kindheit zu werfen – das<br />

Buch soll vielmehr eine private Spurensuche werden. Sakis<br />

leidet darunter, dass er nur wenig über die Vergangenheit<br />

seiner Eltern weiß, die bis zu ihrem Tod nie über ihr Leben<br />

vor der Emigration gesprochen haben. Er hegt zu Recht den<br />

Verdacht, dass sie ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrugen,<br />

dass sich hinter ihrer Ehe noch etwas anderes verbarg.<br />

Das schreckliche Geheimnis kommt im Finale des Romans ans<br />

Licht und stürzt den Helden endgültig in eine Krise.<br />

Die Geschichte des Romans entwickelt sich auf zwei Ebenen,<br />

der Vergangenheit und der Gegenwart. Die erste Ebene<br />

besteht aus zahlreichen, überwiegend humorvoll erzählten<br />

Kleinstadt-Anekdoten, in deren Mittelpunkt Sakis' exzentrischer<br />

Vater – ein unverbesserlicher Träumer und Fantast<br />

– steht. Daneben finden sich ergreifende Familienszenen. Auf<br />

der Gegenwartsebene geschieht hingegen nur wenig: Sakis<br />

geht Affären mit einer Bewohnerin und schließlich mit der<br />

Leiterin des Schriftstellerhauses ein, doch diese lassen sich<br />

kaum als Beziehungen bezeichnen. Eris und Maria führen<br />

dem Helden lediglich den Grad seiner emotionalen Verkrüppelung<br />

vor Augen.<br />

Alles in allem muss man festhalten, dass es in Griechen sterben<br />

zu Hause in erster Linie um die Gefühlswelten der Figuren<br />

geht und dass das „Griechentum“ – sowohl in geschichtlicher<br />

als auch in kultureller Hinsicht – lediglich als Kulisse dient.<br />

Im Vordergrund stehen familiäre Gefühle, vor allem die Beziehung<br />

zwischen Eltern und Kind, das Phänomen einer erfüllten<br />

Vaterschaft einerseits und die nach dem Tode des Vaters entstandene<br />

Leere andererseits. Das Letztere erscheint besonders<br />

wesentlich, weil Sakis' Vater gleich zweimal stirbt – zunächst<br />

real und später symbolisch, als die schreckliche Wahrheit<br />

über seine Vergangenheit in Griechenland zufällig ans Licht<br />

kommt.<br />

Dariusz Nowacki<br />

HUBERT KLIMKO-DOBRZANIECKI<br />

„GRECY UMIERAJĄ W DOMU”<br />

ZNAK, KRAKÓW 2013<br />

140×205, 244 PAGES<br />

ISBN: 978-83-240-2073-7<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

AGENCE LITTÉRAIRE PIERRE<br />

ASTIER & ASSOCIÉS


GRIECHEN<br />

STERBEN<br />

ZU HAUSE<br />

MEIN VATER<br />

nahm verschiedene Arbeiten an. Er konnte einfach nicht so<br />

wie Mama. Egal ob krank oder gesund. Auf den Gongschlag<br />

oder sogar etwas früher. Immer dasselbe. Tagein, tagaus.<br />

Rhythmus war nicht Papas Ding. Papa war ein König, Eigentümer<br />

eines grünen Throns, von dem er sich selbst nach<br />

dem Umzug nicht trennte. Er liebte Veränderungen, Bewegung,<br />

den Strudel des Lebens. Es musste immer etwas los<br />

sein. Irgendein kleines Chaos, eine Minirevolution, schließlich<br />

stellte sich Papa, Paps, Papschen, Papachen stets als Revolutionär,<br />

als Partisan aus den fernen Bergen vor. Da half<br />

er lieber beim Ausladen. Wenn der Zug in den Bahnhof einfuhr,<br />

war er immer der Erste. Wenn etwas umfiel, zerbrach<br />

oder nicht ankam, entwickelte er eine solche Kraft, dass er<br />

alles ganz allein aufheben, reparieren, zusammensetzen, hineinlegen<br />

oder herausnehmen wollte. Und hinterher kehrte<br />

er erschöpft, aber glücklich, mit Geld in der Tasche, nach<br />

Hause zurück. Dann gab er mir eine Münze und sagte: „Junge,<br />

hier hast du Geld, gutes, ehrlich verdientes Geld. Geh in<br />

die Konditorei und kauf dir etwas Süßes, und denk auch an<br />

deine Mutter, denk an den Windbeutel. Für deine Mutter<br />

einen Windbeutel, und für dich, was immer du willst.“ Und<br />

ich machte mich auf den Weg, mit meiner goldenen Münze,<br />

die der Herrscher der Meere und Ozeane mir dargereicht<br />

hatte. Manchmal blieb sogar noch etwas übrig.<br />

Später bekam er es mit dem Kreuz. Er wurde nun einmal<br />

älter. Man muss dazusagen, dass es noch mehr von uns<br />

in der Stadt gab, aber Papa traf sich nicht gern mit ihnen.<br />

Sie stammten von einem anderen Berg, aus einem anderen<br />

Wald, und hatten einen anderen Blick auf die Dinge. Vielleicht<br />

einen pragmatischeren Blick, außerdem ziemte es<br />

sich für einen König nicht, sich unter das gemeine Volk zu<br />

mischen. Einige von ihnen bezeichnete er als Verräter, weil<br />

sie zum Katholizismus übergetreten waren. Einige glaubten<br />

sogar an Gott, und andere waren nicht aus seiner Einheit.<br />

Jene hatten sich, aus was für Gründen auch immer, für die<br />

Tschechoslowakei entschieden. Sie waren irgendwo auf dem<br />

Weg zurückgeblieben und man hatte nie wieder etwas von<br />

ihnen gehört. Auch Mama war zum Katholizismus übergetreten,<br />

ging in die Kirche und ließ mich sogar taufen. Angeblich<br />

hatte mein Vater daraufhin einen Monat lang nicht<br />

mir ihr gesprochen. Aber sie war eben anders und durfte tun,<br />

was sie wollte, denn mein Vater war ihr dankbar für ihren<br />

Fleiß, vor allem jedoch für ihre Liebe. Als wir es sehr schwer<br />

hatten, noch ganz am Anfang, sagte Mama immer: „Wir haben<br />

Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch, wir werden schon<br />

nicht verhungern.“ Irgendwie schaffte sie es, meinem Vater<br />

aus diesen wenigen Zutaten alles Mögliche auf den Teller zu<br />

zaubern. „Was gibt es heute zu Mittag?“ „Heute, mein Liebs-


ter, gibt es gefüllte Weinblätter.“ Und Mama rieb Kartoffeln,<br />

gab ein Ei hinzu, ein wenig Knoblauch, Salz und Pfeffer,<br />

wickelte alles in dünne Zwiebelschichten ein und schob es<br />

in den Ofen. Siehe da, Dolmadakia Yalantzi! Ich sehe, wie<br />

Papa versucht, sich die Kartoffeln wegzudenken. Er genießt,<br />

lässt sich die gefüllten Weinblätter auf der Zunge zergehen,<br />

schluckt sie langsam hinunter. Jetzt ist er zu Hause, also dort.<br />

Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht. Nach einer Weile<br />

hebt er die Augen zum Himmel und sagt, dass ein Wölkchen<br />

aufzieht, aber sicher gleich wieder vorüberzieht, und er lädt<br />

sich noch etwas von dem zauberischen Blendwerk auf seine<br />

Gabel. Und wieder kaut er langsam. Schluckt hinunter.<br />

„Hervorragend, Schatz, hervorragend. Eine ausgezeichnete<br />

Vorspeise. Und was gibt es als Hauptgang?“ „Na, was schon?<br />

Dein Lieblingsessen!“ „Nein?! Du hast Rindfleisch mit Kastanien<br />

gemacht?!“ In der Pfanne schmoren bereits in Scheiben<br />

geschnittene Kartoffeln. Mama lässt sie langsam goldbraun<br />

werden, von beiden Seiten. Bestreut sie mit Pfeffer und Salz.<br />

Legt sie auf einen Teller. Im Bratfett planschen bereits die<br />

Zwiebeln, und Mama gibt noch einen Löffel Zucker hinzu,<br />

sodass sie glänzend und goldbraun werden. Dann verteilt sie<br />

alles auf die Kartoffeln und streut noch ein wenig gehackten<br />

Knoblauch darüber. Kreas me Kastana! Papa gehen die<br />

Augen über. Jetzt lässt er sich nicht mehr so viel Zeit wie<br />

mit der Vorspeise. Sein Bart gerät in Wallung, hängt in den<br />

Teller. Das Rindfleisch mit Kastanien verschwindet im unermesslichen<br />

Magen meines Königs der Meere. „Und zum<br />

Nachtisch? Gibt es etwas zum Nachtisch?“ „Ich kann dir<br />

Revani machen, aber ohne Grieß, nur die Orangenzesten.“<br />

„Gerne.“ Mama nimmt ein paar steinhart getrocknete Orangenzesten,<br />

die sie wer weiß wo herhat, wahrscheinlich noch<br />

von den Deutschen. Sie legt sie in eine Pfanne, begießt sie<br />

mit kochendem Wasser, gibt etwas Fett und einen Teelöffel<br />

Zucker dazu. Fertig ist der Nachtisch. Der beste Nachtisch<br />

der Welt. Papa dankt ihr. Bürstet Mamas abgearbeitete<br />

Hände mit seinem roten Bart. Papas Bürstenbart auf Mamas<br />

Handflächen ist der schönste Dank. Nach diesem königlichen<br />

Mahl, durch das sich meinem Poseidon neue Gehirnwindungen<br />

erschlossen haben, denn es war reichlich Zucker<br />

darin gewesen, schön und festlich war es gewesen, sagt Papa<br />

zu Mama: „Ausladen ist nichts mehr für mich. Ich werde alt.<br />

In die Fabrik will ich auch nicht. Dort würde ich mich zu<br />

Tode langweilen, feste Arbeitszeiten würde mich umbringen.“<br />

„Und? Was willst du dann machen?“ Der König kratzt<br />

sich den Bauch. Streicht über seinen Bart. Steckt sich eine<br />

Zigarette in den Mund. Zündet ein Streichholz an. Blickt in<br />

die Flamme. Versinkt in Gedanken, bis das Streichholz von<br />

allein wieder verlischt. Die Rauchfahne legt sich über das<br />

Rote Meer. Verfängt sich in den Wellen und verschwindet in<br />

der Tiefe. „Ein Warszawa“, sagt er. „Einer aus Dół will seinen<br />

Warszawa verkaufen.“<br />

Als es meinen Eltern etwas besser ging, weil Vater ein<br />

wenig beim Kartenspiel gewonnen und ein wenig beim<br />

Ausladen verdient hatte, und weil Mama in der Spinnerei<br />

ständig zweihundert Prozent der Norm schaffte, und weil<br />

sie sich etwas zusammengespart, zusammengeliehen und<br />

ich weiß bis heute nicht, was sie noch alles angestellt hatten,<br />

auf jeden Fall kauften sie sich einen ausgemergelten Warszawa.<br />

Grau war er, wie ganz Polen es damals war. Wie die<br />

gleichnamige Hauptstadt, in der Paps schon einmal gewesen<br />

war. In der griechischen Botschaft. Irgendetwas hatte er<br />

dort gewollt, irgendetwas zu erklären versucht, aber er war<br />

traurig und mit leeren Händen zurückgekehrt, und hinterher<br />

erzählte er. „Denen ihr Warszawa ist genau wie unser<br />

Warszawa, grau und traurig, und hin und wieder knurrt<br />

es wie ein herrenloser Hund. Voller Beton und Baustellen.<br />

Viel größer als unser Warszawa. Oh, viel größer. Du guckst<br />

auf den Rücksitz, durch die Heckscheibe, und die Stadt geht<br />

einfach immer und immer weiter. Man sieht kein Ende, und<br />

auch kein Ende ihrer Traurigkeit. Wenn sie wenigstens an<br />

einem Berg oder am Meer läge. Aber alles ist flach und eben,<br />

mein Junge, und keine Zikaden zirpen, nur die Milizionäre<br />

regeln mit ihren Trillerpfeifen und Schlagstöcken den Verkehr.<br />

Aber was sollen sie da schon regeln, alle fahren sowieso,<br />

wie sie wollen. Bei uns ist es viel schöner. Viel schöner …“<br />

Unser Warszawa wurde ein Taxi. Eines von nur vieren<br />

in der Stadt. Und mein Vater einer von nur vier Taxifahrern,<br />

dazu noch der einzige Ausländer. Er stand am Taxistand<br />

am „Plac Wolności” und wartete auf einen Anruf, denn es<br />

gab dort ein Telefon, so eine Art Telefonzelle, aber nur für<br />

Taxifahrer. Papa wartete auf einen Anruf von den reichen<br />

Leuten, denn die gab es auch bei uns. Manchmal kamen auch<br />

arme Leute, die in Not waren. Die fuhr Papa dann umsonst<br />

oder fast umsonst. Die, die kein Geld oder nur wenig Geld<br />

hatten, brachten ihm hinterher zum Dank alle möglichen Sachen.<br />

Von Lebensmitteln bis hin zu Weidenkörben. Wegen<br />

seiner Gutmütigkeit wurde mein Vater fast so etwas wie eine<br />

rotbärtige Legende, und es kam so weit, dass die Leute, die<br />

zum Taxistand kamen, nur noch mit dem Griechen fahren<br />

wollten. „Der Grieche ist gut. Kennt alle Straßen und spricht<br />

immer so komisch. Wenn du beim Griechen einsteigst, dann<br />

kommst du auch ans Ziel. Und wenn du kein Geld hast, dann<br />

wartet der Grieche, oder du gibst ihm irgendetwas anderes.“<br />

Wenn sie zu viert, also alle zusammen, am Taxistand<br />

warteten, und das Telefon klingelte, und mein Vater war<br />

gerade der Zweite, Dritte oder Vierte, also der Letzte in der<br />

Schlange, und der Erste nahm den Hörer ab, dann fragte die<br />

Stimme am anderen Ende meistens, ob der Grieche da sei,<br />

ob der Grieche kommen könne. Aber Paps war nicht dumm,<br />

Könige sind im Allgemeinen klüger als Taxifahrer, und Papa<br />

war ja nicht einfach ein Taxifahrer, sondern der König der<br />

Taxifahrer, also musste er in solchen Situationen auch königliche<br />

Entscheidungen treffen. Er wollte keinen Ärger<br />

mit den Jungs. Drei gegen einen. Da hatte er keine Chance,<br />

wohl aber hatte er einen Kopf auf den Schultern. Wenn also<br />

das Telefon klingelte, und Papa war nicht der Erste in der<br />

Schlange, und jemand verlangte nach dem Griechen, dann<br />

ließ er den Ersten sagen, der Grieche sei gerade unterwegs.<br />

Und wenn die Leute an den Taxistand kamen und sich in<br />

den grauen Warszawa drängten, dann tat er einfach so, als<br />

würde er die Kiste nicht in Gang kriegen. Doch damit nicht<br />

genug, mit der Zeit stieg der rotbärtige Poseidon zum Chef<br />

der Taxi-Mafia auf und lange Zeit war in der Stadt kein Platz<br />

für ein fünftes Taxi. Alle waren der Meinung, vier seien ausreichend.<br />

Ausreichend für die Stadt und ausreichend für sie.<br />

Einmal versuchte es doch einer. Er kaufte sich einen Wagen,<br />

meldete ihn an und erhielt eine Erlaubnis. Aber irgendwann<br />

hatte er Sand im Tank, obwohl er gar nicht ans Meer gefahren<br />

war. Und schon waren es wieder nur vier Taxis. Für viele<br />

Jahre. Und welchen Nutzen hatte Paps davon, dass ihn seine<br />

Kumpel vom Taxistand zum Mafia-Chef ernannt hatten? Gar<br />

keinen, der Posten brachte sogar eher Nachteile mit sich.<br />

Nachdem Paps das Zepter am Taxistand übernommen hatte,<br />

eröffnete er seinen Kollegen: „Ich machen Sonntag frei. Ihr<br />

machen Touren. Gut?“ Worauf jene ihm voller Verwunderung<br />

und Begeisterung antworteten: „Ja, ja, ja!“ Fortan liebten<br />

sie ihn noch mehr, denn so waren sie an jenem Tag einer<br />

weniger, und das mit Sonntagszuschlag.<br />

Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau


BEATA<br />

CHOMĄTOWSKA<br />

HOLLAND<br />

OHNE NOT<br />

Beata Chomątowska (geb. 1976), Journalistin,<br />

Autorin einer historischen Reportage namens<br />

„Stacja Muranów” über einen auf den Ruinen des<br />

Ghettos erbauten Warschauer Stadtbezirk. 1999<br />

fuhr sie per Anhalter nach Holland, um im Rahmen<br />

eines „Tempus“-Stipendiums anderthalb<br />

Jahre lang in Breda zu leben und zu arbeiten.<br />

Von ihrem Aufenthalt brachte sie zahlreiche, in<br />

ihrem aktuellen Buch verwertete, interkulturelle<br />

Erkenntnisse mit. Zur Zeit arbeitet Chomątowska<br />

bereits an einem neuen Buch.<br />

Das holländische Breda klingt nicht so vertraut wie London,<br />

wo man keine Straße entlanggehen kann ohne Polnisch zu hören,<br />

sondern scheint eigentlich sogar recht exotisch. Genauso<br />

exotisch wie Chomątowskas irre Geschichten aus ihrem Buch<br />

„Holland ohne Not”. Die Autorin der großartigen historischen<br />

Reportage „Station Muranów”, in der es um einen auf den<br />

Trümmern des Warschauer Ghettos erbauten Stadtbezirk<br />

geht, kehrt dieses Mal zu ihren Erinnerungen an einen anderthalbjährigen<br />

Stipendienaufenthalt in Holland zurück.<br />

Aber das Buch ist dieses Mal keine Reportage – sondern eine<br />

so gewitzt gewobene Geschichte, dass sie sich jeglicher Gattung<br />

entzieht: Auch wenn die Autorin eingesteht, selbst fest<br />

im Boden der Realität verwurzelt zu sein, lassen ihre künstlerische<br />

Verarbeitung und ihr Erzähltalent das Breda-Buch<br />

Richtung Roman segeln.<br />

Die Protagonistin ist eine Studentin, die gegen Ende der<br />

1990er Jahre mit ihrem Freund nach Holland geht und sich<br />

auf die Suche nach Abenteuern macht, die einer jungen Frau<br />

aus gutem Hause – wie ihr –‐ normalerweise nicht gebühren.<br />

Die Rede ist hier natürlich von verschiedensten Genussmitteln,<br />

aber auch von einer Freiheit der Sitten, die in diesem<br />

liberalen Paradies das tägliche Brot ist. In Breda geht sie zwar<br />

zunächst auf die Uni (wobei sie ohne besonderen Enthusiasmus<br />

Bekanntschaft mit den Kommilitonen schließt und nur<br />

unter Schwierigkeiten zur Kenntnis nimmt, dass es so etwas<br />

wie das „akademische Viertel“ in diesem Land der hundertprozentigen<br />

Pünktlichkeit nicht gibt), aber vor allem jobbt sie<br />

in einer – wie sich bald herausstellt – Kultkneipe und schließt<br />

Bekanntschaft mit einer Gruppe schräger, im Freiheitskult<br />

aufgewachsener Freunde.<br />

Äußerst amüsant und lebhaft beschreibt Chomątowska die<br />

jugendlichen Irrungen und Wirrungen der beiden Hauptfiguren<br />

und deren stetige Verwunderung angesichts der krassen<br />

Unterschiede zwischen dem Leben in Holland und dem Leben<br />

in Polen. Dabei ruft sie manches Mal auch Erstaunen und<br />

nicht allzu ferne Erinnerungen beim Leser hervor. Ja, denn<br />

vor kaum länger als einem Jahrzehnt wunderten wir Polen<br />

uns noch, dass es schöne, saubere öffentliche Toiletten mit<br />

einem schwer auffindbaren, geheimnisvollen Spülknopf geben<br />

konnte, und eine Münze in Fremdwährung schien uns das<br />

höchste Luxusgut überhaupt.<br />

Das Buch ist ein ironisches, ehrliches und stellenweise<br />

auch ziemlich freches Portrait der jungen polnischen Emigration<br />

zu Ende der 90er, die so ganz anders ist als die Emigration<br />

vor der Wende – sie sucht im Ausland kein Asyl mehr und legt<br />

nicht immer und ewig nur Geld für eine Wohnung in Polen<br />

zurück, sondern versucht zunehmend forsch (wenn auch<br />

unentwegt mit Herkunftskomplexen kämpfend) ihr eigenes<br />

Leben zu leben und Teil des berühmten und mythenumwobenen<br />

Vereinten Europas zu werden, das ein paar Jahre später<br />

bereits unwiderrufliche Tatsache für uns sein sollte.<br />

Patrycja Pustkowiak<br />

BEATA CHOMĄTOWSKA<br />

„PRAWDZIWYCH PRZYJACIÓŁ<br />

POZNAJE SIĘ W BREDZIE”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

125×205, 336 PAGES<br />

ISBN: 978-83-75365-55-9<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM


HOLLAND<br />

OHNE NOT<br />

So berauscht<br />

war ich von meinen neuen Bekanntschaften, dass ich kaum<br />

einen Gedanken an die bevorstehende Prüfung verschwendete.<br />

Trotzdem bestand ich sie, völlig unerwartet. Zwar lag<br />

mein Notendurchschnitt im untersten Bereich, aber wen<br />

kümmerte das, Hauptsache bestanden. Vor lauter Freude<br />

stürzte ich mich mit Feuereifer in die Aufgabe, die uns Meneer<br />

Hors für das zweite Semester erteilt hatte: Wir sollten<br />

einen Werbeplan für eine Firma entwerfen, die holländische<br />

Weine herstellte. Zuerst fuhren wir mit der ganzen<br />

Gruppe hin, um uns den Hof anzusehen und mit dem Produzenten<br />

das Notwendige zu besprechen. Natürlich erwartete<br />

uns vor Ort, auf einem großen Weingut in der Nähe<br />

von Tilburg, zunächst eine Weinprobe. Wir probierten<br />

abwechselnd weiße und rote Weine und beteuerten dabei,<br />

dass sie keinesfalls schlechter schmeckten als Weine aus<br />

den traditionellen Anbauländern – auch wenn wir uns ums<br />

Verrecken nicht erklären konnten, wie um alles in der Welt<br />

es dem Weinbauer in diesem feuchtkalten Klima gelang,<br />

auch nur diese Plempe herzustellen. Ehrlich gesagt war<br />

der Katzenjammer nach diesen Weinen hier nicht weniger<br />

heftig, als wenn man edlere Trünke wild gemixt hätte, und<br />

somit war das nicht einmal ganz gelogen. Ich fuchste mich<br />

in das Thema ein, dachte mir in freien Momenten Strategien<br />

aus, wie man wirklich Werbung für diesen holländischen<br />

Wein machen könnte, wo es ihn schon einmal gab,<br />

und teilte meine Gedanken mit P. – weißt du, das ist tatsächlich<br />

interessant –, vor allem aber nahm ich voller Eifer<br />

an der Gruppenarbeit teil. Dieses Mal war ich mit Viktor<br />

und Katelin zusammen. Wir hatten massenweise Ideen, angefangen<br />

damit, den Wein als originelles Mitbringsel aus<br />

Holland über die Touristeninformation VVV zu vertreiben,<br />

bis hin zu den Schachteln für die Flaschen, die an traditionelle<br />

Embleme anknüpfen sollten: Hering, Holzschuh oder<br />

Windmühle. Der beste Einfall sollte in die Tat umgesetzt<br />

werden. Wir waren sicher, dass unsere Gruppe gewinnen<br />

würde. Wir waren ganz einfach die Besten. Als schließlich<br />

der Tag der Präsentation gekommen war, mussten wir Viktor,<br />

der unsere Weisheiten zum Besten geben sollte, nicht<br />

einmal die Daumen drücken, denn wir wussten, dass er<br />

das spielend meistern würde. Und so war es auch. Er trat<br />

vor, verbeugte sich und legte eine Wahnsinns-Performance<br />

hin, eine schmissige Freestyle-Rede, eine gerappte Story<br />

über holländischen Wein, hielt bei den entscheidenden<br />

Stellen inne und nahm Gesten zur Hilfe, und im Hintergrund<br />

leuchteten im Takt seiner Worte Dias auf. Das alles<br />

dauerte mindestens eine Viertelstunde, fünfzehn Minuten<br />

Knochenarbeit für den gemeinsamen Sieg. Bei der Vorbereitung<br />

hatten wir natürlich mitgemacht, aber auf Viktor


waren wir am stolzesten. Der Auftritt war zu Ende, Viktor<br />

wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete auf<br />

donnernden Applaus. Doch im Saal blieb es still. Die Studenten<br />

starrten ihn in stummer Verzückung an, man sah,<br />

dass es ihnen gefallen hatte; die Juroren hatten undurchdringliche<br />

Mienen, als hätte der Wort- und Klangschwall<br />

sie in Stein gemeißelt. Meneer Hors kam als Erster zu sich<br />

und hob eine Nummerntafel. Null! Viktor kniff die Augen<br />

zusammen, der alte Trottel musste sich vertan haben, gleich<br />

würde er mit fahrigen Händen hinter sich greifen und sein<br />

Fehlurteil korrigieren. Nun zog auch der Rest mit schneller<br />

Bewegung die Tafeln hervor: Null, Null, fünf Mal die Null,<br />

nur Janka Kapusta hatte uns mitleidig zwei Punkte gegeben<br />

und erstarrte jetzt, erschrocken, dass sie sich so hatte erweichen<br />

lassen. – „Nein, nein, das ist doch nicht möglich!” –<br />

Viktor ließ noch einmal den Blick durch den Saal schweifen<br />

um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte. Katelin und<br />

ich taten dasselbe. – „Ach, fickt euch doch! Lul!”, schrie er<br />

wütend auf Holländisch ins Publikum und rannte aus dem<br />

Saal, dass seine blonden Haare flatterten. Seine Schritte<br />

hallten noch auf der Treppe, als Meneer Hors in beherrschtem<br />

Tonfall, als sei nichts geschehen, das Zeichen gab: „Die<br />

Nächsten, bitte”, und sich zurück auf seinen Platz setzte,<br />

bereit zum Urteil. Die restlichen Präsentationen waren<br />

korrekt und fad wie Haferschleim. Stammelnde Mädchen<br />

in Kostümen, Jungs in Anzügen mit 08/15-Powerpoint-Bildern.<br />

Alle bekamen anständige Noten. Irgendwas stimmte<br />

hier nicht, aber was, das begriff ich erst später, als ich selbst<br />

in der zweiten Prüfung bei Hors durchfiel, obwohl ich mich<br />

wirklich ins Zeug legte und eine Million toller Ideen für die<br />

Werbung von Branntwein made in Holland hatte. Er hörte<br />

sich meine Ausführungen an, ohne mit der Wimper zu zucken,<br />

und sagte dann: „Hm, irgendwo anders könnten deine<br />

unbestreitbaren Talente sicherlich gewinnbringend eingesetzt<br />

werden”, und als ich mich schon über dieses höchste<br />

Lob freuen wollte, trug er mir ein „Ungenügend” ein. Sein<br />

zweifelhaftes Kompliment hatte wie Honig die bittere Pille<br />

umhüllen sollen, damit ich sie ohne Murren schlucken würde.<br />

Niemand hier erwartete Kreativität von uns, für die man<br />

in Amerika belohnt worden wäre; es ging rein um die Einhaltung<br />

des Procedere. Viktor hatte gleich zu Anfang bewiesen,<br />

dass er nichts darauf gab, er hatte das beleid der Schule<br />

gebrochen, denn was besagte sein ständiges Zuspätkommen<br />

sonst? Er hatte die Idee unserer Gruppe übertrieben theatralisch<br />

vorgestellt und damit seine Ignoranz gezeigt: Nach<br />

den unzähligen Konferenzproben hätte er schließlich wissen<br />

müssen, dass das nicht gern gesehen würde. In Holland<br />

werden ernsthafte Zuhörer nicht mit rhetorischen Mitteln<br />

betört, sondern anhand eines festgelegten Schemas mit Argumenten<br />

überzeugt. Und dann hatte er noch die so sorgfältig<br />

erarbeitete gute Stimmung verdorben. Zur Prüfung<br />

erschien er gar nicht, also wurde festgesetzt, dass er nicht<br />

bestanden habe; über seine Person und den von einem Mantel<br />

taktvollen Schweigens bedeckten Vorfall wurde kein<br />

Wort verloren. Ich dagegen sollte einen Monat später zur<br />

Nachprüfung erscheinen. Keiner der Lehrenden bot an, mir<br />

zu helfen, ich musste selbst darum bitten. In Holland gilt<br />

ein jeder als erwachsenes Individuum, das für seine eigenen<br />

Taten verantwortlich ist und nicht an die Hand genommen<br />

wird – es sie denn, er gibt diesen Wunsch ausdrücklich zu<br />

verstehen, dann kommt die auf solche Eventualitäten vorbereitete<br />

Bürokratie ins Rollen und leitet die entsprechenden<br />

Verfahren ein. Von den Polen und Ungarn bot als einzige<br />

Katelin ihre Unterstützung an, selbst mein polnischer<br />

Verehrer machte sich in diesem Moment der Prüfung aus<br />

dem Staub, vielleicht hatte ich ihn erfolgreich verschreckt.<br />

Vom Rest der Leute konnte ich sowieso nichts erwarten. Sie<br />

waren zu der Zeit ohnehin mit einem ganz anderen Drama<br />

beschäftigt, das sich vor unseren Augen abspielte: Krisztina<br />

und Istvan hatten sich getrennt. Aber es war keine normale<br />

Trennung. Istvan hatte sich als Loverboy entpuppt.<br />

Mit dieser englischen Bezeichnung ist im holländischen<br />

Slang nicht etwa ein feuriger junger Liebhaber gemeint,<br />

sondern eine spezielle Art Zuhälter, die Jagd auf ausländische<br />

Mädchen macht. Dieser Zuhälter drückt sich bei Universitäten<br />

und Studentenkneipen herum und versucht, sich<br />

eine oder am besten gleich mehrere Studentinnen herauszupicken,<br />

die einen traurigen Blick haben und leicht verloren<br />

wirken. Er weiß, dass in solchen Milieus nur scheinbar<br />

alle zusammenhalten und es schwer ist, einen wirklichen<br />

Vertrauten zu finden; zu Hause ist weit weg, die Mädchen<br />

fangen an, sich nach jemandem vor Ort zu sehnen, der ihnen<br />

nah ist, dem sie alle ihre Kümmernisse anvertrauen<br />

können. Bei manchen sieht man das sofort, andere, wie<br />

Krisztina, verstellen sich und spielen die Selbstsichere,<br />

aber das wachsame Auge des Loverboys hat schon viele solche<br />

Fälle gesehen und fischt sie alle ohne Probleme aus der<br />

Menge heraus. Und weil er sein Terrain gut erkundet hat,<br />

weiß er ganz genau, dass die jungen Frauen aus Osteuropa<br />

in Westeuropa nur zu gern für immer ihre zweite Hälfte<br />

finden würden. Am besten wäre ein Holländer, aber auch<br />

wenn ein in Holland geborener Marokkaner oder Türke<br />

sich als zivilisierter Mensch erweist, halten sie nicht gar<br />

zu eisern an ihrem ursprünglichen Plan fest. Wenn der<br />

Loverboy sich sein Zielobjekt ausgesucht hat, geht es ans<br />

Werk, nun gilt es, das Mädchen anzugraben und von seinem<br />

Interesse zu überzeugen. Das geht meistens schnell, nach<br />

ein paar mittelmäßig schicken Abendessen ist das Objekt<br />

weichgekocht, hat sich sogar verliebt. Als nächstes muss<br />

die Leidenschaft mit Komplimenten und kleinen Geschenken<br />

zwei, drei Wochen, höchstens einen Monat lang aufrechterhalten<br />

werden, bis die Etappe erreicht ist, wo er ihr<br />

vertraulich ernste Schwierigkeiten gestehen kann: Er hat<br />

da ein paar Schulden bei einem Bekannten. Der Bekannte<br />

arbeitet in einer schwierigen Branche, ist ein bisschen peinlich,<br />

davon zu reden, aber bei uns ist das, wie du ja sicher<br />

gemerkt hast, ein Beruf wie jeder andere auch. Er hat uns<br />

zusammen gesehen, du gefällst ihm. Wenn du nur einmal<br />

mit ihm ausgehen würdest, wäre die Sache vom Tisch.<br />

Wir erfahren nicht mehr, ob es Istvan gelungen ist,<br />

Krisztina dazu zu überreden, oder ob sie den Kontakt gerade<br />

noch rechtzeitig abgebrochen hat; wir sehen sie nur<br />

ein Mal, wie sie weint, die Wimperntusche verschmiert und<br />

läuft ihr über die Wangen, sie macht sich nichts aus unserer<br />

Anwesenheit. Wer sind auch wir schon, das Schlimmste ist,<br />

dass sie zum Schluss den Lehrern davon berichten musste,<br />

weil Istvan die Trennung nicht einsah und sie sich nicht<br />

mehr sicher fühlte.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes


JAN<br />

KRASNOWOLSKI<br />

AFRIKANISCHE<br />

ELEKTRONIK<br />

Jan Krasnowolski (geb. 1972), Schriftsteller, Autor<br />

der Erzählbände 9 leichte Stücke (2001) und<br />

Käfig (2006). Nach dem Besuch eines Kunstgymnasiums<br />

arbeitete er in vielen unterschiedlichen<br />

Berufen. 2006 zog er nach Großbritannien und<br />

lebt seitdem in Bournemouth. Auch in seiner neuen<br />

Heimat versuchte er sich in unterschiedlichen<br />

Berufen, gegenwärtig betreibt er eine Baufirma<br />

und schreibt – wie sein neuer Band „Afrikanische<br />

Elektronik“ belegt – Erzählungen.<br />

„Afrikanische Elektronik” ist bereits das dritte Buch von Jan<br />

Krasnowolski. Beim Lesen seiner neuesten Erzählungen<br />

(„Dirty Heniek“, „Afrikanische Elektronik“, „Hasta siempre,<br />

comandante“ und „Kindoki“) fühlt man sich unwillkürlich<br />

an die Worte Stanisław Lems erinnert, der im Vorwort zu<br />

Krasnowolskis Debütband schrieb: „Der Autor hat eine starke<br />

Abneigung gegen die heutige Zeit, worin man ihm übrigens<br />

Recht geben muss.” Bei Krasnowolski hält sich das Böse im<br />

Verborgenen, es liegt auf der Lauer, verändert seine Erscheinung,<br />

maskiert sich, schlägt unter die Gürtellinie und greift<br />

ohne Vorwarnung an. Dies ist alles andere als die beste aller<br />

möglichen Welten: Es gibt in ihr keine guten, redlichen Polizisten,<br />

sondern lediglich eine systemübergreifende Verstrickung<br />

und allumfassende Unredlichkeit. Die Hüter der Ordnung<br />

erweisen sich als Hüter der Unordnung (Krasnowolski<br />

erinnert auf witzige Weise daran, dass Gesetze nicht vom<br />

Himmel fallen, sondern das Ergebnis von Festlegungen und<br />

Kompromissen sind) und die Abrechnung mit der eigenen<br />

Vergangenheit erscheint als eine nahezu unlösbare Aufgabe.<br />

Der Autor von „Afrikanische Elektronik“ – ein erwachsen<br />

gewordenes Kind der Popkultur – entlarvt in seinen ganz und<br />

gar unglaublichen und gerade deshalb so wahrscheinlichen<br />

Geschichten Mythen, die noch immer lebendig sind. Und<br />

macht nebenbei sehr ernste Literatur: Seine Erzählungen sind<br />

leichtfüßig, filigran, grotesk, fantastisch und gerade dadurch<br />

äußerst realistisch. Krasnowolski äußert sich zu Themen der<br />

Geschichte – von der lokalen bis zur Weltgeschichte. Es geht um<br />

den Kriegszustand in Polen (alte Genossen in neuen, demokratischen<br />

Gewändern), um ideologischen Vampirismus (Ernesto<br />

„Che“ Guevara, der durch eine barmherzige Geste Unsterblichkeit<br />

erlangt und sich fortan vom Blut junger Mädchen ernährt,<br />

nicht nur jener, die T-Shirts mit seinem Konterfei tragen), um<br />

ein vom Teufel besessenes Kind, um Rassismus, Faschismus,<br />

und – was wohl am wichtigsten ist – das Wirken einer nichtinstitutionellen<br />

Gerichtsbarkeit. Aus dem Nebel auftauchende<br />

Massaker-Opfer und brennende Kriegsverbrecher rücken den<br />

Autor bisweilen in die Tradition unheimlicher (ein Porträt,<br />

das Unheil anzieht) und unaufgeregter Erzählungen, die sich<br />

von hinten an die Geschichte anschleichen, um Antworten auf<br />

quälende Fragen zu erhalten: Woher kommt die Unvollkommenheit?<br />

Die Mittelmäßigkeit? Und schließlich: Woher kommt<br />

das Böse?<br />

Krasnowolski umschifft die Untiefen der Lächerlichkeit<br />

vor allem mithilfe seines absurden Humors und seines Mutes<br />

zu ungewöhnlichen Auflösungen. Seine betrunkenen und<br />

bekifften, verblendeten und verzweifelten, an den Rand der<br />

Gesellschaft gedrängten Helden werfen Fragen nach den Grenzen<br />

und den Unterschieden zwischen Traum und Wirklichkeit,<br />

Wahnsinn und Normalität, Gut und Böse auf. Doch Krasnowolskis<br />

Erzählungen bieten weder einfache Antworten noch<br />

moralisierende Kommentare – ein weiterer Beleg für die frühe<br />

Einschätzung Stanisław Lems, dass Jan Krasnowolski „in der<br />

Tat bereits ein reifer Schriftsteller ist“.<br />

Anna Marchewka<br />

JAN KRASNOWOLSKI<br />

„AFRYKAŃSKA ELEKTRONIKA”<br />

KORPORACJA HA!ART<br />

KRAKÓW 2013<br />

140×200, 224 PAGES<br />

ISBN: 978-83-64057-05-2<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

HA!ART


AFRIKANISCHE<br />

ELEKTRONIK<br />

Er führte<br />

den Jungen in das Restaurant am Ende des ersten Passagierdecks.<br />

Die meisten Plätze waren bereits belegt, hauptsächlich<br />

von einer Gruppe von Fußballfans, die von einem<br />

Auswärtsspiel zurückkehrten. Mehrere Dutzend Männer<br />

in den Farben ihres Vereins – alle machten reichlich betrübte<br />

Gesichter, was eindeutig darauf hindeutete, dass das<br />

Spiel nicht zu ihren Gunsten ausgegangen war. Einige von<br />

ihnen öffneten bereits die ersten Bierdosen und fluchten<br />

lautstark auf die „beschissenen Franzosen“. Es gelang Rybka,<br />

sich einen Eckplatz zu erobern, direkt am Fenster und<br />

gleichzeitig mit Sicht auf den von der Decke hängenden<br />

Fernseher.<br />

„Wenigstens kannst du Fernsehen gucken“, sagte er zu<br />

dem Jungen. „Normalerweise würdest du jetzt das Meer sehen,<br />

andere Schiffe und Möwen, aber heute ist es neblig und<br />

man sieht überhaupt nichts.“<br />

Dann kam ihm der Gedanke, dass das Kind im Laufe seiner<br />

Überfahrt aus Afrika wahrscheinlich genug vom Meer<br />

gesehen hatte. Oder vielleicht auch nicht, schließlich wusste<br />

er nicht, unter welchen Bedingungen der Junge gereist war.<br />

Als blinder Passagier konnte er die gesamte Überfahrt eingesperrt<br />

in irgendeiner stickigen Kabine verbracht haben, oder<br />

sogar in einer Kiste im Laderaum. Wer wusste das schon, der<br />

Weg in ein besseres Leben war nicht für alle gleichermaßen<br />

bequem.<br />

„Warte hier und rühr dich nicht von der Stelle!“, sagte er,<br />

als das Vibrieren der Motoren stärker wurde und er spürte,<br />

wie sie von der Küste ablegten.<br />

Er stand auf, um etwas zu Essen zu bestellen. Während<br />

er in der Schlange stand, ließ er das Kind nicht eine Sekunde<br />

aus den Augen. Der Junge saß regungslos auf seinem Platz in<br />

der Ecke und starrte durch das Fenster, als habe er in dem<br />

dichten Nebel, der das Schiff einhüllte, irgendetwas Interessantes<br />

entdeckt.<br />

Der dunkelhäutige Junge verschlang seine Bohnen mit<br />

Speck, ohne dabei den Blick vom Cartoon Network abzuwenden,<br />

und Rybka kam der Gedanke, dass der Kleine keine<br />

Schwierigkeiten haben würde, sich einzugewöhnen. In<br />

einigen Monaten würde ihn niemand mehr von anderen<br />

Kindern, die auf den Britischen Inseln geboren und aufgewachsen<br />

waren, unterscheiden können. Er würde in der<br />

bunten Menge aufgehen, die die Straßen Londons bevölkerte,<br />

er würde beginnen, wie ein echter Londoner zu sprechen,<br />

er würde die Stadt kennenlernen und lernen in ihr zu leben.<br />

Und in einigen Jahren würde er sich nicht einmal mehr an<br />

Afrika erinnern, an das Dschungeldorf oder die Slums, in<br />

denen er bis jetzt gelebt hatte.<br />

„Hast du keine Sehnsucht nach Zuhause?“, fragte er.


„Mein Zuhause ist abgebrannt“, antwortete der Kleine,<br />

während er die letzten Bohnen auf seine Gabel häufte. „Es<br />

ist nichts davon übrig geblieben.“<br />

„Das tut mir leid“, brummelte Rybka verlegen und bedauerte,<br />

dass er dieses für den Jungen heikle Thema angeschnitten<br />

hatte. „Hoffentlich ist niemandem etwas passiert?“<br />

„Sie sind verbrannt. Alle. Mama, Papa, meine drei<br />

Schwestern und mein Bruder“, murmelte das Kind, ohne<br />

dabei den Blick vom Fernseher abzuwenden, auf dem SpongeBob<br />

Schwammkopf gerade über den Meeresboden hüpfte.<br />

„Da standen Männer mit Macheten, die haben aufgepasst,<br />

dass niemand dem Feuer entkam. Auf diese Weise ist mein<br />

Bruder gestorben, weil er versuchte, zu fliehen. Nur ich<br />

habe überlebt.“<br />

„Oh Gott, das tut mir wirklich sehr leid.“ Der schockierte<br />

Rybka bedauerte es, dass er überhaupt angefangen hatte,<br />

den Jungen auszufragen. „Du musst Schreckliches durchgemacht<br />

haben, Kleiner.“<br />

„Hm. Die Bohnen waren super, ich würde gerne noch eine<br />

Cola trinken“, sagte der Junge, schob den leeren Teller von<br />

sich und lächelte einschmeichelnd. „Darf ich?“<br />

Während er erneut in der Schlange vor der Kasse stand,<br />

überlegte Rybka, welche traumatischen Erlebnisse der Junge<br />

hinter sich haben musste. Man meinte zu wissen, was in diesen<br />

ganzen afrikanischen Ländern vor sich ging. Stammeskriege,<br />

Massaker, schmutzige Kriege, in denen verrückte<br />

Anführer selbst so kleine Knirpse zu Soldaten machten – sie<br />

mit Drogen vollstopften, ihnen Gewehre und Macheten in<br />

die Hand drückten und sie in gnadenlose Tötungsmaschinen<br />

verwandelten. Aber es war eine Sache, wenn man das<br />

alles durch den flachen Bildschirm des Fernsehers gefiltert<br />

betrachtete, und eine andere, wenn man jemandem gegenüberstand,<br />

der so etwas tatsächlich erlebt hatte. Dieser Junge<br />

hatte ganz offensichtlich das Pech gehabt, in einer von Konflikten<br />

geschüttelten Region geboren zu werden, und er hatte<br />

einen Albtraum erlebt, der sich sicherlich wie ein Schatten<br />

über sein gesamtes Leben legen würde. Ein Glück, dass<br />

es gelungen war, ihn dort herauszuholen. Der kleine Eugene<br />

verdiente es, in einer besseren Welt zu leben, in der Kinder<br />

zur Schule gingen, keine schrecklichen Dinge um sich herum<br />

sahen und eine wirkliche Kindheit hatten, anstatt mit<br />

einem Gewehr in der Hand durch die Gegend zu rennen und<br />

Tod und Verwüstung zu säen, bis ihnen irgendein anderes<br />

zugekifftes Kind eine Kugel verpasste.<br />

Der Kleine hatte mit ansehen müssen, wie seine Familie<br />

umgekommen war. Rybka konnte nur schwer begreifen, wie<br />

er so ruhig darüber sprechen konnte. Es musste ein Trauma<br />

sein, vielleicht stand er noch immer unter Schock. Das wäre<br />

vermutlich eine Erklärung für seine Ruhe und Emotionslosigkeit.<br />

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er das Gefühl,<br />

genau das Richtige zu tun. Er half dabei, diesen Jungen zu<br />

retten, ihn aus der Hölle zu befreien und ihm ein neues Leben<br />

zu ermöglichen. Der kleine Eugene hatte mehr erlebt,<br />

als irgendein Mensch je erleben sollte, er hatte die Ermordung<br />

seiner Familie mit ansehen müssen und war selbst nur<br />

knapp dem Tode entronnen. Rybka schwor sich, dass er den<br />

Jungen nach London bringen würde, und wenn die Welt um<br />

ihn herum unterginge. Nicht des Geldes wegen, sondern<br />

weil es seine Pflicht war.<br />

Rybka war schon seit Jahren im Geschäft, der Schmuggel<br />

mit Kokain, oder „Charlie“, wie die Engländer das weiße<br />

Pulver umgangssprachlich nannten, sicherte ihm ein<br />

ständiges, nicht unerhebliches Einkommen. Und es ging so<br />

einfach, dass moralische Dilemmata ihm nachts nicht den<br />

Schlaf raubten. Es war einfach ein Job wie jeder andere. Der<br />

eine saß acht Stunden im Büro und wühlte in Papieren, ein<br />

anderer stand am Fließband. Rybka hatte sowohl das eine als<br />

auch das andere ausprobiert, und jetzt schmuggelte er eben<br />

Koks, einfach weil sich die Möglichkeit ergeben hatte, weil<br />

er den entsprechenden Leuten begegnet war. Wenn er es<br />

nicht täte, würde es ein anderer tun, nur ein ausgemachter<br />

Trottel würde sich eine solche Möglichkeit entgehen lassen.<br />

Großbritannien war wie ein riesiger Staubsauger: Tausende,<br />

Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende, vom Sozialhilfeempfänger<br />

bis hin zum Manager eines Großkonzerns,<br />

zogen sich tagtäglich Bahnen weißen Pulvers durch gerollte<br />

Geldscheine in ihre Nasen. Zugedröhnte Politiker regierten<br />

das Land, zugedröhnte Manager leiteten die Konzerne, zugedröhnte<br />

Polizisten machten Jagd auf zugedröhnte Verbrecher,<br />

und selbst der durchschnittliche Dave Smith von nebenan<br />

zog sich am Wochenende gerne eine Bahn. Das Land<br />

funktionierte dank Kokain. Wenn man plötzlich sämtliche<br />

Lieferungen stoppte, würde wahrscheinlich alles stillstehen,<br />

wie eine Maschine, der der Treibstoff ausgegangen war. Die<br />

Wirtschaft bräche zusammen, die gesamte Produktion käme<br />

zum Erliegen und das Land versänke in Chaos und Aufruhr.<br />

Ganz Großbritannien würde in den Abgrund stürzen. So in<br />

etwa stellte Rybka sich das vor, wenn er sein Gewissen beruhigen<br />

wollte.<br />

Er betrachtete sich selbst gar nicht als Schmuggler, sondern<br />

eher als eine Art Ein-Mann-Kurierdienst für besondere<br />

Aufträge. Schmuggler waren Volltrottel, die sich nach<br />

Kolumbien schicken und mit kokaingefüllten Kondomen<br />

vollstopfen ließen, Idioten, die ihr Leben für ein paar miese<br />

Tausender riskierten, mit denen sie es auch auf keinen grünen<br />

Zweig bringen würden. Oder Schlauberger, die ihren<br />

Kombi mit Zigarettenstangen und Schnaps vollpackten und<br />

vierundzwanzig Stunden durch Europa gurkten, nur um in<br />

Dover vom erstbesten Zollbeamten angehalten zu werden,<br />

der einen Blick auf ihr Auto warf.<br />

Dieser Auftrag war anders als die anderen. Als er hörte,<br />

dass es darum ging, einen siebenjährigen Jungen von Marseille<br />

nach London zu bringen, hatte er zunächst abgelehnt.<br />

Ein diskretes Päckchen, das er in einem Geheimfach seines<br />

Kofferraums verstecken konnte, war eine Sache, ein lebender<br />

Mensch eine andere. Das Risiko war wesentlich größer,<br />

außerdem hatte die britische Polizei zuletzt ein besonderes<br />

Auge auf die Schleusung illegaler Einwanderer geworfen,<br />

vor allem weil es plötzlich zu viele von den legalen gegeben<br />

hatte. Aus all diesen Erwägungen heraus sagte Rybka seinem<br />

Auftraggeber, er möge sich jemand anderen suchen. Doch<br />

jener Gentleman war es offensichtlich nicht gewohnt, dass<br />

man ihm eine Abfuhr erteilte.<br />

„Du wirst mir den Jungen bringen“, sagte er und zog ein<br />

Geldbündel aus der Innentasche seines teueren Mantels.<br />

Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau


PIOTR<br />

PAZIŃSKI<br />

DIE<br />

VOGELSTRASSEN<br />

Piotr Paziński (geb. 1973), Journalist, Essayist,<br />

Literaturkritiker und Übersetzer, Chefredakteur<br />

der zweimonatlich erscheinenden jüdischen Zeitschrift<br />

Midrasz, Autor eines Buches über James<br />

Joyce. Für seinen Debütroman Die Pension (2009)<br />

wurde er mit dem Europäischen Literaturpreis<br />

ausgezeichnet, der vom Europäischen Parlament<br />

verliehen wird.<br />

„Wir sind nie über diese Straßen geschlendert. Niemand ist<br />

überhaupt auf die Idee gekommen; als ob wir uns selbst den<br />

Zutritt verwehrt hätten“, schreibt Piotr Paziński in „Das Manuskript<br />

Izaak Feldwurms“, einer von vier langen Erzählungen<br />

aus dem Band Die Vogelstraßen. Auf den Seiten des Buches<br />

wird das Verbot gebrochen, wir betreten einen Raum, der<br />

ungewöhnlich reich ist an Bedeutungen. Es ist das Gebiet des<br />

nördlichen Warschauer Vorkriegs-Stadtteils, aus dem später<br />

das größte jüdische Ghetto Europas gemacht wurde – denn<br />

genau dafür stehen „jene“ Straßen bzw. die „Vogelstraßen“;<br />

dazu verurteilt, „nie von den Toten aufzuerstehen“, sind sie<br />

doch voller Leben, sie nehmen uns mit ihrer seltsamen „Zwischenwelt“<br />

gefangen, die Zeit und Raum des gesamten Erzählbandes<br />

prägt. Bei Paziński verströmt dieser unsichtbare Ort,<br />

überlagert von der Nachkriegstopografie, getilgt auf Karten<br />

und in Gedächtnissen, ein so intensives posthumes Leben,<br />

dass die Realität der Gegenwart schwindet und verblasst,<br />

während die Phantome wieder zum Leben erweckt werden.<br />

„Das aktuelle Straßennetz wurde wahllos ausgeworfen, als<br />

hätte es dort zuvor keins gegeben, als hätte es sich nicht an<br />

den Boden geschmiegt, hätte im luftleeren Raum gehangen,<br />

unbeholfen das Nichts verdeckend.“ Die „Adler-, Gänse-,<br />

Krähen- und Entenstraße“ (im Grunde genommen alles Vogelnamen),<br />

„brachten die Luft zum Klingen, und es schien,<br />

als würde jede ihre eigene Melodie singen.“ Die wichtigen<br />

und die nur erwähnten Helden der Erzählungen sind alte Bekannte,<br />

ein familiärer Kreis von Überlebenden der polnischjüdischen<br />

Welt. Herr Sztajn, Frau Tecia, Dr. Kamińska, Herr<br />

Abram, Herr Rubin, die Oma, die Onkel, schließlich zwischen<br />

alledem der Erzähler, der der Generation der Enkel angehört,<br />

der ersten Generation nach dem Holocaust. Sie alle sind in<br />

Anspruch genommen vom phantastischen Leben, von der Tätigkeit,<br />

Erinnerung zu schaffen. Manche Figuren sind gänzlich<br />

phantasmagorisch wie der titelgebende Feldwurm oder<br />

der Zaddik aus der Erzählung „Trauerzug“. Andere – wie der<br />

von unkonzentrierten Trauergästen getragene Verstorbene<br />

oder Dr. Kamińska – erscheinen vorübergehend in Gestalt von<br />

wirklichen Leichen. Sie alle gehören jedoch jener Zwischenwelt<br />

an, der Welt von Menschen und Geistern, deren Domäne<br />

nicht das klassische Unheimliche, sondern die Literatur selbst<br />

ist, die erlahmende Magie der Fiktion, die ständig vom Leser<br />

wiederbelebt werden muss und in der die Vergessenen fortbestehen.<br />

So ähnlich wie in dem Debüt Die Pension, wenn auch tiefgründiger,<br />

beruht die Struktur der Prosa auf der Idee eines<br />

Ausflugs an einen Ort, an dem die Vergangenheit lauert, sich<br />

verbirgt, aber auch darauf wartet, dass sie jemand beim Namen<br />

nennt. Man kann sie wittern, sie sich vorstellen, sie erblicken.<br />

Kann man, muss es aber nicht. Die elegische Erinnerung<br />

geht zum Teil, unsicher, unbeständig in Erfüllung. Der Autor<br />

führt uns durch einen halb realen, halb geträumten und geisterhaften<br />

Raum, findet eine Form für die Abwesenheit, einen<br />

Begriff für die Nicht-Existenz, eine Darstellung für das Unsichtbare.<br />

Paziński erweist sich als ungewöhnlicher, ironischer<br />

Forscher und Chronist der jüdischen Welt. Der Stil, den<br />

er dabei geschaffen hat, ist zugleich ausdrucksstark und ruhig,<br />

virtuos, aber sich der eigenen Hilflosigkeit bewusst. Sein<br />

Schreiben ist die reiche, tief verinnerlichte Erkenntnis, dass<br />

sich das, was einst als Literatur der Erschöpfung bezeichnet<br />

wurde, infolge des Holocaust endgültig erfüllt hat: Die Notwendigkeit,<br />

in der Literatur über die Nicht-Existenz von Helden<br />

und sogar den Tod von Gegenständen zu schreiben, wie<br />

es in der meisterhaften Erzählung „Die Wohnung“ der Fall<br />

ist. Der gelehrte Stil, reich an Paraphrasen von Bruno Schulz,<br />

biblischer Travestie und Anspielungen auf den Talmud, ist<br />

eine besondere Form, die Philosophie des Verlustes zu praktizieren,<br />

die der schriftstellerischen Mission von Paziński<br />

zugrunde liegt.<br />

Kazimiera Szczuka<br />

PIOTR PAZIŃSKI „PTASIE ULICE”<br />

NISZA, WARSZAWA 2013<br />

135×210, 192 PAGES<br />

ISBN: 978-83-627-9521-5<br />

TRANSLATION RIGHTS: PIOTR<br />

PAZIŃSKI<br />

CONTACT: NISZA


DIE<br />

VOGELSTRASSEN<br />

Jakob<br />

antwortete nicht. Seit einer geraumen Weile hörte er nicht<br />

mehr zu, er beobachtete ein paar Eichhörnchen, die sich<br />

auf einem Ast nachjagten. Der Mann, der sich als Lejzer<br />

vorgestellt hatte, bemerkte es und verstummte. Auch die<br />

Stimmen vom Trauerzug waren nicht mehr zu hören. Jakob<br />

begann, sich Gedanken darüber zu machen, ob es wirklich<br />

gut gewesen war, mit jenem Menschen hier zu bleiben, der,<br />

wie man meinen musste, nicht viel mit den anderen Trauergästen<br />

gemeinsam hatte und der keinen Hehl aus seiner<br />

Abneigung gegenüber dem ganzen Zeremoniell machte.<br />

„Wir holen sie ein, sie werden noch mehr als einmal hier<br />

vorüberkommen“, beruhigte ihn jener. „Ich erzähle Ihnen<br />

lieber, wie das richtige Schreiben aussah. Ich erinnere mich<br />

an meinen Großvater, Schmuel den Sofer, wie er über den<br />

heiligen Rollen brütete. Er saß in aller Ruhe an einem Bogen<br />

bester Kalbshaut, und wir hatten Angst uns zu rühren.<br />

Wir waren kleine Kinder, Sie wissen schon. Normalerweise<br />

rennen kleine Kinder im Raum herum, aber nicht bei uns.<br />

Bei uns herrschte nicht so ein Trubel wie bei normalen Menschen.<br />

Das Haus war recht klein, und es waren viele Kinder,<br />

aber niemand lärmte, ha, niemand sagte ein Wort, manchmal<br />

hat uns nur Großmutter leise etwas zugeflüstert. Bei uns<br />

war es mucksmäuschenstill! Niemand wagte, sich am Kopf<br />

zu kratzen. Was sage ich da, wenn wir die Luft hätten anhalten<br />

können, hätten wir bestimmt nicht geatmet, genau wie<br />

Leichen, die auch nicht atmen. Hauptsache den Großvater<br />

nicht stören, der vom frühen Morgen bis spät in die Nacht<br />

die Thora abgeschrieben hat. Später, wenn alle schliefen,<br />

meditierte er über jedem geschriebenen Abschnitt und formte<br />

aus den heiligen Versen seine eigene Erzählung. Tagsüber<br />

waren alle Enkel vollzählig, aber es war nichts zu hören als<br />

das Schaben seiner Feder! Die Großmutter sorgte sich. Was<br />

geschieht, wenn der Großvater einen Fehler macht? Wenn<br />

ihm die Feder bricht? Aber der Großvater machte keinen<br />

Fehler, und manchmal erlaubte er mir, dem ältesten Enkel,<br />

und natürlich unter der Bedingung, dass ich schweige, hinter<br />

ihm zu stehen und zuzusehen ...“<br />

Jakob hielt Ausschau nach dem Trauerzug. Auf dem Weg<br />

kam niemand, aber Jakob hätte schwören können, dass er<br />

wiederholt Menschen hatte laufen hören, mal näher, mal<br />

weiter weg. Der Mann achtete nicht darauf. Er weilte irgendwo<br />

in weiter Höhe, für Jakob unsichtbar, und sprach<br />

immer erregter, als hätte er seit langem keine Gelegenheit<br />

dazu gehabt.<br />

„Ich sah also dem Großvater über die Schulter und las die<br />

Thora! Und sogar zwei auf einmal! Eine, die ganze Thora, lag<br />

auf Rollen gewickelt auf dem Tisch, genau wie in der Bima<br />

in der Synagoge. Aus ihr kopierte Großvater Vers um Vers,


in der Reihenfolge, wie sie einst sein Vorgänger geschrieben<br />

hatte, und davor noch ein anderer Sofer, bis hin zu Mojsche<br />

Rabejnu selbst. Jeder Buchstabe war gleich wichtig, genau<br />

wie jedes Krönchen über sieben von zweiundzwanzig<br />

Buchstaben, die gemeinsam einen Körper ergaben. Und die<br />

ganze Rolle war wie ein Name, den der Großvater geschickt<br />

in einzelne Ausdrücke teilte. Ich las sie, wenn sie auf dem<br />

Pergament erschienen, das auf eine für mich unverständliche<br />

Weise genau an den Stellen schwarz wurde, wo es sollte.<br />

Großvater berührte es nicht mit der Feder, sondern sprach<br />

in Gedanken zu ihm und erzeugte auf diese Weise Buchstaben<br />

und ganze Sätze. Und wenn es keine Gotteslästerung<br />

gewesen wäre, hätte ich gerufen: Wezot haTora aszef sam<br />

Mojsze lifnej bnej Isroel! Das ist das Gesetz, das Moses den<br />

Söhnen Israels gegeben hat! Aber damals fürchtete ich, Gott<br />

zu lästern, oder, um ehrlich zu sein, ich fürchtete mich eher<br />

vor Großvater und dessen Zorn. Denn wenn, Gott bewahre,<br />

ein Tropfen Tinte auf das Pergament gefallen wäre und einen<br />

Fleck gemacht hätte, wäre es aus gewesen ...“<br />

Jakob spürte, dass er nicht die Kraft hatte, den Mann allein<br />

zu lassen. Im Grunde genommen saß er trotz gewisser<br />

Beschwerden ganz angenehm, und auch die Erzählung des<br />

anderen war recht unterhaltsam. Er machte sich Vorwürfe,<br />

dass er nicht den Mut hatte, das Notizbuch hervorzuholen.<br />

Die Worte verloren sich so schnell in der Dunkelheit, dass es<br />

einen Moment später schwierig war, sie noch auszumachen.<br />

Trotzdem hörte Eliezer nicht zu sprechen auf.<br />

„Der schönste Moment kam, wenn Großvater die Namen<br />

ergänzte. Der ganze Bogen war scheinbar fertig, drei gleichmäßige<br />

Spalten, eine neben der anderen, jedes Wort und jeder<br />

Buchstabe erstrahlten, ich dachte, wir wären im Paradies,<br />

aber das Herrlichste hatte ich noch vor mir. Beim Schreiben<br />

hatte Großvater im Text Stellen frei gelassen für den unaussprechlichen<br />

Namen des Heiligen, gepriesen soll er sein.<br />

Dan ging er sich in der Mikwe reinigen und begab sich in<br />

feierlicher Stimmung wieder an die Arbeit. Nun leuchtete<br />

das Weiß des Pergaments, die Buchstaben waren nicht zu<br />

sehen, nur ihre weißen Konturen. Ich wartete gespannt darauf,<br />

dass er die Feder nehmen würde und dann die Namen<br />

des Allerhöchsten von selbst aufleuchten und alles in den<br />

Schatten stellen, was Großvater bislang geschrieben hatte.<br />

Und so geschah es auch. Ich sah sprachlos zu, denn wenn ich<br />

bisher Großvaters Schrift gefolgt war und in meinem Kopf<br />

ganze Sätze daraus geformt hatte, so war ich jetzt, wo mich<br />

die unaussprechlichen Namen mit ihrer Kraft blendeten,<br />

nicht dazu in der Lage. Der Großvater kam irgendwie damit<br />

zurecht. Ob er die Augen schloss und die fehlenden Buchstaben<br />

aus dem Gedächtnis kalligrafierte, weiß ich nicht.<br />

Vielleicht ließ er auch zu, dass sie ihm die Sicht nahmen? Ich<br />

wollte ihn danach fragen, aber einmal kam er aus der Mikwe<br />

zurück und erblindete. Er setzte sich an den Tisch, breitete<br />

den Bogen aus, prüfte das Tintenfass, sprach einen Segen ...<br />

Und das war alles! Er konnte nichts mehr schreiben. Und<br />

es war der Parschas Ki Tissa, außerdem eine Stelle, an der<br />

der Name zweimal hintereinander vorkommt. Er hat den<br />

Glanz nicht ertragen! Es wurde still, aber anders als bisher,<br />

schrecklich still. Alle Buchstaben flohen von der Rolle, und<br />

es blieb nichts als die reine Haut! Ich stand hinter Großvater<br />

wie behext. Ich wollte ihm helfen, aber ich wusste, dass es<br />

mir nicht erlaubt war. Schließlich war er der Sofer. Es dauerte<br />

lange, länger wohl als das Schreiben selbst. Ich blickte<br />

Großvater an, der sich zusammenkrümmte und den Kopf mit<br />

den Händen bedeckte, als wäre er erstarrt. Wir hörten, dass<br />

er weinte. Sehr laut. Das ist das einzige Geräusch, an das ich<br />

mich erinnere.“<br />

Hinter den Bäumen quietschte ein Karren. (...)<br />

„Ich suche nicht nach Großvaters Grab. Ich denke ich<br />

weiß, wo er liegt.“<br />

Sztajn nickte.<br />

„In unserem Garten, so stelle ich es mir vor. Denn wir<br />

hatten einen Garten, herrlich, der allerschönste auf der Welt,<br />

ganz sonnig, und es wuchsen dort wunderbare Bäume, die<br />

Vögel sangen, aber ich durfte nicht hinausgehen, ich wusste,<br />

dass ich im Zimmer bei Großvater bleiben und zusehen muss,<br />

wie er die heiligen Pentateuchrollen abschrieb, Bogen für<br />

Bogen. Und dort, hinter dem Fenster, wie es dort schimmerte,<br />

das Licht verfing sich in den Blütenkelchen der Blumen,<br />

die sich, noch bevor es sich der Sommer so richtig bequem<br />

gemacht hatte, unter seiner Last bogen. Es sah so aus, als<br />

würden sie gleich bersten, prall und randvoll gefüllt. Dieser<br />

Glanz lockte auch dann, wenn die Furchtbaren Tage näher<br />

rückten und die goldenen Reste, verfangen in den Netzen<br />

des Altweibersommers, direkt über dem verbrannten Gras<br />

verloschen. Ich schlich mich manchmal am Samstag nach<br />

dem Mittagessen dort hinaus, wenn Großvater ein Nickerchen<br />

machte und uns für einen Moment nicht beaufsichtigte.<br />

Wenn die Pforte verschlossen war, zwängte ich mich zwischen<br />

den Latten hindurch, dort gab es so einen schmalen<br />

Durchlass, nichts weiter als ein Spalt, aber groß genug für<br />

mich. Großvater wusste nichts davon, er hätte sich sehr geärgert,<br />

dass ich, anstatt den Raschi-Kommentar zu lesen, die<br />

Zeit mit Dummheiten vergeudete. Um Gottes Willen! Die<br />

Sünde hat sich in meinem Haus eingenistet. Die Sünde ist<br />

durch ein Loch im Zaun hereingeschlüpft, der verräterische<br />

Samen, da lässt man dich einmal aus den Augen, Distel und<br />

Kornrade! Er hätte den ganzen Abend lang geschimpft, ohne<br />

daran zu denken, dass man sich vom Samstag des Herrn<br />

würdig verabschieden soll, dabei heißt es doch, wer leicht<br />

zürnt, der leistet einen Götzendienst. Dabei war doch ich der<br />

Götzenanbeter, ich, der Apikojres, Elisza, der ins Paradies gelangte<br />

...“<br />

„... erblickte dort den schwarzen Engel auf Gottes Thron<br />

und verlor den Glauben“, unterbrach ihn Sztajn barsch.<br />

„Deshalb sind wir Rabbi Akiba Gehorsam schuldig, der lehrte,<br />

dass die Tradition ein Zaun für die Thora ist.“<br />

„... und der Zaun der Weisheit ist das Schweigen. Ich erinnere<br />

mich, wir haben das jeden Freitag bei Tisch gesagt. Nur<br />

auf welcher Seite ist die Weisheit? Ich habe mich dort auf<br />

die Erde gelegt wie ein Ungläubiger, vielleicht auch wie ein<br />

gewöhnlicher Junge, der nach Sonne dürstet, ich habe stundenlang<br />

gelegen, so kam es mir vor, obwohl es nur kurze Momente<br />

waren. Ich habe den Duft wilder Kräuter eingesaugt<br />

und die Äste des Apfelbaums angeschaut, wo erste Früchte<br />

wuchsen. Etwas ist damals in mir erwacht, eine Sehnsucht,<br />

Hitze legte sich auf meinen Kopf, der Körper drängte zum<br />

Leben ...“<br />

„Sünder!“ spottete Sztajn. Beide begannen zu lachen.<br />

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel


ANDRZEJ<br />

STASIUK<br />

AN GELBEN<br />

STRASSEN GIBT’S<br />

KEINEN KAFFEE<br />

Andrzej Stasiuk (geb. 1960), Prosaschriftsteller,<br />

Dramaturg und Publizist sowie Verleger; Autor<br />

zahlreicher Prosabände. In den letzten Jahren<br />

publizierte er den Roman Taksim (2009, dt. „Hinter<br />

der Blechwand“, 2011), eine Sammlung von<br />

Erzählungen unter dem Titel Grochów (2012, dt.<br />

„Kurzes Buch über das Sterben“, 2013) sowie<br />

den Band mit essayistischer Reiseprosa Dziennik<br />

pisany później (2010, dt. „Tagebuch, danach<br />

geschrieben“, 2012). Er erhielt zahlreiche renommierte<br />

Preise, darunter 2005 den wichtigsten polnischen<br />

Literaturpreis Nike für Jadąc do Babadag<br />

(dt. „Unterwegs nach Babadag“).<br />

Die zahlreichen Texte, die in Andrzej Stasiuks neuem Buch<br />

unter dem Titel An gelben Straßen gibt’s keinen Kaffee versammelt<br />

sind, könnte man als Reisenotizen bezeichnen, und es<br />

sind – wie sich herausstellt – immer weiter von Europa entfernte<br />

Länder, die der Autor bereist. So bekommen wir hier<br />

Aufzeichnungen zu lesen, die unter dem Einfluss von Reisen<br />

in die Mongolei, nach China, nach Kirgisien und in den fernen<br />

Osten Russlands entstanden sind.<br />

Stasiuk sucht an diesen Orten eigentlich das, was er immer<br />

gesucht hat (ich denke an seine früheren Fahrten in das<br />

„schlechtere“ Europa, hauptsächlich in den Balkan), das heißt,<br />

er sucht eine nicht offensichtliche, im übrigen von ihm selbst<br />

geschaffene Mystik, die Epiphanie, die Bezauberung, bisweilen<br />

auch das effektvolle Paradoxon. So wundert es uns auch<br />

nicht – der Autor hat uns inzwischen daran gewöhnt – , dass<br />

er sich in der Einöde am wohlsten fühlt, in der mongolischen<br />

Steppe oder in der Wüste Gobi. Und wenn er von seiner Heimat<br />

(den Niederen Beskiden, wo er seit Jahren wohnt) oder<br />

von den Nachbarländern erzählt, dann konzentriert er sich<br />

auf die „slawische Wehmut“, auf die Zerbrechlichkeit und<br />

Merkwürdigkeit der Existenz, die an solchen Orten zu spüren<br />

sind. In einem der Feuilletons schreibt er (und meint damit<br />

seine nähere Umgebung): „Ich wohne in einem Reich der Geister“,<br />

und er erklärt genau, wie er zu dieser Diagnose kommt.<br />

Die Erklärungen sind zum Teil sehr präzise, weil einige der<br />

Texte aus dieser Sammlung ursprünglich für ausländische<br />

Leser bestimmt waren, denen man – beispielsweise – erläutern<br />

sollte, was früher die Kultur der Lemken war und unter<br />

welchen Umständen sie verschwunden ist.<br />

Den treuen Lesern der künstlerischen und diskursiven<br />

Prosa von Andrzej Stasiuk wird dieses Buch sehr gefallen.<br />

Obwohl wir schon zur Genüge wissen, was der Autor nicht<br />

ausstehen kann (z.B. alle Praktiken der Imitation, den „postmodernistischen<br />

Müll“) und was ihn fasziniert (z.B. jegliche<br />

postsowjetischen Spuren – sowohl in der Architektur als auch<br />

in der Mentalität – als Zeichen des Bankrotts einer gefährlichen<br />

Utopie), so verdirbt uns dieses erkenntnistechnische<br />

Unbehagen (wir erkennen das schon Bekannte) doch nicht<br />

die positiven Leseeindrücke. Stasiuks Pinselstrich ist sparsam<br />

und treffsicher zugleich, und seine kleinen Skizzen sind<br />

raffinierte literarische Miniaturen von hoher Qualität.<br />

Wie man sich unschwer denken kann, verweigert dieser<br />

Schriftsteller geradezu programmatisch eine Reaktion auf<br />

die Dinge, über die sich die Medien täglich echauffieren. Er<br />

bleibt sich absolut treu – seinen Faszinationen, seinen peripheren<br />

Räumen und seinen ganz persönlichen Geschichten.<br />

Was Letztere betrifft, so sind die wichtigsten diejenigen, die<br />

seine Kindheit und frühe Jugend betreffen. Das ist ein neuer<br />

Ton in Stasiuks Prosa – der Autor denkt immer lieber über<br />

seine plebejischen Vorfahren nach, taucht immer tiefer in<br />

die bäuerlich-proletarische Genealogie seiner Familie ein und<br />

wird unweigerlich zu einem unverbesserlichen Nostalgiker.<br />

ANDRZEJ STASIUK<br />

„NIE MA EKSPRESÓW PRZY<br />

ŻÓŁTYCH DROGACH”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

125×205, 176 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-628-0<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM<br />

Dariusz Nowacki


AN GELBEN<br />

STRASSEN GIBT’S<br />

KEINEN KAFFEE<br />

Ich sitze<br />

in meinem Zimmer und stelle mir Süditalien vor. Ich schaue<br />

auf das grüne Tal, auf die schattigen Fichten- und Buchenwälder,<br />

das wogende Gras, die Holzhäuser in meinem Dorf<br />

und stelle mir Süditalien vor, Kalabrien und Basilikata. Dort<br />

war ich nie. In zwei Wochen werde ich mich in Warschau<br />

ins Flugzeug setzen und über Rom nach Brindisi fliegen.<br />

Von Brindisi fahre ich mit der Fähre nach Durrës in Albanien,<br />

um eine Woche im Norden dieses Landes zu verbringen,<br />

in der Nähe der Grenze zum Kosovo. Aber auf dem Rückweg<br />

werde ich auch eine Woche in Kalabrien verbringen.<br />

Immer wenn ich nach Italien fahren wollte, dachte ich an<br />

den entferntesten Teil der Halbinsel. Nie an Rom, Venedig,<br />

Florenz oder Mailand. Selbst Neapel lag mir zu nahe. Immer<br />

stellte ich mir den Süden vor, weil dort der Kontinent, weil<br />

dort Europa endet. Ich stellte mir vor, wie das Meerwasser<br />

und die Sonnenglut die Erde anfressen und sie den Menschen<br />

wegnehmen. Die Appeninenhalbinsel sieht auf der<br />

Karte wie ein archaischer Knochen aus, wie das Skelettfragment<br />

eines Urtiers. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb<br />

den Süden immer als etwas sehr Altes, Archaisches und<br />

vom Vergehen der Zeit Gequältes vorgestellt. Weiße Steine,<br />

gnadenloses Licht und Schatten, schwarz wie Ruß – so sehe<br />

ich es. Und der reglose Blick der alten Frauen, die vor ihren<br />

Häusern sitzen. Sie machen den Eindruck, als hätten sie die<br />

ganze Vergangenheit gesehen und kennten die Zukunft. Die<br />

Männer unterscheiden sich vielleicht, aber die alten Frauen<br />

sind überall gleich. Hier in Polen, in der Slowakei, in Ungarn,<br />

auf dem Balkan. Sie sitzen da, in ihren schwarzen Witwenkleidern<br />

und Kopftüchern und blicken durch die Zeit hindurch.<br />

Genauso muss es auch in der Gegend von – sagen wir<br />

– Savelli oder Longobucco sein. Da bin ich mir sicher, aber<br />

ich werde hinfahren, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ich<br />

werde hinfahren, um zu überprüfen, ob die kalabrischen<br />

Omas den Omas aus dem Dorf gleichen, in dem ich wohne.<br />

Ich werde mit wenig Gepäck fahren und die Ferienorte<br />

am Meer meiden wie der Teufel das Weihwasser. Die Strände<br />

erinnern im Sommer an die mittelalterliche Vision der<br />

Hölle. Ich werde fünfzig italienische Wörter lernen und<br />

schauen, wie es sich in dieser Gegend per Anhalter fährt.<br />

Mit einem leichten Schlafsack werde ich hier und da unter<br />

freiem Himmel schlafen und mir das Geld für die Hotels sparen.<br />

Natürlich werde ich mich vor der Vogelspinne fürchten,<br />

aber der Wein wird diese Angst lindern. In Städten und<br />

Dörfern werde ich Schatten suchen. Ich weiß, dass man auf<br />

dem Marktplatz eines gottverlassenen Städtchens den ganzen<br />

Tag verbringen kann, indem man sich mit der Sonne<br />

bewegt, und das ist manchmal großartiger und wichtiger<br />

als alle Museen von Rom und Florenz. Nach einer oder zwei


Stunden gewöhnen die Leute sich an die Anwesenheit eines<br />

Fremden, und du kannst behutsam in ihr Leben eintreten,<br />

fast als wärst du unsichtbar. Ein bisschen sehen sie dich,<br />

aber sie sind bemüht, sich zu verhalten wie immer, weil der<br />

Stolz es ihnen nicht erlaubt, wegen eines Dahergelaufenen<br />

irgend etwas anders zu machen. Ja, auf dem Marktplatz eines<br />

unbekannten Städtchens oder Dorfs in einem fremden<br />

Land zu sitzen, ist wie das Lesen eines schönen Buchs. Ein<br />

wenig verstehst du, aber den Rest musst du dir vorstellen.<br />

Die Leute führen die gleichen Gesten aus wie bei dir zu Hause,<br />

aber ihre Bedeutung ist nicht restlos klar. Nur die Tiere,<br />

Katzen und Hunde, verhalten sich wie überall; sie reagieren<br />

eher auf den Körpergeruch oder die Wärme der Stimme als<br />

auf Aussehen und Worte.<br />

So ist mein naiver Plan. Ich betrachte die Karte von Europa<br />

und sehe lediglich seine Grenzen, die Orte, von denen<br />

aus man nur umkehren kann. Ja, ich sollte „Paris“ denken,<br />

aber ich denke „Lissabon“. Ich sollte „Venedig“ denken, aber<br />

ich denke „Donaudelta“. Eben dort spürte ich eines Sommers,<br />

wie der Kontinent im Meer versinkt und sich geschlagen<br />

gibt, dort in Sulina, dem letzten Städtchen Europas, spürte<br />

ich die mit Freude gemischte Trauer, dass ich am Ende angelangt<br />

bin, am Rande dieser historisch-geographisch-ideologischen<br />

Abstraktion, die dort äußerst real ist: rostende Barken<br />

und Schiffe, in sandigen Dünen verscharrt, ein Friedhof<br />

mit Matrosennamen aus der ganzen Welt von vor hundert<br />

Jahren, die tristen Militäranlagen und die schwarzen Gitter<br />

der Radargeräte, die nach einer Invasion Ausschau halten,<br />

herrenlose Hunde und Sümpfe, die sich über Zehntausende<br />

von Hektar erstrecken. Stellt euch eine europäische Stadt<br />

vor, zu der man nur übers Wasser gelangen kann. Eine Stadt<br />

an der Mündung eines der größten unserer Flüsse. Achtzig<br />

Kilometer mit dem Boot, der Fähre, dem Tragflügelboot, weil<br />

es anders nicht geht.<br />

Ich habe nichts gegen das Zentrum, aber die Peripherie<br />

zieht mich mehr an. Schon jetzt wird die Mitte des Kontinents<br />

immer stärker vereinheitlicht. Die Metropolen unterscheiden<br />

sich kaum mehr. Bald wird man sie nur noch an ihren<br />

hoch geschätzten, toten Sehenswürdigkeiten erkennen<br />

können. Wenn man diese Sehenswürdigkeiten überhaupt<br />

noch wird wahrnehmen können unter der grellen Schicht<br />

der Gegenwart: die gleichen Namen der Hotelketten, die<br />

gleiche Werbung, die gleichen Bankautomaten, Biersorten,<br />

Parkuhren, die gleiche Anordnung der Regale in den Supermärkten,<br />

das gleiche Repertoire in den Kinos.<br />

Ich denke, bald werden wir eher in die Peripherien reisen,<br />

an die Grenzen des Kontinents, in die Gegenden, wo alte<br />

Frauen mit Kopftüchern sitzen. Natürlich, und zum Glück,<br />

werden nicht alle das tun. Nur diejenigen, die die Vergangenheit<br />

nicht als Anachronismus und Aberglaube interessiert,<br />

sondern als Ort der eigenen Herkunft.<br />

Mai<br />

Neulich machte mir im Gespräch jemand bewusst, dass wir<br />

in einem Land leben, das keine Langeweile in der Natur<br />

kennt. Du müsstest mal in den Tropen leben, sagte er. Ein<br />

halbes Jahr lang ergießt sich Wasser aus dem Himmel. In<br />

der anderen Hälfte eintönige, gleichgültige Hitze. Ich stellte<br />

mir dieses Gefängnis des Wetters vor, und jetzt lobe ich mir<br />

mein Land um so mehr für seine Wechselhaftigkeit, Unvorhersehbarkeit<br />

und die Folge der Jahreszeiten, die immer zu<br />

langsam kommen oder zu lange dauern, im Vergleich zu<br />

den Tropen aber eine große Vielfalt bieten.<br />

Ich lobe also mein Land, und umso mehr, umso stärker<br />

lobe ich die Ankunft des Mais: dieses plötzlichen Wunders,<br />

das nach der Leichenstarre des Winters die Nacktheit der<br />

Erde bedeckt, das dieses Skelett aus Schlamm, Gestrüpp<br />

und Resten des letzten Jahres bekleidet. Wie eine hochheilige<br />

Gnade fließt vom Himmel goldener Staub, ein grünlicher<br />

Schleier, der sich Stunde um Stunde, Tag um Tag im Laub<br />

verfestigt, in grünender Flur kondensiert und kristallisiert,<br />

tief in die Erde eindringt und wie ein übernatürlicher Katalysator<br />

warme Gerüche freisetzt. Ich könnte stundenlang<br />

vor dem Haus sitzen und schauen, schnuppern und lauschen,<br />

wie die schönste Jahreszeit an Kraft gewinnt. Doch das gelingt<br />

mir fast nie, immer muss ich irgendwo hinfahren, aufbrechen,<br />

den Raum durchqueren. Schicksal. Aber ich beklage<br />

mich nicht. Denn unterwegs, mit Ortswechseln, aus einer<br />

vorübergehenden Perspektive sieht es noch schöner aus. Als<br />

flösse ich mit dem Strom des grünen Blutes im Körper des<br />

Landes. Als durchquerte ich dieses auf dem Rücken liegende,<br />

heiße Polen in seinen Adern, Arterien und Venen, die vor<br />

Überfluss, vor Bereitschaft, vor Potenzialität pulsieren. Wir<br />

leben im Innern, in der Mitte, aber wir brauchen den Mai,<br />

um uns die Reize dieser Eingeweide vor Augen zu führen.<br />

Ein Samstagabend bricht an. Grüne Schatten legen sich<br />

quer über die Straße. Du hältst am Geschäft „Delikatessen<br />

Zentrum“ in Ciężkowice an, um dir Cola und Red Bull für<br />

unterwegs zu kaufen. Junge Burschen kommen angefahren,<br />

mit Musik. Sie tragen enge weiße Unterhemden, silberne<br />

Kettchen und fernöstliche Tätowierungen. Die Bässe dröhnen.<br />

Die Mädels sind wie durch ein Wunder schon gebräunt.<br />

Der Innenraum des Geschäfts ist groß, hell und bunt wie im<br />

Film oder im Traum. Und der Samstag und der Mai mischen<br />

sich zu einem feierlichen, ekstatischen Cocktail. Von den<br />

Jungs und Mädchen her weht ein Duft von Parfüm. Sie sehen<br />

aus wie glückliche, verschüchterte Ehepaare, wenn sie<br />

Bier, Wurst, Senf, Brot, Holzkohle und Anzünder in die Einkaufswagen<br />

laden. Die Jungs tragen Shorts und Sportschuhe.<br />

Die Mädchen haben einen schwarzen Strich unter den<br />

Augen. Die etwas älteren Frauen nehmen hundertfünfzig<br />

Gramm von dem, hundert Gramm von dem und wieder hundertfünfzig<br />

von noch etwas. Alles in Scheiben geschnitten.<br />

Diese Trägheit und herrschaftliche Laune des „geschnitten<br />

bitte“ nervt mich immer, als hätten sie allesamt zu Hause<br />

kein Messer. Aber heute nicht, heute sieht es aus wie die<br />

Vorbereitung auf eine Hochzeit, auf einen Empfang, ein<br />

Festmahl, etwas Üppiges. Drei Sorten Schinken, Presskopf<br />

für zwanzig Zloty das Kilo, Radieschen, Salat, zum Trinken<br />

etwas Orangerotes mit Kohlensäure in Zweiliterflaschen<br />

und obendrauf die gebauschten Kissen von Chips in vier<br />

Geschmacksrichtungen. Vor einem Regal mit Wein steht ein<br />

älteres Ehepaar in meinem Alter. Seine Erinnerung reicht<br />

in die Zeit, als Wein einfach Wein war. Einheimischer und<br />

bulgarischer. Lieblicher und trockener. Weißwein, Rotwein,<br />

Wermut. Und hier ein Regal bis zur Decke. Die beiden stehen<br />

da und flüstern einander ins Ohr. Diskret weisen sie mit dem<br />

Finger hierhin und dorthin. Verloren wie Kinder in diesem<br />

Delikatessen-Geschäft, umgeben von der samstäglichen<br />

Maiaura, die etwas von Dispens hat, etwas von einer Lizenz<br />

zu gemäßigter Spinnerei mit alten Freunden bei einer Flasche<br />

Tokajer Furmint.<br />

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall


ARTUR<br />

DOMOSŁAWSKI<br />

TOD<br />

IN AMAZONIEN<br />

Artur Domosławski (geb. 1967), Journalist und<br />

Publizist. Ihn interessieren vor allem Lateinamerika,<br />

gesellschaftliche Konflikte und Antiglobalisierungsbewegungen.<br />

Der Autor war ein<br />

Schüler von Ryszard Kapuściński, dem er das<br />

Buch Kapuściński. Non fiction gewidmet hat. Es<br />

erschien 2010 in Polen, ist kurz darauf in mehrere<br />

Sprachen übersetzt worden und wurde zu einem<br />

internationalen Bestseller.<br />

Brasilien, Bundesstaat Pará. Es ist der 24. Mai 2011. Unbekannte<br />

Täter schießen auf zwei Umweltschützer. José Claudio da<br />

Silva und seine Frau Maria sterben auf der Stelle. Die Mörder<br />

schneiden José ein Ohr ab – als Beweis für die Auftraggeber.<br />

Es stellt sich heraus, dass das kein Einzelfall ist. Die Anführer<br />

der Bauern und die Umweltschützer, die im Amazonas-Gebiet<br />

wohnen, bekommen Drohungen und leben in ständiger Angst.<br />

„Im Bundesstaat Pará wurden in den letzten fünfzehn Jahren<br />

205 Landaktivisten ermordet, in den letzten vier Jahrzehnten<br />

– über 800. In den Gefängnissen sitzen nicht einmal fünf<br />

der Auftraggeber dieser Verbrechen“, sagt einer der Protagonisten<br />

der Reportage. Die Polizei und die örtlichen Behörden<br />

schauen diesen Machenschaften untätig zu, vielleicht sind sie<br />

sogar daran beteiligt. Worum geht es hier?<br />

Wenn wir mit der Lektüre von „Tod in Amazonien“ beginnen,<br />

haben wir die Erwartung, den Autor bei seinen journalistischen<br />

Recherchen, die zur Lösung des Rätsels führen,<br />

begleiten zu können. Wir denken, dass wir die Namen der<br />

Schuldigen erfahren und etwas über ein gerechtes Urteil lesen<br />

werden, oder – im schlimmsten Fall – anfangen, über die<br />

Gleichgültigkeit der Gerichte in Lateinamerika nachzusinnen.<br />

Wir vermuten jedoch nicht, dass die Fäden der Verflechtungen,<br />

die bei den im Buch beschriebenen Ereignissen ihren<br />

Anfang nehmen, bis zu unseren Häusern reichen. Und dass<br />

wir am Ende der Lektüre die Welt anders betrachten werden<br />

– auch die, die uns am nächsten ist.<br />

Die drei hervorragenden Reportagen, die sich zu dem<br />

Band „Tod in Amazonien“ zusammenfügen, verbindet ein<br />

Thema: Die groß angelegte Zerstörung der natürlichen Umwelt<br />

(die Rodung der Amazonas-Regenwälder in Brasilien,<br />

der Goldabbau in Peru und die Ölförderung in Ecuador) und<br />

die damit einhergehende Vernichtung lokaler Gemeinschaften.<br />

Die Helden in Domosławskis Buch sind gewöhnliche und<br />

gleichzeitig ungewöhnliche Menschen, die für die Rettung<br />

der Umwelt und für ein Leben in Würde alles riskieren. Ihr<br />

Kampf – so scheint es – ist von vornherein zum Scheitern verurteilt,<br />

obwohl der letzte Text einen Funken Hoffnung lässt.<br />

Der Reporter spricht mit Bauern und den Aktivisten vor Ort,<br />

mit investigativen Journalisten, Juristen und Geschäftsleuten.<br />

Faden für Faden entwirrt er geduldig die komplizierte<br />

Vernetzung zwischen den Mördern, der lokalen Wirtschaft,<br />

der Politik und den transnationalen Konzernen. Er zeigt die<br />

Rücksichtslosigkeit der Geschäftsleute und Politiker auf, ihre<br />

Betrügereien, Manipulationen und Propagandatricks.<br />

Ausgehend von Details und konkreten Situationen eröffnet<br />

der Autor eine breite Perspektive. Und das ist einer der<br />

Momente, in denen die Lektüre besonders eindringlich wird.<br />

Wenn wir bis jetzt glaubten, wir hätten mit der Vernichtung<br />

der Amazonas-Regenwälder nichts zu tun, so ist es an der Zeit,<br />

sich in der eigenen Wohnung umzuschauen... Nach der Lektüre<br />

der zwei anderen Reportagen werden wir uns auch nicht<br />

besser fühlen.<br />

„Wir verurteilen ein Verbrechen – dieses und jedes nächste.<br />

Aber können wir schwören, dass wir an der Verteilung der<br />

Beute nicht beteiligt sind?“, fragt der Autor und bezieht sich<br />

dabei auf Sven Lindqvist, einen anderen hervorragenden Reporter.<br />

Das Buch von Artur Domosławski – verhalten, konkret,<br />

voller Fakten und Namen – hat die Kraft einer Sprengladung.<br />

Nach der Lektüre möchte man auf die Straße gehen und die<br />

Welt verändern. Es ist wohl an der Zeit.<br />

Małgorzata Szczurek<br />

ARTUR DOMOSŁAWSKI<br />

„ŚMIERĆ W AMAZONII”<br />

WIELKA LITERA, WARSZAWA 2013<br />

205×135, 328 PAGES<br />

ISBN: 978-83-64142-13-0<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM


TOD<br />

IN AMAZONIEN<br />

Sein Körper<br />

war von siebzehn Kugeln durchlöchert.<br />

Vier Kugeln hatten die Bauchhöhle durchbohrt, sechs –<br />

den rechten Lungenflügel, eine – den äußeren Hals auf der<br />

linken Seite, noch eine andere blieb im Hinterkopf stecken<br />

und der Rest zerfetzte die übrigen Körperteile.<br />

Edmundo Bercerra – alle nennen ihn Esmundo – dreiundvierzig<br />

Jahre alt, tränkte gerade sein Vieh an einer Wasserstelle,<br />

die Pampa del Ahijadero genannt wird. Nicht weit<br />

von dem Dorf Yanacanchilla entfernt, wo er mit seiner Frau<br />

und dem vierjährigen Sohn wohnte.<br />

Die Schwester des Getöteten, Jovita, sah die Mörder aus<br />

einiger Entfernung: Zwei Männer – in einem roten und in<br />

einem blauen Poncho. Einer trug eine Mütze, der andere einen<br />

Hut. Später hat sich herausgestellt, dass auch noch ein<br />

dritter dort war. Vor der Hinrichtung soll einer der Mörder<br />

gesagt haben, die nächsten, solche wie Esmundo, würden<br />

auch so enden. Kurz danach fielen Schüsse. Siebzehn Stück.<br />

Die Mörder flüchteten in Richtung der Straße, die nach<br />

Bamabamarca führt. Sie hatten nichts gestohlen, ein Raubmotiv<br />

war also von vornherein ausgeschlossen.<br />

Ich schaue Zeitungsausschnitte der lokalen Presse durch,<br />

aus den direkt davor liegenden Tagen.<br />

Eine der Zeitungen berichtete, dass sich Esmundo<br />

auf eine Reise nach Lima vorbereitete; zum Treffen einer<br />

Kommission, die sich aus Gegnern des Konzerns und<br />

seiner Praktiken und aus Vertretern des Ministeriums<br />

zusammensetzte. Es ging um den Abbau der Lagerstätten<br />

des Hügels San Cirilo. Esmundo und die Dorfbewohner widersetzten<br />

sich diesem Plan. Ivan Salas, einer der örtlichen<br />

Aktivisten, hatte zuvor Alarm geschlagen; der Konzern<br />

Yanacocha-Newmont würde Gebirgsbauern bewaffnen, die<br />

sich auf seine Seite geschlagen hatten. Sie sollten auf ihre<br />

Nachbarn schießen, weil diese es ablehnten, dem Konzern<br />

ihr Land zu verkaufen und weil sie sich dem Abbau der Lagerstätten<br />

widersetzten. „Wir haben es mit einer Bande zu<br />

tun, die mit dem für den Konzern tätigen Büro für Landerwerb<br />

zusammenarbeitet. Vor ein paar Wochen, als ein Ingenieur<br />

gekommen ist, um topografische Untersuchungen<br />

durchzuführen, hat die gleiche Bande auf ihn geschossen<br />

und ihn an der Arbeit gehindert.“<br />

Die Konzernvertreter sagten, das seien Lügen.<br />

Die konzernnahen Zeitungen berichteten, bei Esmundos<br />

Ermordung sei es um einen „Landkonflikt“ und um die „Begleichung<br />

von Rechnungen“ gegangen.<br />

Jemand erinnerte daran, dass ein paar Monate zuvor,<br />

nach dem Mordanschlag auf den Aktivisten und Konzernkritiker<br />

Isidro Llanos, der Vertreter von Yanacoch-Newmont<br />

öffentlich erklärte, der Aktivist sei an einem Herzinfarkt


gestorben. In Wirklichkeit ist Isidro Llanos bei einem Zusammenstoß<br />

von protestierenden Arbeitern mit Sicherheitsleuten<br />

des Konzerns und der Polizei erschossen worden.<br />

Es ist Marco, der mir am meisten über Esmondo und die<br />

Umstände seiner Ermordung erzählt.<br />

Er war kein typischer, armer Bergbauer aus der Region<br />

von Cajamarca, sagt Marco. Esmondo war gebildet, Tierarzt<br />

von Beruf. Er besaß ein ziemlich großes Stück Land, eine<br />

kleine Viehherde und war Milchproduzent.<br />

Als der Konzern damit begann, etwas oberhalb des Dorfes<br />

Yanacachilla neue Lagerstätten abzubauen, gründete<br />

Esmundo eine Front für Umweltschutz. No pasaran! Als<br />

Antwort holte der Konzern Leute, die nicht aus der Region<br />

stammten und wie die Ureinwohner der Anden aussahen.<br />

Sie fingen an, sich in dem Gebiet oberhalb des Dorfes anzusiedeln.<br />

Dann gründeten sie eine „Konkurrenz-Front“ für<br />

Umweltschutz und Entwicklung – eine typische Strategie<br />

des Konzerns, der später sagen konnte: schaut wie viele<br />

Ortsansässige uns unterstützen. Die „Importierten“ hatten<br />

Waffen und Walkie-Talkies, und agierten wie eine organisierte<br />

Gruppe.<br />

Der Konflikt eskalierte, als Esmundo sein Vieh an den<br />

Lagunen tränken wollte, die sich auf dem von den Ankömmlingen<br />

besetzen Boden befanden. Das Eigentumsrecht<br />

erstreckt sich nicht auf die Lagunen; die Landbesitzer,<br />

auf deren Gebiet sie sich befinden, sind verpflichtet, zum<br />

Beispiel Bauern, die ihr Vieh tränken wollen, den Zugang<br />

dorthin zu ermöglichen. Doch die „neuen Siedler“ scherte<br />

das nicht.<br />

Esmundo bekam Drohungen: Misch dich nicht in die<br />

Angelegenheiten der Mine ein. Er wurde aufs gröbste beschimpft.<br />

Eines Tages wurde er von bewaffneten Männern verprügelt.<br />

Er fuhr zum Polizeirevier in Chanta Alta, zwei<br />

Stunden vom Dorf entfernt, um Anzeige zu erstatten. Fahr<br />

zum Richter, sagten die Polizisten, nach Cajamarca, und sie<br />

lachten.<br />

Andere eingeschüchterte Bauern hörten, wie die Männer<br />

aus der bewaffneten Gruppe prahlten, sie seien unantastbar,<br />

weil sie unter dem Schutz von Yanacocha-Newmont stünden.<br />

Kurz danach wurde Esmundo erschossen.<br />

Der Mordanschlag, sagt Marco, erinnert an die typisch<br />

kolumbianische oder brasilianische Art, sich eines unbequemen<br />

Anführers einer Gemeinschaft zu entledigen. Das<br />

Projekt der Ausbeutung neuer Lagerstätten wurde gestoppt.<br />

Die „importierten“ Bergbauern sowie die von ihnen gegründete<br />

Front für Entwicklung verschwanden im Nichts.<br />

Esmundos Dorf, eine kleine Gemeinschaft von damals<br />

fünfundvierzig Familien, war traumatisiert. Angst griff<br />

um sich, Misstrauen und Argwohn. Das Verbrechen hat<br />

diese Menschen gebrochen, sagt Marco. Esmundos engster<br />

Kampfgefährte, Genaro López, ist nach Cajamarca umgesiedelt.<br />

Er hält sich von allen öffentlichen Aktivitäten fern und<br />

will über den Tod des Freundes nicht sprechen.<br />

Esmundos Frau ist mit dem Kind weggezogen. Man weiß<br />

nicht wohin.<br />

Laut den Erzählungen der Leute war Esmundo ein außergewöhnlicher<br />

Mensch; der „zweite Anführer der lokalen<br />

Dorfgemeinschaft“ (nach Marco Arana). Hilfsbereit, charismatisch,<br />

intelligent. Deshalb war er politisch unbequem.<br />

Geradezu gefährlich.<br />

Die Presse und die Bulletins der Protestbewegungen erinnern<br />

daran, dass er in den letzten Jahren der sechste Anführer<br />

aus der Region Cajamarca war, der ermordet wurde.<br />

2003: José Llajahuanca aus San Ignacio.<br />

2004: Juan Montenegro aus Santa Cruz.<br />

2005: Reinberto Herrera und Melanio Garcia aus San<br />

Ignacio.<br />

2006: Isidro Llanos aus Combayo.<br />

Jeder von ihnen starb unter anderen Umständen, doch<br />

fast immer waren die Täter unbekannt. Isidro Llanos hatte<br />

im Konzern einen Streik wegen sklavenähnlicher Arbeitsbedingungen<br />

organisiert. Er wurde während einer Schlägerei<br />

der Streikenden mit den Sicherheitsleuten des Konzerns<br />

und der Polizei erschossen.<br />

Esmundo wurde das Opfer einer geplanten, kaltblütigen<br />

Hinrichtung.<br />

Man könnte über die Motive spekulieren. Ein Motiv<br />

drängt sich aber wie von selbst auf, auch wenn man es zu<br />

verdrängen versucht. Kann man einen Zufall ausschließen?<br />

Zumindest nicht ganz. Doch wer sollte Esmundo umbringen<br />

wollen? Und warum?<br />

Und hier glaubt niemand an Zufälle oder das Begleichen<br />

von Rechnungen.<br />

Düstere Orte und tragische Ereignisse rufen manchmal<br />

merkwürdige und unerwartete Assoziationen hervor. Es<br />

ist einige Jahre her, da hatte ein Dichter in einem anderen<br />

Teil der Welt ein Gedicht über ein Ungeheuer geschrieben.<br />

Jetzt, da ich versuche, die Atmosphäre in Cajamarca wiederzugeben,<br />

erscheint es mir, als ob das Gedicht diesen Ort<br />

beschreiben würde: Unbekannte Täter. Opfer. Anschuldigungen,<br />

die an Paranoia grenzen. Keine Beweise. Unsicherheit.<br />

Angst.<br />

[...]<br />

Dank der Aussagen von Esmondos Schwester konnte die<br />

Polizei die Namen der Mörder schnell ermitteln: die Brüder<br />

Aguinaldo und Fortunato Rodriguez. Am Tatort war noch<br />

ein dritter Mann gewesen, doch man ließ die Anschuldigungen<br />

gegen ihn fallen.<br />

Als die Polizisten den Hauptmörder festnehmen wollten,<br />

kam es zu einer Schießerei. Aguinaldo starb auf der Stelle.<br />

Die Umstände lassen den Verdacht aufkommen, man wollte<br />

den Täter erst gar nicht verhaften. Sollte er sterben, damit<br />

er vor Gericht nicht aussagt?<br />

Mirtha ist an Informationen gekommen, die uns vermuten<br />

lassen, dass es so sein könnte. Der Täter war ein in der<br />

Gegend bekannter Auftragskiller, der Hinrichtungen ausführte.<br />

Ein Tag vor seinem Tod rief er den Congressman<br />

Werner Cabrery an und sprach mit seinem Assistenten<br />

Ivan Salas. Aguinaldo kündigte an, er werde sich der Polizei<br />

stellen und sagen, wer der Auftraggeber für den Mord<br />

an Esmondo gewesen sei. Als man ihn am nächsten Tag zu<br />

fassen versucht, kommt er ums Leben.<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc


KATARZYNA<br />

PAWLAK<br />

EINMAL CHINA UND ZURÜCK<br />

ALLTAGSNOTIZEN AUS<br />

DEM REICH DER MITTE<br />

Katarzyna Pawlak ist Soziologin, Übersetzerin<br />

und Koautorin eines Lehrbuches für Chinesisch.<br />

Sie ist Reisende und Bloggerin – aus ihrem Blog<br />

www.zachinyludowe.net, den sie während ihres<br />

Studienaufenthalts in China geführt hat, entstand<br />

ihr vorliegendes Buch. Sie hat in Taipeh,<br />

Peking und Shanghai gelebt. Am liebsten reist<br />

sie ohne Eile durch China.<br />

Im Wörterbuch wird das Wort „Ausländer“ ins Chinesische<br />

mit wàiguórén übersetzt, sprich: „ein Mensch aus einem äußeren<br />

Land“. Das klingt neutral. Aber die Chinesen benutzen<br />

meist lieber den Ausdruck lăowài, was so viel heißt wie „alter<br />

Äußerer“. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Lăowài<br />

klingt wie: „du bist nicht von hier, und du wirst es nie sein“.<br />

„,Mama, schau mal, da kommt ein lăowài. Der Knirps zeigt<br />

auf mich und seine Mutter lacht, so klein und schon so schlagfertig“,<br />

schreibt Pawlak. „,Aah, ein lăowài‘ – die Arbeiter und<br />

eine Gruppe jugendliche Sprösslinge zeigen mit dem Finger<br />

auf mich. Nach diesem Ausruf folgt zumeist im Falsett: ,Helloooo!<br />

Okeey?’ Dann Gekicher. Und dann laufen sie weg.“<br />

Der Autorin, die mit diesem Begriff versehen wird, fällt<br />

auf, dass ihr nach zwei Monaten aus dem Spiegel jemand<br />

entgegenschaut, den sie vorher nicht kannte. „Das ist nicht<br />

mehr Kasia, die Polin, die (im Grunde noch junge) Frau, die<br />

Doktorandin, sondern ein großer, blasser ‚alter Äußerer‘ mit<br />

‚strohfarbenem Haar und einem riesigen Zinken‘.“ Dieses Gefühl<br />

der Fremdheit erfährt jeder Ausländer in China. Wenn<br />

er zum tausendsten Mal gefragt wird, ob er China mag und<br />

ob ihm das Essen schmeckt, selbst wenn er seit Jahren hier<br />

wohnt, wird er versuchen, die Chinesen davon zu überzeugen,<br />

dass er kein „alter Äußerer“ sondern ein Mensch ist.<br />

Die Autorin versucht es auch. Doch nach einem spannenden<br />

Referat, das sie fließend auf Chinesisch an der Universität in<br />

Shanghai hält, vernimmt sie verwunderte Fragen, ob sie wisse,<br />

wer Konfuzius war und – natürlich – ob sie chinesisches<br />

Essen mag.<br />

In ihrer Beschreibung des Reiches der Mitte nimmt die Autorin<br />

chinesische Wörter zu Hilfe, wie beispielsweise benben<br />

zu. Das ist ein sich herumtreibender Stamm, sprich, Arbeitsmigranten,<br />

die nirgendwo sesshaft werden. Oder yi zu – das<br />

Ameisenvolk: arme Chinesen aus der Provinz, die an den Peripherien<br />

Pekings und Shanghais leben.<br />

„Einmal China und zurück“ ist eine überaus amüsante und<br />

ungeheuer intelligente Beschreibung des zeitgenössischen<br />

China. Die Autorin ist studierte Soziologin und Sinologin, sie<br />

hat einen ausgezeichneten Schreibstil und die Gabe des passenden<br />

Ausdrucks sowie der treffsicheren Pointe.<br />

Pawlak hat zwei Jahre in Shanghai und Peking verbracht,<br />

sie hat den Chinesen im Zug und auf der Straße sowie in den<br />

Bergen und während des chinesischen Neujahrsfestes Gesellschaft<br />

geleistet. Sie hat mit ihnen ferngesehen und chinesische<br />

Zeitungen gelesen. Sie hat zugesehen, wie sie Sonnenblumenkerne<br />

essen, wie sie ganze Litaneien englischer<br />

Wörter pauken und im Zug spucken, dass man kein trockenes<br />

Plätzchen für seinen Rucksack findet.<br />

Lassen Sie sich von der leichten Form nicht beirren. „Einmal<br />

China und zurück“ ist ein gutes Stück solider soziologischer<br />

Arbeit. Es besteht aus kleinen Traktaten über das<br />

chinesische Fernsehen und das Internet, über das konfuse<br />

Hùkŏu-System (Wohnsitzkontrolle), das Gesundheitssystem,<br />

soziale Ungleichheiten, die Mitgift, die in China von den Männern<br />

eingebracht wird, die Rolle der Frau und viele andere<br />

Themen.<br />

KATARZYNA PAWLAK<br />

„ZA CHINY LUDOWE”<br />

DOM WYDAWNICZY PWN<br />

WARSZAWA 2013<br />

127×200, 248 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7705-322-5<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

DOM WYDAWNICZY PWN<br />

Maria Kruczkowska


EINMAL CHINA<br />

UND ZURÜCK<br />

ALLTAGSNOTIZEN AUS<br />

DEM REICH DER MITTE<br />

ALS ICH<br />

eine Wohnung zur Miete suchte und in den Agenturen meinen<br />

finanziellen Rahmen nannte, bot man mir Wohnungen<br />

in „alten Plattenbauten“ an: „Das heißt, wie alt?“ „Etwa<br />

fünfundzwanzig Jahre“. Ich hatte in Warschau in einem der<br />

ersten Exemplare der realsozialistischen Bauweise gewohnt,<br />

einem soliden Koloss in Muranów mit so dicken Wänden,<br />

dass Titanbohrer versagten, und ich dachte bei mir, dass es<br />

lächerlich sei, ein dreißigjähriges Gebäude „alt“ zu nennen,<br />

und verstand das Problem gar nicht (oder wollte es nicht<br />

verstehen; jeder, der einmal sehr weit weg gelandet ist und<br />

länger bleiben will, weiß, unter welchen Bedingungen man<br />

sein Domizil wählt). Die Leute sagten vorsichtig, die Qualität<br />

sei nicht die beste. Ich dachte, dass es vielleicht keinen<br />

Fahrstuhl gibt oder dass andere Attraktionen auf mich<br />

warten, die für die polnischen Plattenbauten typisch sind<br />

– schlechte akustische Isolierung, alte Fenster oder schiefe<br />

Wände. Und wie das so ist, habe ich mir gedacht, dass<br />

diese ganzen Dinge, mit denen man konfrontiert sein kann,<br />

wenn man in einem Gebäude mit nicht allzu hoher Qualität<br />

wohnt, mir natürlich erspart bleiben werden. Entweder<br />

nehmen sie die Gestalt kleiner, nicht genauer präzisierter<br />

Reparaturen an, eines lächelnden Handwerkers, kleiner<br />

Nägelchen oder Dichtungen, die für jemanden, der sich mit<br />

einem Koffer in einer Fünfundzwanzig-Millionen-Stadt<br />

befindet und vollkommen allein und ohne ein Zuhause ist,<br />

absolut inhaltslos sind. Im Übrigen: ein Dach über dem Kopf,<br />

Strom, Gas (beinahe mit Entzücken habe ich die Nachricht<br />

aufgenommen, dass hier überall Gas installiert ist, dass<br />

man keine Gasflaschen schleppen muss, wie einst in meiner<br />

Wohnung in Taiwan) und Wasser. Was braucht man mehr?<br />

Zumal ich eine Wohnung fand (in der ich jetzt sitze und<br />

schreibe; vielleicht geht sie heute doch nicht in die Luft?),<br />

die schön, sauber, hell und sympathisch ist. Im Treppenhaus<br />

sieht es natürlich anders aus: alte Eimer, kaputte Möbel,<br />

ein Kanarienvogelkäfig ohne Kanarienvogel und Momo,<br />

der Bobtail des Nachbarn – ich habe fast gar nicht erkannt,<br />

dass das ein Bobtail ist, er ist rasiert, damit ihm nicht so<br />

heiß wird. Er schläft im Treppenhaus, weil es in der Einzimmerwohnung<br />

zu eng ist.<br />

Noch mehr hat mir die Wohnsiedlung selbst gefallen, die<br />

sich ungefähr folgendermaßen zusammensetzt:<br />

a) ein Dutzend abgeblätterter Wohnblöcke mit einer<br />

Million Anbauten + Bewohnern (im Umkreis der<br />

Siedlung laufen sie in ordentlichen Pyjamas mit lustigen<br />

Mustern herum, passend – wovon ich mich bald<br />

überzeugen sollte – zur Jahreszeit: im Frühling und<br />

im Sommer aus Baumwolle, im Herbst und im Winter<br />

aus dickerem Steppmaterial).


) ein Markt, wo man außer Gemüse, Gewürze und Tofu<br />

auch lebendige Hühner und Tauben kaufen kann.<br />

Man kann sie sofort schlachten lassen.<br />

c) der bereits erwähnte Herr, der lebendige Frösche<br />

in einem Nylonnetz verkauft. SSL, die Taiwanesin<br />

(mit rotem Haar und einem Lächeln über das ganze<br />

Gesicht), die ich im Unterricht kennenlerne und sofort<br />

sympathisch finde, stiftet mich dazu an, einen<br />

zu kaufen, als Haustier. Als ich den Froschmann fürs<br />

Erste nach dem Preis für einen Frosch frage, fragt der<br />

zurück: „Du meinst einen jīn, 300 Gramm? Gleich ausnehmen?“<br />

d) der ebenfalls bereits erwähnte Herr, der alles Mögliche<br />

verkauft und alle möglichen Dienstleistungen anbietet<br />

(bis zum Ende meines Aufenthalts in Shanghai<br />

sehe ich nur den leeren Behälter, die Straße ist blutüberflutet,<br />

und der Mann hält eine unheilvolle blutige<br />

Klinge in der Hand).<br />

e) das Revolutionäre Straßenkomitee (so nenne ich es,<br />

zu Ehren der Sensationslüsternen und der Denunzianten<br />

der Komitees aus den Zeiten der Kulturrevolution;<br />

Ersatzbezeichnung: Alten-Rat). Seine Mitglieder<br />

sitzen auf kleinen Hockern an den Hauptkreuzungen<br />

von Alleen und passen auf. Graues Haar, Pyjamas,<br />

Spielkarten, neben ihnen schnauft ein alter Hund.<br />

„Der ist morgens aus ihrem Haus gekommen, obwohl<br />

sie nicht verheiratet sind.“ „Die hat einen fast noch<br />

guten Fernseher weggeworfen, ist wohl reich geworden,<br />

bestimmt durch krumme Dinger.“<br />

f) kleine Geschäfte und kleine Kneipen, darunter Kneipen,<br />

die von vier Generationen der Hui geführt werden.<br />

Die Hui-Frauen tragen schwarze Spitzentücher<br />

auf dem Kopf und schreien ihre schmutzigen Kinder<br />

an, die zwischen den Hockern herumkrabbeln. Sie bereiten<br />

das köstlichste Hammelfleisch mit Kümmel zu,<br />

und die Männer (Bärtchen, ein rundes weißes Mützchen<br />

auf dem Kopf) machen mithilfe einer Serie malerischer<br />

Box- und Armbewegungen die besten Nudeln<br />

der Welt. Zum Opferfest schlachten sie einen Hammel<br />

und färben dabei den Fußweg rot.<br />

g) eine Katzenhorde, darunter eine gestreifte Katze (angeblich<br />

hatte einst ein Nachbar sie eingelassen, vor<br />

dessen Tür sie zwei Tage lang miaut hatte, und sie<br />

hatte sofort sechs Kätzchen geworfen).<br />

man auf einer langen Liste gestanden hatte, eine Nähmaschine<br />

und ein kleines Plastikradio waren der Gipfel der<br />

Träume, ein Zeichen des Schicksals, dass sich alles fügen<br />

würde, dass alles in eine gute Richtung geht. Die kleine Stabilisierung,<br />

die kleine heile Welt.<br />

Heute atmen diese Siedlungen noch, noch sind sie lebendig,<br />

aber das ist ein Leben in einer Sackgasse der allgegenwärtigen<br />

und übermächtigen fāzhăn. Zunächst zerfällt<br />

eine Anlage nach der anderen, eine Treppe nach der anderen,<br />

ein Treppenhaus nach dem anderen. Und dann genügen<br />

ein paar Tage, eine Woche, und die Wäsche, der Basar,<br />

die Hühner und die Hui sind fort und die Fenster sind leer.<br />

Dann wird ein Wohnblock nach dem anderen von seinem<br />

Skelett abgetrennt, die Skelette zerfallen zu Staub, und an<br />

ihrer statt wachsen die Wohnungen der neuen Welt empor:<br />

shāngpĭnfáng – marktgerecht. Ohne Pyjama, ohne den Mann<br />

mit der Klinge, ohne die gestreifte Katze, aber dafür mit monitoring,<br />

einem kleinen Springbrunnen und einem unterirdischen<br />

Parkhaus. Vielleicht sogar mit einem Schwimmbad?<br />

Bevor jedoch dieser Prozess in meinem Wohngebiet<br />

einsetzt, verschimmelt zunächst in einer der kleinen<br />

Wohnungen in dem Gebäude mit dem kahlgeschorenen<br />

Bobtail innerhalb von zwei Tagen buchstäblich die ganze<br />

Wand – gleichmäßig grün, wie Gras, nur senkrecht („Die<br />

Dachrinne ist in der Wand, wie soll das also anders sein?!“,<br />

klärt mich der ansässige Meister auf, einer der vielen, die<br />

ein Jahr lang durch meine vier Wände ziehen). Und jetzt?<br />

Jetzt strömt Gas aus, scheußlich. Es hat sich buchstäblich<br />

innerhalb von Minuten etwas gelöst. Der Zufluss lässt sich<br />

nicht zudrehen, weil der Gasstrang nicht durch das Treppenhaus<br />

verläuft, sondern durch meine Wohnung, mitten<br />

durch meine Küche; so hat man früher gebaut, um Kosten<br />

für die Installationen und Zeit zu sparen. Die entfernte<br />

Stimme vom Gas-Notdienst (er sitzt weit weg in Sicherheit,<br />

bestimmt in einem neuen Wolkenkratzer oder einem<br />

marktgerechten Gebäude, der Schlaumeier!), den ich voller<br />

Panik anrufe, weist an, alle Fenster zu öffnen, die Tür zum<br />

Zimmer zu schließen, in dem ich schlafe, und bis morgen<br />

früh abzuwarten, bis sie mit einem neuen Rohr oder einem<br />

neuen Zähler kommen.<br />

Ich habe überhaupt keine Lust, aber ich werde wohl tanzen<br />

gehen, die ganze Nacht.<br />

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska<br />

Also scheinbar ist alles in Ordnung. Doch was ist hier<br />

besonders? All das sind Relikte aus einer Welt, die nach<br />

und nach verschwindet, die niemand mehr retten will,<br />

schließlich steht sie dem unerbittlichen Recht der fāzhăn<br />

– der Entwicklung – im Weg. „Ältere Bauweise“ bedeutet in<br />

diesem Falle, zu einer älteren Epoche zu gehören, die nach<br />

anderen Regeln und einer anderen Logik als die heutige<br />

funktioniert. Das war es, was meine Gesprächspartner mir<br />

vermitteln wollten. Meine Wohnung ist ein Überbleibsel<br />

einer Welt, in der einem eine Wohnung zustand. Sie war<br />

sowohl eine Verpflichtung gegenüber dem Bürger, als auch<br />

der Ausdruck des guten Willens des Staates und dessen mit<br />

dem Bürger am engsten verbundenen Nervenendes, der<br />

danwei (die kleinste Einheit, die Dienststelle). Diese Wohnungen<br />

unterlagen nicht den Kriterien und den Prinzipien<br />

des Marktes, weil es diese noch nicht gab. Dafür musste es<br />

viele Wohnungen geben und zwar jetzt, gleich, sofort. Wer<br />

würde bei einer so großen Mission nach ihrer Qualität fragen,<br />

umso mehr als sie umsonst sind? Eine Wohnung von<br />

danwei, ein Fahrrad der Marke yongjiu – Ewigkeit –, für das


WOJCIECH<br />

TOCHMAN<br />

ELI, ELI<br />

Wojciech Tochman (geb. 1969). Journalist und<br />

Schriftsteller sowie einer der bekanntesten<br />

übersetzten polnischen jungen Reporter. Seine<br />

Reportagen sind ins Englische, Französische,<br />

Schwedische, Finnische, Russische, Dänische und<br />

Bosnische übersetzt. Mit Zum Beispiel einen Stein<br />

essen war er im Finale für den polnischen Literaturpreis<br />

Nike und für den Prix Témoin du Monde,<br />

ausgezeichnet wurde er von Radio France International.<br />

Gemeinsam mit Paweł Goźliński und<br />

Mariusz Szczygieł leitet er das Polnische Reportageinstitut<br />

in Warschau.<br />

Das neue Buch von Wojciech Tochman – oder genauer gesagt<br />

von Wojciech Tochman und Grzegorz Wełnicki, denn die<br />

Fotografien des letzteren spielen nicht nur eine illustrative<br />

Rolle, sondern sind in gewisser Weise treibende Kraft für die<br />

Handlung und unverzichtbarer Teil der Erzählweise dieser<br />

Reportage – ist trotz seines geringen Textumfanges ein vielschichtiges<br />

und überaus anspruchsvolles Werk.<br />

Im Vordergrund steht die Geschichte über die erschreckenden<br />

Slums im philippinischen Manila mit einigen markanten<br />

Protagonisten, die sich über ihr Leben im klaren sind,<br />

und mit dem unglücklichen, von unbekannter Krankheit geplagten<br />

Baummädchen – eine Begegnung, mit der das Buch<br />

beginnt. Mit diesen Mikroerzählungen schafft Tochman ein<br />

breiteres Bild, das Bild der von der Gesellschaft ausgeschlossenen<br />

Armen, die von ihrem eigenen Staat und den wohlhabenderen<br />

Nächsten betrogen werden, wobei – wovon der Autor<br />

überzeugen will – zur Not und Kriminalität auch die Amerikaner,<br />

die auf den Philippinen einen Militärstützpunkt haben,<br />

entscheidend beitragen, ebenso die dominante katholische<br />

Kirche mit ihrem wahrhaft pharisäerhaften Antlitz.<br />

Genauso wichtig ist aber auch das Niveau der von den philippinischen<br />

Erfahrungen des Reporters und des Fotografen<br />

stimulierten doppelten Meta-Narration. Sie beruht zum einen<br />

auf dem Nachsinnen über Möglichkeiten, von außen in diese<br />

oder ähnliche Welten der permanenten Not einzugreifen<br />

– eher durch Einzelpersonen denn durch Institutionen. Was<br />

kann ich eigentlich für diese Menschen tun?, scheint sich<br />

Tochman zu fragen. Er antwortet mit einer Beschreibung dessen,<br />

was passiert ist, als er und Wełnicki es im Rahmen ihrer<br />

bescheidenen Möglichkeiten versuchen.<br />

Das zweite Problem ist die Frage des quasipornografischen<br />

Status’ des Bildes und der Berichte über Menschen in Not,<br />

sprich eine recht fundamentale ethische Frage all derer, die<br />

von dieser Not erzählen und sie zeigen. Dies betrifft selbst die<br />

einfachsten und offensichtlichsten Dinge: „Wenn ein Buch erfolgreich<br />

ist“, so Tochmann, „macht der Autor eine Lesereise<br />

im Inland, und wenn es sehr gut läuft, auch im Ausland, denn<br />

er wird von Bibliotheken, Kulturhäusern, Hochschulen, Buchmessen<br />

und Literaturfestivals eingeladen. Er sitzt vor einem<br />

vollen oder fast vollen Saal. Er spricht über menschliche Not,<br />

über Demütigung, Angst und Verachtung. Über Ungerechtigkeit,<br />

Ungleichheit und Ausbeutung. Er ist weise, aber das ist<br />

nicht seine eigene Weisheit. Oft sind es Gedanken derer, mit<br />

denen er gesprochen hat, während er an dem Thema gearbeitet<br />

hat. Ein Reporter existiert ohne Menschen nicht.“<br />

Das Buch Eli, Eli, dessen Titel sich aus den Worten Christi<br />

am Kreuz zusammensetzt, ist voller Schmerz, Zorn und Verzweiflung.<br />

Es stellt Fragen, die man vielleicht nicht unbedingt<br />

so beantwortet muss, wie der Autor es tut, von denen man<br />

sich aber nicht frei machen kann.<br />

Marcin Sendecki<br />

WOJCIECH TOCHMAN<br />

„ELI, ELI”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

190×240, 152 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-519-1<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM


ELI, ELI<br />

Es sind<br />

keine glücklichen Kinderaugen, die uns anschauen. Ein Gesicht<br />

hinter einem Gitter, einem weißen Gitter aus einem alten<br />

Kühlschrank, das aus einem Junk-Shop hierhergebracht<br />

wurde. Feuchte, misstrauische, unbewegliche Augen. Das<br />

ist Pia. Drei Jahre alt, Hautgeschwüre, sie spricht nicht, sie<br />

kann sich kaum bewegen und lächelt selten. Sie sitzt in einem<br />

schwarzen Loch, das ihr Zuhause ist. Ein übelriechender<br />

Schrank, kleiner als zwei Meter, zurechtgezimmert aus<br />

Sperrholz und Lumpen. Ihr jüngerer Bruder, auf dem Foto<br />

rechts, lächelt nie. Das ist Buboy. Er verzieht das Gesicht<br />

und kratzt sich. Er hustet. In der Nähe wacht die Hand der<br />

Großmutter. Oder eher der Urgroßmutter. Sie ist fast achtzig,<br />

die Mutter der Kinder ist zwanzig. Über mindestens<br />

eine Generation gibt es keine Informationen. Aber keiner<br />

von uns fragt nach solchen Einzelheiten, keiner will seinen<br />

Kopf damit belasten. Das sind verlassene Kinder, sagt unser<br />

Fremdenführer. Die Mutter ist drogensüchtig, keiner weiß,<br />

ob sie lebt und wo. Der Vater sitzt im Gefängnis. Es ist nur<br />

die Großmutter da, die nichts hat und kaum spricht. Wahrscheinlich<br />

wird sie nicht mehr lange leben. Eine traurige<br />

Geschichte, ein trauriger Anblick.<br />

Wir sind in einer recht zahlreichen Gruppe gekommen,<br />

um die Armut zu fotografieren. Wir sind aus Madrid, Paris,<br />

Frankfurt, Warschau, London, Moskau, Tel Aviv, Sydney,<br />

Toronto und New York eingeflogen. Vereinfacht ließe sich<br />

sagen: aus dem Fernen Westen. Wir sind in der Adriatico-Straße<br />

abgestiegen, hier sind lauter Weiße, im Hostel<br />

Frendly’s haben wir unser Gepäck abgeworfen, in der Rezeption<br />

haben wir den Aushang für Entdecker gefunden,<br />

der unter dem Zeichen von Lonely Planet steht: True Manila!<br />

Das wahre Gesicht von Manila! Entdecke eine für Touristen<br />

unzugängliche Stadt! Free of charge! Fünf Uhr nachmittags<br />

im Where2Next, das Hostel nebenan.<br />

Veranstalter des Ausfluges ist Edwin N., ein Mann, der<br />

auf die vierzig zugeht.<br />

°<br />

Edwin N.s Geschichte:<br />

„… ich war neun Jahre alt und hatte einen festen Tagesplan.<br />

Gegen Mittag sammelte ich eine Stunde lang Müll,<br />

Plastik und Gerümpel, um ein Uhr ging ich in die Schule,<br />

dann nahm ich um fünf Uhr vom Lieferanten die Abendzeitung<br />

Red Light District entgegen, ich schlief ein bisschen auf<br />

dem Asphalt, mit dem Kopf auf den Zeitungen, aber dann<br />

musste ich los und bis fünf Uhr morgens über den versmogten<br />

highway laufen und Zeitungen verkaufen, um sechs<br />

Uhr kam die Morgenzeitung, highway bis neun Uhr, dann<br />

endlich zwei Stunden schlafen, aufwachen, Müll, Plastik,<br />

Schrott, Schule …


… in unsere Straße kommen keine white people, die trauen<br />

sich nicht. Eines Tages sehe ich zwei, einen Mann und<br />

eine Frau, hatten sich verlaufen, sie sahen wirklich interesting<br />

aus, ich konnte meine Augen von ihrer weißen Haut<br />

nicht losreißen, ich rief ihnen zu „Hey Joe!“, das war das<br />

einzige, was ich auf Englisch konnte, sie fotografierten<br />

mich, lächelten und gingen weiter. Ich lass mich nicht einfach<br />

so fotografieren, dachte ich mir, so für umsonst, und<br />

lief ihnen nach, sie wohnten weit weg, das waren christliche<br />

Missionare, ich weiß nicht mehr, hier bei uns gibt es<br />

massenweise Leute mit Jesus auf den Lippen, sie schenken<br />

jedem Kind einen Lutscher und wollen gleich seine Seele,<br />

die hier wollten nicht, deshalb freundete ich mich mit ihnen<br />

an, sie nahmen mich mit ins Wendy’s auf einen Hamburger,<br />

zeigten mir das Kino, einen amerikanischen Film,<br />

dafür zeigte ich ihnen das wahre Manila, dann reisten sie<br />

ab, vorher gaben sie mir Briefpapier und stamps, sie sagten,<br />

ich sollte ihnen schreiben, auf Englisch, dann kamen sie<br />

zurück, schenkten mir eine Gitarre und brachten mir bei,<br />

sie zu spielen, sie hatten hier ein schönes Haus, voller <strong>Bücher</strong>,<br />

sie fotografierten mich wieder, das sind die einzigen<br />

Fotos, die ich aus meiner Kindheit habe, dann reisten sie<br />

wieder aus, ich ging zur Schule, Vater schlug mich jeden<br />

Tag, heftig und ins Gesicht, ich beschloss, mich selbst zu<br />

retten, da war ich schon etwa dreizehn, ich lief weg von<br />

Zuhause, erhielt meine Briefe nicht, der Kontakt mit den<br />

Missionaren brach ab …<br />

… als ich neunzehn war, schloss ich die Mittelschule ab,<br />

von irgendetwas musste ich leben, ich verkaufte auf dem<br />

highway Zigaretten, Mutter verkaufte gebrauchte Kleidung<br />

und half mir, und ich half ihr, es hing vom Tag ab, wer mehr<br />

verdiente, ich studierte an der Universität Kriminologie,<br />

ich wollte Polizist werden, ich habe sieben Schwestern,<br />

die mussten beschützt werden, aber ich eigne mich dazu<br />

nicht, ich bin zu nervös, und ein policeman hätte hier auch<br />

kein Leben gehabt, ich hatte noch immer Angst vor meinem<br />

Vater, deshalb brach ich das Studium nicht ab, ich arbeitete<br />

in einem Videoshop, putzte in einem Kino nach den<br />

Vorführungen, eine fürchterliche Tätigkeit, ich schrubbte<br />

Klos und Fußböden im Robinson, hard job, drei Leute auf ein<br />

riesiges Handelshaus, wir wurden nicht bezahlt, der Arbeitgeber<br />

verschwand, was sollte ich machen, ich verkaufte<br />

im Wendy’s Burger, von vier Uhr morgens bis zehn Uhr in<br />

the evening, Arbeit und Studium am laufenden Band einige<br />

Jahre lang, ich lernte auch klassische Gitarre an der Musikschule,<br />

wir hatten an der Universität eine Band, doch woher<br />

dafür Zeit und Kraft nehmen, ich war sechsundzwanzig geworden,<br />

ich beendete mein Studium, ich heiratete, wir haben<br />

zwei Kinder, meine Tochter heißt Jessica, zu Ehren der<br />

amerikanischen Missionarin, und mein Sohn heißt Timmi,<br />

wie ein hier bekannter Schauspieler aus einer soap opera …<br />

… endlich eröffnete ich meinen eigenen Titanic Video<br />

Shop, wo sich mein betrunkener Vater jeden Tag auf dem<br />

Fußboden erbrach, deshalb ging Titanic nach einem Jahr<br />

unter, ich hatte verschiedene Geschäfte, sie gingen alle<br />

nacheinander ein, uns hat hier niemand beigebracht, wie<br />

man Unternehmen führt, in der Onyx-Straße gelingt nichts,<br />

no success, du verschuldest dich und fällst in einen Abgrund,<br />

I was happy, ich spielte in einem Film, das war nicht einfach,<br />

ich spielte den Anführer einer Gang und wurde umgebracht,<br />

dann lächelte ich in einer Kaffeewerbung, man rief mich<br />

hier Double Espresso, endlich landete ich im Frendly’s in der<br />

Adriatico-Straße, da sind viele Ausländer, sie reisten ein,<br />

reisten aus, ließen offene Kühlschränke mit Marmelade<br />

und Käse zurück, man ging dorthin, um sich zu ernähren,<br />

jemand fragte mich, wo ich wohne, ich dachte mir, dass mir<br />

einst weiße Menschen geholfen hatten, und dass ich ihnen<br />

heute helfen werde …<br />

… ich zeige ihnen free of charge meine wahre city, es wäre<br />

nicht fair, cash dafür zu nehmen, dass man Armut zeigt …<br />

… bevor wir losgehen, bereiten wir immer Plastiktüten<br />

mit Nahrungsmitteln vor, ein bisschen Reis und eine Büchse<br />

Sardinen, keiner der white people zahlt dafür, wir ziehen<br />

durch die Slums und verteilen das, jeder hat mehrere Tüten,<br />

jeder muss sich über den Notleidenden beugen, ihm in die<br />

Augen schauen und ihm das geben, so bringen wir den Ausländern<br />

bei, dass die Philippinen nicht nur eine grüne Insel<br />

und der türkisfarbene Ocean sind, dass wir hier auch eine<br />

andere Welt haben, eine dunkle und stinkende Welt, manche<br />

sind steif vor Verlegenheit, zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben geben sie einem Armen etwas zu essen, ohne Worte,<br />

obwohl wir usually hier Englisch sprechen, haben manche<br />

keine gemeinsame Sprache mit den Armen, andere weinen,<br />

noch andere geben mit ihren photos an, und manche sagen<br />

über uns solche Dinge, dass man sich schämen müsste, das<br />

zu wiederholen …<br />

… wenn wir fertig sind, nehme ich meine Mütze und<br />

bitte um eine Spende, dafür essen wir dann in the evening<br />

gemeinsam im Hostel, und das, was übrig bleibt, teilen wir<br />

durch zwei, der eine Teil wird für die Bildung der Kinder<br />

in der Onyx bestimmt, den zweiten Teil geben wir für die<br />

Nahrungsmittel für die nächste Gruppe aus, wir kaufen Reis<br />

und Sardinen, vielleicht noch etwas anderes, erst kam eine<br />

Gruppe, dann die zweite, die zehnte, ein Fotograf aus Polen,<br />

er hieß Gregory, er sagte, nenn diese Führungen True Manila,<br />

das tat ich, dann kam die zwanzigste, dreißigste, die<br />

sechzigste, wir haben ein Facebook-Profil, ich mache das<br />

gern, ich zeige gern den Weißen unsere Armut, ich mag<br />

die großen weißen Frauen, white people vertrauen mir, sie<br />

gehen mit mir sogar bis hierher, zu Unrecht, schließlich<br />

könnte ich ein Bandit sein, ich wohne in der Onyx, oder ein<br />

Messerstecher, Geld her und fuck off, aber zu eurem Glück<br />

bin ich OK, ich bin ein Kind der Onyx, kein Mörder, kein<br />

Dieb, kein Terrorist, wir sind normale Penner, wir werden<br />

hier zahlreich geboren, wir sammeln Schrott, damit wir<br />

uns Reis kaufen können, wir sterben jung, schaut her und<br />

fotografiert unser Leben ohne Furcht, ohne Gewissensbisse,<br />

unsere Onyx gehört euch!<br />

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska


ANGELIKA<br />

KUŹNIAK<br />

PAPUSZA<br />

Angelika Kuźniak Angelika Kuźniak (geb. 1974),<br />

Journalistin und Reporterin, drei Mal mit dem<br />

Grand Press-Preis ausgezeichnet. Ihr 2009 erschienener<br />

Reportagenband Marlena, der Marlene<br />

Dietrichs letzten Jahren gewidmet ist, wurde<br />

vom Publikum sehr positiv aufgenommen.<br />

Die Geschichte von Bronisława Wajs, genannt Papusza, ist<br />

fremdartig und exotisch. Die am Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

geborene Zigeunerin und Dichterin wurde als ein folkloristisches<br />

Schmuckstück gesehen – ein wenig wie „eine Frau<br />

mit Bart“. Die Gestalt aus dem Raritätenkabinett faszinierte,<br />

doch wurde sie ernst genommen? War sie eine „Zigeunerdichterin“<br />

oder einfach nur „Dichterin“? Aus Angelika Kuźniaks<br />

Buch geht klar hervor, was Papuszas Persönlichkeit geformt<br />

hat; die Welt des Zigeunerlagers war der Stoff, aus dem sie<br />

gemacht war, aber auch die Populärliteratur! Eine geborene<br />

„Perle“, ein Zigeunerkind, das neugierig auf die Welt war und<br />

das – gegen seine eigentliche Bestimmung – zuerst lesen und<br />

dann schreiben lernte, um schließlich alle Romane und Erzählungen<br />

zu verschlingen, die es in die Finger bekam.<br />

Papusza bedeutet Puppe – dieser inoffizielle Name ist auf das<br />

Aussehen des Mädchens zurückzuführen (Angelika Kuźniak<br />

benutzt Papusza statt Bronka und gibt damit ihrer Heldin nicht<br />

nur eine Stimme, sondern taucht sie in die Welt ihrer „eigenen“<br />

Tradition). Aber in Kuźniaks Erzählung hat der Name Papusza<br />

auch eine ernste Bedeutung – das Geschlecht, die soziale<br />

Herkunft, die familiären Beziehungen hatten zur Folge, dass<br />

Bronka Wajs in einem wörtlichen und damit dramatischen<br />

Sinne zur Puppe wurde: sie wurde von Hand zu Hand gereicht<br />

und reagierte wie ein Automat auf Anweisungen. Ihr zweiter<br />

Mann, der viel ältere Dionizy, hatte sie entführt und zur Heirat<br />

gezwungen. Papuszas Rettung war die Liebe zu dem jungen Witold,<br />

doch als er verschwand, trieb es sie in den Wahnsinn. Solche<br />

Geschichten machen sich recht gut in einem literarischen<br />

Text. Kuźniak zeigt, was passiert, wenn so eine Anziehung der<br />

Herzen – eine so große, wahrhaft „romantische“ Liebe gegen<br />

den Rest der Welt – zur Wirklichkeit wird.<br />

Die Autorin analysiert – taktvoll und behutsam, wie aus<br />

dem Hintergrund – Papuszas Geschichte und stellt Fragen,<br />

ohne Antworten zu suggerieren. Sie beschreibt die Beziehung<br />

zur Mutter, die für das Mädchen eine Autorität ist, die<br />

aber Papuszas Entscheidung, Dionizy – der sie misshandelt<br />

und vergewaltigt – zu verlassen, nicht unterstützt. Es ist eine<br />

Mutter, deren Rücken voller Narben von Peitschenhieben ist<br />

und die selbst an der Überzeugung festhalten, und ihr Kind<br />

glauben lassen muss, ein anderes Leben sei unmöglich (Papu-<br />

sza erzählt, dass der Mann einer Zigeunerin alles machen darf,<br />

ohne dass jemand protestiert, weil das der Brauch ist; sie erinnert<br />

sich, wie sie mit anderen Kindern „Zuhause“ spielte und<br />

das Wichtigste dabei das Schlagen der „Ehefrau“ war). Wie in<br />

einem klassischen Gewaltmuster gibt das Opfer dem Handeln<br />

des Peinigers einen Sinn. Die Mutter hilft der Tochter nicht, als<br />

diese der Macht des misshandelnden Ehemanns entkommen<br />

will, weil sie den Sinn des eigenen Schicksals und die Weltordnung,<br />

in der sie lebt, nicht in Frage stellen kann. Papusza lernt<br />

mit der Zeit, dass sie als Person nichts bedeutet: Sie ist nur die<br />

Funktion fremden Seins. Dionizy Wajs, der den Grundsätzen<br />

der Zigeunergemeinschaft treu bleibt, hat das Recht auf seiner<br />

Seite und Papusza ist eine Marionette in seinen Händen. Wajs<br />

hat aus einer Perspektive außerhalb dieser Gemeinschaft viele<br />

Verbrechen begangen, doch niemand war daran interessiert,<br />

Papusza zu retten; das Lesen war ihre Rettung. Papusza hat in<br />

ihren Liedern sowohl die zerstörte mündliche Kultur der zur<br />

Sesshaftigkeit gezwungenen Zigeuner als auch die Erinnerung<br />

an die Vernichtung dieses Volks bewahrt.<br />

Angelika Kuźniak zeichnet in Papusza ein vielschichtiges<br />

Porträt: das einer Dichterin, Leserin, Tochter, Mutter, Ehefrau,<br />

Künstlerin und Geliebten. Papuszas Gestalt schillert, hört<br />

nicht auf, zu verblüffen. „Dumm“ in den Augen des gierigen<br />

und grausamen Ehemanns; „eine Verräterin“ in den Augen der<br />

Zigeunergemeinschaft; „ein großes, wildes Naturtalent“ in den<br />

Augen der polnischen Dichter; machtlos, schwach, verzweifelt<br />

und wütend – so sieht sie sich selbst. Die Erzählung von der<br />

„verfluchten Dichterin“, die sowohl Ruhm einbrachte als auch<br />

große Scham hervorrief, dieses Buch über einen unfassbar<br />

starken Menschen könnte eine Diskussion entfachen. Vor allem<br />

aber könnte es Papuszas Lieder bekannt machen – nicht<br />

als exotische „Schmuckstücke“, sondern als Lyrik, die von einer<br />

Ära und ihren Erfahrungen Zeugnis ablegt.<br />

ANGELIKA KUŹNIAK<br />

„PAPUSZA”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

133×215, 200 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-501-6<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM<br />

Anna Marchewka


PAPUSZA<br />

Den Tag,<br />

an dem sie anfing schreiben zu lernen, wird Papusza nie<br />

vergessen. So sagt sie es und lächelt (auf der Tonaufnahme<br />

hört man dieses Lächeln ganz deutlich).<br />

Die Mutter weckte sie „genau mit der Sonne“. Die kleine<br />

Papusza stand auf, ging aus dem Zelt nach draußen und<br />

glättete ihren zerknitterten Rock.<br />

Sie kann sich nicht erinnern, ob es an diesem Tag die<br />

Mutter war, die ihr die Zöpfe geflochten hat. Und ob sie<br />

ihr über den Kopf streichelte. (Obwohl es eigentlich keine<br />

Zärtlichkeiten gab. „Sie hatte es zu schwer, um mich, die<br />

Älteste, an sich zu drücken.“) Papusza erinnert sich, dass<br />

sich die Mutter vor sie stellte und zwei Mal sagte: „Du darfst<br />

dir eine Gelegenheit nicht entgehen lassen. Eine Zigeunerin<br />

darf nicht mit leeren Händen zum Lager zurückkehren.“ Sie<br />

spürte, dass das hieß: sei gerissen und falsch.<br />

Papusza bindet eine Schürze über den Rock. Sie hat sie<br />

selbst genäht, mit Kreuzstich. Unter ihr baumeln die noch<br />

leeren „Diebestaschen“. Alles, um sich zu schützen; man<br />

muss die Beute von der Schürze trennen. Von der Taille abwärts<br />

ist eine Frau unrein. Unrein wird auch alles, was sie<br />

berührt, und sei es nur mit ihrem Rockzipfel. Die Macht, die<br />

Papusza in den Schmutz ziehen könnte, wirkt noch nicht<br />

(sie ist erst zehn, vielleicht zwölf Jahre alt), doch es ist besser,<br />

sich abzusichern.<br />

Im Lager bleiben die Alten und Kinder zurück. Und die<br />

Männer. Man sagt, dass Gott sie an einem Sonntag schuf.<br />

Und auch noch mit Armen, die verschieden lang sind. Es<br />

reicht, beide zur linken Seite auszustrecken, und es stellt<br />

sich heraus, dass der rechte gerade bis zum Ellbogen des<br />

linken reicht. Ist doch klar: mit solchen Armen kann man<br />

nicht arbeiten.<br />

Es hängt von der Schläue der Zigeunerinnen ab, ob man<br />

etwas für den Kochtopf haben wird.<br />

Grodno. Ein paar Kilometer zu Fuß vom Lager entfernt.<br />

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war<br />

es ein recht großer Ort. Fast sechzigtausend Einwohner<br />

(sechzig Prozent Polen, siebenunddreißig Prozent Juden,<br />

drei Prozent Weißrussen). Hier gibt es Telefone, Elektrizität<br />

(seit 1912) und eine Eisenbrücke (1909), ein paar Schulen,<br />

ein Theater, eine russisch-orthodoxe Kirche aus dem zwölften<br />

Jahrhundert, eine Pfarrkirche, zwei Festungen und eine<br />

Synagoge.<br />

Auf dem Markt war fruchtbares Gedränge. Rufe, Schreie.<br />

Es wurde mit allem möglichen gehandelt. Mit Gottesmüttern<br />

und mit Jesus unter den Aposteln. Mit Sonnenblumenkernen,<br />

Hühneraugensalben, Kienspan, Schuhwichse, Töpfen,<br />

Schleifsteinen und Talgkerzen. Man konnte Bastschuhe,<br />

Kartoffelkörbe und sogar Stühle kaufen. Man konnte sich


an Ort und Stelle einen Zahn ziehen lassen (davon gibt es<br />

Fotos in den Archiven). Jemand erzählte auf dem Markt Geschichten;<br />

von Räubern, Drachen und bösen Kindern, die<br />

ihre Mutter verjagten. Zigeunerinnen lasen aus den Karten<br />

oder aus der Hand, was am nächsten Tag passieren würde,<br />

in zehn Jahren, in hundert. Sie sahen die Vergangenheit, die<br />

guten und die bösen Taten. Sie zeichneten auf den Händen<br />

ihrer Klientinnen das Kreuzzeichen mit der Münze, die sie<br />

von ihnen bekommen hatten und sagten: „Die ganze Wahrheit<br />

kennt Gott allein, und die Zigeunerin so viel, wie in den<br />

Karten steht.“<br />

Papusza war geschickt, schnell füllte sie ihre Taschen.<br />

Äpfel, Kartoffeln, ein bisschen Tabak. Nichts Großes, aber<br />

– was ihr erst nach der Rückkehr ins Lager klar wurde – es<br />

reichte, um vom Stiefvater nicht verdroschen zu werden.<br />

Sie trieb sich an den Ständen herum. Sprach mit jedem<br />

Straßenköter, den sie auf dem Weg traf.<br />

Mitten auf dem Marktplatz tanzte ein Bär auf den Hinterpfoten.<br />

Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als<br />

man den Bärenführern verboten hatte, die Stadt zu betreten,<br />

war das ein seltener Anblick. Die Akademie in Smorgon, wo<br />

sie früher dressiert wurden, war auch schon geschlossen.<br />

(Statt des Bodens gab es in einem Raum einen Kachelofen,<br />

der so aufgeheizt war, dass er rot glühte. Der Zigeuner führte<br />

den Bären hinein und fing an, Geige zu spielen. Der Bär,<br />

der sich an den Vorderpfoten verbrühte, stellte sich auf die<br />

Hinterpfoten, die mit Lappen umwickelt waren.)<br />

Dass man die Buchstaben in der Schule lernen kann, davon<br />

hatte Papusza schon früher gehört. Aber erst an diesem<br />

Tag sah sie Kinder mit <strong>Bücher</strong>n und rannte ihnen hinterher.<br />

„Verjagt ham sie mich. Sagtn ich bin Diebin. Die Pest.<br />

Nicht alle Leut sind edelmütig. Und vor dem, was man hört,<br />

kann man nicht weglaufen. Und auch nicht vor dem, was<br />

man sieht. Das geht von selbst in die Ohren und Augen rein.<br />

Was sollt ich machn? Hab in Demut ertragn und gelittn.“<br />

Einen halben Tag stand sie vor den Fenstern der Schule.<br />

„Und als die Kinder herauskamen, hab ich mein Mut zusammengenommen<br />

und sie gebetn, dass sie mir zeign ein<br />

paar Buchstaben.“<br />

Sie waren einverstanden, aber nicht ohne Bezahlung.<br />

Papusza hatte das Stehlen ganz normal gelernt. Bei der<br />

Mutter.<br />

Eine einfache Sache. „Man wirft mit der linken Hand<br />

Korn oder Brotkrümel neben die eigenen Füße und ruft<br />

gleichzeitig die Hühner herbei. Wenn der Schwarm herankommt<br />

und mit dem Fressen beschäftigt ist, greift die<br />

Zigeunerin mit einer entschiedenen, blitzschnellen Bewegung<br />

der rechten Hand nach dem Tier, das ihr am nächsten<br />

ist. Der Griff erfolgt von oben, an den Hals, in der Nähe des<br />

Kopfes, wobei das Huhn gleichzeitig zur Erde gedrückt wird.<br />

Der an der Gurgel gepackte Vogel wandert in ein vorher<br />

vorbereitetes Versteck und wenn der Täter will, greift er<br />

nach dem nächsten Stück, da der mit Fressen beschäftigte<br />

Schwarm die drohende Gefahr nicht bemerkt. Auch das bereits<br />

gefangene Tier schlägt keinen Alarm.“ (So wurde das<br />

1964 in den Akten der Staatsanwaltschaft beschrieben.)<br />

Papusza war vier Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein<br />

Huhn tötete. „Ich hab mir ein Bündel geschnürt, der Mutter<br />

die Karten gestohln, bin vier Kilometer gelaufn und hab<br />

mich verirrt. Irgendein Bauer hat mich gefundn, nahm mich<br />

auf dem Wagen bis zum Dorf mit. Ich schau; auf seinem Hof<br />

laufn Hühner herum. Da schnappte ich eins, wickelte es eng<br />

in ein großen Lappen ein und es erstickte.“<br />

„Denn die Ordnung der Welt ist einfach“, erklärt Papusza.<br />

„Was auf dem Feld wächst, das hat der Herrgott gesät,<br />

und was scharrt und schnattert, gedeiht nach dem Willn<br />

Gottes für alle Menschn. Der Herrgott hat viele Hühnchen<br />

geschaffn und für die Zigeuner reicht es auch.“<br />

Ein Hühnchen – eine Lektion.<br />

Papusza wartete jeden Tag vor der Schule auf die Kinder.<br />

Danach schrieb sie mit einem Stock im Sand oder mit<br />

einem verrußten Holzstückchen auf Zeitungen: A, b, c und<br />

den Rest der Buchstaben. Wie in einer Fibel.<br />

So ging es ein paar Tage lang, bis es den Kindern langweilig<br />

wurde.<br />

Und da erinnerte sie sich an einen Laden nicht weit vom<br />

Markt, wo sie manchmal Süßigkeiten kaufte. Ein dunkler,<br />

langer Korridor, kaum Licht, wie an der Eingangstür. Hinter<br />

dem Tresen die Ladenbesitzerin, eine Jüdin.<br />

„Ich ging mit der Zeitung zu ihr und bat sie: ‚Zeig mir,<br />

Frau, wie man liest.‘<br />

Sie sagte, ich soll ein fettes Huhn für den Schabbat mitbringn<br />

und eine Fibel kaufn.“<br />

Der Unterricht war kurz, immer nach Ladenschluss.<br />

Papusza‘s Mutter gefiel das nicht. Sie sagte immer wieder:<br />

„Diese <strong>Bücher</strong> sind nichts wert, mit ihnen wird das Gehirn<br />

vergiftet. Davon kommt die Dummheit.“<br />

Der Stiefvater schlug Papusza.<br />

„Die Zigeuner im Lager spucktn mich an, zeigtn mit den<br />

Fingern auf mich, lachtn über mich: ‚Na? Jetzt wirst du<br />

wohl eine Frau Lehrerin sein! Für was brauchst du denn<br />

dieses Lernen?‘ Sie zerrissn die Zeitungen, Seite für Seite,<br />

und warfn sie ins Feuer. Sie verstandn nicht, dass man das<br />

für sich selbst tun muss, für ein Stück Brot. Ich kann heute<br />

nämlich mit meinem Namen unterschreibn und mache<br />

keine Kreuzchen. Und ich bin stolz darauf, dass ich, eine<br />

ungebildete Zigeunerin, lesn kann. Ich hab mich damals im<br />

Wald leise ausgeweint und dann machte ich einfach weiter.“<br />

Sie lernte schnell.<br />

„Nach ein paar Wochen konnte ich es schon. Die Jüdin<br />

küsste mich, weil ich so gelehrig war.“ (Papusza lächelt<br />

wieder.) „Ich konnte gut lesn, aber nicht schreibn, weil ich<br />

wenig geschriebn hab und nicht wusste, dass mir das in Zukunft<br />

nützlich sein wird. Und dann, als ich vierzehn war,<br />

nahm mich der Stiefvater auf den Niemen mit. Er spielte im<br />

Orchester von Dyźko Geige und Kontrabass. Mit dem Schiff<br />

sind wir herumgefahrn. Erst hab ich aus der Hand und den<br />

Karten gelesn und dann las ich ein Buch, ich weiß nicht<br />

mehr was für eins. Da kam eine elegante Dame und sagte:<br />

‚Ein Zigeunermädchen kann lesen? Sehr schön!‘<br />

Ich hab laut gelacht, wie ein Kind, bis mir die Tränen in<br />

die Augen kamen. Sie hat mich nacheinander nach allem<br />

gefragt, und ich hab geantwortet. Am Ende küsste sie mich<br />

und ging. Und ich war stolz und hab danach noch mehr<br />

gelesn, bis mir die Augen schmerztn. Gute und schlechte<br />

Sachen, weil ich keine Ahnung hatte, was ich lesn sollte.“<br />

Papusza schrieb sich in einer Bibliothek ein.<br />

„In Mikulinice bei Przeworsk. Die habn mir ein Buch ausgeliehn,<br />

aber kein schönes, so Kinderkram, Märchen, und<br />

ich wollt da sogar nicht mehr hingehn. Aber die Wirtin, bei<br />

der wir eine Kammer hattn, sagte, ich soll Die Gräfin Cosel,<br />

Herr Thaddäus und Die Brotausträgerin nehmen.<br />

Ich hab viele <strong>Bücher</strong> von Leuten gelesn, denen ich wahrgesagt<br />

hab: Tarzan bei den Affen, Der rothaarige Jason, Die<br />

schöne Schwester. Und am meisten mochte ich Geschichten<br />

über Ritter und die große Liebe.“<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc


FILIP<br />

SPRINGER<br />

TRIEBMITTEL<br />

Filip Springer (geb. 1982), Journalist, Reporter<br />

und Fotograf, gilt als einer der bemerkenswertesten<br />

polnischen Reportageautoren. Er studierte<br />

Anthropologie und Ethnologie und arbeitet seit<br />

2006 als Reporter. Zaczyn [Triebmittel] ist sein<br />

drittes Buch; noch in diesem Jahr erscheint ein<br />

weiterer Reportageband zum Thema Architektur<br />

aus seiner Feder. Dieses neueste Buch soll den Titel<br />

Wanna z kolumnadą [Badewanne mit Kolonnade]<br />

tragen.<br />

Wer waren Zofia und Oskar Hansen? „Die Hansens waren die<br />

Antwort auf das Ende der Welt“, so lauten in Triebmittel die<br />

Worte Joanna Mytkowskas, der Direktorin des Museums für<br />

Moderne Kunst in Warschau. Aber welche Bedeutung hatte,<br />

und wer war dieses Ehepaar, das nach seinen Raumrevolutionen<br />

verschwand wie vorsätzlich vergessen? Filip Springer<br />

weiß, dass die spannendsten Geschichten im Schatten zu<br />

finden sind, am Rand von allem anderen, und dass leere Orte<br />

wahre Sensationen hervorbringen können. In Triebmittel potraitiert<br />

Springer vor allem den Don Quijote des Linearsystems<br />

LSC und der Offenen Form.<br />

Obgleich Oskar Hansen immer betonte, dass er alles, was er<br />

tat, zusammen mit seiner Frau getan habe, erscheint Springer<br />

dennoch Ersterer (als weitaus offenere, deutlicher umrissene<br />

Gestalt) als der wichtigere von beiden. Oskar Hansens Lebenslauf<br />

und der seiner Vorfahren könnten als Vorlage für einen<br />

Abenteuerfilm dienen. Millionärsenkel, feiner Pinkel – pflegte<br />

Zofia Hansen lachend zu sagen, wenn sie nach der linken Gesinnung<br />

ihres Mannes gefragt wurde. Die geradezu wundersame<br />

Lebensreise des Oskar Hansen (Kriege, Bankrott, Bravour,<br />

wunderbare Errettungen, Weltbürgertum), der fähig war, sich<br />

auf das Unmögliche zu stürzen, scheint ihren Hintergrund im<br />

Lebenslauf des cholerischen Großvaters, der sich einen riesigen<br />

finanziellen Erfolg erarbeitete, der reiselustigen, zum Bruch<br />

mit gesellschaftlichen Konventionen bereiten Eltern, des Bruders<br />

Erik und eben der Ehefrau zu haben, die dem Architekten<br />

nicht nur sozialistische Ideen einpflanzte und diese zum Wachsen<br />

brachte, sondern ihn auch aus Notlagen rettete, indem sie<br />

wie ein Handbuch der Vernunft auf ihn einsprach.<br />

Das Projekt der dezentralen „Neumöblierung“ Polens war<br />

nicht zur Gänze durchführbar – gewisse Bestandteile des Linearsystems<br />

werden aber heute verwirklicht, wie Springer<br />

findet, aus einer Notwendigkeit heraus, aber auch chaotisch.<br />

Das Projekt LSC sollte, um die Worte zu verwenden, mit denen<br />

Hansen 1976 in Zachęta auf die Vorwürfe Marek Budzyńskis<br />

antwortete, eben ein Triebmittel für künftige Veränderungen<br />

sein. Und solche Menschen portraitiert Springer – Menschen,<br />

die verstehen, dass nur der Griff nach etwas Größerem als den<br />

gefahrlosen Gewohnheiten die Chance auf Entwicklung bietet.<br />

Undurchführbares anzugehen ist die grundlegende Aufgabe<br />

ernsthafter Menschen, die ihr eigenes Leben (und das Leben<br />

anderer) ernstnehmen. In den Bauprojekten der Hansens (besonders<br />

den unverwirklichten) ist der Plan zum Aufbau einer<br />

Bürgergesellschaft erkennbar, einer Gemeinschaft von Individuen,<br />

die so handeln, dass sie bei ihrer eigenen Entwicklung<br />

ihren Mitbürgern nicht schaden. Hansens waren überzeugt davon,<br />

dass es kein Standardhaus gebe, dass jeder Bauplan auf die<br />

Bedürfnisse, den Beruf, die Interessen des konkreten Menschen<br />

zugeschnitten sein sollte.<br />

Triebmittel greift auch das Problem der Unverstandenheit und<br />

Ablehnung auf, denen die Hansens in polnischen Kreisen begegneten,<br />

während ihre Arbeiten zugleich in Westeuropa große<br />

Anerkennung fanden. Es sind Stimmen zu hören, die meinen,<br />

Hansen habe einen Fehler begangen, als er nach Polen<br />

zurückgekehrt sei, da ihn hier das Scheitern erwartete, dort<br />

aber Ruhm, Ehre und das große Geld. Joanna Mytkowska fegt<br />

diese Spekulationen lachend beiseite: Hansens antikommerzielle,<br />

antimarktwirtschaftliche Einstellung hätte ihm gar keine<br />

Zusammenarbeit mit Investoren erlaubt, die ihn bezahlt und<br />

Vorgaben gemacht hätte; für Hansen, einen waschechten Idealisten,<br />

waren selbst die kleinsten Änderungen in seinen Bauplänen<br />

nicht hinnehmbar. Seine berühmt-berüchtigten Abgänge<br />

unter Türenknallen waren wenig erfolgversprechend...<br />

Und die Hansen-Schülerin merkt noch etwas Wichtiges an:<br />

dass Dezentralisierungspläne nur in einer zentral verwalteten<br />

Gesellschaft die Chance hatten, wenigstens teilweise realisiert<br />

zu werden.<br />

FILIP SPRINGER<br />

„ZACZYN”<br />

KARAKTER, KRAKÓW 2013<br />

150×205, 264 PAGES<br />

ISBN: 978-83-62376-24-7<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM<br />

Anna Marchewka


TRIEBMITTEL<br />

BERGAMO<br />

„Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Schöpfer der neuen<br />

Architektur, einer der Schöpfer des Purismus, diese<br />

mithilfe von Stoffen – Verkaufsgegenständen – zu humanisieren<br />

versucht. Diese ganze sogenannte Renaissance des<br />

französischen Stoffes halte ich für eine Bewegung, die zu<br />

kommerziellen Zwecken ins Leben gerufen wurde, und um<br />

Kapital aus ihr zu schlagen. Eine Bewegung, in die die großen<br />

Künstler mit hineingezogen, und in deren Namen sie<br />

ausgenutzt werden sollen. […] Die Architekten des CIAM<br />

sollten dem entgegenwirken und die Humanisierung der<br />

modernen Architektur auf den ihr entsprechenden Wegen<br />

suchen“, wettert Oskar vom Rednerpult herab und<br />

richtet seine Worte an den, der ihn wenige Monate zuvor<br />

unter seinem Dach beherbergt, mit einem Abendessen bewirtet<br />

und ihm seine Bilder gezeigt hat. Als Oskar endet,<br />

bricht der ganze Raum in Beifall aus. Corbu, der bis dahin<br />

schweigend zugehört hat, applaudiert gemeinsam mit den<br />

anderen.<br />

Pierre Jeanneret hat Oskar hergeholt. Nicht eigentlich<br />

hergeholt, sondern Oskar vielmehr nahegelegt, er müsse<br />

unbedingt nach Bergamo zum CIAM VII kommen, dem 7.<br />

Internationalen Kongess der Modernen Architektur, und<br />

sich anhören, was dort <strong>Neue</strong>s über die Architektur der<br />

Gegenwart gesagt werde. Und Oskar hat die Aufforderung<br />

angenommen, obwohl er sich die Reise gar nicht leisten<br />

kann. Als er in Italien ankommt, hat er nicht einen Groschen<br />

in der Tasche. Er schläft im Park, wäscht sich an einem<br />

Springbrunnen, isst nur Brot und Weintrauben. Als<br />

Jeanneret sich in der ersten Pause zwischen den Debatten<br />

über sein Hotel beschwert und ihn fragt, wie er wohne, antwortet<br />

Oskar: „Ich habe mich billig und bequem einrichten<br />

können.“<br />

Mit seinem Auftritt hat er sich allerdings etwas weit<br />

vorgewagt; er wollte schließlich gar nicht sprechen. Er<br />

hat es nur nicht ausgehalten, Le Corbusier über Gobelins<br />

und deren Nützlichkeit in der Architektur reden zu hören.<br />

Deshalb hat er um Gehör gebeten, sich an das Redenerpult<br />

gestellt und ausgesprochen, was er dachte. Nun geht er ganz<br />

benommen zu seinem Platz zurück und ist sich nicht recht<br />

bewusst, was gerade geschehen ist. Er, Oskar Hansen, ein<br />

Niemand in leicht zerknautschtem Jacket, der sich nach dieser<br />

Besprechung auf einer Parkbank in der Nähe schlafen<br />

legen wird, hört den Applaus gar nicht. Ein paar Minuten<br />

später lädt Jacqueline Tyrwhitt ihn ein, an der CIAM-Sommerakademie<br />

in London teilzunehmen. Oskar sagt zu, auch<br />

wenn er keine Ahnung hat, wie er von der polnischen Regierung<br />

eine Reiseerlaubnis nach London bekommen will.


London<br />

Ob er Englisch könne – er verneint. Wie alt er sei – siebenundzwanzig.<br />

Wann er sein Architekturstudium abgeschlossen<br />

habe – er sei erst im dritten Studienjahr. An ihren Mienen<br />

sieht er, dass sie ihm nicht glauben. Sie sagen, er sei ein<br />

kommunistischer Propagandist. Oskar weiß nicht, was er<br />

ihnen antworten soll.<br />

Sie – das sind die britischen Journalisten. Sie sind gekommen,<br />

um das Urteil der Jury über die Arbeiten der CI-<br />

AM-Sommerakademie zu erfahren. Es ist der Juli 1949, und<br />

Oskar hat schon fast die Lust an England verloren.<br />

Er ist mit beinahe zweiwöchiger Verspätung hier eingetroffen,<br />

weil die britische Botschaft in Paris ihm kein Visum<br />

ausstellen wollte. An der Grenze haben sie ihn beim Anblick<br />

seines Papp-Reisenecessaires gleich kontrolliert, seinen<br />

Pass durch die Lupe beäugt. Wohin und warum er fahre,<br />

wollten sie wissen. Dabei stand in dem Brief, den er aus<br />

London bekommen hat, alles schwarz auf weiß geschrieben.<br />

Schließlich haben sie ihn durchgelassen.<br />

Mit Verspätung meldet er sich in der Schule an und<br />

bekommt einen Projektauftrag. Er darf zwischen einer<br />

Wohnsiedlung, einem Bürogebäude, einem Verkehrsknotenpunkt<br />

oder einem Theater wählen. Seine Wahl fällt auf<br />

die Siedlung. Die anderen haben sich zu Gruppen zusammengetan,<br />

doch er arbeitet allein. Er zeichnet neun weiße<br />

Gebäude rund um einen „sozialen Raum“. Dort platziert er<br />

zwei Kindergärten und einen Park für die Allgemeinheit.<br />

Schulen, Handels- und Dienstleistungspavillons verlegt er<br />

nach außerhalb, ähnlich verfährt er mit dem Autoverkehr.<br />

Er schafft es, seine Arbeit noch vor dem Termin abzugeben.<br />

An seinem letzten freien Tag besichtigt er London, hauptsächlich<br />

Galerien und Museen.<br />

Als er die Entscheidung der Jury hört, kann er seinen Ohren<br />

nicht trauen. Er bekommt eine Auszeichnung für die<br />

– wie er von den Juroren erfährt – Verdopplung der Bevölkerungsdichte<br />

in der Siedlung bei gleichzeitiger Bewahrung<br />

von deren „hohem Nutzwert“. Seine Arbeit macht großen<br />

Eindruck auf Ernesto Nathan Rogers, der ihm kurzerhand<br />

eine Assistenzstelle im Royal Institute of British Architects<br />

in London anbietet. Die Türen zur großen Architektur (und<br />

zum großen Geld) stehen für Oskar Hansen weit offen. Er<br />

jedoch entscheidet sich zur Rückkehr nach Polen.<br />

Rogers ist erstaunt, fragt: „Weißt du, was dort ist?“<br />

Oskar weiß es. Er erklärt dem Engländer in so einfachen<br />

Worten, wie er kann:<br />

„Dort sind Ruinen, dort warten sie auf mich“, und Rogers<br />

tippt sich an die Stirn:<br />

„Das, was du hier präsentiert hast, lässt sich dort nicht<br />

machen.“<br />

Aber das weiß Oskar eben noch nicht.<br />

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes


MAŁGORZATA<br />

REJMER<br />

BUKAREST,<br />

STAUB UND BLUT<br />

Małgorzata Rejmer (geb. 1985), Doktorandin<br />

der Warschauer Universität am <strong>Instytut</strong> Kultury<br />

Polskiej (Institut für Polnische Kultur). Ihr literarisches<br />

Debüt Toksymia im Jahr 2009 wurde für<br />

Nagroda Literacka Gdynia(Literarischer Preis<br />

Gdynia) nominiert. Der Reportagenband Bukarest.<br />

Staub und Blut wird von den Rezensenten<br />

sehr gut bewertet.<br />

Die Reise in die rumänische Hauptstadt, nach der das Buch<br />

Bukarest, Staub und Blut entstanden ist, war kein Abstecher für<br />

ein paar Tage und auch kein kurzes Abenteuer. Małgorzata<br />

Rejmer verbrachte dort (mit Pausen) zwei Jahre, und sie sagt,<br />

dass sie wieder hinfahren würde. Aus ihren Texten geht hervor,<br />

dass sie solide Feldforschung betrieben hat; sie mietete<br />

heruntergekommene Wohnungen, um diesen Ort auf eine<br />

möglichst intensive Art zu erfahren, machte Besichtigungen,<br />

sprach mit Menschen, las viel. Doch ihr Buch ist nicht<br />

nur eine Sammlung von Reisebildern. Rejmer präsentiert<br />

uns eine Zusammenstellung von kulturhistorischen Texten,<br />

die Antworten auf Fragen ermöglicht – Fragen, auf die man<br />

(wahrscheinlich) nicht antworten kann oder sogar nicht antworten<br />

darf. Mutig stellt die Autorin eine Diagnose auf – die<br />

Rumänen nähmen demütig ihr Schicksal hin (oft sei es der<br />

Tod), sie begehrten nicht auf, fänden sich ab, kämpften und<br />

diskutierten nicht. Die Volksballade Das Schäflein (laut Nichita<br />

Stănescu – die rumänische Illias und Odyssee, für Herta Müller<br />

dagegen ist es das rumänische Nibelungenlied), und der Ausspruch<br />

„Asta e, cesăfaci?“ („So ist es nun mal, was willst du<br />

machen?“) lassen die Autorin verstehen, wie die Herrschaft<br />

von Nicolae Ceauşecu überhaupt möglich war.<br />

Rejmer erkundet in Bukarest die Kultur der Anderen, eine<br />

östliche Kultur – die vor allem wegen ihrer Grausamkeit fasziniert,<br />

wegen ihrer Wildheit und der Schönheit des Hässlichen.<br />

Sie schreibt: „... das <strong>Neue</strong> gefällt mir nicht besonders.<br />

Ich mag lieber die alten Schichten.“ Und weiter: „Ich spüre die<br />

Macht der Stadt, unter der der Wahnsinn lauert.“ Sie greift<br />

in die „Eingeweide“ des Ortes, denn die interessieren sie am<br />

meisten. Extreme Verhältnisse (Chaos, gigantische Ausmaße)<br />

erscheinen ihr für die Texte am nützlichsten. Für Rejmer ist<br />

das Merkwürdige, das von der Norm abweichende, das Eigentümliche<br />

und Totale besonders interessant. Die Autorin ist berauscht<br />

von diesem Land ohne Eigenschaften – einem Land,<br />

das wie Knetmasse geformt und von Hand zu Hand weitergereicht<br />

wird. Das niedergebrannt, wieder aufgebaut und in<br />

Blut gebadet wurde, sich aber immer noch hält. Sie versucht,<br />

diese östliche Wildheit zu verstehen, zu erklären und zu erzählen,<br />

sie muss also für sich einen Standort wählen und eine<br />

Haltung gegenüber der „anderen“ Seite einnehmen. Rejmer<br />

wählt die Form des Essays, der diesen strategischen Standort<br />

„rechtfertigt“, doch man könnte auch fragen, ob dieser<br />

menschliche Faktor im Text eine Schwäche oder eine Stärke<br />

ist. Bezeichnend ist auch, dass Rejmer ihrem Buch den Titel<br />

Bukarest gab, anstatt zum Beispiel Mein Bukarest. Das ist ein<br />

mutiger Versuch, „das Ganze“ auszusprechen, und zwar auf<br />

die einzig „wahre“ Art und Weise...<br />

Man kann Bukarest, Staub und Blut den Erkenntniswert nicht<br />

absprechen – es ist ein wichtiges Buch, das an den nicht weit<br />

zurückliegenden Alptraum erinnert. Rejmer schreibt über<br />

Dinge, die man nicht vergessen darf; über Umerziehung durch<br />

Folter, über ein totalitäres System, über ein Dekret, das die<br />

Empfängnisverhütung verbietet und über die damit verbundenen<br />

Tragödien. In den Körpern der Frauen, die dazu gezwungen<br />

wurden zu gebären, oder die nach illegalen Abtreibungen<br />

ausbluteten, sieht Rejmer das Wesen des totalitären<br />

Rumäniens von Nicolae Ceauşescu; als sie über den Film 4 Monate,<br />

3 Wochen und 2 Tage von Cristian Mungiu schreibt, unterstreicht<br />

sie das quälende Verlangen des Regisseurs, von dem<br />

Leid, dem Elend und der Unterdrückung Zeugnis abzulegen.<br />

Das Buch von Małgorzata Rejmer lässt die Erinnerung wieder<br />

aufleben und es ermöglicht, weite Bereiche der neuesten Geschichte<br />

zu entdecken – einer Geschichte, von der wir nichts<br />

wissen wollen, weil das bequemer und leichter ist. Rejmers<br />

literarisches Debüt Toksymia von 2010 hat viel Wirbel verursacht<br />

und die Hoffnung geweckt, dass wir eine neue, interessante<br />

Schriftstellerin haben. Das zweite Buch ist bestimmt<br />

kein leichter Test. Doch Rejmer bestätigt mit Bukarest, Staub<br />

und Blut, dass der Trubel um Toksymia berechtigt war. Die Autorin<br />

wechselte den Verleger und veränderte die Form, doch<br />

es beschäftigt sie immer noch dasselbe: die exotische, nicht<br />

offensichtliche Schönheit der ungezähmten Welt.<br />

MAŁGORZATA REJMER<br />

„BUKARESZT”<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2013<br />

125×195, 272 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-539-9<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

POLISHRIGHTS.COM<br />

Anna Marchewka


BUKAREST,<br />

STAUB UND BLUT<br />

Nicht<br />

weit von Râmnicu Vâlcea liegt die Stadt Piteşti. Dort stand<br />

ein Gebäude, in dem sich die Hölle befand. Ungefähr zur<br />

gleichen Zeit als Petre Radio hörte und die Hände seiner<br />

Frau küsste, wurde im Gefängnis von Piteşti ein Experiment<br />

durchgeführt, über das Alexander Solschenizyn im<br />

Archipel Gulag schreiben wird: „die grauenvollste Barbarei<br />

der heutigen Welt.“<br />

In Piteşti löst sich das Leiden vom Körper und von der<br />

Menschlichkeit ab. Sterbende Menschen heulen wie sterbende<br />

Tiere. Die Wände der Folterkammer sind schalldicht,<br />

die Gefängniswärter taub von den Schreien. Die Gefangenen<br />

werden so lange geschlagen, bis sie nichts mehr sehen<br />

und hören. Das, was von ihnen übrig bleibt, sind Urin-und<br />

Blutlachen, zerkrümelte Zähne, Haarbüschel, blutiger Auswurf.<br />

In der Pfütze bleibt noch etwas Mensch. Was daraus<br />

kriecht, diese sich auflösende Gestalt, das ist auch noch ein<br />

Rest Mensch.<br />

Nach Piteşti gelangen hauptsächlich junge Studenten,<br />

die in den dreißiger Jahren an die faschistische Eiserne<br />

Garde glaubten. Und Geistliche, die sind immer verdächtig.<br />

Manchmal verirrt sich ein Intellektueller in den Transport,<br />

ein Arzt oder Ingenieur, der zu viel weiß, oder zu wenig.<br />

Sein Pech. Der Kommunismus will diesen Menschen eine<br />

Chance geben. Sie fahren nach Piteşti zu Lektionen über<br />

den neuen Glauben, und das nennt man: „Umerziehung<br />

durch Folter.“<br />

Man kann auf viele Arten leiden, der körperliche<br />

Schmerz ist nur eine davon. Im Gefängnis fragen sie, wer<br />

deine Mutter war. Sie war eine gute, fleißige Frau, die ihr<br />

Haar zu einem Zopf flocht und sich um mich kümmerte. Die<br />

Wärter schlagen mit einem Metallknüppel solange zu, bis<br />

der Gefangene sagt: ich habe meine Mutter vergewaltigt.<br />

Meine Mutter hat mich vergewaltigt. Sie war eine Hure, der<br />

Hund fickte sie. Ich habe keine Mutter.<br />

Dann wird unter den anderen Gefangenen einer gesucht,<br />

der dem Geschlagenen nahe steht; ein Freund aus Studienzeiten,<br />

aus der Kindheit, ein Arbeitskollege. Oder einer, der<br />

ihm bis dahin geholfen hat, in Piteşti durchzuhalten. Zwei<br />

Gefangene stehen sich gegenüber. Beide haben einen Knüppel<br />

in der Hand. Sie müssen sich gegenseitig blutig schlagen,<br />

oder die Wärter fangen damit an – sie haben Übung und die<br />

richtige Überzeugung.<br />

Wenn der Gefangene um Gnade fleht, schlagen ihm die<br />

Wärter die Zähne aus. Wenn er keinen Knüppel in die Hand<br />

nehmen will, dann schlägt ihm der Freund die Zähne aus<br />

und die Wärter reißen ihm die Fingernägel aus. Alle Grundsätze<br />

unserer Welt gelten in der Hölle nicht. Entweder bist<br />

du der Folterer oder du wirst gefoltert. Zehn Wärter schla-


gen zehn Gefangene und töten dabei einen oder zwei, damit<br />

der Rest darüber nachdenkt, was ihr Leben bedeutet.<br />

Diejenigen, die an göttliche Barmherzigkeit glaubten,<br />

dürfen nicht einmal die Spur von Barmherzigkeit zeigen.<br />

Diejenigen, die glaubten, der Mensch sei gut, müssen zusehen,<br />

wie das Böse ausartet. Diejenigen, die ihr Leben Gott<br />

gewidmet haben, müssen ihn verfluchen und die eigenen<br />

Exkremente wie eine Hostie in den Mund nehmen.<br />

Ihre Seele muss erlöschen, so wie ein vertrockneter<br />

Baum eingeht. Sie werden gebrochen und dann vernichtet,<br />

in ihnen bleibt nichts außer Leid. In dieser Sinnlosigkeit<br />

wird die Saat des Marxismus gesät. Es kommt vor, dass diese<br />

Wracks, die durch nichts mehr an Menschen erinnern,<br />

immer noch Widerstand leisten. Wenn sie nicht nachgeben,<br />

werden sie getötet.<br />

Petre hatte zu viel Glück gehabt, und die Beamten der<br />

Staatsgewalt kamen, um die Rechnung zu begleichen. Manchen<br />

im Dorf gefiel der Bus nicht, mit dem Petre die Leute herumfuhr.<br />

Da hat mal der Nachbar im Kommissariat vorbeigeschaut<br />

und sagte dort, er habe so ein Gefühl, dass der mit dem<br />

Fahrzeug Radio Freies Europa hören würde. Die Beamten gingen<br />

hin. Prüften nach. Ein Radioempfänger war da – das hieß,<br />

Petre hörte den Sender. Ein Landbesitzer, der Eigentümer<br />

eines Kraftfahrzeugs und eines Hauses mit drei Zimmern.<br />

Als 1949 die Kollektivierung begann, klopften sie an jede<br />

Tür; zusammen mit der Miliz gingen die von den Kommissionen<br />

herum. 1962 - als es nichts mehr gab, das sie den Menschen<br />

noch hätten wegnehmen können - hörten sie auf, an<br />

die Türen zu hämmern, weil jetzt alles dem Staat gehörte.<br />

Diejenigen, die am meisten besaßen, landeten hinter Gittern<br />

oder in der Zwangsarbeit. Im Gefängnis halfen ihnen<br />

die Wärter, dem Schmerz zu entkommen, das heißt, wahnsinnig<br />

zu werden. Nach ein paar Jahren kamen die Leute<br />

nur noch als menschliche Fetzen wieder raus. Sie hatten Aggressionsausbrüche<br />

und Panikattacken. Sie sprachen nicht<br />

mehr und erlaubten nicht, dass man sie anfasste. Ein Bett<br />

war kein Bett mehr, das Essen kein Essen mehr, nur das<br />

Schreien war Schreien. Als sie starben, bekreuzigten sich<br />

ihre Ehefrauen mit Erleichterung und die Nachbarn sagten:<br />

„Seine Qualen sind zu Ende, soll er in Frieden ruhen.“<br />

Petre Raduca bekam zehn Jahre. Die Staatsbeamten<br />

kamen zu ihm nach Hause und schauten sich die Zimmer,<br />

die Teppiche und den Eichentisch mit der Spitzendecke<br />

an. Damit es nicht hieß, der Staat sei böswillig, erlaubten<br />

sie Petres Frau, ein kleines Zimmer und eine Außenküche<br />

in ihrem eigenen Haus zu bewohnen. In den übrigen zwei<br />

Räumen machte sich – wie eine Henne auf ihren Eiern - die<br />

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft breit, die<br />

den Menschen ihr Eigentum wegnehmen und daraus Allgemeinbesitz<br />

machen sollte, das heißt Staatsbesitz, den sie<br />

überwachte. Das größte Zimmer wurde zu einem Lebensmittelladen<br />

umgebaut. Elena Raduca öffnete manchmal die<br />

Haustür, ging entlang des Hauses und blieb vor dem Fenster<br />

stehen, aus dem sie so oft auf den Garten und die Straße geschaut<br />

hatte. Sie kaufte Öl und Brot, ging zurück auf die andere<br />

Seite des Hauses und legte die Einkäufe auf den Tisch<br />

ihrer winzigen Küche. Zuerst gewöhnte sie sich das Weinen<br />

ab, dann gewöhnte sie sich ab, über alles nachzudenken.<br />

Als Elena eines Tages die Haustür öffnete, hatte sie den<br />

Eindruck, dass der Tod in Gestalt von zwei greisen, ausgetrockneten<br />

Figuren mit glänzenden Augen zu ihr gekommen<br />

war; als ob eine Urkraft, die nie erlischt, sie gelenkt<br />

hätte, obwohl das Alter ihre Körper bereits in Besitz genommen<br />

und angefressen hatte. Ihre Hände waren mit blauen<br />

Flecken bedeckt, die kreidebleichen Augenlider faltig und<br />

die zahnlosen Unterkiefer nach hinten verschoben.<br />

Die zierlichen Gestalten verschwanden fast unter den<br />

schwarzen, mit einer Kordel zusammengeschnürten Kutten,<br />

aber ihre Augen waren hellblau, wie ein zartes verblasstes<br />

Gewebe, und in ihnen war kein Tod.<br />

Elena verbeugte sich vor den Mönchen und machte das<br />

Kreuzzeichen.<br />

Darauf verbeugten sie sich noch tiefer.<br />

Sie schaute auf diese gebrochenen Menschen mit ihren<br />

verrotteten, vom Hunger verwüsteten Körpern.<br />

Obwohl seit dem Experiment in Piteşti zehn Jahre vergangen<br />

waren, wurde den Verurteilten in rumänischen<br />

Gefängnissen immer noch befohlen, ihre Mitgefangenen<br />

zu foltern. Alle wurden geschlagen, ohne Ausnahme. Die<br />

Wärter kannten keine Gnade, und beim Anblick von Blut<br />

gerieten sie noch mehr in Rage.<br />

Die Mönche schoben in ihren zahnlosen Mündern die<br />

Worte langsam hin und her:<br />

„Das müssen Sie wissen.“<br />

Sie waren zu dritt in einer Zelle gewesen – Petre und die<br />

beiden. Er war bereits seit vier Jahren im Gefängnis. Vier<br />

Jahre hatte er in einer feuchten Leere gelebt, auf Holzbrettern,<br />

mit einer Wunde, die nicht heilen wollte. Petre war<br />

stur, er wollte überleben, jammerte nicht. Ihm fehlte nur<br />

die Musik, dieses Radio, dessentwegen er ins Gefängnis gekommen<br />

war.<br />

Petre war schon fast fünfzig, aber die Mönche waren viel<br />

älter. Eines Tages saß Petre auf den Brettern und passte auf,<br />

dass die Mönche ohne Pause kerzengerade dastanden – von<br />

morgens bis in die Nacht. Am zweiten Tag saß einer der<br />

Mönche und die anderen standen. Am dritten Tag saß der<br />

zweite Mönch und bewachte die beiden anderen Gefangenen.<br />

Ein Mal in drei Tagen warst du der Folterknecht, zwei<br />

Mal das Opfer.<br />

Das ist der grauenvollste Moment – wenn man sich mit<br />

seiner eigenen Bestialität konfrontieren muss. Wenn man<br />

sich selbst hassen oder gleichgültig werden muss. Während<br />

des Experiments in Piteşti kehren diejenigen, die sich auflehnen,<br />

an den Punkt zurück, an dem die „Maske heruntergerissen“<br />

und die Persönlichkeit zerstört wird. Sie verbringen<br />

Monate in Einzelzellen, versuchen Selbstmord zu<br />

begehen. Schließlich werden alle gebrochen.<br />

Constantin Barbu, einer von denen, die überlebt haben,<br />

sagt in dem Buch Memorialul Durerii (Mahnmal des Leidens):<br />

„Ich denke, sogar in der Hölle gibt es nicht solche Methoden,<br />

wie sie in Piteşti angewandt wurden. Selbst dort nicht. Es<br />

gibt Dinge, die sich der menschliche Verstand nicht vorstellen<br />

kann.“<br />

Eines Tages, als er an der Reihe war, der Folterknecht<br />

zu sein, hielt es Petre nicht mehr aus. Vor ihm standen die<br />

bärtigen und abgemagerten Mönche mit herunterhängenden<br />

Köpfen. Ihre Knie zitterten.<br />

„Ich flehe euch an“, sagte er, „setzt euch. Ich nehme die<br />

Schuld auf mich, aber setzt euch.“<br />

Alle drei setzten sich. Sie weinten. Der Wärter kam in<br />

die Zelle und schlug Petre einfach mit der Faust ins Gesicht.<br />

Er zerrte ihn nach draußen. Ein paar Tage lang haben die<br />

Mönche ihren Mitgefangenen nicht gesehen.<br />

Als Petre zurückkam, hatte er kein Alter mehr. Seine<br />

Haare und sein Schnurrbart waren weiß wie die Bärte der<br />

Mönche. Die Wärter hatten ihm die Zähne ausgeschlagen.<br />

Alles an ihm hatte sich verändert; sein Gang, sein Blick. Er<br />

sprach nicht mehr.<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc


GOMBROWICZ<br />

MIŁOSZ<br />

SZYMBORSKA<br />

MROŻEK


WITOLD<br />

GOMBROWICZ<br />

KRONOS<br />

Witold Gombrowicz (1904-1969), einer der herausragenden<br />

polnischen Schriftsteller des<br />

20. Jahrhunderts, Verfasser von in mehr als<br />

35 Sprachen übersetzten Erzählungen, Romanen<br />

und Dramen, sowie eines dreibändigen Tagebuchs,<br />

das weltweit als Juwel der Tagebuchliteratur<br />

gilt. Seit Jahren kursierten Legenden und<br />

Gerüchte um Kronos, aber nur wenige kannten<br />

das Manuskript tatsächlich; kurz nach Erscheinen<br />

avancierte das private Tagebuch zum Bestseller.<br />

Kronos, das sind bislang unbekannte, privat-intime Aufzeichnungen<br />

von Witold Gombrowicz. An sich schon faszinierend,<br />

unterscheiden sie sich radikal von den hochsophistischen<br />

Prosawerken – auch denen in Tagebuchform – die<br />

Gombrowicz selbst zum Druck freigegeben hat.<br />

Kronos hätte wohl auf ein paar Dutzend Druckseiten Platz<br />

gefunden, der vorliegende Band umfasst jedoch fast fünfhundert.<br />

Der editorisch problematische Text – davon wird<br />

sich jeder überzeugen, der ihn zur Hand nimmt – wurde mit<br />

unerlässlichen Fußnoten, Reproduktionen und Kommentaren<br />

versehen. Und mit einem so instruktiven wie anrührenden<br />

Vorwort von Rita Gombrowicz. Ihr ist es zu verdanken,<br />

dass Kronos in dieser umfassenden Form erscheinen konnte,<br />

wenngleich es Teile enthält, die für sie sehr schmerzhaft<br />

sein müssen. So erklärt sich auch die Emphase, mit der sie<br />

beispielsweise schreibt: „Witold, der in den Kriegsjahren<br />

in extremer Armut lebt, erinnert mich bisweilen an Hiob.”<br />

Anders verhält es sich mit einem weiteren Schlüsselsatz der<br />

Autorenwitwe. Wenn sie schreibt: „Kronos ist die beharrliche<br />

Suche nach den Fundamenten der eigenen Existenz”,<br />

wird man hellhörig, rührt sie hier doch an das Wesentliche,<br />

wie erstaunlich, enttäuschend, empörend, beängstigend<br />

oder desillusionierend dies auch empfunden werden mag.<br />

Gombrowicz begann höchstwahrscheinlich um den Jahreswechsel<br />

von 1952 zu 1953 mit der Arbeit an Kronos und setzte<br />

sie fast bis zu seinem Tod fort, wenn er (vermutlich in der<br />

Retrospektive) die wichtigsten (oder erwähnenswerten) Ereignisse<br />

jedes Monats notierte und jeweils zum Jahresende<br />

eine kurze „Bilanz” zog. Am Anfang steht jedoch der Versuch<br />

einer mit dem Jahr 1922 beginnenden Rekonstruktion,<br />

die zumeist noch stärker im Telegrammstil der Jahre vor<br />

Kronos gehalten ist.<br />

Diese Rekonstruktion ist wahrhaftig eindrucksvoll. Auffällig<br />

ist, dass sich Gombrowicz in Kronos auf wenige Themen<br />

beschränkt (eben jene „Fundamente der eigenen Existenz”).<br />

Dabei handelt es sich vor allem um Rechnungen und anstehende<br />

Haushaltsdinge, etwas lakonisch dargestellte<br />

Beziehungen zum persönlichen Umfeld, detaillierte Ausführungen<br />

über gesundheitliche Probleme, Erfolge und<br />

Niederlagen weniger künstlerischer als kommerzieller Natur,<br />

Übersetzungen, „Prestigegewinn” und nicht zuletzt um<br />

das erotische Leben, dargeboten in (bei guter Gesundheit<br />

und günstigen Umständen hohen) Zahlen zum Geschlechtsverkehr<br />

mit den verschiedensten Partnern. Die Erotik muss<br />

Gombrowicz ungeheuer wichtig gewesen sein, dabei aber<br />

reine Physiologie ohne romantische Verbrämung. So ist in<br />

der Bilanz des Jahres 1955 zu lesen: „Erot: ordentlich, eher<br />

gemäßigt, 15.” Bezeichnend ist, dass Gombrowicz gerade der<br />

Erotik in seiner Rekonstruktion der Vorkriegsjahre so viel<br />

Raum gibt und dass er diese Form dafür wählt. In einer von<br />

mehreren Versionen seiner Notizen ist beispielsweise zu<br />

lesen: „1939. 5, 6. 2 Nutten aus der Mokotowska, C. aus dem<br />

Zodiak. 9 Nutten. 7. Tänzerin aus Wilno (Sommer). Freundin<br />

der Brezas und Boys (Sommer). 8. (J. Wilerówna). Nutte<br />

mit Tripper. 9. Jungfrau. Außerdem: J. aus Praga, Franek, M.<br />

im Kino, vielleicht die Narbuttówna. Und die mit den Füßen<br />

in Gummigaloschen”.<br />

Dieselbe „Sachlichkeit” spricht auch aus den weiteren oben<br />

genannten Gombrowicz-Themen in seinen Notizen für den<br />

Eigenbedarf. Hat er sich nun, ist man geneigt zu fragen, sich<br />

selbst so vorgestellt, hat er sich so (nur so?) seiner erinnert,<br />

nur dies als das für ihn Wesentliche festgehalten? Darin ist<br />

Kronos eben so faszinierend – auch wenn man nicht gerade<br />

Sympathie für den Autor entwickelt sondern eher das Bedürfnis<br />

nach Distanz.<br />

Und noch ein letztes: Dieses Tagebuch, das keines ist,<br />

enthält nicht eine einzige Einlassung über „das Seelische”,<br />

die Eschatologie oder Metaphysik jeglicher Couleur. In zwei<br />

Einträgen zwingt einem die brutale Sachlichkeit jedoch den<br />

Gedanken an das Ende auf: Im Schlusssatz der Bilanz des<br />

Jahres 1961 („Gesundheit: ordentlich, Atmung schlecht, Tod<br />

immer näher.”) und an entsprechender Stelle 1966: „Ich<br />

kämpfe mit zahllosen Krankheiten, ich krepiere, mit Rita<br />

geht es insgesamt besser, aber nicht immer … Mein Gott,<br />

mein Gott, wie lange?”<br />

Irgendwo zwischen Kronos und dem restlichen Œuvre ist<br />

Witold Gombrowicz zu finden, wie er wirklich war. Vielleicht<br />

aber auch ganz woanders.<br />

Marcin Sendecki<br />

WITOLD GOMBROWICZ „KRONOS”<br />

WYDAWNICTWO LITERACKIE<br />

KRAKÓW 2013<br />

145×205, 460 PAGES<br />

ISBN: 978-83-08-05106-1<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

THE WYLIE AGENCY<br />

RIGHTS SOLD TO: CHINA (SHANGHAI<br />

99) AND CZECH REPUBLIC (TORST)


WISŁAWA<br />

SZYMBORSKA<br />

REVOLVERGLANZ<br />

Wisława Szymborska (1923-2012), Lyrikerin, Essayistin<br />

und Feuilletonistin; erhielt 1996 den Literaturnobelpreis,<br />

wurde in mehr als vierzig Sprachen<br />

übersetzt; veröffentlichte 13 Gedichtbände,<br />

die fast ausnahmslos als Meisterwerke angesehen<br />

werden.<br />

Revolverglanz zeichnet ein detailliertes Bild der inoffiziellen<br />

Wisława Szymborska, die nicht jene „Gedichte für die<br />

Welt” schreibt, die ihr den Nobelpreis eingebracht haben,<br />

sondern literarischen Schabernack für Freunde und den<br />

Eigenbedarf.<br />

Die Früchte dieser vergnüglichen Arbeit wurden zwar<br />

schon früher öffentlich, etwa in Reimereien für große Kinder<br />

(Rymowanki dla dużych dzieci, Kraków 2002), noch nie<br />

jedoch so erschöpfend wie im vorliegenden Band. Revolverglanz<br />

sei, so schreibt der Dichter, Philologe, Freund<br />

Szymborskas und ihrer schriftstellerischen Vergnügungen<br />

Bronisław Maj in seinem schalkhaften, zum wissenschaftlichen<br />

Kommentar stilisierten Vorwort „eine riesige,<br />

von ausgesprochenem Formenreichtum geprägte und<br />

aus sämtlichen Epochen ihres Schaffens – im Wortsinne:<br />

von den ersten bis zur letzten! – sich speisende Sammlung<br />

unbekannter Werke Wisława Szymborskas”. Tatsächlich<br />

eröffnet der Band mit Juvenilia – Kinderreimen, Bildchen<br />

und kurzen Briefen der kleinen Wisława, um schließlich zu<br />

enden mit dem (so die Herausgeber) „letzten Kurzgedicht<br />

Wisława Szymborskas, das sie im Krankenhaus nach ihrer<br />

Operation im Dezember 2011 schrieb, wenige Wochen vor<br />

ihrem Tod”. Das Gedicht lautet folgendermaßen: „Die Niederlande<br />

haben sich weise gezeigt, / sie wissen, was zu tun<br />

ist, / wenn die natürliche Beatmung streikt!” Damit hat die<br />

Verfasserin der Rufe an Yeti ein unverkennbar dramatisches,<br />

dabei aber typisch distanziert-humorvolles, poetisches<br />

„letztes Wort” gesprochen.<br />

Zwischen den ersten literarischen Gehversuchen und<br />

der letzten Krankenhausnotiz entfaltet sich vor dem Leser<br />

der gesamte Mikrokosmos Szymborskas literarischer<br />

Scherze, die neben der chronologischen Ordnung auch<br />

nach Genres (zumeist Erfindungen der Autorin) und Themen<br />

gruppiert sind. (Die Suche nach Äquivalenten für Erzeugnisse<br />

aus dem Hause Szymborska wie moskaliki, lepieje,<br />

adoralia etc. in anderen Sprachen dürfte für Übersetzer<br />

eine echte Herausforderung sein – und ein großer Spaß<br />

obendrein). Dabei handelt es sich nicht allein um Gedichte,<br />

erwähnt seien nur die zauberhaften „Briefe eines Parkplatzwächters”,<br />

die „Märchen aus dem Leben toter Dinge”<br />

von 1949 oder der titelgebende Text, ein Auszug aus einer<br />

Krimiromanze, der wohl aus dem Jahr 1935 datiert!<br />

Erwähnt sei noch, dass nicht allein der Text den Band<br />

so reizvoll macht. Im Grunde handelt es sich um ein Album,<br />

reich illustriert mit Fotografien, Reproduktionen von<br />

Zeichnungen und Faksimiles zahlreicher Manuskripte und<br />

Typoskripte der Dichterin.<br />

Marcin Sendecki<br />

WISŁAWA SZYMBORSKA<br />

“BŁYSK REWOLWRU”<br />

AGORA<br />

WARSZAWA 2013<br />

190×245, 142 PAGES<br />

ISBN: 978-83-2681-248-4<br />

TRANSLATION RIGHTS: FUNDACJA<br />

WISŁAWY SZYMBORSKIEJ


CZESŁAW<br />

MIŁOSZ<br />

DIE BERGE<br />

DES PARNASS<br />

Czesław Miłosz (1911-2004), Dichter, Prosaautor,<br />

Essayist und Übersetzer. Literaturnobelpreis<br />

1980, in 42 Sprachen übersetzt. Ehrendoktorwürde<br />

zahlreicher Universitäten in den USA und in<br />

Polen, Ehrenbürger Litauens und Krakaus.<br />

Die Berge des Parnass ist nach den Romanen Das Gesicht der<br />

Zeit und Tal der Issa aus den 1950er Jahren Czesław Miłosz'<br />

dritter und letzter Versuch in der erzählenden Prosa. Die<br />

Anfänge liegen wohl im Jahr 1967, besonders intensiv arbeitete<br />

er in den Jahren 1970 und 1971 an diesem Text, um<br />

ihn, ebenfalls 1971, schließlich doch zu verwerfen. Auszüge<br />

aus dem unvollendeten Werk bot Miłosz 1972 der Pariser<br />

„Kultura” an, aber Jerzy Giedroyć zeigte sich skeptisch und<br />

druckte sie nicht ab. Erst jetzt wurde das mehrere Dutzend<br />

Seiten starke Typoskript – fünf ausgewählte Kapitel aus<br />

einer längeren Manuskriptfassung, ergänzt um die Einleitung<br />

– veröffentlicht.<br />

In mindestens dreierlei Hinsicht ist dieser Text bemerkenswert:<br />

Zum ersten haben wir es laut Untertitel mit Science-Fiction<br />

zu tun, was Anreiz genug sein sollte, sich mit<br />

Miłosz' Unternehmen zu befassen, schließlich ist eine solche<br />

„Suche nach der geräumigeren Form“ ein verheißungsvolles<br />

Unterfangen. Zum zweiten, und das hängt mit dem ersten<br />

Punkt zusammen, liefert Miłosz als Prosaiker und Kommentator<br />

seiner Prosa zahlreiche Ergänzungen zum bereits<br />

Bekannten. Und drittens lohnen bislang unbekannte Zeilen<br />

eines Nobelpreisträgers die aufmerksame Lektüre, selbst<br />

wenn sie Fragment geblieben sind, und, wie er selbst einräumt,<br />

ein Dokument seines künstlerisches Scheiterns.<br />

Czesław Miłosz hatte bekanntlich von der modernen<br />

Prosa, zumal aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,<br />

keine besonders hohe Meinung. Er fand, sie habe sich „von<br />

der Welt der Dinge und der menschlichen Beziehungen losgelöst“,<br />

und „der zeitgenössische Roman ist, geschult an Bewusstseinsströmen,<br />

inneren Monologen etc. und gepeinigt<br />

von strukturalistischen Theorien so weit gegangen, dass<br />

er kaum noch an das erinnert, was einmal unter Roman<br />

verstanden wurde“, heißt es in der Einleitung zu Die Berge<br />

des Parnass. Die neue Prosa hat also Miłosz zufolge verloren,<br />

was sie einst belebte und aufblühen ließ: die Fähigkeit,<br />

zu Herz und Gewissen weiter Leserkreise durchzudringen,<br />

Wahrheiten zu verkünden und allgemeinverständliche<br />

Debatten anzustoßen. In der wissenschaftlichen Fantastik<br />

erkannte Miłosz jedoch das Genre, in dem die Tugenden der<br />

ursprünglichen, „altmodischen“ Prosa noch lebendig sind,<br />

und das, zumindest in seiner klassischen Ausprägung, besser<br />

als die elitäre Poesie dazu angetan ist, das traditionelle<br />

Gespräch mit dem Publikum aufzunehmen. Das gilt beispielsweise<br />

für Stanisław Lems Solaris, das Miłosz in dem<br />

Maße schätzte, wie er die späteren Genreexperimente Lems<br />

und – Ironie der Geschichte! – dessen Suche nach einer geräumigeren<br />

Form für die Science-Fiction kritisierte.<br />

Miłosz stürzte sich in die Science-Fiction, um seiner<br />

Sorge um die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit<br />

Ausdruck zu verleihen. Er skizzierte ein Bild der Welt am<br />

Ende des 21. Jahrhunderts, in der technischer Fortschritt<br />

zwanghaften, sinnlosen Konsum generiert und die Bindungen<br />

innerhalb der Gesellschaft auflöst, die von einer elitären<br />

Technokratenkaste regiert wird. In dieser Welt, die der Verstand<br />

um den Sinn und an ihre Grenze gebracht hat, entsteht<br />

jedoch die Keimzelle einer quasireligiösen Renaissance, ein<br />

Häuflein Andersdenkender, das, angeführt von einem gewissen<br />

Efraim, nach Hoffnung und nach einem Ausweg aus<br />

der allgemeinen Gleichgültigkeit und Ohnmacht sucht.<br />

Wie das Ganze ausgeht, wissen wir nicht. Miłosz hat<br />

lediglich eine erste, zuweilen sehr plastische Skizze seiner<br />

Welt entworfen, eine erste, zuweilen sehr reizvolle Einführung<br />

ausgewählter Figuren – eine Handlung (was sonst hätte<br />

die Emotionen der Leser galvanisieren sollen?) konnte er<br />

nicht in Gang setzen. Vermutlich verlor er auch deshalb das<br />

Interesse an diesem Stoff. Der Autor selbst findet in der unbedingt<br />

lesenswerten Einleitung, die zeigt, wie altmodisch<br />

und wie erzmodern das Scheitern plausibel gemacht wird,<br />

eine raffinierte Erklärung für seinen Rückzug. Sämtliche<br />

Abenteuer, Kontexte, Bezüge und die erstaunlichen Fortsetzungen<br />

der Berge des Parnass spricht Agnieszka Kosińska in<br />

ihrem aufschlussreichen Nachwort an. Und damit niemand<br />

auf die Idee kommt, Die Berge des Parnass könnten ein reiner<br />

Prosatext sein, ist die 1968 in der „Kultura“ veröffentlichte<br />

Liturgie Efraims beigefügt. Versehen mit einem „Kommentar<br />

zur Erklärung, wer Efraim war“, zeigen die mit biblischen<br />

Gleichnissen durchsetzten rituellen Inkantationen Miłosz<br />

ganz in seinem Element.<br />

Die Berge des Parnass sind wahrlich ein faszinierendes<br />

Stück Literatur.<br />

CZESŁAW MIŁOSZ<br />

„GÓRY PARNASU”<br />

WYDAWNICTWO KRYTYKI<br />

POLITYCZNEJ<br />

WARSZAWA 2012<br />

145×205, 128 PAGES<br />

ISBN: 978-83-63855-01-7<br />

TRANSLATION RIGHTS:<br />

THE WYLIE AGENCY<br />

Marcin Sendecki


MAŁGORZATA I.<br />

NIEMCZYŃSKA<br />

MROŻEK. STRIPTEASE<br />

EINES NEUROTIKERS<br />

Małgorzata I. Niemczyńska (geb. 1982), Rezensentin<br />

und Journalistin der „Gazeta Wyborcza“<br />

und des Magazins „<strong>Książki</strong>. Magazyn do czytania“,<br />

in dem sie zu literarischen Themen publiziert<br />

und Interviews mit Schriftstellern, Musikern<br />

und Filmschaffenden veröffentlicht.<br />

Die erste Biografie zu Sławomir Mrożek nach dessen Tod<br />

ist keine Biografie im engeren Sinne. Mrożek. Striptease eines<br />

Neurotikers von Małgorzata I. Niemczyńska ist eher ein<br />

glänzend geschriebener und hervorragend dokumentierter<br />

Atlas der Konstellationen um den Autor von Polizei, Der<br />

Schneider oder Schlachthof, um den auf näheren oder weiter<br />

entfernten Umlaufbahnen zahlreiche weitere Planeten,<br />

Monde und Sterne ihre Kreise ziehen und durch ihr Kraftfeld<br />

die Position des Planeten Mrożek auf der Himmelskarte<br />

ständig neu bestimmen.<br />

Die Objekte der Mrożek-Konstellation sind Menschen<br />

und Orte, angefangen mit Borzęcin bei Krakau, wo der<br />

Autor geboren wurde und den Krieg erlebte. Von Mrożek<br />

selbst nur beiläufig erwähnt, hat diese Genesis, wie Striptease<br />

eines Neurotikers darlegt, den Autor maßgeblich beeinflusst.<br />

Dabei war dieser Einfluss, wie so vieles in seinem<br />

Leben, paradoxer Natur. Denn Mrożek hat nicht versucht,<br />

sich wie andere Autoren seiner Generation literarisch oder<br />

auf der Bühne mit seinen Kriegserinnerungen auseinanderzusetzen.<br />

Er hat dazu geschwiegen und ihnen erst 1980<br />

in Zu Fuß Gestalt gegeben. Doch war ihm wohl eher an einem<br />

verspäteten Dialog mit dem Vater gelegen als an der<br />

Geschichte selbst.<br />

Zu den charakteristischen Vorgehensweisen von Striptease<br />

eines Neurotikers zählt, dass es über das Leben Mrożeks<br />

erzählt, biografische Spuren aber auch in seinen Werken<br />

und in den Biografien Dritter sucht, die ihn mit ihrer Persönlichkeit,<br />

ihren Gefühlen und ihrer Intelligenz geprägt<br />

haben und vice versa. Daher treten in Niemczyńskas Buch<br />

bisweilen andere Figuren in den Vordergrund, etwa Witold<br />

Gombrowicz, aus dessen geistigem Schatten Mrożek sich<br />

lange Zeit zu befreien suchte, was eigentlich nicht gelingen<br />

konnte, war doch der Kampf um das außergewöhnliche Ich<br />

beider „Lebenswerk“. Nicht zu vergessen auch Stanisław<br />

Lem (man lese Striptease eines Neurotikers parallel zur Korrespondenz<br />

der beiden Schriftsteller), der mit Mrożek bei<br />

allen Unterschieden ihrer literarischen Universen in seiner<br />

Haltung zu Mensch und Welt erstaunlich viel gemein hatte<br />

– diese Haltung hat fast etwas Misanthropisches, abgesehen<br />

vielleicht von der Liebe zur Motorisierung. Małgorzata<br />

I. Niemczyńska ist es wohl zuallererst um ein emotionales<br />

Bildnis des Autors zu tun, das besonders eindringlich wird,<br />

wenn sie von seinen Frauen erzählt: der nahezu vergessenen,<br />

aber offenbar höchst interessanten Malerin Maria<br />

Obremba (deren Zwillingsschwester die erste Frau Andrzej<br />

Wajdas war, damit waren Wajda und Mrożek eine Zeit lang<br />

verschwägert) und der Mexikanerin Susana Osorio Rosas.<br />

Das emotionale Porträt markiert den finstersten Teil in<br />

Niemczyńskas Buch, der freilich allen bekannt war, die<br />

Mrożeks Tagebuch in Gänze bewältigt haben.<br />

Es gibt aber noch eine weitere Frau, die im Leben<br />

Mrożeks eine entscheidende Rolle gespielt hat und ihn<br />

vielleicht besser kannte als viele seiner Freunde. Striptease<br />

eines Neurotikers beginnt nämlich mit einer eigenwilligen<br />

Rekonstruktion von Sławomir Mrożeks Rückkehr aus der<br />

Aphasie bzw. mit der mühevollen Arbeit, ihn neu zu modellieren.<br />

Die Protagonistin dieses Teils ist Mrożeks Therapeutin<br />

Beata Mikołajko, die bei Niemczyńska zur stillen Heldin<br />

avanciert. Das Buch schließt mit einem Interview, einem<br />

der letzten, die Mrożek gab, nachdem er Polen endgültig<br />

in Richtung Nizza verlassen hatte. Damit ist ein starker<br />

Schlusspunkt unter den Abgang eines Autors gesetzt, der<br />

offenbar die Auseinandersetzungen, die er jahrzehntelang<br />

mit sich selbst ausgefochten hat, wenn nicht in Wohlgefallen<br />

auflösen, so doch ad acta legen konnte.<br />

Neben Erzählungen über den Autor, sein näheres Umfeld<br />

(auch das nahe, praktisch nie das allernächste) und<br />

seine fast durchweg vorübergehenden Aufenthaltsorte<br />

(empfohlen sei das fantastische Kapitel über das Krakauer<br />

Schriftstellerhaus, in dem seinerzeit u.a. Szymborska, Kisielewski,<br />

Słomczyński, Gałczyński oder Różewicz lebten)<br />

wartet Małgorzata I. Niemczyńskas Buch mit zahlreichen<br />

spannenden Entdeckungen und Erinnerungen zum Frühwerk<br />

Mrożeks auf. Genannt seien hier nur sein Superheldencomic<br />

oder der gemeinsam mit Bruno Miecugow verfasste<br />

(und in der Werkausgabe nicht enthaltene) Roman<br />

über Senator McCarthy. Die Autorin erwähnt auch den<br />

Filmschaffenden Mrożek, eine heute völlig vergessene Seite<br />

des Autors von Liebe auf der Krim (nicht einmal in umfassenden<br />

Datenbanken wie filmweb oder imdb wird er geführt).<br />

Wir werden noch mit zahlreichen biografischen Werken<br />

von Mrożek-Forschern und -Freunden zu tun bekommen –<br />

Striptease eines Neurotikers hat die Messlatte hoch gelegt.<br />

Paweł Goźliński<br />

MAŁGORZATA I. NIEMCZYŃSKA<br />

„MROŻEK. STRIPTIZ NEUROTYKA”<br />

AGORA<br />

WARSZAWA 2013<br />

170×220, 250 PAGES<br />

ISBN: 978-83-268-1276-7<br />

TRANSLATION RIGHTS: AGORA


NEUE BÜCHER AUS POLEN<br />

HERBST 2013<br />

©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2013<br />

Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph<br />

Texte von: Paweł Goźliński, Maria Kruczkowska,<br />

Anna Marchewka, Dariusz Nowacki, Patrycja<br />

Pustkowiak, Marcin Sendecki, Kazimiera<br />

Szczuka, Małgorzata Szczurek<br />

Übersetzung: Joanna Manc, Lisa Palmes,<br />

Antje Ritter-Jasińska, Heinz Rosenau,<br />

Renate Schmidgall, Paulina Schulz,<br />

Benjamin Voelkel, Thomas Weile<br />

Weitere Informationen über die Polnische<br />

Literatur auf www.bookinstitute.pl<br />

Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter<br />

dem Titel New Book From Poland Fall 2013<br />

kann über das Buchinstitut bezogen werden.<br />

Graphik und Satz:<br />

Studio Otwarte, www.otwarte.com.pl


www.bookinstitute.pl

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