Untitled - Instytut KsiÄ Å¼ki
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Lord Vader gegen<br />
die Quelle der Wahrheit<br />
43<br />
In tiefstem Granitschwarz schimmernd tauchte er recht unvermittelt an der<br />
Bracka-Straße auf und füllte die Lücke in der südlichen Frontfassade an den<br />
Jerozolimskie-Alleen. Es war das Jahr 2011, eben waren die Baugerüste verschwunden,<br />
und so blieben die Vorbeigehenden stehen und legten den Kopf<br />
in den Nacken, um ihn sich anzusehen. Gewöhnlich schauten sie schweigend<br />
und gingen nach einer Weile in ihre Richtung weiter. Er zog jedoch magisch<br />
an, sie drehten sich noch einmal um und schenkten ihm einen letzten Blick.<br />
Vielleicht dachten sie sogar noch an ihn, wenn sie in den Bus stiegen oder um<br />
die Ecke bogen.<br />
Andere Bezeichnungen für Lord Vader: Sarkophag, Totenschuh, Monolith.<br />
Mit einem Wort: Die dunkle Seite der Macht.<br />
Es ist eines der letzten Bauprojekte Stefan Kuryłowiczs. Das pechschwarze<br />
Einkaufs- und Bürozentrum ließ die bekannte Krakauer Familie Likus hier<br />
erbauen. Mit seinen abgerundeten Ecken korrespondiert das von Kuryłowicz<br />
entworfene Gebäude mit dem gegenüberliegenden Zentralen Warenhaus,<br />
heute allgemein „Smyk“ („Knirps“) genannt. Der helle, modernistische Sandsteinblock<br />
des Smyk und Kuryłowiczs schwarzer Monolith begannen einen<br />
Dialog, eine architektonische Konversation. Das ist gut. Vielleicht blieben die<br />
Vorbeigehenden – wenn auch völlig unbewusst – gerade deshalb hier stehen,<br />
um sich diese Schwärze anzusehen.<br />
Darth Vader zog jedoch nicht nur magisch an. Der schwarze undurchdringliche<br />
Block hatte noch eine weitere Eigenschaft. Er konnte vernichten. Das,<br />
was er absorbierte, war seine Antithese, sein völliges Gegenteil. Es war eine<br />
Wolke aus Licht und Luft, ein Glänzen. Ein Kritiker schrieb gar darüber:<br />
„Wer das nicht gesehen hat, wird die Quelle der Wahrheit nie begreifen.“<br />
Diese Quelle nannte sich „Chemiepavillon”. Entworfen haben ihn Jan<br />
Bogusławski und Bohdan Gniewiewski, und in Trümmern lag er am elften<br />
April 2008.<br />
Die Kritiker konnten sich kaum fassen vor Begeisterung über das, was im<br />
Jahr 1960 an der Ecke Bracka- und Nowogrodzka-Straße im Entstehen begriffen<br />
war. Bereits der Ort war nicht zufällig gewählt – die Bracka war die<br />
natürliche Fußwegsverbindung zwischen dem Trzech Krzyży-Platz und dem<br />
Zentralen Warenhaus an den Jerozolimskie-Alleen und, etwas weiter, der<br />
Chmielna-Straße. Gerade aus städtebaulichen Gründen wurde hier ein Spalt<br />
in der Bebauung und ein kleiner Platz gelassen. Den Pavillon selbst beherrschten<br />
asymmetrische Formen und viel Licht. Er war fast vollständig verglast,<br />
stützte sich auf kunstvolle, V-förmige Pfeiler und einen von außen unsichtbaren<br />
Betonsockel. So erweckte er den Eindruck, ganz aus Glas zu sein und sich<br />
nur dank unsichtbarer Kräfte zu halten. Oder eben dank des Lichtes, das an<br />
den Abenden sein ganzes Inneres ausfüllte. Es war geradezu ein Übermaß an<br />
Licht, und so drang es durch die unsichtbaren Wände und überflutete die ganze<br />
Umgebung. Von der Straße sah der Chemiepavillon wie eine Lichtwolke<br />
aus, eine übernatürliche Kumulation von Energie. Er sah wie etwas Gutes aus.<br />
(Darth Vader sieht wie etwas Schlechtes aus, auch wenn er in Wirklichkeit<br />
nichts Schlechtes ist.)<br />
Ganze Jahre hindurch zog der Chemiepavillon auch wegen seines Warenangebots<br />
an, von dem wir heute sagen würden, dass es nicht besonders erlesen<br />
war und in jedem größeren Supermarkt eher einen unteren Rang einnähme.<br />
In den schlichten Zeiten ihrer Geburt lieferte die Quelle der Wahrheit aus<br />
Kunststoff gemachte Schüsseln und Schälchen, Eimer, Bürsten und Deckchen.<br />
Sie waren die in exakten Reihen angeordneten Beweise dafür, dass die<br />
heimatliche chemische Industrie nicht nur Düngemittel mit den wundersamen<br />
Eigenschaften von Raketentreibstoff produzierte.<br />
Als die Zeit der Lügen vorbei war, fiel die Quelle der Wahrheit in Ungnade.<br />
Sie wurde mit Werbeplakaten zugehängt und ihre Neonbuchstaben<br />
verschwanden unter immer neuen Bannern. Die Vitrinen vor dem Eingang<br />
wurden zerstört und mussten entfernt werden, um den dort parkenden Autos<br />
Platz zu machen. Drinnen richtete sich eine private Initiative ein. Alles wurde<br />
hoffnungslos schmutzig und grau. Die wie in einem Kaleidoskop wechselnden<br />
Mieter hatten nicht die Zeit, die Mittel und die Lust, sich um das Gebäude zu<br />
kümmern. Die Quelle der Wahrheit hatte keine begeisternde Wirkung mehr,<br />
sondern nur noch eine abschreckende. Es musste etwas mit ihr geschehen.<br />
Im Jahr 2001 kaufte die Krakauer Familie Likus den Abschnitt zwischen<br />
Nowogrodzka- und Bracka-Straße und den Jerozolimskie-Alleen. Der in seiner<br />
Mitte stehende verwahrloste, einst so ätherische Pavillon interessierte sie<br />
nicht im Geringsten. Für das Grundstück hatten sie dicke Millionen ausgegeben,<br />
die Investition musste sich lohnen. Sie beschlossen also, Darth Vader hier<br />
hinzustellen, die Verkörperung der dunklen Seite der Macht: ein randvoll mit<br />
Luxusartikeln angefülltes Einkaufszentrum, das die weltweit teuersten und<br />
namhaftesten Marken in sich versammelte. Es sollte ein in Warschau noch nie<br />
dagewesener Ort sein.<br />
Ein Konflikt war unausweichlich. Zur ersten Schlacht gegen das Imperium<br />
rückten die Bewohner eines nahen, in der Bracka-Straße 13 gelegenen Mietshauses<br />
aus. Nach den Plänen Stefan Kuryłowiczs sollte sich die schwarze und<br />
fast fensterlose Wand des neuen Einkaufszentrums gerade einmal zwölfeinhalb<br />
Meter vor ihren Fenstern und Balkonen befinden. Und das bedeutete de<br />
facto die völlige Verdunklung ihrer Wohnungen. Der gerichtliche Kampf um<br />
das Licht dauerte fünf Jahre – dann kamen Wojewodschafts- und Oberstes<br />
Berufungsgericht zu dem Schluss, die Klagen der Bewohner seien unbegründet<br />
und das Gebäude könne entstehen. Von Journalisten nach dieser Sache<br />
gefragt, antwortete Kuryłowicz: „Es tut mir ehrlich leid für die Bewohner der<br />
Bracka-Straße 13, aber das ist die Warschauer Innenstadt. Jahrelang war dort<br />
ein scheußlicher Parkplatz. Das Gebäude hat eine Bebauungslücke gefüllt.“<br />
Auf diesem scheußlichen Parkplatz stand auch die Quelle der Wahrheit.<br />
Kuryłowicz muss ihren Wert gekannt haben. Er hatte einen Professorentitel<br />
und zu seinen Seminaren an der Fakultät für Architektur am Warschauer Polytechnikum<br />
strömten die Studenten in Massen.<br />
Trotzdem wird am elften April 2008 der Platz eingezäunt und die ersten<br />
Bulldozer fahren beim Chemiepavillon vor. Sein Abriss dauert nicht lange.<br />
Viele Warschauer bemerkten ihn erst, als ihnen auffiel, dass mit dem Pavillon<br />
auch der Secondhandshop verschwunden war, in dem sie sich mit billiger,<br />
gebrauchter Kleidung eingedeckt hatten.<br />
Am Tag nach dem Abriss der Quelle der Wahrheit erscheint in der „Gazeta<br />
Wyborcza” ein Text von Jerzy Majewski. Er schreibt darin, dass die Sache<br />
mit dem Chemiepavillon vor allem ein Zusammenprall der bekanntesten Namen<br />
in der Geschichte der polnischen Architektur sei – auf der einen Seite<br />
Bogusławski und Gniewiewski, auf der anderen der absolute Star des freien<br />
Polen, Stefan Kuryłowicz: „Es ist auch ein Zusammenprall zweier verschiedener<br />
Denkweisen über die Stadt – die modernistische aus den 1960er Jahren,<br />
voller freier Räume, und die postkommunistische, zufällig erbaute Stadt. Und<br />
schließlich ist es ein Kampf zwischen David und Goliath, in dem zu unserer<br />
Verwunderung Goliath sich als der Gewinner herausstellt.“<br />
2011 ist Kuryłowiczs Einkaufszentrum schließlich fertig, die finstere<br />
schwarze Wand nimmt den Bewohnern der Bracka-Straße 13 erfolgreich die<br />
Sicht auf die Welt. Von der Quelle der Wahrheit, der ätherischen Lichtwolke,<br />
ist nicht die kleinste Spur geblieben. Man könnte sagen, die Dunkelheit ist an<br />
ihre Stelle getreten.<br />
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />
KARAKTER, KRAKÓW 2012<br />
190 × 245, 272 PAGES<br />
ISBN: 978-83-62376-12-4<br />
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />
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