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Untitled - Instytut Książki

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33<br />

Die<br />

Hauptschlagader, der Hauptnerv der Kolyma war und ist der<br />

Kolyma-Trakt, also die Trasse. Ich werde – so wie viele ältere<br />

Bewohner der Kolyma – trakt und trasse groß schreiben.<br />

Denn es handelt sich um eine über zwei Tausend Kilometer lange Straße, die<br />

mit Menschenleben gepflastert ist. Sie liegt auf Knochen. Und das ist keine<br />

Metapher. Denn wieso gibt es entlang der ganzen Trasse nicht einen einzigen<br />

alten Friedhof?<br />

Deshalb, weil die Toten einige Zentimeter unter der Straßenoberfläche<br />

liegen. Tausende Menschen. Die Arbeit am Bau des Trakts war neben dem<br />

Goldabbau die schwerste in Kolyma. Wer dabei umgefallen war, dem wurden<br />

die Lager-Lumpen heruntergerissen (sie würden noch von Nutzen sein), er<br />

wurde mit dem Gesicht nach oben hingelegt und mit der Erde der Kolyma<br />

zugedeckt, mit der die Trasse aufgeschüttet ist.<br />

Worüber denken die Leute in den ersten Tagen der Reise am intensivsten<br />

nach? Wie kann man hier pissen? Ich steige aus dem Wagen und in meinem<br />

Schädel bohrt ständig der Gedanke, dass ich irgendeinem armen Teufel auf<br />

den Kopf pinkle.<br />

Vielleicht ist es einer von uns, ein neunzehnjähriger, kleiner Soldat, der nach<br />

dem Überfall auf Polen 1939 unter dem Befehl meines Großvaters stand, ein<br />

armer Junge aus meinem Warschau, der noch nie ein Mädchen hatte, und als<br />

er vor Hunger starb, flüsterte er... Eben, was hat er wohl gesagt? Und ich alter<br />

Zyniker schäme mich jetzt, dass ich so einen Schwachsinn, wie für eine Telenovela,<br />

schreibe. Doch wenn du am Ende der Welt, in einem schäbigen Hotel<br />

alleine da sitzt und dir zum Heulen ist, weil dich die MS überfällt, schreibst<br />

du, um Hände und Hirn zu beschäftigen, ein Tagebuch, und dann entstehen<br />

solche Stilblüten. (MS steht nicht für Multiple Sklerose sondern für Melancholie<br />

des Schreibenden).<br />

Der Bau der Trasse beginnt 1932, als Trust Dalstroj gegründet wird. Am<br />

Ende des Jahrzehnts zieht sich die Straße bis zur Siedlung Ust-Nera beim Kilometer<br />

1007. In den vierziger Jahren wird sie bis Chandyga verlängert, das am<br />

Angara-Fluss, Kilometer 1065, liegt. Das ist die westliche Grenze des Trusts.<br />

Der Bau am letzten Abschnitt bis Jakutsk, Kilometer 2025, wurde Anfang der<br />

fünfziger Jahre beendet, doch das ist ein so genannter zimowik – eine Straße,<br />

die man nur im Winter benutzen kann, wenn der Matsch gefriert. Erst seit<br />

den neunziger Jahren ist auch im Sommer der ganze Kolyma-Trakt passierbar.<br />

Ich folge ihm auf den Spuren von Warlam Tichonowitsch Schalamow, mit<br />

seinem dicken Sammelband Erzählungen aus Kolyma, der über tausend Seiten<br />

zählt. Das ist große, russische Literatur – das erschütterndste, ungewöhnlichste<br />

Bild einer Lagerzivilisation, die Schalamow in drei Gebote zu verdichten<br />

weiß: glaube nicht, hab keine Angst, bitte nie um etwas. Und noch eine ’Tugend’,<br />

ohne die du im Lager nicht überlebst: du musst stehlen können, angefangen<br />

mit dem Brot deiner Mitgefangenen. Im Lager kann der Mensch nur<br />

schlechter werden. Schalamow entdeckt, dass dort auch Gott stirbt, während<br />

für Aleksander Solschenizyn der Gulag den Charakter auf die Probe stellt –<br />

eine Situation, aus der der Gefangene als Sieger hervorgehen kann.<br />

Schalamow sitzt achtzehn Jahre in den Lagern, plus zwei als ‚Freier’, doch<br />

ohne das Recht, wegzufahren (davon verbringt er siebzehn Jahre in Kolyma).<br />

Er wird nach Stalins Tod 1953 entlassen. Bis zum Ende seines Lebens bleibt er<br />

dem Lager-Thema besessen treu.<br />

Er ist also mein erster, ständiger Paputschik. Paputschik, das ist eins meiner<br />

russischen Lieblingswörter. Es bedeutet Reisebegleiter, ein Mensch, der denselben<br />

Weg einschlägt (auf Russisch: po puti). Wörtlich und im übertragenen<br />

Sinne. Jemand, mit dem du dieselbe Route fährst, in demselben Zugabteil und<br />

mit dem du dich zum Beispiel in politischen Dingen gut verstehst. Ihr habt ein<br />

Ziel, das ihr verfolgt. Dieses Buch ist im Grunde über solche Menschen, doch<br />

nicht nur über diejenigen, mit denen ich gefahren bin, sondern auch über<br />

solche, die ich auf der Strecke getroffen habe.<br />

In diesem Teil werden viele Fahrer vorkommen. Die Lastwagenfahrer werden<br />

in Russland meistens Dalnobojeschtschiks genannt. Das sind Menschen<br />

des weiten Kampfes (auf Russisch: dalno – weit; boj – Kampf), der langen<br />

Trasse, bei uns heißen sie Fern- oder Brummifahrer. Manchmal werden sie<br />

auch Kamazisten genannt, auch wenn ihre Lastwagen keine Kamaz sind, oder<br />

Ugolschtschiks, wenn sie Kohle transportieren, weil ‚ugol’ Kohle bedeutet.<br />

Doch in der Kolyma wurde schon zu Zeiten des Gulags ein eigenes Wort für<br />

sie erdacht: Die einheimischen Fahrer heißen die Trassowiks (von Trasse).<br />

Die Kolyma-Trasse ist ein sehr gefährlicher Weg. Sie besteht aus aufgeschüttetem,<br />

gelblichem Kolymer Boden, in dem mehr Steine sind als Erde.<br />

Die Straße hat keinen festen Straßenbelag, also wird sie von jedem stärkeren<br />

Regenschauer unterspült, der Dauerfrostboden bricht und zerbröckelt sie. Im<br />

Winter macht der Schnee das Leben schwer, und wenn nicht viel von ihm da<br />

ist, wandelt er sich zum rutschigen, weißen Asphalt. Im Sommer setzt einem<br />

der furchtbare, gelbe Staub zu, der lange in der Luft wirbelt; dann gibt es Auffahrunfälle<br />

wie im Nebel. Am Weg sind viele ’Grabmale’: statt eines Kreuzes<br />

hängt an einem kleinen Pfahl ein zerbrochenes Lenkrad, statt eines Grabsteins<br />

– eine Komposition aus Reifen oder ein löchriger Kühler.<br />

An vielen Stellen am Rand stehen Zaunreste gegen Schneeverwehungen.<br />

Die Gulag-Gefangenen haben sie aus Lärchenzweigen geflochten. Der Trakt<br />

ist für die Fahrt gefährlich, doch das Leben auf ihm ist sicher. Das allgemeine<br />

Banditentum ist selten. Hier gab es sogar in den schrecklichen neunziger Jahren<br />

keinen, damals ganz Russland quälenden, Straßenraub, als Schutzgelder<br />

für die Durchfahrt erpresst wurden.<br />

Die schlimmste Zeit, was die Kriminalität angeht, macht Kolyma 1953<br />

durch, als sich nach Stalins Tod die Lager leeren und Tausende von Menschen<br />

in die Freiheit entlassen werden. Darunter sind viele Kriminelle, denen jedoch<br />

nicht erlaubt wird, auf den Kontinent zurückzukehren. Um sich in den Städten<br />

sicherer zu fühlen, laufen dort die Menschen in Gruppen herum. Männer<br />

bringen ihre Frauen zur Arbeit, weil viele der entlassenen Gauner seit Jahren<br />

keine Frau gesehen haben.<br />

In diesem Moment macht sich ein ehemaliger Politischer mit dem Nachnamen<br />

Riabokoń – ein Soldat der anarchistischen, revolutionär-aufständischen<br />

Ukrainischen Armee des Atamans Nestor Iwanowitsch Machno – entlang der<br />

Trasse auf den Weg. Schalamow widmet ihm eine Erzählung.<br />

Der Anarcho-Veteran bildet eine vierköpfige Bande, die mit leichter Hand<br />

über ein Jahr lang jeden, der ihren Weg kreuzt, ausraubt und mordet. Die<br />

Männer streiten sich jedoch bei der Aufteilung der Beute und verraten sich<br />

gegenseitig. Alle bekommen fünfundzwanzig Jahre Gulag.<br />

Diese Zeiten sind längst vorbei. Jede Begegnung mit einem Menschen auf<br />

der Trasse ist heute pures Vergnügen, und die Bars an der Kolyma-Straße<br />

liebe ich einfach. Es gibt vielleicht etwas mehr als zehn von ihnen zwischen<br />

Magadan und Jakutsk. Ich kann stundenlang drin sitzen und mir die einfachen,<br />

ehrlichen Gesichter, die Menschen aus der Taiga in Tarnanzügen, die<br />

Fernfahrer mit ölverschmierten Händen (Technikschmutz sei kein Schmutz<br />

– sagen sie) und die vom Rheuma gezeichneten Goldsucher anschauen. Ich<br />

fühle Erleichterung, dass ich nicht in die roten, überfressenen Gesichter der<br />

Oligarchen schauen muss, in die hervorstehenden Augen der versoffenen Offiziere.<br />

Endlich höre ich „danke“, „bitte“ und das Mütterchen, das in der Bar in<br />

Larjukowa, bei Kilometer 386, mit einem dreckigen Lappen über den Boden<br />

schmiert, sagt sogar „Entschuldigung“ zu mir. Das hört man von den Städtern<br />

aus Magadan nur selten.<br />

Aus dem Polnischen von Joanna Manc<br />

CZARNE, WOŁOWIEC 2011<br />

133 × 215, 320 PAGES<br />

ISBN: 978-83-7536-292-3<br />

TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM<br />

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