1838-Die Wahrsagerin - Burgenverein Untervaz
1838-Die Wahrsagerin - Burgenverein Untervaz
1838-Die Wahrsagerin - Burgenverein Untervaz
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<strong>Untervaz</strong>er <strong>Burgenverein</strong> <strong>Untervaz</strong><br />
Texte zur Dorfgeschichte<br />
von <strong>Untervaz</strong><br />
<strong>1838</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Wahrsagerin</strong><br />
Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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<strong>1838</strong> <strong>Die</strong> <strong>Wahrsagerin</strong> Joh. Baptist Bandlin<br />
Baldino Johann (Bandlin Joh. Baptist):<br />
Mimosen: Novellen und Erzählungen aus dem Bündtnerischen Natur- und<br />
Volksleben. - Schaffhausen - Brodtmann'sche Buchhandlung, <strong>1838</strong>-1857<br />
<strong>Die</strong> <strong>Wahrsagerin</strong><br />
S. 53: Durch Zigeunermund, und Traum,<br />
Droht die Hölle mit Gefahren,<br />
Wo sie weiss, dass man ihr glaubt,<br />
Und das Licht verlöscht im Haupt,<br />
Eure Sinne sind verwirrt,<br />
Unvernünftiges geschieht - (Adolph Müller)<br />
S. 54: <strong>Die</strong> Wiese, und fruchtreichen dichtbesetzten Baumgärten des grossen<br />
paritätischen Dorfes Trimmis grenzen vom Fusse des Berges bis an die<br />
Landstrasse herab. Von denselben dehnte sich zur Zeit, aus dem wir erzählen,<br />
ein Erlen-, Birken-, Pappeln- und Weidenwald bis an die Wellen des drei<br />
Stunden weiter oben beim malerisch gelegenen Schlosse Reichenau<br />
vereinigten Hinter- und Vorderrheines hinab. <strong>Die</strong> Waldgruppe wurde die<br />
Trimmiser Au genannt. Sie war dreiviertel Stunden lang und vierzig Minute<br />
breit. Eine Viertelstunde weiter unten befand sich am jenseitigen linken Ufer<br />
des Stromes eine etwa um die Hälfte grössere Waldung von den gleichen<br />
Baumarten. <strong>Die</strong>se hiess die <strong>Untervaz</strong>er Au. Beide waren von klaren Bächen<br />
durchschlängelt, in denen Fische in Menge wimmelten. In diesen Auen<br />
wohnten während des Frühlings, Sommers und Herbstes teils in Hütten von<br />
Erde aufgeworfen oder von Zweigwerk geflochten, teils unter Zelten Zigeuner.<br />
Beim Eintritt des Winters zogen sie sich in Gebirgshöhlen oder in die noch<br />
vorhandenen Gewölbe alter Burgruinen zurück. Zu damaliger Zeit wurden<br />
nämlich in vielen Gegenden Bündens noch Zigeuner und Vagabunden so lange<br />
geduldet, als sie sich keine Vergehen zu Schulden kommen liessen. Daher<br />
rührt zum Teil die grosse Anzahl Heimatloser. <strong>Die</strong> Zigeuner liess man umso<br />
ungestörter, weil sie sich in den Ortschaften in deren Nähe sie ihren Aufenthalt<br />
aufschlugen, nie an fremdem Eigentum vergriffen, und sie sich das nötige zu<br />
ihrem Unterhalt teils durch Bettel und Verkauf ihrer verfertigten Artikel, teils<br />
durch Entwendungen aus entfernten Gegenden des Landes oder anderer<br />
Kantone herholten, und weil das Volk sie wegen ihrer Wahrsagereien,
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Heilmittelbereitungen, <strong>Die</strong>bstahlsverzeigungen, Geisterbeschwörungen u.s.w.<br />
gar gerne litt, oder sich scheute, ihnen etwas in den Weg zu legen, weil es sie<br />
für Verbündete der geheimen Wunderwelt hielt.<br />
<strong>Die</strong> Zigeuner, dieses herumziehende Nomadenvolk wanderte im Anfang des<br />
15. Jahrhunderts aus Asien nach Europa ein. Es stammt aus der verachteten<br />
Klasse Hindustans, den Parias her.<br />
S. 55: Sprache, Bildung und Sitten weichen durchaus von allen europäischen ab.<br />
Über 700'000 sind durch Europa zerstreut. Am zahlreichsten schweifen sie im<br />
südlichen Spanien herum. In England gibt es über 18'000, in Ungarn,<br />
Siebenbürgen und der Moldau über 200'0000. Häufiger sind sie noch in<br />
Bessarabien, der Krim, um Konstantinopel und in der ganzen Türkei. Ihre<br />
Sprache ist mit wenig Verschiedenheiten in ganz Europa dieselbe und mit der<br />
indischen verwandt. Lange und oft schon hat man an ihre Verbannung aus<br />
unserem Weltteile gedacht. In Frankreich und Spanien, in Italien und<br />
Deutschland wurden schon im 16. Jahrhundert Gesetze gegen ihre Duldung<br />
erlassen. Immer und bald wieder aber schlichen sie sich in den südlichen<br />
Gegenden ein. In den österreichischen Staaten, wo sie sehr zahlreich sind,<br />
suchte zuerst die grosse Maria Theresia sie zu cultivieren, erst durch Milde,<br />
dann durch Strenge, aber mit ebenso wenig Erfolg, als ähnliche Versuche in<br />
Russland hatten. Etwas mehr richteten Josephs II. weise Verordnung (seit<br />
1782) zur sittlichen und bürgerlichen Verbesserung der Zigeuner in Ungarn,<br />
Siebenbürgen und im Bannat aus. <strong>Die</strong>, welche dort nur an dem äussersten Ende<br />
der Dörfer wohnen, nennt man Neubauern und sie sind gebildeter als die<br />
herumziehenden.<br />
<strong>Die</strong> Zigeuner erkennt man auf den ersten Blick. Sämtlich haben sie eine<br />
olivenfarbene Haut, kohlenschwarze Haare, funkelnde schwarze Augen,<br />
rosenrote Lippen, elfenbeinweisse Zähne und einen schlanken Wuchs. Viele<br />
ihrer Mädchen sind grosse Schönheiten. Auch den Männern fehlt ein schönes<br />
Ebenmass der Glieder nicht. Manche aber haben ein zurückschreckendes<br />
scheues Ansehen. Ihre Gesundheit ist eisenfest und trotz Sturm und Regen,<br />
Schnee und Frost. Von frühester Jugend an werden sie an alles Ungemach<br />
gewohnt. <strong>Die</strong> Kinder gehen bis ins zehnte Jahr vollkommen nackt. Erwachsene<br />
haben nur Hemd und Hose, oder Rock und Schürze, rot oder hellblau, keine<br />
Fuss- oder Kopfbedeckung. Von den ersten Lebenstagen zieht das Kind auf
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dem Rücken der Mutter im Schnappsacke in Wind<br />
S. 56: und Wetter mit, die grösseren laufen barfuss über Eis und Schnee an der Seite<br />
der Mutter und so werden sie unter Ungemach, Blösse und Elend hart erzogen<br />
und erhalten einen Körper, dem nichts mehr schadet, und der von keiner<br />
Krankheit etwas weiss. Der Zigeunerknabe liegt am heissesten Sonnenstrahle<br />
im Sommer, im Winter in der Erdehütte, im alten Gewölbe einer Burgruine<br />
oder in der Felshöhle und Grotte am Feuer von Qualm und Rauch umgeben.<br />
Damit er schön glänze reibt ihn die Mutter mit einer beitzenden Farbe ein.<br />
Der Zigeuner schmiedet vor seinem Zelte, seiner Erd- oder Geflechthütte oder<br />
seiner Felshöhle mit sehr armseligen Werkzeugen mit einem Hammer, Zange<br />
und Amboss, Hufeisen, Nägel, Ringe, Ketten, Beschläge und dgl. oder flickt<br />
Pfannen und Kessel, macht Teller, Löffel, Mulden aus Holz u.s.w. verfertigt<br />
Vogelbauer und fängt Krünitze, Dompfaffen, Kirschfinken, Grünfinken,<br />
Buchfinken, Bergfinken, Stieglitze, Hänflinge, Citrincken, Zeissige, Lerchen,<br />
Amseln, Drosseln, Schwarzköpfchen und Grasmücken. <strong>Die</strong>se Artikel trägt die<br />
Zigeunerin in die nächsten Dörfer, verbandelt sie um Geld und Esswaren und<br />
nimmt aus den Bauernhäusern mit, was sie heimlich erhaschen kann. <strong>Die</strong><br />
Kinder leisten ihr beim Wegstibitzen gute <strong>Die</strong>nste. Während sie den in der<br />
Stube um sich versammelten Leuten wahrsagt, fangen die Kinder eine Gans<br />
oder ein Huhn im Hofe weg, welchen gleich der Hals umgedreht wird, damit<br />
ihr Geschrei den Raub nicht verrate. Merkwürdig ist es, dass die Zigeuner bei<br />
ihrem angeborenen und von Jugend auf genährten Hange zum Stehlen äusserst<br />
selten gewalttätigen Raub, Einbruch oder gar Mordtaten verübeln. Schlauheit<br />
ist ihnen in einem hohen Grade eigen. Sie begnügen sich auf eine listige Art zu<br />
entwenden, und da sind es hauptsächlich Dinge die sie für Nahrung, Kleidung,<br />
und als Materialien zu ihren Arbeiten brauchen, und sie stehlen gewöhnlich<br />
nur was auf kurze Zeit für sie notwendig ist. Ihre Sorge erstreckt sich<br />
gewöhnlich nicht weiter als von einem Tag auf den anderen. Sie sind die<br />
eigentlichen Kummerlosen. Weniges Küchengerät bildet ihren Hausrat. Bei<br />
seiner<br />
S. 57: Mahlzeit kennt der Zigeuner weder Gabel, noch Teller, aber Löffel und<br />
Messer. <strong>Die</strong> Kost der Zigeuner ist gar nicht lecker. Brot und Mehl betteln sie,<br />
worin es die Zigeunerin zur Fertigkeit gebracht hat. Fehlt Brot und haben sie<br />
Mehl, so backen sie sich flache Kuchen in der Asche. Knoblauch und
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Zwiebeln lieben sie im hohen Grade. Am Fleisch essen Sie alles, was andere<br />
Leute wegwerfen und meistens nur halb gekocht. Das Fleisch eines Tieres, das<br />
an einer Krankheit fällt, ist viel besser, als das von Menschen geschlachtete,<br />
und deswegen sind verendete Kühe, Ochsen, Pferde, Schafe, Ziegen, Schweine<br />
usw., ein wahrer Leckerbissen für sie. Wo bei einer Feuersbrunst viel Vieh<br />
umgekommen ist, da gibt es bei den Zigeunern Jubel und Festtage.<br />
Der Zigeuner isst so lange, als er etwas zu nagen hat, und hungert, wenn nichts<br />
da ist. Sein liebstes Getränk ist der Branntwein, für ihn gibt er den letzten<br />
Kreuzer hin. Über Alles aber geht ihm der Tabak. <strong>Die</strong> Pfeife hat Mann, Weib<br />
und Kind immer im Munde. Als grösste Leckerei wird der Tabak auch gekaut<br />
und verschluckt. Kann der Zigeuner ein Kleid stehlen, so prunkt er damit. Er<br />
bildet sich viel darauf ein, wenn er auch weder Strümpfe noch Schuhe an den<br />
Füssen um keinen Hut auf dem Kopfe hat. Rote Kleidungsstücke mit gelben<br />
Schnüren und Knöpfen besetzt, zieht er allen anderen vor, und sucht sie<br />
einzuhandeln oder zu stehlen. Eben so gefallen ihm gelbe Csismen, wofür er<br />
all sein Geld hingibt, wenn auch seine Beinkleider kaum die Blösse bedecken.<br />
Eine eigentliche Religion haben die Zigeuner nicht. In der Türkei sind sie<br />
Mohammedaner, in Spanien, Siebenbürgen und anderen europäischen Ländern<br />
haben sie christliche Gebräuche angenommen, ohne sich um das Eigentliche<br />
der Religion zu bekümmern. Sie heiraten nur unter sich, gewöhnlich schon 14.<br />
oder 15. Jahre, ohne alle Förmlichkeit, und nicht selten der Bruder die<br />
Schwester. Wird der Mann seiner Frau überdrüssig, so jagt er sie fort. Wenn<br />
zwei Zigeuner in Zank geraten, so ziehen sie die Kleider aus, ehe sie sich<br />
prügeln.<br />
S. 58: Viele Zigeuner verdienen sich mit Musik den Unterhalt. Charakteristisch ist<br />
ihre Tanzlust und jede Anlage zur Musik. Der Zuschauer jubelt sich an Leib<br />
und Seele ergriffen, wenn der Tanz der Zigeuner auf einem freien Platz vor<br />
Hütte und Zelt anhebt, und die Paare, wie von einem Wirbel erfasst,<br />
wundersam verstrickt und verschlungen im Reigen sich drehen und wenden,<br />
während die Geige schallt wie aufjubelnder Lerchengesang, der Brummbass in<br />
wunderlichen Gängen auf- und abrumort, und zwischen hinein die Cimbel<br />
klingt, wie Glockenklang und die Klarinette aufjauchzt in trunkener<br />
Lebenslust.<br />
Der Zigeuner eigenthümliche Beschäftigung und ihre Haupterwerbsquelle,
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besonders der Weiber, ist Wahrsagerei im Allgemeinen und Chiromantie,<br />
Handwahrsagerei im Besondern. Das Oberhaupt dieser aus dem Oriente<br />
herstammenden Waldsiedler in der Trimmiser und Untervatzer Au war<br />
Kalione. Was sie aussprach, hatte für Alt und Jung eine Orakelkraft. Ihrem<br />
Willen fügten sich Alle. Keiner wagte je gegen ihr Gebot sich aufzulehnen. Ein<br />
Blick oder nur ein halber Wink reichte hin, das zu vollstrecken, was sie<br />
wünschte, diese Pythia des wahrsagenden Volkes. Sie war kerzengerade und<br />
schlank wie eine Pappel. Obschon der Winter, der grausige, graue, gefühllose<br />
Riese des Nordens, seitdem sie den ersten Lichtstrahl erblickt, schon achtzig<br />
mal Wald und Flur belagert, fingen doch nur hie und da einzelne ihrer<br />
rabenschwarzen Haare an, in Silberfarbe überzugehen. Ihre kohlenschwarzen<br />
Augen funkelten, wie zwei Flammen unter den dichten, buschigen Hügeln<br />
ihrer Brauen. <strong>Die</strong> häufigen Zuckungen ihrer hagern, olivengelben Wangen<br />
glichen den kräuselnden Wellenbewegungen des Spiegels eines Bergseeleins.<br />
Es war als bewegten sich Ameisen unter der etwas schlaff anliegenden Haut.<br />
Ihr Gang war ohne alles Schwanken noch fest und rüstig und ihre ganze<br />
Haltung ernst und gebieterisch. Wo sie hinkam, wurde ihr männiglich eine<br />
unbedingte Huldigung und Ehrfurcht bezeugt. Wenn ihr Blick Zorn<br />
verkündete, erschrak Alles. Spiegelte sich Zufriedenheit<br />
S. 59: auf ihrem Angesichte, so verbreitete sich allgemeine Freude. Sie besuchte<br />
keine Ortschaft oder einzelne Wohnstätte anderer Menschen. Wer sie befragen,<br />
berathen oder sich von ihr die Zukunft enthüllen lassen wollte, musste sich zu<br />
ihr begeben. Ohne vorher von einer ihrer greisen <strong>Die</strong>nerinnen angemeldet<br />
worden zu sein, durfte Niemand bei ihr eintreten, selbst nicht einmal jemand<br />
von ihren eigenen Leuten. Ihr Kleid war rosenroth mit gelber Verbrämung,<br />
durchwirkt von Gold- und Silberfäden, und besetzt mit gelben Knöpfen, die<br />
beim Sonnenschein blendend erglänzten und im Dämmerlichte des Mondes<br />
wie Sterne flimmerten. Ein rother Gürtel mit gelben Rändern und<br />
wunderlichen, seltsamen Figuren ausgeschmückt, umgab ihre Lenden. Darin<br />
steckten zwei blanke Pistolen, die Schäfte mit Schnitzwerk und die Läufe mit<br />
funkelnden Metalleinlagen verziert. Zwischen ihnen hing ein gelbrot<br />
durchstickter Tabaksbeutel und eine silberbeschlagene Meerschaumpfeife mit<br />
kurzem Weichselrohr. An Rohr und Beutel befanden sich Quasten von der<br />
Lieblingsfarbe der Zigeuner. Ein rotes barettförmiges und gelbverbrämte<br />
Hütchen sass auf dem zuversichtsvollen, gehorsamgebietenden Haupte.
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Strauss- und Pfauenfedern schmückten diese Kopfbedeckung. An jedem der<br />
acht Finger ihrer Hände erglänzte ein Goldin mit Rubin- oder unter anderm<br />
Steinschmucke eingelegt. Eine Perlenschnur umschlang in vielen Windungen<br />
ihren Hals. Ringe und Perlenschnur waren Geschenke von reichen Jünglingen<br />
und Jungfrauen, denen Kalionens Voraussagung einer glücklichen Vermählung<br />
in Erfüllung gegangen. So war der Anzug dieser morgenländischen Pythia,<br />
wann sie ihr Zelt verliess. <strong>Die</strong>ses bestand aus scharlachrotem Zeuge,<br />
ausgeschmückt mit gelben Buckeln und Bändern. Am Gipfel war eine<br />
vergoldete Sonne angebracht, die bei heiterer Witterung nach allen Seiten ihr<br />
Gestrahle ausbreitete, ähnlich dem von der am Himmelsbogen. In beiden<br />
Seiten des Eingangs zu diesem Orakelruhm befanden sich zwei Erdhütten mit<br />
blumigem Rasen belegt. Darinnen wohnten die beiden greisen <strong>Die</strong>nerinnen der<br />
Volksprophetin, und mussten jeden der nahte, um sich<br />
S. 60: das Verhängnis seines Geschickes enthüllen zu lassen, ehe er eintreten durfte,<br />
bei ihrer Herrin melden.<br />
Nebst der Wahrsagerei beschäftigte sich Kalionen noch mit Bereitung von<br />
Mixturen, Oehlen, Elixieren aus heilsamen Kräutern und Wurzeln und von<br />
Salben und Pflastern aus Harzen und Knospen mannigfacher Bäume gegen die<br />
verschiedenen Krankheiten und Verletzungen bei Menschen und Tieren. Wenn<br />
kein Arzt mehr helfen konnte, stürzte man auf sie die letzte Hoffnung. Ihr Ruf<br />
war unter den Landsleuten weit verbreitet. Noch heut zu Tage kennen die<br />
Bauern eine Brandsalbe unter dem Namen der Kalionischen. Sie verdiente mit<br />
all dem, nebst grossartigen Geschenken, so viel Geld, dass sie wie eine Fürstin<br />
nach Zigeuner Art leben, auftreten und die Ihrigen reichlich unterstützen<br />
konnte. Es war keine heilsame Pflanze, welches sie nicht kannte. Kräuter<br />
Wurzeln, Samen, Harze und Knospen sammelte sie selbst mit ihren beiden<br />
beständigen Trabantinnen. Sie durchstöberte mit ihnen Flur und Wald und<br />
stieg selbst bis in die Region der Alpweiden und an die Gletschergrenzen<br />
hinauf. Bei solchen Ausflügen trug sie gelbe Beinkleider, eine rote Jacke, und<br />
einen schwefelfarbigen breitkrempigen Hut mit Auerhahnfedern geschmückt.<br />
Ihre greisen Gefährtinnen hatten blecherne, gelblackierte Pflanzenschachteln<br />
und Spateln und Messer zum Graben und Schneiden. <strong>Die</strong> Gebieterin führte<br />
einen Stock in ihren Rechten auf dem ein Beilhammer befestigt war. Wann die<br />
drei Normen bei einer Almhütte vorbeizogen, traten die Sennen ehrerbietig<br />
heraus und baten sie einzukehren. Frische Milch, Rahm, Butter, Brot und
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kreideweisser Zieger wurde ihnen zur Erlabung aufgestellt. Murmelte die alte<br />
Meisterin einen Spruch oder reichte sie eine sonderbarer Wurzel gegen böse<br />
Geister und Krankheiten des Viehes beim Abschiede dar, so fühlten sich die<br />
schlichten Söhne der Gebirge über alle Massen belohnt und höchst beglückt.<br />
Und doch schlug ihr Herz leichter und ihre Gedanken gestalteten sich<br />
unbefangener und freier, wenn die drei seltsamen Wesen weggezogen waren.<br />
Ihre Gegenwart erfüllte sie mit mehr Angst,<br />
S. 61: Scheu und Bangen, als mit jenem Gefühl, dass man lieblich, traulich und<br />
heimelich nennt. In ihre Ungunst verfallen, mochten sie um keinen Preis der<br />
Welt. Es ist oben im Gebiet der Wolkenregion ein entsetzlich grauenvolles<br />
Wohnen, wenn man mit den Zaubermächten nicht auf gutem Fusse und in<br />
freundlichem Einvernehmen steht.<br />
Wie es in dem Zelt dieser Schuldin aussah und was darin vorging, berichten<br />
wir nach der Erzählung eines Befragers um seine Zukunft. Als ich nahte, sagte<br />
er zu einem, der auch in einer Herzensangelegenheit hingehen wollte, vertraten<br />
mir zwei silberhaarige Wesen, die aus ihren beiden Erdhütten herauszustellen,<br />
den Eingang. Bleiben sie stehen, bis wir bei der Herrin angefragt, ob sie<br />
kommen dürfen, redeten sie mich an. <strong>Die</strong> eine schlüpfte hinein und die andere<br />
blieb bei mir stehen und beobachtete mit ihren kohlschwarzen, rollenden<br />
Augen jede meiner Bewegungen. Sie können hinein, sagte die<br />
Herauskommende, schob den Vorhang weg und liess ihn hinter mir wieder<br />
zufallen. Ein Grauen erfasste mich! Ich zitterte und bebte, wie ein Espenlaub<br />
im Abendwinde. Fast wäre er zusammengesunken. Wie angefesselt stand ich<br />
da und meine schlotternden Beine vermochten mich kaum zu tragen. Ich<br />
konnte weder vor- noch rückwärts schreiten. Während dieses meines<br />
verwirrungsvollen Zustandes zwischen Sein und Nichtsein vergingen<br />
wenigstens fünf Minuten. Jetzt redete eine Stimme, dumpf wie Geisterruf aus<br />
dem Schoss der Erde, mich also an: was wollt Ihr? eröffnet mir euer Anliegen!<br />
Ich will euch enthüllen, was die unbestechlichen Mächte beschlossen, welche<br />
die Schicksale der Erde und ihrer Wesen unabänderlich bei ihrem Beginne als<br />
Keime niedergelegt. Nun fasste ich wieder Mut und schaute umher. In der<br />
Mitte des Zeltes, an dessen Wölbung Sterne und ihre Gebilde, wie an der des<br />
Firmaments angebracht waren und der zunehmende Mond mit seiner<br />
Halbscheibe, stand ein runder Tisch, auf dem ein Pergament mit gar<br />
wunderbaren Figuren übersät, ausgebreitet lag. Vor ihm befand sich ein
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gewaltiger Baumstrunk, der thronartig ausgeschnitten war und hinter dem<br />
grosse Äste mit handförmigen<br />
S. 62: Blättern aus der Erde emporragten und ihn gleichsam überwölbten. Auf diesem<br />
Strunke sass Kalione in einem langen schwarzen Gewande, das Haupt gehüllt<br />
in einen schwarzen Schleier. Es schien, als hätte sie zu gebieten über alles<br />
Dunkle und Schreckliche, über Schicksal, Tod und Sterben, Schlaf und<br />
Träume. Vor ihrer war auf einem flimmernden Kohlenfeuer ein grosser Kessel,<br />
in dem es brodelte und sprudelte, siedete und wallte und brauste und zischte.<br />
Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf ihn, als ob sie nachsehen wollte, ob<br />
das Geköch nicht gar sei. Neben ihm sass eine Meerkatze und schien sich zu<br />
wärmen. Bei dem Dampfe ein besonderes Wohlbehagen zu empfinden. Auf<br />
der anderen Seite erhob sich eine Stange, durch die eine andere oben quer<br />
durchging und ein Kreuz bildete. Ein Waldrabe sass auf dem rechten und eine<br />
Elster der auf dem linken Arm desselben. Am Fusse der Stange lag ein<br />
schwarzer Fuchs, seiner Gestalt und Natur nach ein Mittelwesen zwischen<br />
Wolf und eigentlichem Fuchse, das nur in den kälteren Zonen von Europa,<br />
Asien und Amerika aufgefunden wird. Auf einem eigentümlichen Gerüste<br />
waren Retorten, Phiolen, Tigel und eine Menge anderer gar sonderbarer<br />
Gerätschaften. Nebenan war ein grosser Spiegel angebracht, dessen Glas ein<br />
schwarzer Schleier verhüllte. Als das Zauberweib nur ganz sachte mit einem<br />
Stäbchen auf den Tisch schlug, verstummten das Geschrei der Meerkatze, das<br />
Kolben und Kollern des Raben, das Gäckerbätzen der Elster und das<br />
hundähnliche Knurren und Belfern des Fuchses. Nun trat eine Totenstille ein.<br />
Langsam und majestätisch erhob sich die schwarze Gestalt von ihrem Sitze,<br />
ergriff einen Becher, füllte ihn etwa zur Hälfte vom Gebräue im Kessel, goss<br />
einige Tropfen aus einem Fläschchen hinzu, reichte mir ihn und befahl mir, ihn<br />
mit einem Zuge auszutrinken. Zögern hielt ich ihn in der zitternden Hand und<br />
schaute mit Angst und Grauen, wie es darin krallte und schäumte und perlte<br />
und glänzte und zischte. Endlich fasste ich Mut. Er war geleert und durch<br />
meinen ganzen Leib floss ein wunderbares Wohlbehagen. Ich glaubte ein<br />
anderes Wesen<br />
S. 63: und mit der Geisterwelt in Berührung zu sein und weder Hölle noch Teufel<br />
mehr zu fürchten. Kühn brachte ich nun mein Anliegen vor. Während dessen<br />
schob Kalione ihren Schleier zurück und mass mich mit dem Flammenblicke<br />
ihres grossen, rabenschwarzen, funkelnden Augenpaars vom Kopf bis zu den
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Füssen und sah mich so scharf an, als wollte sie bis auf die Quelle meiner<br />
Gedanken schauen. Als ich ausgeredet, fragte sie mich nach meiner Heimat,<br />
meinen Eltern, ihrer und meiner Lebensweise um Beschäftigung und nach<br />
meinem Alter. Ich konnte nur das Jahr, den Monat und den Tag meiner Geburt<br />
angeben. <strong>Die</strong>s genügt nicht sagte sie, ich muss auch wissen in welcher der vier<br />
Zeiten des Tages und welcher Stunde derselben ihr den ersten Atemzug getan,<br />
wenn ich euch aus dem Buche des Schicksals Auskunft erteilen soll. Geht und<br />
bringt mir die bestimmte Nachricht darüber und dann will ich euch getreulich<br />
enthüllen, was ihr zu wissen wünschet. Indem sie die letzten Worte aussprach<br />
erhob sie den rechten Fuss ein wenig und setzte ihn wieder sachte auf die Erde.<br />
Sogleich erbebte, erzitterte und erdröhnte es in und um das Zelt herum und die<br />
Tiere erhoben ihre Laute wieder, jegliches nach seiner Art. Eine der greisen<br />
<strong>Die</strong>nerinnen öffnete den Vorhang und ich schritt hinaus. Das Gefühl aber, mit<br />
welchem ich von dannen ging, vermag ich nicht einmal anzudeuten,<br />
geschweige denn erst näher auseinanderzusetzen. Soweit die Mitteilung.<br />
Unter den Fragenden erschienen bei Kalione auch über ein Dutzend der<br />
wohlhabenderen Trimmiser Schönheiten. <strong>Die</strong> Liebe hatte sich der<br />
schmachtenden Dorftäubchen ganz bemächtigt. Jede wünschte nichts<br />
sehnsüchtiger, als Frau Pfarrerin zu werden. In der Hoffnung, die alte<br />
<strong>Wahrsagerin</strong> werde ihnen aus Aufschluss und Rat erteilen und hilfreich die<br />
Hand bieten, schlichen sie sich vereinzelt zu ihr hin. <strong>Die</strong> grösste Vorsicht<br />
wurde angewendet und der rechte Augenblick abgepasst, denn jeglicher war<br />
über alles daran gelegen, dass keine andere von ihrer Herzensangelegenheit<br />
etwas erfahre. Einer jeden gegenüber lautete die Antwort auf Ihre Frage, kann<br />
ich den bekommen, den ich<br />
S. 64: liebe? Ihr liebet jetzt einen Schneider, er will aber nichts von euch wissen, und<br />
ihr könnet nie seine Frau werden.<br />
Was i, nen Schnider lieba! b'hüt mi Gott vor nem Schnider! i wett tusigmol<br />
lieber ledig bliba un uf's Giritzenmoos wandera. Pfui Tüfel e Schnider, so nen<br />
Tischhocker, Nodlaheld, e Meistermäk - mäk! Wenn si g'seit het, e hübsche,<br />
junga Pfarrer, wär's etsches anders g'si, das wett mer g'falla lon. <strong>Die</strong> alte Hexe<br />
weiss au nit Alles, die het mi g'seha, i gona nümma zu era! So dachte und<br />
murmelte fast jede für sich hin auf dem Heimwege, und schlich davon wie eine<br />
getränkte Katze. <strong>Die</strong> weibliche Eitelkeit fühlte sich durch diesen Ausspruch
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auf's Schmerzlichste angestochen und verletzt. Jede dachte nur daran, sich an<br />
der Alten zu rächen und den Glauben an ihre Wahrsagerei bei dem Volke zu<br />
untergraben. Wenn des Weibes Unwille entfacht worden, so überschreitet seine<br />
Rachegefühl jegliche Schranke, frisst wie ein aus dem Bette getretener<br />
Waldstrom Grund und Boden weg, und äschert Alles ein, was er erreichen<br />
kann, wie eine entfesselte Flamme. <strong>Die</strong> Zungen der gekränkten Dorfnymphen<br />
waren gelöst, verwundeten wie ein zweischneidiges Schwert und durchbohrten<br />
das eigene Herz. Eine jede der törichten Fragerinnen erzählte nun in ihrem<br />
Unmut dieser und jener Freundin, dass sie auch einmal habe in Erfahrung<br />
bringen wollen, ob die alte Zigeunerin von der Wahrsagerei wirklich etwas<br />
Rechtes verstehe. <strong>Die</strong>s sei durchaus der Fall nicht und das Donnerweib sei<br />
weiter nichts, als eine freche Betrügerin, die das Volk am Narrenseile<br />
herumführe. Ihr z.B. habe sie gesagt, dass sie jetzt einen Schneider liebe. Eine<br />
niederträchtigere Lüge könne es aber nicht geben, denn in ihrem ganzen Leben<br />
habe sie nie an einen solchen Unflat gedacht, von Kindesbeinen an seien ihr<br />
solche Gaissbockritter in der Seele zuwider, ja ein wahrer Greuel gewesen. -<br />
Und nun verbreitete sich das Gerücht, dass eine Menge der schönern und<br />
reichern Trimmiser Mädchen in einen Schneider verliebt seien, wie ein<br />
Lauffeuer im ganzen Hochgericht der fünf Dörfer von Haus zu Haus. Sogleich<br />
verfertigte<br />
S. 65: der Töbeli Lenz, der damals weit bekannte <strong>Untervaz</strong>er Stegreifdichter,<br />
folgende Verse, welche der alte Schulmeister Held zu Zizers in eine<br />
volkstümliche Melodie setzte:<br />
Zu Trimmis ist ne Menge Mädel<br />
In einen fremden Meister Fädel<br />
Gar jämmerlich vergaffet und verschossen -<br />
Und manche Sehnsuchtsträne wird vergossen.<br />
Der Schneider will von Lieb nichts wissen,<br />
Von Allen thät er keine küssen -<br />
Sie wollen sich mit einer Wurst erstechen,<br />
Auch hängen gar an einen Ernterechen.<br />
Ach, welches Seufzen und Gejammer<br />
Ertönt des Nachts in mancher Kammer!<br />
O jerum, dicke Wurst und dünne Rechen
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Wem möcht Mitleid nicht das Herz schier brechen!<br />
In jeder Ortschaft der fünf Dörfer, Trimmis selbst ausgenommen, wurden diese<br />
Verse von den jungen Leuten in den Wirtshäusern und bei sonstigen frohen<br />
Zusammenkünften gesungen. <strong>Die</strong> Trimmiser waren darüber empört. Es<br />
entstanden manche skandalöse Auftritte und Prügeleien zwischen ihnen und<br />
den Jünglingen der anderen Dörfer des Hochgerichtes. Am meisten aber<br />
gerieten die betreffenden Mädchen in Wut. Sie bedachten nicht, dass dies alles<br />
durch ihre eigene Schuld so gekommen und glichen gereizten Hyänen, die mit<br />
Herzenslust den boshaften Sängern die Augen ausgekratzt und die Zungen aus<br />
dem Gaumen gerissen hätten und mit ihnen gar zu gerne, wie die thrakischen<br />
Weiber in ihrem bacchantischen Ingrimme mit dem alten weissagenden<br />
Barden Orpheus, verfahren wären. Auch der Herr Pfarrer fühlte eben kein<br />
sonderliches Wohlbehagen bei diesen Schneiderpersiflagen und<br />
Verhöhnungen. <strong>Die</strong> Alte hatte den Törinnen die Wahrheit gesagt und gerade<br />
das war es, was ihn beunruhigte. Wie leicht konnte nun die ganze mystische<br />
Szene früher oder später enträtselt und gerade er der Stein des Anstosses und<br />
Gespöttes werden! Es gibt für einen Menschen nichts Bedenklicheres<br />
S. 66: und Gefahrdrohendes, als wenn er scheinen muss, etwas zu sein, was er nicht<br />
ist. Das Schwert des Damokles hängt beständig untergangsdrohend über<br />
seinem Haupte.<br />
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