1949-Kleine Geschichte der Schweiz im 2 Weltkrieg - Burgenverein ...
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Untervazer <strong>Burgenverein</strong> Untervaz<br />
Texte zur Dorfgeschichte<br />
von Untervaz<br />
<strong>1949</strong><br />
<strong>Kleine</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> 2. <strong>Weltkrieg</strong><br />
Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind <strong>im</strong> Internet unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen <strong>der</strong> Jahresberichte „Anno Domini“ unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
- 2 -<br />
<strong>1949</strong><br />
<strong>Kleine</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> 2. <strong>Weltkrieg</strong><br />
Peter Dürrenmatt<br />
Dürrenmatt Peter: <strong>Kleine</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> um 2. <strong>Weltkrieg</strong>es.<br />
<strong>Schweiz</strong>er Spiegel Verlag Zürich. <strong>1949</strong>. 111. Seiten.
- 3 -<br />
<strong>Kleine</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es.<br />
Inhaltsverzeichnis:<br />
Vorwort Seite 5<br />
1. Kapitel:<br />
Im Sturm <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> Seite 7<br />
2. Kapitel:<br />
Von <strong>der</strong> Mobilmachung zur «drôle de guerre» Seite 33<br />
3. Kapitel:<br />
Wi<strong>der</strong>stehen! Seite 59<br />
4. Kapitel:<br />
Durchhalten bis zum Frieden Seite 85<br />
S. 5: Vorwort<br />
Der Verfasser des vorliegenden kleinen Buches über die «<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> zweiten <strong>Weltkrieg</strong>» ist vom <strong>Schweiz</strong>er Spiegel Verlag angeregt<br />
worden, es zu schreiben. Diese «<strong>Schweiz</strong>er <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> neuesten Zeit ist<br />
kein wissenschaftliches Werk, und wenn sich <strong>der</strong> Verfasser entschloss, die<br />
Bezeichnung «<strong>Geschichte</strong>» dafür in Anspruch zu nehmen, die <strong>im</strong><br />
Sprachgebrauch einen gelehrsamen Anstrich hat, so deswegen, weil er sie<br />
einfach in einem ursprünglichen Sinn verstanden wissen möchte: Auf den<br />
Seiten seines Büchleins wird das Geschehen erzählt, wie es ein Zeitgenosse<br />
gesehen und erlebt hat. Es soll vornehmlich <strong>der</strong> jungen Generation, die<br />
Manches nur noch vom Hörensagen kennt, <strong>der</strong> Ablauf <strong>der</strong> Dinge <strong>im</strong><br />
Zusammenhang geboten werden. Die «<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> zweiten<br />
<strong>Weltkrieg</strong>» ist ein Erinnerungsbuch, ein Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Überlieferung,<br />
wie sie bei uns von Geschlecht zu Geschlecht reicht und einen <strong>der</strong> Gründe für<br />
die innere Festigkeit des <strong>Schweiz</strong>ertums bildet. Der Verfasser legte grosses<br />
Gewicht darauf, die Atmosphäre jener Tage festzuhalten und darzutun, wie die<br />
unpathetische schweizerische Nüchternheit sich <strong>im</strong> übrigen Chaos <strong>der</strong> Zeit als<br />
grosse Kraft erwies.<br />
Der Verfasser ist ein zuinnerst überzeugter Anhänger <strong>der</strong> Kleinstaatlichkeit<br />
schweizerischer Prägung. Er glaubt, dass diese <strong>im</strong> heutigen Zeitalter <strong>der</strong><br />
Grossraumstaaten ihre beson<strong>der</strong>e geschichtliche Aufgabe zu erfüllen hat.
- 4 -<br />
Sollte es ihm auf den folgenden Seiten gelungen sein, dem Leser zu zeigen, wie<br />
das Wun<strong>der</strong> geschehen konnte, dass <strong>der</strong><br />
S. 6: fö<strong>der</strong>alistische Alpenzwerg dem nördlichen Giganten und dem von ihm<br />
angezettelten Geschehen wi<strong>der</strong>stehen konnte, so ist <strong>der</strong> Zweck des Werkleins<br />
erreicht.<br />
Was das Quellenmaterial anbelangt, so benützte <strong>der</strong> Verfasser, ausser dem,<br />
einem Zeitungsschreiber zugänglichen Material, hauptsächlich eigene<br />
Aufzeichnungen.<br />
Riehen bei Basel, <strong>im</strong> Juni <strong>1949</strong>.<br />
Der Verfasser.<br />
S. 7: 1. KAPITEL<br />
Im Sturm <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
Ein bundesrätliches Wort zündet - Von den Befehlen eines Diktators, den<br />
Wallfahrten von Staatsoberhäuptern und wachsen<strong>der</strong> Unruhe - Tiefere<br />
Ursachen des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es: Versailles, Wirtschaftskrise, Gewaltgeist<br />
und Hitlerei - Die Wirtschaftskrise bricht herein - Die <strong>Schweiz</strong> nach dem ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> - Wirkungen <strong>der</strong> Krise - Hitlers Aufstieg - Gefahr für die <strong>Schweiz</strong> -<br />
Der Frontenfrühling, Oberwindung <strong>der</strong> Krise und nationale Bereitschaft.<br />
S. 8: Es kommt gewiss nicht oft vor, dass <strong>im</strong> <strong>Schweiz</strong>ervolk das Wort eines<br />
Bundesrates von Mund zu Mund gegeben und wie eine befreiende Tat<br />
empfunden wird. Aber <strong>im</strong> spannungsreichen, mit aussenpolitischen<br />
Vermutungen und Gerüchten erfüllten Frühjahr 1939 ist so etwas<br />
vorgekommen. Damals sagte es einer dem an<strong>der</strong>n: «Hast du gehört, was<br />
Bundesrat Obrecht an einer öffentlichen Versammlung in Basel gesagt hat?<br />
Wir <strong>Schweiz</strong>er würden nicht wallfahrten gehen, und wir würden gegen jeden<br />
kämpfen, <strong>der</strong> uns angriffe.» Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> dieses Wort vernahm, fand, es sei<br />
ausserordentlich gut gesprochen und war höchlich befriedigt. Was war<br />
passiert? Warum st<strong>im</strong>mte das Volk diesem bundesrätlichen Wort zu, als ob es<br />
darauf gewartet hätte?<br />
Am 15. März 1939 hatte <strong>der</strong> deutsche Reichskanzler und «Führer» Adolf Hitler<br />
seinen Divisionen den Befehl erteilt, in die Tschechoslowakei<br />
einzumarschieren,
- 5 -<br />
die Hauptstadt Prag zu besetzen, und das, was <strong>der</strong> sogenannte «Münchner<br />
Friede» vom 29. September 1938 von diesem unglücklichen Land übrig<br />
gelassen hatte, in zwei Hälften zu trennen: In das Protektorat Böhmen und<br />
Mähren, das künftig ein Teil des «Grossdeutschen Reiches» sein sollte, und in<br />
einen unabhängigen Staat Slowakei. Während die deutschen Truppen bereits<br />
marschierten, bekam <strong>der</strong> tschechoslowakische Staatspräsident Hacha von<br />
Hitler den Befehl, sich in Berlin einzufinden. Hacha fuhr hin: er gab seine<br />
Zust<strong>im</strong>mung zum vollendeten Gewaltstreich gegen sein Land. Ohne<br />
Blutvergiessen, ohne Kämpfe war <strong>der</strong><br />
S. 10: zwanzig Jahre alt gewordene tschechoslowakische Staat von <strong>der</strong> europäischen<br />
Landkarte getilgt. England und Frankreich aber, die ein halbes Jahr zuvor die<br />
Unterschrift ihrer Staatsmänner unter den Münchner Vertrag gesetzt hatten,<br />
antworteten auf den neuen, frechen, ja zynischen Wortbruch Hitlers mit einem<br />
Protest.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> wie <strong>im</strong> Ausland spürten indessen die Menschen, dass Europa<br />
nun unmittelbar in das Vorfeld eines neuen Krieges eingetreten war. Der<br />
Bundesrat befahl, die Minenobjekte an <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>ergrenze zu laden. Zwei<br />
Tage nach dem Gewaltstreich sprach Bundesrat Obrecht in Basel, eingeladen<br />
von <strong>der</strong> dortigen Gruppe <strong>der</strong> «Neuen Helvetischen Gesellschaft» über<br />
Probleme <strong>der</strong> Arbeitsbeschaffung. Er begann seinen Vortrag mit den Worten:<br />
«Je<strong>der</strong>mann muss wissen, dass dem, <strong>der</strong> uns angreift, <strong>der</strong> Krieg wartet. Wir<br />
werden nicht ins Ausland wallfahrten gehen, um Hilfe zu suchen, son<strong>der</strong>n wir<br />
werden uns selbst und auf uns selbst gestellt unserer Haut zu wehren wissen.»<br />
Das Wort also war das Wort vom Wallfahrten, das Aufsehen erregte, es war<br />
nicht genau so gesprochen worden, wie es nachher umging. Das Volk hatte ihm<br />
jenen Akzent gegeben, den es ihm geben wollte. Gerade diese leichte<br />
Sinnverschiebung zeigte deutlicher als alles an<strong>der</strong>e, wie entschlossen die<br />
'Volksst<strong>im</strong>mung war, wie sehr sie darauf gewartet hatte, durch ein Wort von<br />
oben beides zu bekommen, einen Ausdruck für das, was auf je<strong>der</strong>manns Zunge<br />
lag und einen Richtpfahl für die eigene Haltung.<br />
Befohlene Wallfahrten von Staatsoberhäuptern zu Hitler und kampflose<br />
Kapitulationen waren damals bereits zu einem Begriff geworden. Ein Jahr vor<br />
dem Einmarsch in Prag hatte sich mit fast haargenau gleichem Verlauf die
- 6 -<br />
S. 11: Kapitulation Österreichs abgespielt. Ende Februar 1938 hatte Hitler den<br />
österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg nach Berchtesgaden<br />
kommen lassen und ihm befohlen, den österreichischen Nationalsozialisten<br />
Seyss-Inquart in sein Kabinett aufzunehmen. Schuschnigg hatte gehorcht - und<br />
zwei Wochen später marschierten Hitlers Bataillone in Oesterreich ein. Schon<br />
damals hatten Frankreich und England protestiert. Dessen ungeachtet glie<strong>der</strong>te<br />
Hitler die "Ostmark", wie er Österreich nannte, in das Deutsche Reich ein.<br />
Beide Ereignisse, die Art und Weise, wie Österreich eingeglie<strong>der</strong>t und die<br />
Tschechoslowakei zerstört wurden, leiteten den zweiten <strong>Weltkrieg</strong> unmittelbar<br />
ein. Sie hoben das Gleichgewicht in Europa endgültig auf. Sie trieben die<br />
allgemeine Unruhe in <strong>der</strong> Weltpolitik, die 1935 mit dem Ausbruch des<br />
italienisch-abessinischen Krieges und 1936 mit dem Bürgerkrieg in Spanien<br />
begonnen hatte, auf den Höhepunkt. Der spanische Krieg wuchs sich zu einem<br />
Interventionskrieg aus, bei dem deutsche, italienische und russische<br />
Kontingente, sowie Freiwillige aus <strong>der</strong> ganzen Welt die mo<strong>der</strong>nen Waffen und<br />
ein neues Kampfverfahren ausprobierten.<br />
Versuchen wir zunächst, so gedrängt wie möglich, die tieferen Ursachen<br />
herauszuarbeiten, die den zweiten <strong>Weltkrieg</strong> ausgelöst haben. Wir werden<br />
dabei erkennen, dass sich in Europa nach dem ersten <strong>Weltkrieg</strong> die äusseren<br />
Verhältnisse und die politischen Auffassungen <strong>der</strong> Menschen verän<strong>der</strong>ten. Wir<br />
werden erst dann verstehen, was für ein Wun<strong>der</strong> es gewesen ist, dass die<br />
<strong>Schweiz</strong>erische Eidgenossenschaft, mitten in diesem von Unruhe erfüllten<br />
Kontinent gelegen, zwei Kriege und eine zwischen ihnen liegende schwere<br />
Wirtschaftskrise überstehen konnte.<br />
Ein wenig vereinfachend könnte man sagen, <strong>der</strong> zweite<br />
S. 12: <strong>Weltkrieg</strong> sei aus vier Gründen entstanden: Erstens aus dem unausrottbaren<br />
Gewaltgeist, wie er hauptsächlich <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die Politik <strong>der</strong><br />
europäischen Grossstaaten auszeichnete, zweitens aus dem zwiespältigen<br />
Charakter des Friedens von Versailles, drittens durch den Sieg des<br />
Nationalsozialismus in Deutschland, und viertens aus <strong>der</strong> Glaubensschwäche<br />
<strong>der</strong> westeuropäischen Staatenlenker gegenüber jenen Grundwerten <strong>der</strong> Politik,<br />
die zu verteidigen sie vorgaben. - Als am 28. Juni 1919 <strong>im</strong> Spiegelsaal des<br />
Schlosses zu Versailles <strong>der</strong> Friede unterzeichnet wurde, <strong>der</strong> den ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> abschloss, zahlten die damaligen Alliierten den Deutschen ihre<br />
politische
- 7 -<br />
Gewaltverherrlichung, die sie zwei Jahre zuvor beson<strong>der</strong>s gegenüber den<br />
Russen <strong>im</strong> Frieden von Brest-Littowsk bewiesen hatten, mit gleicher Münze<br />
he<strong>im</strong>. In Versailles wurde nicht mehr verhandelt, wie etwa noch ein<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t vorher in Wien, es wurde diktiert. Der Geist eines Clemenceau und<br />
Poincare gab an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte nach Versailles den deutschen<br />
Nationalisten den Vorwand für ihre eigene Politik, die nichts gelernt und nichts<br />
vergessen hatte.<br />
Indessen: Wir nannten den Versailler Frieden zwiespältig. Dicht neben seinem<br />
Gewaltgeist enthielt er das an<strong>der</strong>e, die Idee des nordamerikanischen<br />
Präsidenten Wilson, einen Völkerbund zu errichten und auf diese Weise zu<br />
versuchen, eine neue Legit<strong>im</strong>ität in den Beziehungen <strong>der</strong> Völker zu schaffen.<br />
Wilsons Idee entstammte einer bedeutsamen Erkenntnis: Der Krieg war ein<br />
<strong>Weltkrieg</strong> gewesen, kein europäischer Krieg. Also musste <strong>der</strong> Friede auf einer<br />
die Welt umfassenden Grundlage gesucht werden. Die amerikanischen<br />
Isolationisten verdarben dem Präsidenten diesen Plan, Nordamerika trat dem<br />
Völkerbund nicht bei. Die europäischen Nationalisten aber, vor<br />
S. 13: allem in Deutschland und in Italien, die Europa <strong>im</strong>mer noch mit <strong>der</strong> Welt<br />
verwechselten, waren entschlossen, den Völkerbund zu zerstören, und <strong>der</strong><br />
übrige europäische Westen war zu müde und <strong>im</strong> entscheidenden Augenblick zu<br />
glaubenslos, um den Völkerbund entschlossen zu verteidigen.<br />
Stärker als die Idee des Völkerbundes war die beharrende Kraft des Macht- und<br />
Gewaltdenkens. Das deutsche Volk war vom inneren Umschwung betäubt, den<br />
die Nie<strong>der</strong>lage von 1918 <strong>im</strong> Gefolge hatte, aber von den politischen<br />
Neuerungen, die er brachte, keineswegs überzeugt. Es nahm Republik und<br />
Demokratie hin, ohne in seiner Mehrheit von diesen Einrichtungen innerlich<br />
ergriffen zu sein. Aktiv waren allein seine Nationalisten und ihre<br />
verhängnisvollen Gegenspieler, die Kommunisten. 1925, sechs Jahre nach <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>lage, gelang den Nationalisten in Deutschland ihr erster Erfolg:<br />
Generalfeldmarschall von Hindenburg wurde als Reichspräsident gewählt.<br />
Frankreich, die Siegermacht auf dem Kontinent, täuschte sich selbst darüber<br />
hinweg, dass <strong>der</strong> Krieg es in mancher Beziehung geschwächt hatte. Es sah,<br />
trotz seiner Siegessicherheit, voll Furcht, wie rasch die Deutschen sich erholten<br />
und errichtete gegen sie an seiner Ostgrenze den Wall <strong>der</strong> Maginotlinie. Italien<br />
wurde unmittelbar nach Kriegsende von sozialen Unruhen geschüttelt und floh<br />
aus ihnen in das nationalistische Extrem des Faschismus.
- 8 -<br />
Seine Faschisten träumten davon, das «Imperium Romanum», das einstige<br />
Römische Reich wie<strong>der</strong> auferstehen zu sehen. Auch für die italienischen<br />
Nationalisten war <strong>der</strong> Krieg ein europäischer alten Stils, nur kein <strong>Weltkrieg</strong><br />
gewesen.<br />
S. 14: Neben diesen drei Grossen gab es auf dem Kontinent den Kranz <strong>der</strong> kleinen<br />
neuen Staaten <strong>im</strong> europäischen Osten, die, wie Finnland und die Baltischen<br />
Staaten, die Gelegenheit <strong>der</strong> russischen Revolution benützt hatten, um<br />
unabhängig und souverän zu werden, o<strong>der</strong>, wie die Tschechoslowakei und<br />
Jugoslawien, aus <strong>der</strong> Konkursmasse <strong>der</strong> österreichischen Donaumonarchie<br />
hervorgegangen und jetzt Frankreichs Verbündete waren. Die einstige<br />
Donaumonarchie war neben <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> das letzte Staatengebilde in Europa<br />
gewesen, das die verschiedensten Nationalitäten in seinen Grenzen vereinigt<br />
hatte. Der letzte<br />
Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph I., hatte das Reich an die<br />
Machtpolitik des wilhelminischen Deutschland gekettet. Das gab den Siegern<br />
von 1918 den Vorwand, das alte Österreich nach dem Krieg zu zerstören und<br />
damit auch das ewig schwankende Gleichgewicht in Europas Osten erst recht<br />
unsicher werden zu lassen.<br />
Es ist möglich, dass <strong>im</strong> Streit und Wi<strong>der</strong>streit zwischen den Kräften des alten<br />
Machtgeistes und den Versuchen, eine Weltsicherheit zu schaffen, vielleicht<br />
doch die letzte sich durchgesetzt hätte. Da brach ein Ereignis herein, das die<br />
geistig-politische Krise in Europa offen ausbrechen liess. Das war die<br />
Weltwirtschaftskrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach <strong>im</strong> Jahr 1929 ihren<br />
Anfang nahm. Es war eine umfassende Krise, die das Gefüge <strong>der</strong><br />
Weltwirtschaft erschütterte. Sie brach mit ähnlicher Wucht über Europa herein,<br />
wie in alten Zeiten etwa die grossen Seuchenzüge. Handel und Wandel<br />
stockten. Die Arbeitslosen sammelten sich in den Städten wie verzweifelte<br />
Heerscharen. Bankkrache, massenhafte Geltstage und wirtschaftliche<br />
Zusammenbrüche ereigneten sich in allen Län<strong>der</strong>n. Es zeigte sich jetzt, dass die<br />
rasche Wirtschaftsblüte, die<br />
S. 15: Mitte <strong>der</strong> zwanziger Jahre begonnen hatte, eine hektische Scheinblüte gewesen<br />
war.<br />
Jedes Volk, das von <strong>der</strong> Krise befallen wurde, reagierte verschieden auf sie, je
- 9 -<br />
nach dem seelischen und geistigen Gesundheitszustand, in dem es sich befand.<br />
Die Krise zwang aber auch jedes Volk zu nationalen Abwehrmassnahmen.<br />
Damit zerstörte sie die kleinen Anfänge <strong>der</strong> neuen, allmählich in <strong>der</strong><br />
Nachkriegszeit entstandenen wirtschaftlichen und geistigen<br />
Weltverbundenheit. überall dort, wo seit dem Frieden von 1919 das<br />
Gleichgewicht nicht wie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> nur scheinbar gefunden worden war, verlor es<br />
sich jetzt, ob <strong>der</strong> Wucht <strong>der</strong> Wirtschaftskrise, von neuem. Der nationale<br />
Egoismus, vom Völkerbund mühsam gedämpft, brach ob <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
eines jeden Landes, die Krise bekämpfen zu müssen, wie<strong>der</strong> offen durch.<br />
Dort, wo die geistigen Voraussetzungen dafür erfüllt waren, nahm <strong>der</strong><br />
nationale Egoismus die Formen eines überhitzten Nationalismus an. Da die<br />
üblichen Mittel, mit denen man <strong>der</strong> Krise beizukommen suchte, zu versagen<br />
schienen, und da meistens zu lange Zeit gewartet worden war, bis man eingriff,<br />
gewannen die politischen und die sozialen Scharlatane an Boden. Es war die<br />
Zeit, da in Deutschland <strong>der</strong> Österreicher Adolf Hitler, ein fanatischdämonischer<br />
Mensch, <strong>der</strong> schon vor dem Kriegsausbruch von 1914 keine<br />
bürgerliche Existenz gefunden hatte, mit seiner «Nationalsozialistischen<br />
Deutschen Arbeiterpartei» zusehends an Boden gewann.<br />
In Frankreich und England mühten sich die Regierungen mit den folgen <strong>der</strong><br />
Krise ab. Einsichtige Männer hatten früh schon erkannt, dass das System <strong>der</strong><br />
deutschen finanziellen Reparationen, das 1919 eingesetzt worden war,<br />
S. 16: die Weltwirtschaft daran verhin<strong>der</strong>te, sich zu erholen. Zugleich bewirkte<br />
indessen <strong>der</strong> steigende deutsche Nationalismus, dass die beiden Westmächte<br />
nur zögernd den verschiedenen Erleichterungen zust<strong>im</strong>mten, die in bezug auf<br />
die deutsche Reparationspflicht vorgeschlagen wurden. So spielten sich das<br />
internationale politische Misstrauen, <strong>der</strong> unerhörte Umfang <strong>der</strong><br />
Wirtschaftskrise und die steigende nationalistische Erregung <strong>der</strong> Völker zur<br />
Vollendung des Unglücks verhängnisvoll in die Hand. In <strong>der</strong> Zeit von wenigen<br />
Jahren wurde es offenbar, dass Europa zu einem Pulverfass geworden war, das<br />
explodieren musste, sobald Unverantwortliche einen Funken hineinwarfen. Die<br />
geistigen Werte in <strong>der</strong> Politik, von denen die Menschen nach 1919 gehofft<br />
hatten, sie seien europäisches Gemeingut geworden - das<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mungsrecht <strong>der</strong> Völker, <strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong> Volksherrschaft, das<br />
Aufhören <strong>der</strong> Gehe<strong>im</strong>diplomatie, die
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Völkerverständigung auf <strong>der</strong> Grundlage des Völkerbundes - wi<strong>der</strong>standen dem<br />
Sturm nicht. Ihre Wurzeln waren zu jung, ihre noch schwachen Stämme<br />
zerbrachen. über Europa begann sich ein geistiges Chaos auszubreiten.<br />
Mitten drin in diesem Europa und seinen Wirren lag unsere <strong>Schweiz</strong>erische<br />
Eidgenossenschaft. Ohne äusseren Schaden hatte sie den ersten <strong>Weltkrieg</strong><br />
überstanden. Aber dieser hatte ihr Wesen verän<strong>der</strong>t. Der Kriegsausbruch von<br />
1914 hatte unser Volk mit einem Schlag geistig auf sich selbst gestellt. Heute<br />
finden wir daran nichts Beson<strong>der</strong>es. Wir haben bereits vergessen, wie eng die<br />
Deutschschweizer vor 1914 mit dem deutschen, die Welschen mit dem<br />
französischen Geistesleben verbunden waren. So eng war die Bindung, dass<br />
wir <strong>Schweiz</strong>er in den ersten Monaten des Krieges drauf und dran waren, <strong>der</strong><br />
nationalistischen<br />
S. 17: Propaganda bei<strong>der</strong> Lager <strong>der</strong> Kriegführenden zu erliegen, dass wir<br />
leidenschaftlich Partei ergriffen und ein gefährlicher Graben zwischen Deutsch<br />
und Welsch aufgerissen wurde. Damals standen hüben und drüben Männer auf,<br />
die die Gefahr erkannten. Sie riefen dazu auf, wir <strong>Schweiz</strong>er sollten uns nicht<br />
<strong>der</strong> nationalistischen Propaganda aussetzen, son<strong>der</strong>n sich auf uns selbst und auf<br />
das, was Recht war, besinnen. Die «Helvetische Gesellschaft» von einst begann<br />
als «Neue Helvetische Gesellschaft» wie<strong>der</strong> ihre Tätigkeit aufzunehmen. Die<br />
Besten unter den <strong>Schweiz</strong>ern aller Lager erkannten, dass wir, obgleich vier<br />
Sprachstämme sich in <strong>der</strong> Eidgenossenschaft begegneten, ein Volk von eigener<br />
politischer Kultur und eigenem politischem Lebenswillen waren. Der Graben<br />
wurde überbrückt und zugeschüttet, die geistige Krise war beschwört.<br />
Nicht weniger gefährlich war die soziale Spannung, die sich von <strong>der</strong> zweiten<br />
Hälfte des ersten <strong>Weltkrieg</strong>es bis zum Kriegsende ausbreitete. Sie wurde durch<br />
verschiedene Umstände ausgelöst und erhielt ihren beson<strong>der</strong>en Charakter nicht<br />
zuletzt daher, dass die Völker rings um unser Land in schwere soziale Krisen<br />
gerieten. Die <strong>Schweiz</strong> war 1914 vom Krieg überrascht worden. Zwar verlief<br />
die Mobilisation <strong>der</strong> Armee rasch und reibungslos. Es gelang uns, <strong>der</strong> Welt zu<br />
zeigen, dass wir bereit waren, für die Unabhängigkeit des Landes und den<br />
Schutz <strong>der</strong> Neutralität zu kämpfen. Aber die Rüstung hätte niemals gereicht,<br />
um einen langen Krieg zu führen. Viel ärger stand es damals um die<br />
wirtschaftliche und soziale Rüstung. Kein Mensch ahnte, was für Formen ein<br />
mo<strong>der</strong>ner Krieg annehmen würde.
- 11 -<br />
Einen kriegswirtschaftlichen Apparat wie <strong>im</strong> zweiten <strong>Weltkrieg</strong> gab es nicht.<br />
Das wirtschaftliche Leben spielte sich fast ungehemmt ab. Die Preise aller<br />
Erzeug-<br />
S. 18: nisse, an denen Mangel herrschte, stiegen rasch und hoch. Auf dem<br />
Lebensmittelmarkt herrschte empfindliche Teuerung. Die Löhne hielten mit ihr<br />
bei weitem nicht Schritt. Streiks, Aussperrungen und Unzufriedenheit <strong>der</strong><br />
breiten Massen war die Folge. Dazu kam, dass <strong>der</strong> Soldat, <strong>der</strong> zum Dienst an<br />
<strong>der</strong> Grenze aufgeboten war, kaum einen sozialen Schutz genoss, es gab we<strong>der</strong><br />
Lohn- noch Verdienstausfallkassen. Dienst von Vater und Söhnen für die<br />
He<strong>im</strong>at bedeutete für viele Familien Not und Entbehrung. Gewiss lief viel Geld<br />
<strong>im</strong> Land um, aber es war ungleich verteilt. Obendrein fehlte ein brauchbares<br />
politisches Ventil, durch das sich <strong>der</strong> angestaute Unwille hätte entladen<br />
können. Die organisierte Arbeiterschaft, zur Hauptsache vertreten durch die<br />
Sozialdemokratische Partei, verfügte nur über wenige Mandate <strong>im</strong> Nationalrat,<br />
da dieser nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt wurde, das die grossen<br />
Parteien begünstigte und die kleinen noch kleiner machte. Daher stand, die<br />
Sozialdemokratische Partei in scharfer politischer Opposition. Mitten <strong>im</strong> Krieg<br />
verweigerten ihre Abgeordneten die Militärkredite. Das erboste ihre Gegner. Es<br />
zog sich ein politisch-soziales Gewitter über <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zusammen, das sich<br />
<strong>im</strong> November 1918 entlud, als das Deutsche Reich zusammenbrach, die<br />
Revolution, die in Russland begonnen hatte, das deutsche Kaiserreich<br />
hinwegfegte und die deutsche Sozialdemokratie an die politische Macht kam.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> brach <strong>der</strong> Generalstreik aus. Dieser fiel nach drei Tagen in sich<br />
zusammen und hatte keine revolutionären Folgen. Er löste indessen best<strong>im</strong>mte<br />
Reformen aus, unter denen die wichtigste und wahrscheinlich auch<br />
folgenreichste für die weitere innenpolitische Entwicklung die Einführung des<br />
proportionalen Wahlverfahrens für<br />
S. 19: den Nationalrat war. Im neu gewählten Nationalrat des Jahres 1919 hatte die<br />
Freisinnige Partei die Mehrheit verloren. Es gab jetzt überhaupt keine<br />
Mehrheitspartei mehr. Das politische Kräftespiel <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> hatte sich<br />
verän<strong>der</strong>t.<br />
Die Zeit zwischen 1920 und 1933 war ein Abschnitt, in dem sich allmählich<br />
die Folgen <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen zeigten, die die <strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> ersten <strong>Weltkrieg</strong><br />
durchgemacht hatte. Die soziale Bewegung, die <strong>im</strong> Krieg begonnen hatte,
- 12 -<br />
setzte sich vorerst noch fort. 1922 wurde <strong>der</strong> Achtstundentag gesetzlich<br />
eingeführt, und 1925 st<strong>im</strong>mte das Volk einem Verfassungsartikel zu, <strong>der</strong><br />
best<strong>im</strong>mte, dass eine allgemeine Alters- und Hinterbliebenenversicherung<br />
geschaffen werden sollte. In den Gemeinden und Kantonen wuchs indessen die<br />
Sozialdemokratie aus <strong>der</strong> blossen Opposition heraus und in die politische<br />
Mitverantwortung hinein. Die Arbeiterschaft suchte ihren Platz in <strong>der</strong><br />
schweizerischen Gemeinschaft.<br />
Ein an<strong>der</strong>es, grosses Problem bildete die Bauernfrage. Sie hatte schon vor dem<br />
ersten <strong>Weltkrieg</strong> bestanden, als die allgemeine Freizügigkeit des<br />
internationalen Handels die Preise für Erzeugnisse <strong>der</strong> einhe<strong>im</strong>ischen<br />
Landwirtschaft zerfallen liess. Der Krieg brachte unseren Bauern einen<br />
unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung. Die Preise stiegen, und <strong>der</strong> Bauer<br />
verdiente ein schönes Stuck Geld. Indessen stiegen nicht nur die Preise <strong>der</strong><br />
Erzeugnisse, son<strong>der</strong>n auch diejenigen des Bodens. Die jungen Bauern mussten<br />
ihre He<strong>im</strong>et teuer bezahlen. Als <strong>der</strong> Krieg vorbei war und die Konkurrenz des<br />
Welthandels wie<strong>der</strong> einsetzte, sanken die Produktenpreise, indes die hohen<br />
Bodenpreise und die hohen Zinse blieben. Der Bund griff nur zögernd ein, um<br />
zu helfen, er besass dazu kein verfas-<br />
S. 20: sungsmässiges Recht. Die Bauern, die sich in verschiedenen Kantonen 1919<br />
zur eigenen Partei zusammengeschlossen hatten, for<strong>der</strong>ten Hilfe gegen die<br />
wirtschaftliche Verschlechterung. Sie verlangten ein Mitglied <strong>im</strong> Bundesrat.<br />
Ende 1929 wählte die Bundesversammlung den bernischen Bauernführer<br />
Rudolf Minger zum Bundesrat. In diesem waren jetzt drei Parteien vertreten.<br />
Mingers Wahl bewies, wie stark <strong>der</strong> Einfluss wirtschaftlicher Fragen auf die<br />
schweizerische Politik geworden war. Die Weltwirtschaftskrise, die bald darauf<br />
ausbrach, verstärkte diesen Einfluss, denn sie zwang den Bund, mit grösseren<br />
Massnahmen in den wirtschaftlichen Ablauf einzugreifen, sie zwang ihn aber<br />
damit auch, die Verfassung zu verletzen.<br />
Hatte sich also die <strong>Schweiz</strong> mit dem ersten <strong>Weltkrieg</strong> innenpolitisch verän<strong>der</strong>t,<br />
indem die beiden Gruppen <strong>der</strong> Bauern und <strong>der</strong> sozialdemokratischen<br />
Industriearbeiterschaft grösseren Einfluss auf die Politik bekamen als bisher, so<br />
ergab auch die aussenpolitische Lage des Landes ein an<strong>der</strong>es Bild. Auf den<br />
ersten Blick beurteilt kein ungünstiges.
- 13 -<br />
Der Sieg <strong>der</strong> Entente über die Mittelmächte war ein Sieg <strong>der</strong> liberalen und<br />
demokratischen Gedankenwelt. Der Völkerbund wollte vor aller Welt<br />
bezeugen, dass das Recht sich auch in den Beziehungen zwischen den Staaten<br />
entwickeln werde. Die <strong>Schweiz</strong> wurde eingeladen, bei dieser Entwicklung des<br />
Völkerrechtes mitzutun. Am 20. Mai 1920 billigte das <strong>Schweiz</strong>ervolk in <strong>der</strong><br />
Volksabst<strong>im</strong>mung den Beitritt zum Völkerbund, wenn schon nach<br />
leidenschaftlicher Diskussion und mit einer hohen Zahl von ablehnenden<br />
St<strong>im</strong>men. Der Beitritt zum Völkerbund bedeutete, dass sich das Wesen <strong>der</strong><br />
schweizerischen Neutralität verän<strong>der</strong>te. Diese wurde zwar von den<br />
Grossmächten ausdrücklich anerkannt, sie enthob uns aber<br />
S. 21: nicht <strong>der</strong> Pflicht, mitmachen zu müssen für den Fall, dass <strong>der</strong> Völkerbund<br />
gegen einen Staat wirtschaftliche Sanktionen beschloss.<br />
Man darf wahrscheinlich feststellen, dass <strong>der</strong> Beitritt zum Völkerbund zunächst<br />
die aussenpolitische Wachsamkeit <strong>im</strong> breiten Volk beeinträchtigte. Kaum je<br />
zuvor war es so schwer, von <strong>der</strong> Bundesversammlung jene Gel<strong>der</strong> bewilligt zu<br />
bekommen, die die Armee brauchte, um einigermassen kriegstüchtig zu<br />
bleiben. Grosse Kreise unseres Volkes glaubten eben in jener Zwischenzeit<br />
zwischen dem Ende des ersten <strong>Weltkrieg</strong>es und <strong>der</strong> Machtübernahme des<br />
Nationalismus in Deutschland, <strong>der</strong> Krieg werde allmählich als Mittel <strong>der</strong><br />
Politik ausgeschaltet werden. Sie wähnten, das Macht- und Gewaltdenken sei<br />
nun gebändigt. Der Glaube an die Möglichkeit, den Krieg durch das Recht zu<br />
überwinden, war in jenen Jahren hoch und rege.<br />
Waren die aussenpolitischen Sorgen gering, so schien es manchen kritischen<br />
Zeitgenossen, als ob damals die schweizerische Politik zunehmend zu einem<br />
blossen Spiel <strong>der</strong> wirtschaftlichen Interessen entartete, bei dem geistige<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen und geistiges Bemühen überhaupt keine Rolle mehr<br />
spielten. Der Zürcher Literaturhistoriker Emil Ermattinger schrieb in seiner<br />
1933 erschienenen Darstellung <strong>der</strong> Dichtung und des Geisteslebens <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>, es sei eine gefährliche Kluft zwischen dem geistigen und dem<br />
politischen Teil des Volkes entstanden. Der Geist habe sich aus <strong>der</strong> Politik, die<br />
Politik vom Geist zurückgezogen. Heute dürfen wir vielleicht richtiger sagen,<br />
die <strong>Schweiz</strong> sei <strong>im</strong> Begriff gewesen, sich über die ungebrochene, unterirdische<br />
Kraft <strong>der</strong> gewalttätigen Macht <strong>im</strong>
- 14 -<br />
S. 22: internationalen Geschehen vom Frieden täuschen zu lassen, sie leistete es sich,<br />
die geistigen Kräfte in <strong>der</strong> Politik in Reserve zu halten, wie sie das in ihrer<br />
langen <strong>Geschichte</strong> oft getan hat. Als aber <strong>der</strong> geschichtliche Ablauf mit einem<br />
Schlag eine neue Wendung nahm, erwies es sich, dass die <strong>Schweiz</strong> aus dem<br />
Geist zu wi<strong>der</strong>stehen vermochte.<br />
Die Krise von 1929/30 breitete sich in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> allmählich aus, zuerst<br />
nahmen sie einzelne wahr, dann spürte sie das ganze Volk. Empfindlich wurde<br />
sie vornehmlich durch zwei Gruppen von Ereignissen, einmal durch<br />
verschiedene Bankkrache, unter denen <strong>der</strong> Zusammenbruch <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>erischen Volksbank <strong>der</strong> am weitesten reichende war. Diese<br />
Zusammenbrüche hingen mit <strong>der</strong> umfangreichen Kreditgabe an deutsche<br />
Unternehmen und Gemeinden zusammen, sie traten ein, als die deutschen<br />
Schuldner nicht mehr bezahlten, Deutschland die Guthaben sperrte und die<br />
Zinszahlungen einstellte. Das an<strong>der</strong>e empfindliche Ereignis war die wachsende<br />
Arbeitslosigkeit als Folge <strong>der</strong> schrumpfenden Ausfuhr, mit allen sozialen und<br />
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie <strong>im</strong> Gefolge hatte. Jetzt stellte sich die<br />
gebieterische Frage, ob und wie weit <strong>der</strong> Bund helfen sollte. Sie wie<strong>der</strong>um<br />
verband sich sofort mit den innenpolitischen Strömungen, wirkte auf das<br />
innenpolitische Kräfteverhältnis zurück. Es begann eine Zeit grosser politischer<br />
Aktivität. Das neu erwachende innenpolitische Leben erhielt seinen beson<strong>der</strong>n<br />
Hintergrund durch die gleichlaufende Entwicklung <strong>im</strong> Ausland. Dort, vor allem<br />
in Deutschland, wurde schliesslich aus <strong>der</strong> Wirtschaftskrise eine Krise <strong>der</strong><br />
Politik. Dieser Übergang wie<strong>der</strong>um führte direkt in den zweiten <strong>Weltkrieg</strong><br />
hinein. Daher müssen wir uns jetzt<br />
S. 23: wie<strong>der</strong> dem Gang <strong>der</strong> Dinge ausserhalb <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zuwenden.<br />
Es erwies sich nämlich, dass <strong>der</strong> Kriegsdämon in Europa keineswegs gebannt<br />
war. Er wartete nur auf den rechten Augenblick und den geeigneten<br />
Ausgangsboden, um den alten Kontinent he<strong>im</strong>zusuchen. Die neue Unruhe ging<br />
von Deutschland aus, wo die wirtschaftliche Krise die schärfsten Formen<br />
annahm. Sie erzeugte soziales Elend und warf das deutsche Volk, dessen<br />
Gleichgewicht ohnehin gering war, in innere Wirren. Kommunisten und<br />
Nationalisten, Monarchisten und alle möglichen Unzufriedenen, Wirrköpfe<br />
aller Spielarten, hieben auf die unpopuläre, von geringem politischen Willen<br />
erfüllte Republik ein, verhöhnten ihre Schwäche angesichts <strong>der</strong> steigenden Not<br />
und riefen mit zunehmen<strong>der</strong> Lautstärke nach totalem Umsturz.
- 15 -<br />
Das Unglück brach in verschiedenen Schüben herein. Am 30. Januar 1933<br />
erreichte es seinen Höhepunkt. An diesem Tag ernannte <strong>der</strong> 85jährige deutsche<br />
Reichspräsident von Hindenburg den Führer <strong>der</strong> «Nationalsozialistischen<br />
Deutschen Arbeiterpartei», Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Noch hat die<br />
Forschung nicht abgeklärt, ob diese verhängnisvolle Ernennung <strong>der</strong><br />
Altersschwäche des Präsidenten, seiner Einsichtslosigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> raffinierten<br />
Intrige seiner Umgebung zu verdanken war. Jedenfalls aber vollzog sich nun<br />
das Schicksal in ähnlich grausigen Formen wie 19 Jahre zuvor, be<strong>im</strong> Ausbruch<br />
des ersten <strong>Weltkrieg</strong>es: Die jubelnd-gröhlende Menge erfüllte Berlins Strassen,<br />
Hysterie vertrieb die Kräfte des Verstandes. Hitler, <strong>der</strong> deutsche Trommler, wie<br />
er sich nannte, <strong>der</strong> gebürtige Österreicher, aufgestiegen aus den tiefsten<br />
Schichten des Volkes, übernahm die Macht über 80 Millionen Menschen,<br />
bejubelt von <strong>der</strong> Masse, unterstützt von<br />
S. 24: verblendeten Politikern und einflussreichen Männern <strong>der</strong> Schwerindustrie und<br />
des Grundbesitzes. Um sich scharte er eine Gruppe von zum Teil<br />
hochintelligenten, zum Teil höchst pr<strong>im</strong>itiven Elementen, von Männern des<br />
Nichts und Fanatikern <strong>der</strong> Gewalt. Hitlers politisches Rezept war so einfach<br />
wie brutal: Das deutsche Volk, von dem grosse Teile die Nie<strong>der</strong>lage von 1918<br />
innerlich nie angenommen hatten, sollte in einen nationalen Rausch versetzt<br />
werden. Es sollte darob das Elend des Tages vergessen. Es sollte Arbeit und<br />
Verdienst bekommen. Diese wie<strong>der</strong>um mussten dadurch beschafft werden,<br />
dass inm grossen Stil aufgerüstet wurde. Mit <strong>der</strong> Rüstung als Waffe und dem<br />
Glauben des Volkes <strong>im</strong> Hintergrund, diese Rüstung habe ihm Arbeit gebracht,<br />
sollte nachher ein aussenpolitisches Programm verwirklicht werden, das<br />
zunächst einfach lautete: «Abschaffung von Versailles», später aber<br />
«Vorherrschaft in Europa» und schliesslich «totale Gewalt über die Welt»<br />
hiess. Das Unerhörte war nur, dass Hitler in seinem Buch «Mein Kampf»<br />
dieses Programm offen bekannt gegeben hatte, dass er sofort daran ging, es<br />
Zug um Zug zu verwirklichen - und ihn doch niemand ernst nahm.<br />
1934 liquidierte Hitler durch die grossen Morde vom 30. Juni seine inneren<br />
Gegner. Alsbald begann er mit <strong>der</strong> grauenvollen Ausrottung <strong>der</strong> Juden, die er<br />
vor dem deutschen Volk als die Hauptschuldigen für dessen Not hingestellt<br />
hatte. Im Frühjahr 1935 erklärte er, Deutschland nehme seine Wehrhoheit<br />
zurück und begann, das Heer von 100'000 Mann in eine grosse,
- 16 -<br />
mo<strong>der</strong>ne Armee zu verwandeln. Daraufhin liess er, abermals ein Jahr später,<br />
seine Reg<strong>im</strong>enter in die entmilitarisierten Zonen des linksrheinischen Gebietes<br />
einmarschieren. Und nun griff er über Deutschland hinaus. Je<strong>der</strong> neuen<br />
Vertragsverletzung<br />
S. 25: folgte ein Protest <strong>der</strong> Franzosen und Englän<strong>der</strong>, jedem Protest ein Versprechen<br />
und jedem Versprechen ein neuer Wortbruch. Im Jahr 1938 schien die<br />
aussenpolitische Krise ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Im März zogen<br />
deutsche Truppen in Österreich ein und vereinigten das Land mit dem<br />
Deutschen Reich. Im Herbst begann die tschechische Krise. Hitler begehrte die<br />
sudetendeutschen Gebiete für Deutschland. Er setzte sich auch da durch. Am<br />
29. September 1938 gaben die Freunde und Verbündeten <strong>der</strong><br />
Tschechoslowakei, England und Frankreich, diese preis und schlossen mit<br />
Hitler einen Teilungsvertrag, den Mussolini vermittelt hatte. Das war <strong>der</strong><br />
sogenannte Münchner Friede. Dieser Erfolg lähmte zugleich die letzten Kräfte<br />
des innerdeutschen Wi<strong>der</strong>standes gegen das Gewaltreg<strong>im</strong>e. Hitlers Erfolg<br />
schien seine Politik vor dem deutschen Volk zu rechtfertigen. Die freie Presse<br />
hatte er längst mundtot gemacht. Der Diktator orientierte seine Untertanen in<br />
<strong>der</strong> Weise, wie es ihm nützlich erschien.<br />
So sehen wir, wie <strong>im</strong> aussenpolitischen Geschehen zwischen 1933 und 1938<br />
<strong>im</strong>mer deutlicher Hitler das Handeln an sich riss. England und Frankreich<br />
hatten sich mühsam aus <strong>der</strong> wirtschaftlichen Krise herausgerissen. Diese<br />
Völker wünschten den Frieden. In Frankreich glomm die soziale Krise fort. Sie<br />
schwächte das Land. Es wünschte nicht nur den Frieden, son<strong>der</strong>n den Frieden<br />
um jeden Preis. In Italien aber bekam das Gewaltreg<strong>im</strong>e <strong>der</strong> Faschisten durch<br />
Hitlers Erfolge seine Rechtfertigung. Die führenden Faschisten schlossen sich<br />
<strong>im</strong>mer enger an Hitler und seine Politik an. Seine Methoden machten Schule.<br />
Die Faschisten behaupteten jetzt, sie seien die Nachfahren <strong>der</strong> alten Römer,<br />
und sie erklärten, in Afrika ein Impe-<br />
S. 26: rium schaffen zu wollen. Im Herbst 1935 liess Mussolini die Abessinier<br />
überfallen. Der Völkerbund, <strong>der</strong> das Recht gegen diesen Gewaltstreich hätte<br />
wahrnehmen sollen, erwies sich als ohnmächtig.<br />
Alles, was sich da vollzog, war für die <strong>Schweiz</strong> in höchstem Grad bedrohlich.<br />
Die Ohnmacht des Völkerbundes bedeutete, dass <strong>der</strong> Wille, ein verbindliches<br />
neues Völkerrecht finden zu wollen, rasch zerfiel.
- 17 -<br />
Völkerrechtliche Anarchie aber war für jeden Kleinstaat eine Gefahr. Die<br />
neuen politischen Lehren, die verkündet wurden: Diktatur <strong>der</strong> Führer, blinde<br />
Gefolgschaft ihrer Helfershelfer, Totalität <strong>der</strong> Staatsgewalt, Unterdrückung <strong>der</strong><br />
Freiheit, wi<strong>der</strong>sprachen auf das entschiedenste schweizerischer politischer<br />
Lebensform.<br />
Der neue Nationalismus, <strong>der</strong> for<strong>der</strong>te, dass Sprachen und Staatsgrenzen gleich<br />
zu verlaufen hätten, richtete sich gegen die schweizerische Vielfalt. Der<br />
aufkommende Wahn, grossräumige Staaten seien fortschrittlicher als<br />
Kleinstaaten und allein <strong>im</strong>stande, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme<br />
zu lösen, griff an die eigentliche politische Existenz <strong>der</strong> fö<strong>der</strong>alistischen und<br />
kleinstaatlichen <strong>Schweiz</strong>. Der nihilistisch-umstürzlerische Geist in Deutschland<br />
und Italien stand in scharfem Gegensatz zur geschichtsbetonten,<br />
schweizerischen Existenz.<br />
Die Gefahr war um so grösser, als die Eidgenossenschaft in tiefgehenden<br />
inneren Auseinan<strong>der</strong>setzungen sich befand, die sich darum drehten, wie die<br />
Folgen <strong>der</strong> Wirtschaftskrise bekämpft werden sollten. Es schien, dass das Volk<br />
bei uns überhaupt nur die innere, wirtschaftlichsoziale Sorge ernst nahm und<br />
nicht spürte, was für elementare Dinge sich inzwischen in <strong>der</strong> Aussenpolitik<br />
Europas vollzogen.<br />
S. 27: Die Probleme des Krisenausbruchs von 1929/30 mussten sich bald zu<br />
politischen, und zwar zu geistig-politischen Fragen auswachsen, weil die Krise<br />
nur mit Hilfe des Staates und des Bundes überwunden werden konnte. Die<br />
Bundesverfassung sah indessen keine <strong>der</strong>artigen Hilfsmöglichkeiten vor. Es<br />
ergab sich, dass die gefährdeten Schichten des Volkes, die Bauern, die<br />
Industriearbeiter und <strong>der</strong> untere Mittelstand nicht bereit waren, die Folgen <strong>der</strong><br />
Krise einfach als Schicksal ergeben hinzunehmen. So entspann sich eine breite<br />
und leidenschaftliche Diskussion, ob und welche staatlichen Mittel und Wege<br />
es gebe, um Krisen zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zum mindesten zu mil<strong>der</strong>n. Die<br />
Versicherungskassen gegen Arbeitslosigkeit erwiesen sich den Anfor<strong>der</strong>ungen,<br />
die an sie gestellt wurden, bei weitem nicht gewachsen. Sie verschlangen<br />
staatliche Zuschüsse. War es sinnvoll, so fragten die einen, Millionen und<br />
Millionen auszugeben, um Arbeiter durchzuhalten, die keine Arbeit finden<br />
konnte, anstatt diese Millionen in arbeitsbeschaffende Aufträge zu verwandeln?
- 18 -<br />
Jawohl, behaupteten die an<strong>der</strong>n, denn Arbeitsbeschaffung führe zum<br />
Staatseingriff in die Wirtschaft und dieser wi<strong>der</strong>spreche dem Wesen <strong>der</strong><br />
Verfassung und zerstöre die Freiheit! Worauf die ersten wie<strong>der</strong> entgegneten,<br />
Freiheit ohne bürgerliche Existenz sei Schall und Rauch.<br />
Es ging ja nicht nur um die Löhne <strong>der</strong> Industriearbeiter. Das Gewerbe kam und<br />
wies nach, dass es durch die Krise zugrundegerichtet werde. Die Bauern<br />
wiesen nach, dass mit einem Schlag die Schulden drückend geworden waren<br />
und die Geltstage unerhört zunahmen. Die Exportindustrie erklärte, die fremde<br />
Konkurrenz sei drückend, weil <strong>im</strong> Ausland <strong>der</strong> Staat den Export för<strong>der</strong>e.<br />
S. 28: Rasch weitete sich die Diskussion jetzt zur allgemeinen politischen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung aus. Der Staat sei unter dem vorherrschenden liberalen<br />
Denken eben meisterlos geworden, wage nicht mehr durchzugreifen und<br />
bedürfe wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Autorität, sagten die Konservativen. Nein, entgegneten<br />
ihnen die Sozialisten, es bedürfe bloss einer neuen Volksmehrheit, in <strong>der</strong> «die<br />
Werktätigen», d. h. die Industriearbeiter, die Schuldenbauern und die kleinen<br />
Leute des Gewerbes zu befehlen hätten, dann könne man mit grossen<br />
Zuschüssen aus Bundesgel<strong>der</strong>n, die durch Steuern den «Kapitalisten»<br />
abgenommen worden seien, die Wirtschaft wie<strong>der</strong>um ankurbeln. «Das hätte<br />
uns gerade noch gefehlt», entgegneten jetzt die Alt-Liberalen, «nachdem die<br />
Verschuldung <strong>der</strong> Eidgenossenschaft schon <strong>der</strong>art horrent geworden ist. Was<br />
wir brauchen, ist schärfste Sparsamkeit.» Und sie wiesen auf die miserablen<br />
Abschlüsse <strong>der</strong> Bundesbahnen und die jährlichen Bundesdefizite hin.<br />
Längst schon hatten sich junge Gruppen in die Diskussionen eingemischt.<br />
Unter ihnen waren die Jungliberalen und die Jungkonservativen, ursprünglich<br />
auch die Jungbauern die lebendigsten. Die beiden ersten verlangten, von<br />
verschiedenen Grundüberzeugungen ausgehend, eine Reform an Haupt und<br />
Glie<strong>der</strong>n, das heisst die Totalrevision <strong>der</strong> Bundesverfassung. Vom Beginn <strong>der</strong><br />
dreissiger Jahre an, stark von <strong>der</strong> Entwicklung in Deutschland beeinflusst,<br />
griffen neue politische Gruppen in die Diskussion ein. Es entstanden <strong>im</strong><br />
Frühjahr 1933 die Fronten und Bünde, als erste die «Nationale Front», die sich<br />
von <strong>der</strong> jungliberalen Bewegung ablöste. Bald gab es davon eine Vielzahl. Die<br />
Fronten und Bünde waren nicht alle<br />
S. 29: geistig von Deutschland o<strong>der</strong> von Italien her beeinflusst. In ihrem Kreise<br />
wurden zunächst einfach die Probleme diskutiert, die am brennendsten<br />
erschienen:
- 19 -<br />
jenes <strong>der</strong> Staatsautorität <strong>im</strong> Kampf gegen die Krise, das an<strong>der</strong>e, wie eine<br />
bessere soziale Ordnung zu finden sei, ohne den marxistischen Sozialismus,<br />
und endlich die Frage, ob <strong>der</strong> Parteienstaat noch geeignet sei, die Aufgaben <strong>der</strong><br />
Gegenwart zu lösen. Bald vermengten sich aber mit diesem Streben bei<br />
einzelnen Gründungen eindeutig ausländische Nachäffereien: Es wurden<br />
Parteiuniformen eingeführt, Massenmärsche inszeniert, und anstelle des<br />
nationalsozialistischen Antisemitismus das Antifre<strong>im</strong>aurertum als Mittel<br />
benützt, an die nie<strong>der</strong>en Instinkte <strong>der</strong> Masse zu rühren. Die Begabung <strong>der</strong><br />
schweizerischen Politik zum Kompromiss, die nüchtern praktische Auffassung<br />
vom Wesen <strong>der</strong> Politik, wurden jetzt geradezu als min<strong>der</strong>wertig abgelehnt.<br />
Schwung und idealistische Begeisterung, so hiess es, seien das, was <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> not täten.<br />
Die Frontenbewegung, vereinigt mit jungliberalen und jungkonservativen,<br />
brachte eine Initiative auf Totalrevision <strong>der</strong> Bundesverfassung zustande. Da<br />
sich aber um das Begehren unvereinbare, geistige Gegensätze vereinigten,<br />
gelang es nicht, mit ihm <strong>im</strong> Volk ein Echo zu finden. Das Volk wollte nur<br />
revidieren, wenn man ihm sagen konnte, was an die Stelle <strong>der</strong> alten Verfassung<br />
treten werde. Diese Antwort blieb man ihm schuldig. So wurde <strong>im</strong> September<br />
1935 das Volksbegehren wuchtig verworfen. Damit war jener Abschnitt <strong>der</strong><br />
Frontenbewegung zu Ende. In den kantonalen und den eidgenössischen<br />
Wahlen erlangten die Frontisten nur wenige Sitze und längst nicht in allen<br />
Kantonen. Sie waren politisch vom Volk erledigt, lange bevor sie verboten<br />
werden mussten, weil <strong>der</strong> nächste Entwick-<br />
S. 30: lungsabschnitt beschleunigt in den Landesverrat hinein führte.<br />
Die Frontenbewegung erschöpfte sich nicht zuletzt deshalb so rasch, weil<br />
inzwischen die aussenpolitische Entwicklung Formen angenommen hatte, die<br />
alarmierten. Die <strong>Schweiz</strong>er erkannten, dass sie gut daran taten, sich zu<br />
verständigen, den Graben zwischen Links und Rechts, zwischen Liberalen und<br />
Sozialisten, zwischen Staatsführung und Opposition, zwischen solchen, die die<br />
Staatshilfe verlangten und solchen, die sie ablehnten, nicht zur Kluft<br />
aufzureissen. Die Aussenpolitik meldete ihre Vorzugsstellung an. Ihr Ablauf<br />
mahnte die Eidgenossen, nicht zu vergessen, dass <strong>der</strong> Bund zur<br />
Schicksalsgemeinschaft geworden war. Die innere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in<br />
den dreieinhalb Jahren vor dem Ausbruch des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es ist unter<br />
diesem Vorrang <strong>der</strong> aussenpolitischen Mahnung zu verstehen.
- 20 -<br />
Im September 1936 beschloss <strong>der</strong> Bundesrat, den Franken abzuwerten und<br />
damit den Anschluss <strong>der</strong> schweizerischen Wirtschaft an das internationale<br />
Preisgefüge zu ermöglichen. Damit war die Krise, o<strong>der</strong> doch wenigstens ihre<br />
verheerende Seite, abgeschlossen. Von jetzt an wurde mit grosser Konsequenz<br />
das Land in den Verteidigungszustand gebracht. Die Jugend fand für ihr<br />
nationales Wollen eine Aufgabe in den neuen, grösseren For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
Wehrbereitschaft. Wer die Jahre zwischen 1936 und 1939 bewusst miterlebt<br />
hat und sie <strong>im</strong> geschichtlichen Rückblick noch einmal überschaut, staunt ob<br />
<strong>der</strong>. inneren Folgerichtigkeit dessen, was damals vorgekehrt worden ist. Als<br />
sich <strong>der</strong> Knoten geschürzt hatte, als die Hoffnungen und Illusionen von<br />
München zerbrachen, als <strong>der</strong> Westen trotz allem Wi<strong>der</strong>willen Hitler den Krieg<br />
erklären musste, erwies es sich, dass die kleine<br />
S. 31: <strong>Schweiz</strong>, diese umständliche Demokratie und fö<strong>der</strong>alistische Republik, auf<br />
militärischem, aussenpolitischem, wirtschaftlichem, sozialem und geistigem<br />
Gebiet überraschend gerüstet war. Bundesrat Obrecht hatte allen Grund gehabt,<br />
als er in Basel so deutlich gesprochen und das «Wallfahrten» so kraftvoll<br />
abgelehnt hatte. - Von diesen unmittelbaren Kriegsvorkehren, und wie sie sich<br />
bewährten, wird das nächste Kapitel erzählen.<br />
S. 33:<br />
2. KAPITEL<br />
Von <strong>der</strong> Mobilmachung zur «dröle de guerre»<br />
g<br />
Der festfreudige Sommer 1939 - Rückblick auf das, was vorgekehrt war -<br />
Uneingeschränkte Neutralität - Die Wehranleihe - Die nationalsozialistische<br />
Organisation <strong>der</strong> Deutschen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> breitet sich aus - Wachsen<strong>der</strong> Sinn<br />
für wirtschaftliche und soziale Solidarität - Kampf um die geistige Freiheit -<br />
Der Sturm bricht los - Mobilmachung und Generalswahl - Der Aufmarsch <strong>der</strong><br />
Armee - Die innere Front - Lohnausgleichskassen - Kriegswirtschaft -<br />
Finnenbegeisterung - drôle de guerre - Erhöhte Bereitschaft <strong>im</strong> November 1939<br />
- Oberfall auf Dänemark und Norwegen - Alarmbereit<br />
S. 35: Der Krieg, <strong>der</strong> am 1. September 1939 ausbrach, als in <strong>der</strong> Morgenfrühe Adolf<br />
Hitlers Divisionen die polnische Grenze überschritten, traf die Welt nicht<br />
überraschend.
- 21 -<br />
Alle Illusionen über die wahren Absichten des deutschen "Führers» waren seit<br />
dem 15. März vernichtet. Die Menschen wussten, dass Hitler jedes Wort brach<br />
und den Krieg wollte. Der Druck dieser Gewissheit lag seit Wochen über den<br />
Völkern. Wann kam das Entsetzliche, aber unvermeidbare? Ein Frem<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />
die <strong>Schweiz</strong> in jenem Sommer 1939 besuchte, mochte vielleicht die Meinung<br />
bekommen, die Eidgenossen hätten überhaupt noch nichts begriffen. Unsere<br />
<strong>Schweiz</strong> war von festlicher Hochst<strong>im</strong>mung erfüllt. Im April hatte die grosse<br />
<strong>Schweiz</strong>erische Landesausstellung in Zürich, die «Landi», ihre Tore aufgetan.<br />
Im Juni fand das Eidgenössische Schützenfest in Luzern statt. Gleichzeitig<br />
begingen die Berner in grossartiger Weise den 600. Jahrestag <strong>der</strong> Schlacht von<br />
Laupen, ein Festzug von unerhörter Pracht begeisterte Tausende von<br />
Zuschauern aus <strong>der</strong> ganzen <strong>Schweiz</strong>.<br />
Wer indessen mehr als den äusseren Glanz sehen wollte, erkannte bald, dass<br />
hinter diesen Feiern doch auch <strong>der</strong> Wunsch des Volkes zu spüren war, sich<br />
selbst, sein Wesen und Wollen in diesem Augenblick und angesichts <strong>der</strong><br />
geschichtlichen Lage irgendwie zur Geltung zu bringen. Je<strong>der</strong>mann fühlte es,<br />
dass ein neuer Abschnitt <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> begonnen hatte, in dem Macht, Gewalt<br />
und Recht sich messen würden, die überwiegende Mehrzahl aller<br />
Volksschichten begann zu merken, dass in dieser Epoche <strong>der</strong><br />
S. 36: Gewalttat und des Rechtsbruchs <strong>der</strong> Fall <strong>Schweiz</strong> zum Son<strong>der</strong>fall geworden<br />
war. He<strong>im</strong>lich fragten sich Tausende, ob wir wohl die Kraft aufbrächten,<br />
standzuhalten, wenn es uns ergehen würde wie den Tschechen o<strong>der</strong> den<br />
Österreichern. Aus diesem Grund war die Festfreudigkeit jenes Sommers,<br />
unmittelbar auf <strong>der</strong> Schwelle zwischen Krieg und Frieden, doch ein wenig<br />
mehr als gedankenloser Genuss. Sie war auf ihre Art ein Bekenntnis, wir seien<br />
bereit, den Gang <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> zu erwarten. Am klarsten aber fand dieses<br />
Bewusstsein <strong>der</strong> Bereitschaft seinen Ausdruck <strong>im</strong> Höhenweg <strong>der</strong><br />
Landesausstellung, jener staatsbürgerlichen Schau, die den Menschen aus allen<br />
Tälern <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> sagte: Das sind wir. So denken wir. Dafür leben wir, und<br />
dafür sind wir bereit zu sterben, wenn man uns diese Wesensart je streitig<br />
machen sollte.<br />
Wir stellten <strong>im</strong> ersten Kapitel fest, dass es rückblickend erstaunlich ist, was in<br />
den dreieinhalb Jahren vor Kriegsausbruch alles zur Verteidigung <strong>der</strong><br />
Eidgenossenschaft bereitgestellt worden war.
- 22 -<br />
Überblicken wir kurz die Massnahmen. Aussenpolitisch war es Bundesrat<br />
Motta gelungen, nach langen Verhandlungen und nachdem bereits ein<br />
Volksbegehren
- 23 -<br />
vorgesehen worden war, die uneingeschränkte Neutralität <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
zurückzugewinnen. Alle Mächte, auch Italien und Deutschland, gaben die<br />
Zusicherung, dass sie diese Neutralität anerkennen würden. Der Vorgang, die<br />
uneingeschränkte Neutralität zurückzugewinnen, war ebenso heikel wie<br />
wichtig. Heikel, weil sich darin unser schweizerisches Misstrauen gegenüber<br />
<strong>der</strong> tatsächlichen Schwäche <strong>der</strong> Liga <strong>der</strong> Nationen offenbarte, wichtig, weil <strong>der</strong><br />
Zerfall des Völkerbundsgedankens uns aus ureigenstem Selbsterhaltungstrieb<br />
zwang, die aussenpolitische Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen. Am 14.<br />
S. 37: Mai 1938 war das Verfahren abgeschlossen. Die Völkerbundsmächte<br />
anerkannten die uneingeschränkte schweizerische Neutralität. Die <strong>Schweiz</strong><br />
brauchte fortan nicht mehr an wirtschaftlichen Sanktionen teilzunehmen.<br />
Der Rückzug auf die uneingeschränkte Neutralität verlangte die entsprechend<br />
entschlossene Bereitschaft, sie zu verteidigen. Das. ist die an<strong>der</strong>e Linie <strong>der</strong><br />
staatspolitischen Entwicklung! die sich in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> dreissiger<br />
Jahre, seit Hitler das deutsche Staatsru<strong>der</strong> führte, in <strong>der</strong> schweizerischen Politik<br />
nachweisen lässt: Die Armee wird höchst populär und bekommt was sie nötig<br />
hat in einem Umfang, wie es ein halbes Dutzend Jahre früher undenkbar<br />
gewesen wäre. Der Umschwung vollzieht sich elementar <strong>im</strong> Volk selbst und<br />
wird nicht befohlen. Das zeigte sich beson<strong>der</strong>s deutlich in <strong>der</strong><br />
Sozialdemokratischen Partei. Das Gefühl in den breiten Volksmassen, die<br />
<strong>Schweiz</strong> müsse, angesichts des Gewaltgeistes, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Süden und vor allem <strong>im</strong><br />
Norden unter den Nachbarvölkern aufkam, militärisch stark werden, war <strong>der</strong>art<br />
durchschlagend, dass die Partei ihre grundsätzliche Ablehnung des Militärs<br />
aufgeben musste. Es war die Zeit, da <strong>der</strong> Chef des Eidgenössischen<br />
Militärdepartements, Bundesrat Minger, in Arbeiterversammlungen persönlich<br />
als Redner auftrat und mit volkstümlicher Beredsamkeit darstellte, warum wir<br />
ein Heer brauchten. Von 1936 an wurden Reformen in <strong>der</strong> Truppenausbildung<br />
eingeführt, die Rekrutenschulen verlängert und eine neue Truppenordnung<br />
angenommen, die 1938 in Kraft trat. Die Dauer <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holungskurse stieg<br />
von zwei auf drei Wochen. Am 30. März 1936 schrieb <strong>der</strong> Bundesrat eine<br />
Wehranleihe zur öffentlichen Zeichnung aus und for<strong>der</strong>te 235 Millionen<br />
Franken. Da ging eine eigentliche Opferwelle durch das Volk. Es wurden
- 24 -<br />
S. 38: kleine und kleinste Beträge neben grossen und grössten gezeichnet. Schon ein<br />
halbes Jahr später ergab sich, dass die Wehranleihe um 100 Millionen Franken<br />
überzeichnet worden war. Die Armee hatte jetzt die Finanzen bekommen,<br />
<strong>der</strong>en sie bedurfte, um das zu werden, was die Zeit verlangte.<br />
Der Erfolg <strong>der</strong> Wehranleihe bewies bereits, wie vorzüglich <strong>der</strong> Geist in den<br />
breiten Schichten des Volkes geblieben war. Nur ein verschwindend kleiner<br />
Teil, Menschen aus dem Bodensatz des Volkes, verharrte als Anhang und<br />
Mitläufer bei dem <strong>im</strong>mer offenkundiger in die abschüssige Bahn des Verrates<br />
hineingleitenden Frontismus. Trotzdem erwies sich jetzt, um wieviel schwerer<br />
als die materielle Sicherheit, in <strong>der</strong> Form von Wehrkrediten und einer<br />
geschickten Aussenpolitik, die geistige Verteidigung aufzubauen war. Das<br />
Volk hielt an <strong>der</strong> alten Abneigung gegen Polizeigesetze fest. Es wollte nichts<br />
wissen von Maulkrätten und Gesinnungsschnüffelei: Es wollte Vertrauen!<br />
Verschiedene Vorstösse in den eidgenössischen Räten, die darauf abzielten,<br />
den polizeilichen Staatsschutz zu erweitern, mussten fallen gelassen werden.<br />
Das Volk fühlte sich, trotz allen Umbrüchen, seiner selbst sicher.<br />
Es erwies sich freilich, dass unsere freiheitlichen Einrichtungen für Faschismus<br />
und Nationalsozialismus höchstens als die günstige Möglichkeit betrachtet<br />
wurden, um sich unbehin<strong>der</strong>t breit zu machen. Im eigenen Volke waren zwar<br />
die neuen Lehren auf unfruchtbaren Boden gefallen. Sie wurden gleichsam<br />
eingekapselt, wie Tuberkelbazillen von einem wi<strong>der</strong>standsfähigen Körper. Da<br />
begannen die Deutschen (aber auch die Italiener taten das), die in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
nie<strong>der</strong>gelassenen Reichsdeutschen in nationalsozialistische<br />
Organisationsformen zusammenzufassen.<br />
S. 39: Die Deutschen wurden gezwungen, diesen Organisationen sich anzuschliessen.<br />
Manche machten von selbst mit. Mit deutscher Gründlichkeit und oft mit<br />
herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Taktlosigkeit entstanden so <strong>im</strong> ganzen Land herum die<br />
nationalsozialistischen Gruppen. Ein beson<strong>der</strong>er «Landesleiter» in Davos,<br />
Gustloff, leitete den ganzen Aufbau. Da wurde am 4. Februar 1936 dieser<br />
Landesleiter von David Frankfurter, einem jugoslawischen Staatsangehörigen<br />
deutsch-jüdischer Abkunft, ermordet. Dieser politische Mord erregte in <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> wie <strong>im</strong> Ausland grosses Aufsehen. Die deutschen Machthaber<br />
erhoben sofort erregt die Anklage, Frankfurter sei von <strong>der</strong> Schreibweise <strong>der</strong>
- 25 -<br />
schweizerischen Presse aufgewiegelt gewesen und habe nur deshalb den<br />
Anschlag verübt. Die schweizerische Presse wies diese Behauptung energisch<br />
zurück. Der Bundesrat bestritt einen Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> kritischen<br />
Haltung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Presse und jenem Mord. Wenige Tage nach Gustloffs<br />
Ermordung beschloss er überdies, künftig in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> keine<br />
nationalsozialistische Landesleitung und keine Kreisleiter mehr zuzulassen. Er<br />
hielt vorerst an diesem Beschlusse auch dann noch fest, als die deutsche<br />
Regierung dagegen protestierte. Aber am 23. Februar 1937 wurde alt-<br />
Bundesrat Schulthess in Berlin von Hitler empfangen. Hitler erklärte bei<br />
diesem Empfang, er werde die Unabhängigkeit und Neutralität <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
stets respektieren. Wenige Wochen später kassierten die Deutschen diesen<br />
Check auch schon ein: Sie schlugen dem Bundesrat vor, die Landesleitung <strong>der</strong><br />
nationalsozialistischen Organisation in <strong>der</strong> Form wie<strong>der</strong> zuzulassen, dass sie<br />
von einem Diplomaten <strong>der</strong> Gesandtschaft besorgt werde. Der Bundesrat<br />
st<strong>im</strong>mte zu. Die Nazi hatten ihre Organisation wie<strong>der</strong>. Gleich darauf verboten<br />
sie alle schweize-<br />
S. 40: rischen Zeitungen in Deutschland. Auch Auslandschweizer konnten diese nicht<br />
mehr beziehen. Nach wie vor konnten aber deutsche Blätter frei in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
verkauft werden. Die Angelegenheit leuchtete wie ein Schlaglicht auf die<br />
geistig-politische Lage des Landes. Sie bewies, dass die altüberlieferte Freiheit<br />
jedenfalls nur Bestand haben konnte, wenn sie wachsam behütet und wenn<br />
gegenüber dem Missbrauch jede Schwäche vermieden wurde.<br />
Ein rabiates Gegenstück zur nationalsozialistischen Organisation <strong>der</strong><br />
Deutschen bildete <strong>im</strong> Tessin und in Graubünden die Tätigkeit <strong>der</strong> italienischen<br />
Irredenta, einer Bewegung, die - offener und unverfrorener als die<br />
Nationalsozialisten - für den Anschluss <strong>der</strong> italienisch sprechenden Landesteile<br />
an Italien Propaganda machte.<br />
Der Bundesrat begegnete <strong>der</strong> verschärften Lage dadurch, dass er <strong>im</strong> Frühjahr<br />
1936 einen beson<strong>der</strong>en Polizeizweig, die Bundespolizei, schuf und <strong>der</strong><br />
Bundesanwaltschaft unterstellte.<br />
Es war unter solchen Umständen eine grosse Leistung, dass es gelang, die<br />
geistige Einheit <strong>im</strong> Volk zu bewahren, ja zu verstärken. Heute erscheint uns<br />
auch das selbstverständlich. Es kommt uns indessen vielleicht nur deshalb<br />
selbstverständlich vor, weil die ursprünglichen politischen Kräfte <strong>im</strong> Volk, sein<br />
Wille zur inneren Freiheit und zur Unabhängigkeit nach aussen,
- 26 -<br />
lebensstark geblieben waren, so dass die Massnahmen <strong>der</strong> Behörden einfach<br />
aus dem hervorwuchsen, was das Volk allgemein erwartete, sie mussten<br />
diesem Volk nicht zu seinem eigenen Schutz aufgezwungen werden. Das<br />
grosse innenpolitische Problem war dagegen <strong>der</strong> wachsende Gegensatz<br />
zwischen den Geboten <strong>der</strong> Verfassung und dem äussern Zwang, gegen diese<br />
Gebote regieren zu müssen. Auf allen Gebieten stand die<br />
S. 41: Eidgenossenschaft in <strong>der</strong> Verteidigung. Das Ausland kehrte, als die grosse<br />
Wirtschaftskrise abflaute, nicht zur internationalen Freizügigkeit zurück, es<br />
begann sich jenes System eines internationalen Tauschhandels einzubürgern,<br />
bei dem von den Partnern genau abgemacht wurde, wieviel Ware je<strong>der</strong> dem<br />
an<strong>der</strong>n abnahm, wieviel er als Gegenrecht dafür bezog. Das Gold wurde jetzt<br />
endgültig entthront und <strong>der</strong> internationale Zahlungsverkehr in vom Staat genau<br />
geregelte Bahnen übergeführt. So entstand eine geschlossene, schweizerische<br />
Volkswirtschaft, bei <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Bund best<strong>im</strong>mend in den Aussenhandel<br />
einschaltete.<br />
Zugleich wachten die einzelnen Wirtschafts- und Sozialgruppen seit <strong>der</strong> Krise<br />
eifersüchtiger als früher darüber, dass <strong>der</strong> Kuchen, den man das<br />
Volkseinkommen nennt, gerecht verteilt wurde. Bedrohte Wirtschaftszweige,<br />
wie das Kleingewerbe o<strong>der</strong> die Bauern, for<strong>der</strong>ten Schutz gegenüber den<br />
Finanzmächten und <strong>der</strong> Exportindustrie. Weil aber je<strong>der</strong>mann spürte, die<br />
<strong>Schweiz</strong>erische Eidgenossenschaft sei zu einer Schicksalsgemeinschaft'<br />
geworden, so konnten die Behörden solche For<strong>der</strong>ungen nicht einfach mit dem<br />
Hinweis ablehnen, sie seien gegen den Geist und den Buchstaben <strong>der</strong><br />
Verfassung. Diese zu revidieren hatte aber das Volk ausdrücklich abgelehnt. So<br />
ergab sich eine Kluft zwischen dem Wunsch nach Schutz und Solidarität auf<br />
<strong>der</strong> einen, und <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Freiheit durch eine klare Rechtsordnung<br />
zu sichern, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite. Das Gefühl für die Grösse dieser Kluft wurde<br />
durch die drohende äussere Gefahr daran verhin<strong>der</strong>t, sich in offenes Unbehagen<br />
zu verwandeln. Erst nach dem Kriege brach dieses offen durch, offenbarte sich<br />
die an<strong>der</strong>e Seite des schweizerischen Durchhalteproblems.<br />
S. 42: Einen bedeutenden Schritt weiter kam das soziale Leben. Die grosse<br />
Wirtschaftskrise hatte bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Gefühl dafür<br />
verstärkt, dass es sinnlos sei, sich gegenseitig zu bekämpfen.
- 27 -<br />
Das erste, wegweisende Ergebnis dieser Einsicht war das Friedensabkommen<br />
in <strong>der</strong> Metallindustrie, das am 19. Juli 1937 zwischen den Spitzen <strong>der</strong><br />
Metallarbeitergewerkschaft und dem Arbeitgeberverband <strong>der</strong><br />
Metallindustriellen geschlossen wurde. 'Beide Gruppen verpflichteten sich<br />
darin, alle Differenzen des Arbeitsverhältnisses auf dem Weg von<br />
Verhandlungen zu lösen, sie legten best<strong>im</strong>mte Grundsätze über die Lohn-,<br />
Ferien- und Freizeitgestaltung etc. fest. Je<strong>der</strong> Partner des Abkommens<br />
hinterlegte auch eine Kaution als gegenseitige Sicherung gegen Vertragsbrüche.<br />
Dieses Abkommen erregte weit über die Landesgrenzen hinaus<br />
Aufsehen. Zum erstenmal hatten sich Arbeiter und Unternehmer als<br />
Gleichberechtigte gefunden und die gegenseitigen Positionen grundsätzlich<br />
anerkannt. Der Wille, praktisch aufzubauen, wurde über die doktrinäre<br />
Verbissenheit gestellt. Das Friedensabkommen bewährte sich. Es bildete den<br />
Beginn einer neuen Entwicklung des schweizerischen Arbeitsrechtes und <strong>der</strong><br />
Gesamtarbeitsverträge. Dieser bedeutenden Wandlung <strong>im</strong> sozialen Denken<br />
dürfen wir es massgeblich zuschreiben, dass die <strong>Schweiz</strong> den zweiten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> ohne gefährliche soziale Spannungen überstanden hat.<br />
Endlich sei, wenn wir diesen Gang <strong>der</strong> geistig-politischen Entwicklung<br />
überblicken, <strong>der</strong> Kampf um die Pressefreiheit erwähnt. Dieser Kampf musste<br />
vornehmlich gegenüber Deutschland ausgetragen werden. Man muss, will man<br />
seine. ganze Bedeutung ermessen, sich vergegenwärtigen, wie eng die<br />
kulturellen Beziehungen zwischen <strong>der</strong><br />
S. 43: <strong>Schweiz</strong> und Deutschland noch nach dem ersten <strong>Weltkrieg</strong> geblieben waren,<br />
wenn sie schon damals längst nicht mehr jene Dichte aufwiesen, wie in <strong>der</strong> Zeit<br />
vor 1914. Immer noch verbrachten aber die schweizerischen Studenten ein o<strong>der</strong><br />
mehrere Semester an deutschen Universitäten, <strong>im</strong>mer noch war <strong>der</strong> deutsche<br />
Büchermarkt <strong>der</strong> Rückhalt für schweizerische Autoren, <strong>im</strong>mer noch verfügten<br />
die deutschen Zeitungen und Zeitschriften über eine gewichtige schweizerische<br />
Kundschaft. Aus all diesen Gründen war die Anteilnahme gerade <strong>der</strong> deutschen<br />
<strong>Schweiz</strong> am Umschwung in Deutschland rege und lebendig. Als gar die<br />
deutsche Presse <strong>der</strong> Zensur unterstellt, «gleichgeschaltet» wurde, wie <strong>der</strong><br />
Ausdruck lautete, stieg <strong>der</strong> Absatz schweizerischer Blätter, in denen die<br />
Wahrheit noch ungeschminkt zu lesen war, in Deutschland rapid. Da verboten<br />
die Nazi die Einfuhr schweizerischer Zeitungen nach Deutschland. Zugleich<br />
versuchten sie in steigendem Ausmass über die schweizerischen Behörden<br />
einen Druck auf die
- 28 -<br />
<strong>Schweiz</strong>er Presse auszuüben, um sie daran zu hin<strong>der</strong>n, frei über innerdeutsche<br />
Verhältnisse zu berichten. Ähnlich wie den deutschen Machthabern das in<br />
Österreich gelungen war, gedachten sie, mit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ein Presseabkommen<br />
abzuschliessen. Mit diesem hätten die Zeitungen bei uns mundtot gemacht<br />
werden sollen, und obendrein hätte es ein wirksames Mittel gebildet, um sich<br />
mit dem Vorwand, Abmachungen seien verletzt worden, in<br />
innerschweizerische Verhältnisse einzumischen.<br />
Die schweizerische Presse hat all diese Versuche entschlossen zurückgewiesen.<br />
Manche glaubten damals, die Presse überschätze ihre Bedeutung in diesem<br />
Abwehrkampf. In <strong>der</strong> rückblickenden Schau ergibt sich jedoch, dass gerade<br />
dieser Teil <strong>der</strong> inneren Besinnung wesentlich<br />
S. 44: war. Ohne das uneingeschränkte freie Wort unserer Zeitungen wäre es viel<br />
leichter gewesen, das <strong>Schweiz</strong>ervolk in jenen Jahren <strong>der</strong> geistigen Abwehr<br />
gegen die deutsche Macht mürbe zu machen.<br />
Zusammenfassend ergibt sich, dass das <strong>Schweiz</strong>ervolk und <strong>der</strong> eidgenössische<br />
Bund gerüstet waren, als die aussenpolitische Krise sich zum Krieg ausweitete.<br />
Gewiss erwies sich nachher in den fünfeinhalb Jahren alles als viel schwerer<br />
und viel gefährlicher, als es sich die Menschen <strong>im</strong> Frieden vorgestellt hatten.<br />
Aber diese Menschen waren auch fähiger geworden <strong>im</strong> Ertragen unerwarteter<br />
Dinge.<br />
Im März des europäischen Schicksalsjahres 1939 hatte die <strong>Schweiz</strong> durch den<br />
Mund eines Bundesrates <strong>der</strong> Welt kundgetan, wir würden nie wallfahrten<br />
gehen. Gleichlaufend mit den äusseren Ereignissen traf <strong>der</strong> Bundesrat jene<br />
Massnahmen, die <strong>der</strong> Welt bewiesen, dass hinter dem Wort von Basel ein<br />
Wille zur Tat stand. Seit dem 24. August, dem Tag, da Hitler mit Stalin den<br />
deutsch-russischen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, <strong>der</strong> den gehe<strong>im</strong>en<br />
Zusatzvertrag für eine Teilung Polens enthielt, falls Deutschland Polen mit<br />
Krieg überziehen würde, lag <strong>der</strong> Krieg spürbar in <strong>der</strong> Luft. Nach allem Hohn,<br />
den Hitler den Briten und Franzosen mit seinen verschiedenen Wortbrüchen<br />
zugefügt hatte, schien es undenkbar, dass die beiden Staaten einem überfall auf<br />
das verbündete Polen zusehen durften, ohne den Deutschen den Krieg zu<br />
erklären. Da aber gerade jetzt, seit Augustbeginn 1939, die Hetzereien in <strong>der</strong><br />
deutschen Presse gegen den polnischen Staat und die Ausschreitungen<br />
zwischen deutschen Min<strong>der</strong>heiten und Polen täglich zunahmen, vermutete man<br />
darin eine Absicht, erkannte man, dass Hitler auch diesen Krieg wollte.
- 29 -<br />
S. 45: Am 25. August, am Tag nachdem das deutsch-russische Bündnis bekannt<br />
geworden war, wandte sich <strong>der</strong> Bundesrat mit einer Erklärung an das<br />
<strong>Schweiz</strong>ervolk. Er wies darauf hin, dass die Möglichkeit eines<br />
Kriegsausbruches nahegekommen war und ermahnte es, ruhig und würdig den<br />
Ereignissen entgegenzublicken. Wenige Tage später, am 28. August, wurden<br />
die gesamten Grenzschutztruppen aufgeboten. Diese Verbände bestanden erst<br />
seitdem die neue Truppenordnung in Kraft war, also seit Anfang 1938. Ihre<br />
Mobilmachung vollzog sich reibungslos innerhalb weniger Stunden. Das<br />
stärkte die Selbstsicherheit des ganzen Volkes.<br />
Von jetzt an folgten sich die Ereignisse Zug um Zug. Die Deutschen<br />
mobilisierten. Franzosen und Englän<strong>der</strong> antworteten mit <strong>der</strong> gleichen<br />
Massnahme. Am gleichen 28. August, da <strong>der</strong> Grenzschutz aufgeboten worden<br />
war, berief <strong>der</strong> Bundesrat die Bundesversammlung auf den 30. August zu einer<br />
Son<strong>der</strong>sitzung ein, mit folgen<strong>der</strong> Tagesordnung: l. Erteilung von Vollmachten<br />
an den Bundesrat, 2. Wahl des Generals. Für das ganze Gebiet <strong>der</strong><br />
Eidgenossenschaft wurde <strong>der</strong> Aktivzustand erklärt.<br />
Am Mittwoch, den 30. August, abends 5 Uhr, begannen die Verhandlungen <strong>der</strong><br />
Vereinigten Bundesversammlung. Dem Bundesrat wurden Vollmachten<br />
übertragen, die ihm erlaubten, über Verfassung und Bundesversammlung<br />
hinweg Massnahmen zu beschliessen, die für die Verteidigung des Landes<br />
notwendig erschienen, und die jeweilen erst nachträglich von den<br />
eidgenössischen Räten gebilligt werden mussten. 181 National- und 42<br />
Stän<strong>der</strong>äte st<strong>im</strong>mten dem Vollmachtenbeschluss zu. Nun erfolgte die<br />
Generalswahl. Zwei Kandidaten standen <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>grund, <strong>der</strong> jüngere,<br />
Oberstdivisionär Borel, und <strong>der</strong> ältere, Oberstkorpskommandant Guisan. Beide<br />
waren welscher Zunge, unter<br />
S. 46: schieden sich aber <strong>im</strong> Temperament. Der Neuenburger Borel war ein forscher<br />
Draufgänger, Guisan mehr <strong>der</strong> bedächtige Waadtlän<strong>der</strong>. Die Vereinigte<br />
Bundesversammlung entschied sich mit 204 von 229 St<strong>im</strong>men für Guisan.<br />
Oberstdivisionär Borel erhielt 21 St<strong>im</strong>men. General Guisan erschien sofort<br />
nach <strong>der</strong> Wahl, allein, ohne Adjutanten, <strong>im</strong> Nationalratssaal und legte vor dem<br />
stehenden Plenum <strong>der</strong> Versammlung, bei überfüllten Tribünen, den Eid ab.<br />
Hierauf empfing ihn draussen, auf dem Bundesplatz in Bern, eine frohe,<br />
wogende, jubelnde Menge. Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten fuhr er <strong>im</strong>
- 30 -
- 31 -<br />
offenen Auto durch Berns Strassen, vom lauten Beifall aus den dichtbesetzten<br />
Lauben <strong>der</strong> alten Stadt begleitet. Als Generalstabschef hatte die<br />
Bundesversammlung Oberstkorpskommandant Labhardt bestätigt.<br />
Im Augenblick <strong>der</strong> Generalswahl schien zunächst die internationale Lage eher<br />
entspannt zu sein. Hitler hatte am gleichen Tage einen «Ministerrat für die<br />
Reichsverteidigung» eingesetzt, und es gab sogar <strong>im</strong> Bundeshaus Stellen, die<br />
dieses Ereignis dahin deuteten, gemässigte Kreise hätten in Deutschland sich<br />
durchsetzen und Hitler unter ihre Kontrolle zu nehmen vermocht. Zwischen<br />
Berlin, Rom und London wurde fieberhaft verhandelt. Im Verlauf des 31.<br />
August erliess <strong>der</strong> Bundesrat indessen die Neutralitätserklärung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, in<br />
<strong>der</strong> er den Regierungen <strong>der</strong> Mächte mitteilte, die <strong>Schweiz</strong> werde sich <strong>im</strong> Fall<br />
eines Kriegsausbruchs neutral verhalten. In <strong>der</strong> Nacht vom 31. August auf den<br />
1. September überschritten Adolf Hitlers Heere die deutsch-polnische Grenze.<br />
Während noch nach dem Einmarsch in Polen zwischen den grossen Kapitalen<br />
die letzten Versuche hin und her gingen, Hitler dazu zu bewegen, die grosse<br />
Wahnsinns tat rückgängig zu machen,<br />
S. 47: verfügte <strong>der</strong> Bundesrat auf den 2. September 1939 die allgemeine<br />
Kriegsmobilmachung. Zugleich traten die vorsorglichen Massnahmen<br />
kriegswirtschaftlicher Art, <strong>der</strong> Kriegsfahrplan für die Bahnen und bald auch die<br />
kriegsgemässe Pressekontrolle in Kraft.<br />
Für einige Wochen beherrschte die Armee ausschliesslieb das Bild des<br />
öffentlichen Lebens in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Das zivile Leben erschien wie<br />
ausgestorben. Es war eine Mobilmachung von an<strong>der</strong>em Stil und an<strong>der</strong>er<br />
St<strong>im</strong>mung als 25 Jahre zuvor. Der Krieg war nicht als Explosion gekommen,<br />
son<strong>der</strong>n als die letzte Stufe einer zunehmenden Spannung. Diesmal verliessen<br />
nicht Ströme von Fremden das Land, die Fremden waren <strong>im</strong> Sommer 1939 nur<br />
spärlich eingetroffen. Die Armee aber hatte den Ruf erwartet und folgte ihm<br />
gelassen, entschlossen und selbstverständlich.<br />
Um den 5. September herum war <strong>der</strong> Aufmarsch unserer Armee beendet. Vorn,<br />
in den eigentlichen Grenzbezirken, lagen die Grenzbrigaden. Hinter ihnen<br />
stand das Gros des Heeres. Im Osten und <strong>im</strong> Norden des Landes befand sich<br />
das dritte Armeekorps unter Oberstkorpskommandant Miescher. Vom Fricktal<br />
bis in den Solothurner Jura schloss sich das zweite Armeekorps unter<br />
Oberstkorpskommandant Prisi an.
- 32 -<br />
Die eigentliche Westfront, <strong>im</strong> Neuenburger und Waadtlän<strong>der</strong> Jura sowie <strong>im</strong><br />
«Gros de Vaud», hielt das erste Armeekorps unter Oberstkorpskommandant<br />
Lardelli. Die Südfront, direkt unter dem Kommando des Generals stehend,<br />
wurde am S<strong>im</strong>plon von <strong>der</strong> Gebirgsbrigade 11, unter Oberstbrigadier Bühler,<br />
und am Gotthard von <strong>der</strong> neunten Division unter Oberstdivisionär Tissot<br />
gehalten. Als Armeereserve verfügte <strong>der</strong> General über die dritte Division <strong>im</strong><br />
Raume von Bern und Murten und die achte Division unter Oberstdivisionär<br />
Gübeli<br />
S. 48: <strong>im</strong> Wiggertal. Endlich lagen in Muri bei Bern, Murten und Dübendorf die<br />
Kommandoposten <strong>der</strong> drei Fliegerreg<strong>im</strong>enter. Das Armeekommando befand<br />
sich in Spiez. Im Soldatenmund nannte man es, wegen des vielen militärischen<br />
Goldes, bald «die Goldküste».<br />
Der General hatte die Armee <strong>der</strong> Lage entsprechend aufgestellt. Noch gab es<br />
unmittelbar an <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>ergrenze keine kriegerischen Ereignisse. Die<br />
Franzosen blieben in den Bunkern und Werken <strong>der</strong> Maginotlinie, ohne sich zu<br />
rühren. Italien nannte sich «nichtkriegführend». In Polen aber vollzog sich <strong>der</strong><br />
Ablauf des Feldzuges rasch, brutal und in vernichtenden Schlägen. Schon am<br />
17. September fielen die Truppen <strong>der</strong> Sowjetunion den Polen in den Rücken.<br />
Ende September kapitulierte Warschau nach heldenhaftem Wi<strong>der</strong>stand. Nun<br />
traten die deutsch-russischen Abmachungen in Kraft: Polen wurde als Staat<br />
zerstört, ein Teil kam als «Generalgouvernement» an Deutschland, die<br />
östlichen Teile rissen die Russen an sich. Wäre es in den ersten Kriegstagen<br />
möglich gewesen, dass französische Truppen den Durchgang durch die<br />
<strong>Schweiz</strong> hätten for<strong>der</strong>n können - England zögerte, die Neutralität <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
anzuerkennen -, so stieg nach dem raschen polnischen Zusammenbruch die<br />
Gefahr eines deutschen Angriffs auf unser Land. Die Aufmarschstellung <strong>der</strong><br />
schweizerischen Armee vom Herbst 1939 war daher so gewählt, dass sie es<br />
ermöglichte, den Kampf in beiden Fällen, sowohl bei einem alliierten wie<br />
einem deutschen Angriff, führen zu können. Es ergab sich indessen, dass nach<br />
Polens Nie<strong>der</strong>lage zunächst eine Ruhepause eintrat. Englän<strong>der</strong> und Franzosen<br />
verharrten in ihren Stellungen am Rhein und in Lothringen, bis zur belgischen<br />
Grenze. In Deutschland begann ein fieberhaftes Rüsten. Die unhe<strong>im</strong>-<br />
S. 49: liche Stille des «drôle de guerre», des son<strong>der</strong>baren Krieges, wie die Franzosen<br />
ihn nannten, legte sich auf Europa.
- 33 -<br />
Am 2. September 1939 standen nach beendigter Mobilmachung, einschliesslich<br />
dem bereits mobilisierten Grenzschutz, 450'000 Mann eidgenössischer Truppen<br />
unter den Fahnen. Die Mobilmachung war eine <strong>im</strong>posante Kundgebung<br />
nationaler Entschlossenheit gewesen. Jetzt galt es, mit den Kräften zu<br />
haushalten. Das Leben musste weitergehen, trotz <strong>der</strong> Kriegsbereitschaft. Die<br />
Industrie for<strong>der</strong>te Arbeiter, die Bauernhöfe brauchten Männer, Bauern und<br />
Knechte, aber auch Pferde, um den Herbstsegen einzubringen und die Fel<strong>der</strong> zu<br />
bestellen.<br />
Zahlreiche Kleinbetriebe bedurften ihres Meisters. Der General senkte<br />
allmählich die Zahl <strong>der</strong> Aufgebotenen, bis zum Spätherbst 1939 umfasste sie<br />
nur mehr die Hälfte des Einrückungsbestandes. Während ein Kern aller<br />
Kompagnien, Batterien und Schwadronen am Standort mobilisiert blieb, löste<br />
sich das Gros <strong>der</strong> Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere in mehrwöchigen<br />
Urlauben ab. Noch war die Arbeitslosigkeit nicht völlig verschwunden. Im<br />
Dienst bleiben zu dürfen, bedeutete daher für manchen Wehrmann eine<br />
durchaus willkommene Gelegenheit.<br />
Jetzt stellten sich aber für Bundesrat und Armeeleitung die Probleme <strong>der</strong><br />
internen Front. Es galt, nicht nur mit den materiellen, son<strong>der</strong>n auch mit den<br />
seelischen Kräften des Volkes zu haushalten. Mochte es in den ersten Wochen<br />
des Polenkrieges noch einzelne gegeben haben, die wähnten, das Ende des<br />
Feldzuges in Polen werde neue Verhandlungen und nachher den Frieden<br />
bringen, so lag für alle Weiterdenkenden <strong>der</strong> Fall klar: Der neue <strong>Weltkrieg</strong><br />
würde sich zum harten, Jahre dauernden Ringen auswachsen. Da galt es denn,<br />
nicht nur mit guten Waffen an <strong>der</strong><br />
S. 50: Grenze zu stehen, son<strong>der</strong>n all das zu vermeiden, was die Grenzbesetzung von<br />
1914-18 verdüstert hatte: Ungenügende Fürsorge für die Wehrmänner, die <strong>im</strong><br />
Dienst für die He<strong>im</strong>at ihre zivile Arbeit vernachlässigen mussten, Hamstertum<br />
und Wucher in <strong>der</strong> Wirtschaft, schlechte St<strong>im</strong>mungen unter <strong>der</strong> Truppe, mit <strong>der</strong><br />
man nichts Gescheites anzufangen gewusst hatte. Die leitenden Männer aller<br />
Gruppen waren sich <strong>im</strong> klaren, was es bedeuten würde, wenn die<br />
nationalsozialistische Propaganda eine innere Unzufriedenheit ausnützen<br />
könnte. Als <strong>im</strong> Spätherbst 1939 die Russen Finnland überfielen und keine<br />
Grossmacht für das kleine Volk einen Finger rührte, wurde uns <strong>Schweiz</strong>ern<br />
von neuem bewusst, wie gefahrvoll die Lage eines Kleinstaates mitten in<br />
Europa geworden war.
- 34 -<br />
Obenan stand, sobald man daran ging, die innere Front zu stärken - das lehrten<br />
die Erfahrungen des ersten <strong>Weltkrieg</strong>es - die For<strong>der</strong>ung, den Soldaten des<br />
Aktivdienstes vor dem Lohnausfall und damit seine Familie vor <strong>der</strong> Not zu<br />
schützen. Gewiss gab es das System <strong>der</strong> Notunterstützung für Wehrmänner. Es<br />
war ein Almosensystem, behaftet mit demütigenden Best<strong>im</strong>mungen. Wer seine<br />
Hilfe anrief, musste seine Not belegen. Manch aufrechter Bürger hütete sich<br />
deshalb, diese Notunterstützung zu for<strong>der</strong>n, weil er nicht wollte, dass ihm und<br />
seinen Kin<strong>der</strong>n womöglich das später noch vorgehalten würde. Nach<br />
gründlicher Vorbereitung, bei <strong>der</strong> die Spitzenverbände <strong>der</strong> Arbeitgeber und<br />
Arbeitnehmer mitgewirkt hatten, verordnete <strong>der</strong> Bundesrat am 20. Dezember<br />
1939 auf dem Vollmachtenweg die Einführung <strong>der</strong> Lohn- und<br />
Verdienstersatzordnung. Es wurden Kassen errichtet, in die Arbeiter,<br />
Angestellte und Unternehmer sowie <strong>der</strong> Bund und die Kantone gemeinsam ihre<br />
Beiträge leisteten, und zwar<br />
S. 51: unter den erwerbstätigen Personen alle, also auch jene, die keinen Militärdienst<br />
zu leisten hatten. Die Verordnung wurde <strong>im</strong> Juni 1940 ergänzt und auf die<br />
Selbständigerwerbenden ausgedehnt. Mit den Lohn- und<br />
Verdienstausfallkassen erhielt nun je<strong>der</strong> Wehrmann, unabhängig von seinem<br />
Grad in <strong>der</strong> Armee und seiner zivilen Stellung, vom ersten Tag an, da er unter<br />
den Fahnen stand, einen Beitrag ausbezahlt, <strong>der</strong> nach dem Einkommen<br />
abgestuft war, aber eine best<strong>im</strong>mte Höhe nicht überschreiten durfte. Das<br />
Problem des Verdienstausfalles für die Mobilisierten war durch ein Werk <strong>der</strong><br />
Solidarität gelöst. Es bewährte sich ausgezeichnet und bildete später die<br />
Grundlage <strong>der</strong> Alters- und Hinterlassenenversicherung. Es war ein sichtbarer<br />
Ausdruck dafür, dass <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit in allen<br />
Volksschichten geweckt war. Zeugten die Lohn- und Verdienstausgleichskassen<br />
von lebendiger Solidarität, so bewies die Organisation <strong>der</strong><br />
Kriegswirtschaft, die das Verdienst von Bundesrat Obrecht war, und auf die<br />
wir in an<strong>der</strong>em Zusammenhang zurückkommen werden, dass Demokratie<br />
schweizerischer Prägung und planende Voraussicht <strong>im</strong> Augenblick <strong>der</strong> Not und<br />
<strong>der</strong> äusseren Bedrohung durchaus miteinan<strong>der</strong> zu vereinbaren waren. Die<br />
Grundüberlegung <strong>der</strong> kriegswirtschaftlichen Organisation war die Einsicht, <strong>der</strong><br />
Krieg werde auf allen Gebieten einen Mangel an Gütern mit sich bringen. Er<br />
werde deshalb die Preise rasch in die Höhe schnellen lassen, den<br />
Gutbemittelten viel, den Armen wenig zu kaufen erlauben und auf diese Krise<br />
die Ungerechtigkeit laut und am Ende schreiend
- 35 -<br />
werden lassen. Das war die Erinnerung, die vornehmlich die Jahre 1917 und<br />
1919 hinterlassen hatten. Hier beugte <strong>der</strong> Bundesrat diesmal gründlich vor. Er<br />
S. 52: befahl die «kriegswirtschaftliche Milizpflicht»: Führende Männer des<br />
wirtschaftlichen Lebens traten an die Spitze <strong>der</strong> Kriegswirtschaftsämter.<br />
Kriegswirtschaft - das hiess <strong>im</strong> übrigen, dass die knapp werdenden Güter von<br />
Bundes wegen verwaltet und verteilt wurden. Sie wurden, wie die<br />
Fachausdrücke lauteten, rationiert und kontingentiert. Es mussten für alle<br />
Zweige <strong>der</strong> Wirtschaft Schlüssel gefunden werden, die jedem das Seine<br />
garantierten, es ging nicht ohne Erhebungen, Statistiken und viel Papier, nicht<br />
ohne einen Stab von neuen Beamten, aber dafür gelang es, eine<br />
durchschnittliche und brauchbare Gerechtigkeit zu finden. Aber nicht nur die<br />
Güter wurden von zentraler Stelle bewirtschaftet: es wurden gewisse<br />
Schlüsselerscheinungen des wirtschaftlichen Lebens reguliert, z. B. die Preise<br />
o<strong>der</strong> die Mietzinse für Wohnungen.<br />
Später, als <strong>der</strong> Krieg gar zu lange dauerte und <strong>der</strong> Friede nicht einkehren<br />
wollte, selbst als <strong>der</strong> Kampf mit den Waffen vorüber war, empfand die<br />
Mehrheit des Volkes jene Einrichtungen bald als Zwang und wünschte sie weg.<br />
Dieser St<strong>im</strong>mungsumschwung war begreiflich, er darf uns indessen nicht in <strong>der</strong><br />
Einsicht beirren, dass die kriegswirtschaftliche Organisation in den ersten<br />
Kriegsmonaten voraussehend wirkte - sie för<strong>der</strong>te die Einfuhr aus Italien,<br />
solange dieses noch nicht kriegführend war, und legte Vorräte an -, und sie<br />
wirkte später als vielleicht oft grobschlächtige, unter den gegebenen<br />
Verhältnissen aber einzig mögliche Form <strong>der</strong> wirtschaftlichen und sozialen<br />
Gerechtigkeit. So kommt <strong>der</strong> kriegswirtschaftlichen Organisation ebenfalls ein<br />
entscheiden<strong>der</strong> Anteil zu, dass <strong>der</strong> Geist <strong>im</strong> Volk gesund und unangefochten<br />
blieb.<br />
Innenpolitisch verlief <strong>der</strong> erste Kriegswinter ruhig. Am letzten Sonntag <strong>im</strong><br />
Oktober 1939 fanden die Nationalrats-<br />
S. 53: wahlen statt. Sie brachten einen leichten Ruck nach rechts. Der grössere Teil<br />
<strong>der</strong> St<strong>im</strong>mberechtigten stand unter den Fahnen und wählte vielleicht nach<br />
etwas an<strong>der</strong>en Gesichtspunkten, als er es als Zivilist getan hätte. Als<br />
bezeichnend war es zu betrachten, dass am 3. Dezember ein Bundesgesetz, das<br />
die Besoldung <strong>der</strong> Beamten verbessert hätte, in <strong>der</strong> Volksabst<strong>im</strong>mung mit<br />
grossem Mehr verworfen wurde: Noch war die Lohn- und<br />
Verdienstersatzordnung nicht in Kraft.
- 36 -<br />
Bereits drückte die Sorge um die zivile Existenz viele Eidgenossen <strong>im</strong><br />
Wehrkleid. Ihr Nein zum Beamtengesetz wollte sagen, sie hielten jene<br />
Verbesserung für den an und für sich gesicherten Beamtenstand <strong>im</strong> Augenblick<br />
nicht für zeitgemäss. War es nicht etwas Grosses, dass wir, mitten in <strong>der</strong><br />
Ungewissheit des Zeitalters, unser Volk über eine <strong>der</strong>artige Frage abst<strong>im</strong>men<br />
lassen konnten? Während des ganzen Krieges nahm - wenn schon in den<br />
Gemeinden und Kantonen ausgesprochener als <strong>im</strong> Bund mit seinen<br />
Vollmachten - das bürgerliche Leben mit den periodischen Wahlen und<br />
Abst<strong>im</strong>mungen seinen Lauf.<br />
Ein Ereignis <strong>im</strong> Kriegswinter 1939 auf 1940 darf nicht vergessen werden,<br />
sobald man den innenpolitischen Strömungen und den Regungen <strong>der</strong><br />
Volksseele nachgeht: Die allgemeine Sympathiewelle für das finnische Volk,<br />
die die <strong>Schweiz</strong>er aller Schichten und Klassen erfasst hatte. Finnland war das<br />
erste Opfer <strong>der</strong> deutsch-russischen Verständigung. Keine <strong>der</strong> grossen Mächte<br />
rührte sich, als die Russen <strong>im</strong> Spätherbst die Finnen überfielen. Die Deutschen<br />
sahen unbeteiligt zu, aus Rücksicht auf ihren jüngsten Bundesgenossen, die<br />
alliierten Mächte, die eben erst von den Russen durch das Bündnis zwischen<br />
Stalin und Hitler düpiert worden waren, hielten es für klüger, den Zorn des<br />
S. 54: Kremls nicht noch stärker auf sich zu ziehen. Nordamerika und die <strong>Schweiz</strong><br />
waren, neben den skandinavischen Län<strong>der</strong>n, die einzigen, die eine grosszügige<br />
Finnenhilfe organisierten. Finnlands Heldenkampf gegen einen weit<br />
überlegenen Feind erschien jedem <strong>Schweiz</strong>er wie <strong>der</strong> Spiegel einer<br />
Möglichkeit, die uns von einem Tag auf den an<strong>der</strong>n treffen konnte. Indem er<br />
für die Finnen spendete, half <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er spontan einer kleinen Nation,<br />
einem kleinen Bru<strong>der</strong>volk. Es kamen in jenem ersten Kriegswinter rund vier<br />
Millionen <strong>Schweiz</strong>erfranken zusammen! Je<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er, ob gross o<strong>der</strong> klein,<br />
ob erwachsen o<strong>der</strong> noch Kind, ob reich o<strong>der</strong> arm, hatte <strong>im</strong> Durchschnitt einen<br />
Franken für die Finnen geopfert. Die unmittelbare Kraft jenes Helferwillens ist<br />
von keiner <strong>der</strong> späteren Hilfs- und Sammelaktionen mehr erreicht worden.<br />
Inzwischen stand die Armee in ihren Räumen. Sie übte und sie schanzte. Noch<br />
glaubte man an die Kraft von Festungen. Noch war ja <strong>der</strong> Maginotwall nicht<br />
gefallen. Stellungen für Geschütze, Bunker für Maschinengewehre, Gräben für<br />
Einzelschützen usw. erstanden als Feldbefestigungen in breitem Kranz <strong>im</strong><br />
schweizerischen Grenzraum, vom Osten bis zum Westen.
- 37 -<br />
Der Krieg selbst aber schien eingeschlafen zu sein. Hüben und drüben lagen<br />
Franzosen, Englän<strong>der</strong> und Deutsche. Man begegnete sich <strong>im</strong> Patrouillenkrieg<br />
und in kleinen Stosstruppunternehmungen, daneben wusste die Kunde zu<br />
berichten, es seien da und dort so etwas wie Verbrü<strong>der</strong>ungsszenen zwischen<br />
den Parteien vorgekommen. Jedenfalls schwiegen die schweren Geschütze <strong>der</strong><br />
Maginotlinie, und die deutschen Züge fuhren unbelästigt von Basel nach<br />
Frankfurt. Von den Deutschen wusste man freilich, dass sie rüsteten, Truppen<br />
aushoben und Rekruten drillten.<br />
S. 55: Hitler beschäftigte sich damals einen Augenblick lang mit dem Plan, noch <strong>im</strong><br />
Spätherbst die Offensive gegen Frankreich auszulösen und Belgien zu<br />
überfallen. Am 8. November wurde in München ein Attentat gegen ihn<br />
versucht, von dem bis zur Stunde nicht feststeht, ob es von einem wirklichen<br />
Attentäter o<strong>der</strong> von einem bestellten unternommen worden ist, wobei in diesem<br />
letzten Falle das Attentat den Sinn gehabt hätte, dem deutschen Volk die<br />
Unverletzlichkeit des «Führers» zu beweisen. In <strong>der</strong> deutschen, offiziellen<br />
Mitteilung über den Anschlag hiess es indessen, die Spuren <strong>der</strong> Organisation<br />
des Attentates wiesen nach <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> hin. Man wusste, was solche<br />
Verdächtigungen zu bedeuten hatten. Überdies meldete <strong>der</strong> schweizerische<br />
Nachrichtendienst Truppenansammlungen in Süddeutschland und <strong>im</strong><br />
Schwarzwald. Am 9. November wurden für die ganze Armee die erhöhte<br />
Bereitschaft und für die Truppen <strong>im</strong> Norden und Osten des Landes, sowie an<br />
<strong>der</strong> Grenze, die Alarmbereitschaft befohlen. Doch die Gefahr ging vorüber.<br />
Hitler verschob seine Offensive auf den Frühling. Die ununterbrochenen<br />
Angriffe deutscher Blätter auf die Haltung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, vornehmlich <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>er Presse, die während des ganzen Winters anhielten, liessen jedenfalls<br />
keinen Zweifel aufkommen, dass <strong>der</strong> Fall <strong>Schweiz</strong> vor den Augen <strong>der</strong><br />
nationalsozialistischen Machthaber keineswegs Gnade gefunden hatte. Anfang<br />
Dezember erliess <strong>der</strong> Bundesrat ein Verbot <strong>der</strong> staatsgefährlichen Propaganda<br />
in <strong>der</strong> Armee. Es richtete sich gemeinsam gegen nationalsozialistische wie<br />
kommunistische Umtriebe unter <strong>der</strong> Truppe.<br />
Mit fortschreitendem Frühling stieg die Nervosität. Es wurde spürbar, dass<br />
grosse Schläge nahe bevorstanden. Zunächst zwar - so <strong>im</strong> Februar und Anfang<br />
März - tauch-<br />
S. 56: ten Gerüchte auf, die von einem bevorstehenden Friedensangebot Hitlers an die<br />
Westmächte raunten. Mit einem Schlag zerbrach dieser Wahn - nur fiel er in
- 38 -<br />
ganz an<strong>der</strong>er Richtung, als man vermutet hatte. In <strong>der</strong> Morgenfrühe des 9.<br />
April 1940 wurden gleichzeitig Dänemark und Norwegen von den Deutschen<br />
überfallen. Militärisch war das Unternehmen tollkühn, und die Welt verfolgte<br />
seinen Ablauf mit grösster Spannung. Aber es gelang. Dänemark und<br />
Norwegen kapitulierten, das letzte nach hartnäckiger Gegenwehr seiner<br />
ungenügend ausgerüsteten Truppe. Der Überfall auf die beiden<br />
skandinavischen Län<strong>der</strong> offenbarte indessen mit beson<strong>der</strong>er Krassheit die<br />
Methoden <strong>der</strong> nationalsozialistischen Kriegführung. Beide Län<strong>der</strong> wurden<br />
ohne Kriegserklärung, ohne die geringste Ankündigung, überrumpelt. In<br />
Norwegen bedienten sich die Deutschen landesverräterischer Gesellen, die <strong>im</strong><br />
entscheidenden Augenblick die Verteidigung sabotierten. Der Führer dieser<br />
Verräter war <strong>der</strong> norwegische Offizier Quisling. Sein Name kam zu trauriger<br />
Berühmtheit und wurde zum Begriff <strong>der</strong> verräterischen Zusammenarbeit mit<br />
dem Feind. Der überfall auf Dänemark und Norwegen offenbarte, wie die<br />
Nationalsozialisten sich gründlich und planvoll <strong>der</strong> sogenannten «Fünften<br />
Kolonne», <strong>der</strong> Verräter und Saboteure zu bedienen wussten, wie sie es<br />
verstanden, schon vor dem militärischen überfall die innere Front eines Staates<br />
brüchig zu machen.<br />
Die Armeeleitung war vom deutschen Schlag gegen die beiden<br />
skandinavischen Staaten nicht überrascht worden. Seit den letzten Märzwochen<br />
hatte <strong>der</strong> General die Bereitschaft <strong>der</strong> Armee erhöht, die Urlaube wurden rar,<br />
<strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> Fünften Kolonne wurde grösste Beachtung geschenkt. Bereits<br />
trommelte die deutsche Presse wie<strong>der</strong><br />
S. 57: mit schärferer Vehemenz auf die <strong>Schweiz</strong> los. Am 18. April 1940 erliess <strong>der</strong><br />
Bundesrat genaue Weisungen für die Kriegsmobilmachung bei überfall, für das<br />
Verhalten gegen Luftangriffe, Saboteure, Fallschirmspringer und Elemente <strong>der</strong><br />
Fünften Kolonne. Diese Weisungen wurden öffentlich angeschlagen. In diesem<br />
Fall war es erwünscht, dass <strong>der</strong> Feind «mithörte»!<br />
Der Maueranschlag, <strong>der</strong> sich nüchtern, ja fast ein wenig pedantisch<br />
«Weisungen des Bundesrates und des Generals über das Verhalten bei<br />
feindlichem Überfall» nannte und in <strong>der</strong> Bundesratssitzung vom 18. April 1940<br />
verabschiedet wurde, ist ein unvergängliches Dokument <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>. Es<br />
enthielt zunächst einfach Befehle, wie sich <strong>der</strong> auf Urlaub befindliche Soldat<br />
zu verhalten habe, falls das Land überfallen werden sollte. Es folgten Angaben<br />
über die praktische Gestaltung <strong>der</strong> Kriegsmobilmachung bei Überfall.
- 39 -<br />
Dann aber hiess es: «Je<strong>der</strong> Offizier hat die Pflicht, alle Wehrmänner zu<br />
sammeln und mit ihnen in rücksichtsloser Schärfe gegen Fallschirmspringer,<br />
Luftinfanterie und Saboteure vorzugehen. Wo keine Offiziere und<br />
Unteroffiziere zugegen sind, handelt je<strong>der</strong> Soldat unter Anstrengung aller<br />
Kräfte aus eigener Initiative.<br />
Sobald es sich zeigt, dass in einer Ortschaft die Angriffe des Feindes o<strong>der</strong><br />
seiner Mitläufer mit den Organisationen <strong>der</strong> Territorialtruppen und des<br />
bewaffneten Hilfsdienstes bewältigt werden können, haben die übrigen<br />
Wehrmänner mit allen Mitteln zu versuchen, ihren Stab o<strong>der</strong> ihre Einheit o<strong>der</strong><br />
den nächsten Korpssammelplatz zu erreichen. Es muss vermieden werden, dass<br />
in Ortschaften allzu viele Leute in Bereitschaft bleiben und durch diese<br />
Zersplitterung die Kräfte <strong>der</strong> Fronttruppen geschwächt werden.<br />
S. 58: Wenn durch Radio, Flugblätter und an<strong>der</strong>e Mittel Nachrichten verbreitet<br />
werden sollten, die den Wi<strong>der</strong>standswillen von Bundesrat und Armeeleitung<br />
anzweifeln, so sind solche Nachrichten als Erfindung <strong>der</strong> feindlichen<br />
Propaganda zu betrachten.<br />
Unser Land wird sich gegen jeden Angreifer mit allen Mitteln und aufs<br />
Äusserste verteidigen. Die Zivilbevölkerung hat in einer solchen Lage Ruhe<br />
und Ordnung zu bewahren, sich in ihren Wohnungen o<strong>der</strong> Arbeitsplätzen<br />
aufzuhalten, alle Strassen und Plätze zu räumen und den Anordnungen <strong>der</strong><br />
gesetzmässigen Behörden vollen Gehorsam zu leisten.»<br />
Das war entschlossen und klar gesprochen! Es gab kein Zurück mehr.<br />
Bundesrat und General hatten sich an die Spitze des Volkes gestellt. Zugleich<br />
wurde alles vorgekehrt, um <strong>im</strong> Kriegsfall Evakuationen <strong>der</strong> Bevölkerung und<br />
von Material vornehmen zu können. Kein Mensch zweifelte mehr daran, dass<br />
<strong>der</strong> Krieg in eine neue und entscheidende Phase eingetreten war. Es erwies sich<br />
indessen, dass die siebenmonatige Bereitschaft den Abwehrwillen von Volk<br />
und Armee nicht geschwächt, son<strong>der</strong>n gestärkt, Selbstvertrauen und<br />
Nervenkraft gehoben hatte.
- 40 -<br />
S. 59:<br />
3. KAPITEL<br />
Wi<strong>der</strong>stehen!<br />
Die zweite Generalmobilmachung - Evakuationspanik, aber feste Haltung <strong>der</strong><br />
Armee - Der kritische Juni 1940 - Die <strong>Schweiz</strong> in einer neuen Lage - Der<br />
Bundespräsident spricht, und <strong>der</strong> General hält Rapport auf dem Rütli - Der<br />
Frontistenempfang be<strong>im</strong> Bundespräsidenten - Geistiger Wi<strong>der</strong>stand und die<br />
neuen Aufgaben von Heer und Haus - Kriegswirtschaft und Wahlen-Plan - Das<br />
Finanzwun<strong>der</strong> - Beginnende Tätigkeit <strong>der</strong> Landesverräter Die vier Aufgaben<br />
<strong>der</strong> Armee - In Erwartung <strong>der</strong> Dinge<br />
S. 61: Am 10. Mai zerbrach endgültig <strong>der</strong> faule Zauber des «merkwürdigen» Krieges:<br />
Die Deutschen überfielen Holland, Belgien und Luxemburg. Die Front geriet in<br />
Bewegung. Hitler schlug mit gewaltiger, während des ganzen Winters von<br />
1939 auf 1940 aufgerüsteter Kriegsmacht auf den Westen los. Dem<br />
Aprilunternehmen gegen Skandinavien folgte <strong>der</strong> Hauptschlag gegen<br />
Frankreich.<br />
Der Bundesrat verfügte am gleichen Tag die Generalmobilmachung. In einer<br />
Radioansprache for<strong>der</strong>te er das Volk auf, ruhig und entschlossen zu bleiben.<br />
Je<strong>der</strong>mann wusste, dass das, was jetzt begonnen hatte, sehr viel gefahrvoller<br />
für die <strong>Schweiz</strong> werden musste, als es <strong>der</strong> polnische und <strong>der</strong> skandinavische<br />
Feldzug gewesen war. Die zweite Kriegsmobilmachung spielte sich noch<br />
reibungsloser ab als die erste. Die Stammtruppen übernahmen die zu ihren<br />
Einheiten eilenden Urlauber. Ihre St<strong>im</strong>mung war ausgezeichnet, ungeachtet des<br />
Ernstes <strong>der</strong> Lage: Belgien und Holland, denen die Deutschen noch kurz vor<br />
dem überfall zugesagt hatten, ihre Neutralität zu respektieren, standen über<br />
Nacht in einem Kampf um Tod und Leben, <strong>der</strong> sich für die beiden kleinen<br />
Völker bald als wenig hoffnungsvoll erwies. Mit furchtbarem Ungestüm<br />
zerbrachen die Deutschen mit ihrer Luftwaffe und ihren Panzern, mit einer<br />
unerhört draufgängerischen Kampfform die belgischen Grenzfestungen, von<br />
denen einzelne als uneinnehmbar gegolten hatten. He<strong>im</strong>lich fragte sich manch<br />
einer, was da wohl unsere schweizerischen Feldbefestigungen, die die Truppe<br />
den Winter über gebaut hatte, nützen
- 41 -<br />
S. 62: würden. Nirgends wuchs sich indessen dieses sorgenvolle Fragen zum<br />
Kleinmut aus.<br />
Während dessen blieb das Hinterland nicht ohne Zeichen von Aufregung. Im<br />
Norden und Osten <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> begann sich eine Evakuationsst<strong>im</strong>mung unter<br />
<strong>der</strong> Zivilbevölkerung auszubreiten. Autokolonnen mit Flüchtenden bewegten<br />
sich nach <strong>der</strong> Westschweiz o<strong>der</strong> in die Bergtäler <strong>der</strong> Innerschweiz und des<br />
Berner Oberlandes. Zahlreiche falsche Gerüchte schwirrten in <strong>der</strong> Luft herum.<br />
Sie wuchsen teils aus <strong>der</strong> Aufregung heraus, wie das Unkraut nach dem Regen,<br />
zum Teil bestanden deutliche Anzeichen dafür, dass sie von dunkeln<br />
Elementen absichtlich verbreitet wurden, <strong>im</strong> Streben, die innere Front zu<br />
verwirren. «Erhitzte Gemüter», schreibt <strong>der</strong> General darüber in seinem Bericht<br />
über den Aktivdienst, «witterten überall die Wirksamkeit <strong>der</strong> Fünften Kolonne<br />
und verräterische Signale und Zeichen.»<br />
Die Armee blieb von solchen gefährlichen Gemütserschütterungen, die das<br />
Hinterland erfasst hatten, verschont. Sie war alarmbereit, wurde indessen<br />
zunächst nicht aus den bisherigen Stellungsräumen herausgenommen. Noch<br />
war nicht die ganze deutsche Heeresmacht gegen Frankreich angetreten. Erst<br />
wenn auch die Front am Oberrhein in Bewegung geriet, konnten die deutschen<br />
Absichten deutlicher werden. Dabei hing Entscheidendes davon ab, ob den<br />
Deutschen <strong>der</strong> Durchbruch in Flan<strong>der</strong>n und in Lothringen gelang, o<strong>der</strong> ob sie<br />
dort festgehalten wurden und eine Überflügelung durch die <strong>Schweiz</strong> versuchen<br />
würden. Eines wurde allerdings von Tag zu Tag klarer: Die französischenglischen<br />
Armeen befanden sich in völliger Verteidigung. Sie waren<br />
ausserstande, eine Gegenoffensive durch die <strong>Schweiz</strong> vorzusehen. Daher gab<br />
es in diesem<br />
S. 63: Augenblick für uns nur einen möglichen Kriegsfall: den eines deutschen<br />
Überfalles.<br />
Noch während sich die Ereignisse in Frankreich überstürzten und die<br />
französische Armee, die für die stärkste des Kontinentes gehalten worden war,<br />
von Tag zu Tag deutlichere Zeichen des Zusammenbruchs zeigte, bestrebte<br />
sich die schweizerische Armeeleitung, aus den Ereignissen zu lernen. Es<br />
entstanden, um die Wucht <strong>der</strong> motorisierten Angriffstruppen und Panzer zu<br />
brechen, an allen Strassen und Übergängen von <strong>der</strong> Truppe gebaute schwere<br />
Barrikaden.
- 42 -<br />
Die Infanterie erhielt Minen zugeteilt und begann, den Angriffsgeist zu schulen<br />
und den Nahkampf zu üben. In <strong>der</strong> Periode des winterlichen Baues von<br />
Feldbefestigungen war beides vernachlässigt worden. Die deutsche<br />
Kriegführung <strong>im</strong> Westen hatte alle hergebrachten Begriffe mo<strong>der</strong>ner Strategie<br />
und Taktik <strong>im</strong> wörtlichen Sinn über den Haufen geworfen. Nun galt es für die<br />
wehrhafte schweizerische Miliz, mitten <strong>im</strong> Ablauf <strong>der</strong> Ereignisse, sich<br />
umzustellen.<br />
Inzwischen vollzog sich Frankreichs Nie<strong>der</strong>lage rasch und unerbittlich. Am 31.<br />
Mai glückte es den Englän<strong>der</strong>n, wesentliche Teile ihrer Kontinentalarmee dem<br />
deutschen Zugriff zu entziehen und aus Dünkirchen nach England<br />
hinüberzuschaffen. Mitte Juni fiel die Festung Verdun, die <strong>im</strong> ersten <strong>Weltkrieg</strong><br />
zum Begriff <strong>der</strong> Unüberwindbarkeit geworden war, bereits zogen die<br />
Deutschen in Paris ein. Vier Tage zuvor hatten die Italiener den Briten und<br />
Franzosen den Krieg erklärt. Sie wollten bei <strong>der</strong> neuen Verteilung <strong>der</strong> Welt<br />
dabei sein. Während sich <strong>der</strong> Krieg bedrohlich <strong>der</strong> schweizerischen<br />
Westgrenze näherte, musste <strong>der</strong> General nun auch an <strong>der</strong> Südgrenze vermehrt<br />
auf <strong>der</strong> Hut sein. Zugleich nahmen die Zeichen deutscher Unge-<br />
S. 64: duld und nationalsozialistischen Übermuts gegenüber <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> wie<strong>der</strong> zu.<br />
Die deutsche Presse schlug einen scharfen Ton an, und am deutschen Radio<br />
höhnten die Chöre <strong>der</strong> Hitlerjugend: «Die <strong>Schweiz</strong>, das kleine Stachelschwein,<br />
das holen wir auf dem Rückweg he<strong>im</strong>!» Etwas hatten die Nazi also doch<br />
gemerkt: Sie nannten das wehrhafte Alpenland ein «Stachelschwein»!<br />
Die deutschen Flieger respektierten - mit Vorliebe, wenn sie aus Frankreich<br />
zurückflogen - die <strong>Schweiz</strong>ergrenze nicht mehr. Unsere schweizerischen<br />
Flieger griffen unerbittlich die deutschen Flugzeuge an, die den<br />
schweizerischen Luftraum verletzten. Fünfmal kam es zu Luftkämpfen, gab es<br />
auf beiden Seiten Abstürze und Tote. Die schweizerischen Piloten verteidigten<br />
unser Hoheitsgebiet mit Erfolg. Diese Luftkämpfe führten schliesslich zu einer<br />
Episode, die leicht ernste Konsequenzen hätte haben können. Der deutsche<br />
Luftmarschall Göring beschloss nämlich, sich für die entschlossene Haltung<br />
unserer Flieger zu rächen. Auf eigene Faust zog er ein Sabotageunternehmen<br />
gegen die <strong>Schweiz</strong> auf. Am 14. Juni reisten 12 deutsche Saboteure auf<br />
verschiedenen Wegen schwarz in die <strong>Schweiz</strong> ein. Sie waren reichlich mit<br />
Sprengmitteln versehen und hatten verschiedene Aufträge. Diese richteten sich<br />
hauptsächlich gegen Flugplätze.
- 43 -<br />
Der Anschlag misslang. Er war zu dilettantisch aufgezogen, und die<br />
schweizerische Wachsamkeit war zu entschieden. 24 Stunden nach ihrer<br />
Einreise waren 10 Mann des bösen Dutzends verhaftet, 2 entkamen. Truppe,<br />
Polizei und beherzte Zivilisten hatten einan<strong>der</strong> in die Hände gearbeitet, um das<br />
Bubenstück zu verhin<strong>der</strong>n. Noch war die erhöhte Alarmbereitschaft, die <strong>im</strong><br />
Zusammenhang mit jenem Sabotageversuch befohlen worden<br />
S. 65: war, nicht aufgehoben, als <strong>der</strong> Armee eine neue Aufgabe harrte. Die<br />
Operationen in Frankreich bewegten sich jetzt rasch <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>ergrenze zu.<br />
Im Raum von Belfort wurde ein ganzes französisches Armeekorps, dem eine<br />
Division polnischer, den Deutschen und Russen entkommener Soldaten<br />
zugeteilt war, nach <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> hin abgedrängt. Am 20. Juni traten sie in den<br />
Freibergen auf <strong>Schweiz</strong>er Gebiet über und wurden entwaffnet. Am nächsten<br />
Tag wurde <strong>im</strong> Walde von Compiegne zwischen Frankreich und Deutschland<br />
ein Waffenstillstand geschlossen. Drei Tage später kam es zum<br />
Waffenstillstand zwischen Frankreich und Italien. Der Krieg auf dem<br />
Kontinent war fürs erste vorüber. Aber England war unbesiegt, entschlossen,<br />
weiterzukämpfen.<br />
Wahrscheinlich spielten sich in jenen Wochen unmittelbar vor und nach dem<br />
französischen Zusammenbruch die für die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> gefährlichsten<br />
und entscheidensten Augenblicke des ganzen Krieges ab. Man muss sich, um<br />
das zu verstehen, noch einmal die militärische und politische Lage unseres<br />
Landes in jenem Augenblick vergegenwärtigen. Auf dem europäischen<br />
Kontinent herrscht jetzt eine Mächtegruppe uneingeschränkt, die sog. «Achse<br />
Berlin-Rom». Innerhalb <strong>der</strong> Achse war das Deutsche Reich die<br />
ausschlaggebende Macht. Diese seine Machtstellung beruhte auf beidem, auf<br />
<strong>der</strong> unerhörten militärischen Überlegenheit als auch auf <strong>der</strong> beispiellos brutalen<br />
Art und Weise, wie Hitler und seine Kumpane sie errungen hatten. Frankreich,<br />
das wenige Wochen vorher als bedeutendste Militärmacht des festländischen<br />
Europas beurteilt worden war, hatte sich als morsch, wi<strong>der</strong>standsschwach<br />
erwiesen und war zusammengebrochen. Die Maginotlinie, ein Festungssystem,<br />
von dem die meisten
- 44 -<br />
Nationalsozialistische Kundgebung in Zürich aus dem Jahre 1942.<br />
Die deutsche Kolonie feiert den Geburtstag des "Führers"<br />
S. 66: militärischen Fachleute gewähnt hatten, es sei praktisch uneinnehmbar, hatte<br />
vollständig versagt. Festungen schienen überlebt zu sein! Im Osten Europas<br />
hatte die Sowjetunion <strong>im</strong> Krieg gegen Finnland zwar Nie<strong>der</strong>lage über<br />
Nie<strong>der</strong>lage erlitten, das kleine Volk aber doch geschwächt und es zu einem<br />
ehrenvollen, wenn schon harten Frieden gezwungen. Niemand glaubte, dass<br />
Russland ein Gegengewicht gegen den deutschen Koloss bilden konnte. Die<br />
Sowjetunion bemühte sich denn auch auf das eifrigste, den deutschen<br />
Machthabern alles erdenkliche Entgegenkommen zu beweisen. Die deutschrussische<br />
Zusammenarbeit musste die wirtschaftliche Lage Deutschlands<br />
verbessern. - Nordamerika endlich, beeindruckt vom französischen<br />
Zusammenbruch, schien weiter von einer Kriegsbereitschaft zu sein denn je.<br />
Übrig geblieben war nur England. In bezug auf dessen Aussichten gingen aber<br />
die Meinungen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> auseinan<strong>der</strong>. Jene, die das Inselreich und sein<br />
zähes Volk kannten, glaubten we<strong>der</strong> an dessen Kapitulation noch an die<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Deutschen, in Grossbritannien landen und das Volk militärisch<br />
besiegen zu können. An<strong>der</strong>e zweifelten, sie vermuteten, die Deutschen, die<br />
bisher den Krieg mit technischen und methodischen Überraschungen<br />
gewonnen
- 45 -<br />
Infanterie auf dem Marsch (Photo: Hans Baumgartner)<br />
hatten, würden auch den Englän<strong>der</strong>n gegenüber mit gefährlichen<br />
Überraschungen aufwarten und sie vernichten.<br />
Mitten in diesem «Neuen Europa,., wie die Deutschen die von ihnen mit Feuer<br />
und Schwert gewonnene Ordnung bezeichneten, lag die <strong>Schweiz</strong>, klein,<br />
freiheitlich, vom Volk regiert, mit ihren vier Millionen Einwohnern. Ihre<br />
Armee hatte an <strong>der</strong> Grenze den Zusammenbruch einer berühmten Armee<br />
erlebt, <strong>der</strong> deutsche Nachbar, dessen<br />
S. 67: führende Männer je<strong>der</strong>zeit und ungeschminkt kundgetan hatten, dass sie die<br />
<strong>Schweiz</strong> hassten, war unumschränkter Gebieter über Europa. Würde er jetzt auf<br />
uns losgehen? Würde er sich zusammentun mit Italien, wo es nicht an<br />
einflussreichen und ungeduldigen St<strong>im</strong>men gebrach, die die «Rückkehr» <strong>der</strong><br />
italienischschweizerischen Talschaften zu Italien for<strong>der</strong>ten? O<strong>der</strong> - falls die<br />
neuen Herren Europas doch -einen Gewaltstreich zu vermeiden gedachten -<br />
würden sie versuchen, unserem Volk mit raffinierter Propaganda den Kopf zu<br />
verdrehen? Würden sie versuchen, die Propaganda dadurch zu unterbauen, dass<br />
sie uns die Zufuhr sperren würden? Und wie würde das <strong>Schweiz</strong>ervolk auf das<br />
alles reagieren?
- 46 -<br />
Für die schweizerischen Behörden galt es in jenen Wochen nach Frankreichs<br />
Zusammenbruch, das fast Unmögliche zu tun: Sie mussten genügend Truppen<br />
unter den Fahnen behalten, um bereit zu sein, falls Adolf Hitler in<br />
überraschendem Schlag die <strong>Schweiz</strong> zu liquidieren versuchte. Sie mussten<br />
zugleich aber vermeiden, dieses fortdauernde Aufgebot so stark bleiben zu<br />
lassen, dass es den deutschen Diktator reizen und ihm einen Vorwand geben<br />
konnte. Das Gegenstück war auf geistig-politischem Gebiet zu tun. Wenn je, so<br />
war gerade jetzt Aufklärung des Volkes dringendes Gebot <strong>der</strong> Stunde. Man<br />
musste dieses Volk aufrichten, sein Selbstvertrauen stärken, es in<br />
geschichtlichen Zeiträumen denken lernen, ihm sagen, dass <strong>der</strong> Krieg in<br />
Europa nicht entschieden sein konnte, solange England weiterkämpfte - aber<br />
man musste es so sagen, dass man auch da dem übermut <strong>der</strong> Sieger keinen<br />
Vorwand gegen uns lieferte. Mit einem Wort: Wir mussten klug sein wie die<br />
Schlangen, aber ohne Falsch wie die Tauben.<br />
S. 68: Wir mussten mit einem Mindestmass an Zugeständnissen wi<strong>der</strong>stehen.<br />
Wir hatten kaum Pfän<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Hand, aber neben den vielen schlechten gab es<br />
auch einige gute Möglichkeiten. Da war einmal Italien, das dem deutschen<br />
Machtzuwachs unter Zittern und Hoffen zugesehen hatte. Die gemässigteren<br />
Elemente des Faschismus begehrten keine weitere unmittelbare Nachbarschaft<br />
mit Deutschland, wie sie sich ergeben hätte, sobald die <strong>Schweiz</strong> aufgeteilt<br />
worden wäre. Der Brenner genügte ihnen. Es war daher von dieser Seite mit<br />
einer gewissen, wenn schon nicht sehr entschiedenen Unterstützung zu<br />
rechnen. Eine an<strong>der</strong>e Möglichkeit lag in <strong>der</strong> internationalen Stellung <strong>der</strong><br />
neutralen <strong>Schweiz</strong>. Diese kam <strong>im</strong> «Internationalen Roten Kreuz» zum<br />
Ausdruck, dessen führende Persönlichkeiten <strong>Schweiz</strong>er waren, und in den<br />
Interessenvertretungen für die Kriegführenden. Unser Land hatte es<br />
nacheinan<strong>der</strong> übernommen, für fast alle am Krieg beteiligten Staaten bei<strong>der</strong><br />
Lager die Vertretung <strong>der</strong> diplomatischen Interessen zu besorgen. Auch das wog<br />
bei den Nationalsozialisten nicht schwer, aber <strong>im</strong>merhin, es wog. Die dritte<br />
Möglichkeit endlich war einfach <strong>der</strong> Kampf um Zeitgewinn: Die Deutschen<br />
mussten zum Kampf gegen England antreten. Ohne Sieg über England gab es<br />
keinen Frieden. Dieser Kampf bedurfte riesiger Vorbereitungen. Es bestand<br />
daher die Aussicht, dass Hitler diese Vorbereitungen nicht durch ein<br />
militärisches Unternehmen gegen die <strong>Schweiz</strong> stören wollte, das, wie die<br />
Dinge nun einmal lagen, eine Vielzahl von Divisionen, eine Menge Blut
- 47 -<br />
und Eisen gekostet hätte. Gerade diese letzte Überlegung sprach natürlich erst<br />
recht dafür, die Pause, die mit <strong>der</strong> französischen Nie<strong>der</strong>lage eingetreten war,<br />
nicht mit dem Frieden zu verwechseln. Die <strong>Schweiz</strong> musste mili-<br />
S. 69: tärisch stark bleiben. So begann jetzt <strong>der</strong> Kampf darum, den Wi<strong>der</strong>stand<br />
entschieden und auf neue Weise zu organisieren.<br />
Es wäre Geschichtsfälschung, wollte man behaupten, <strong>der</strong> Umschwung <strong>im</strong><br />
festländisch-europäischen Kräfteverhältnis hätte das Volk innerlich unbeteiligt<br />
gelassen. Vielmehr beschäftigte die Frage «was nun» alle Volksschichten. Die<br />
Menschen riefen nach Zusammenschluss. Neben ehrlichem Bemühen wurden<br />
allerlei Pläne von politischen Konjunkturrittern herumgeboten. Die<br />
nationalsozialistisch eingestellten Bewegungen, die sich bis dahin stillgehalten<br />
hatten, wagten sich wie<strong>der</strong> hervor. Die in Sprache und Bil<strong>der</strong>n mächtig<br />
aufgedonnerte deutsche Propagandazeitschrift «Signal» musste unter<br />
deutschem Druck in hoher Auflage in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zugelassen werden. Sie<br />
arbeitete mit dem einfachsten Werbemittel, mit dem Erfolg des deutschen<br />
Soldaten. Das alles wirkte. Für viele schien es jetzt nicht mehr zu genügen, die<br />
nationalsozialistischen Führer nicht zu reizen: Sollten wir nicht versuchen, sich<br />
mit ihnen zu verständigen? Nein, beschworen wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e das Volk: Jede<br />
Verständigung wäre Selbstmord. Jüngere Offiziere, beeindruckt vom<br />
moralischen Versagen mancher Ka<strong>der</strong> in den von den Deutschen überfallenen<br />
Län<strong>der</strong>n und beunruhigt ob diesen Diskussionen, in denen sie bereits ein<br />
Nachgeben herausfühlten, schlossen sich zusammen und gaben sich das Wort,<br />
einem allfälligen Kapitulationsbefehl nicht Folge zu leisten und den Kampf um<br />
jeden Preis fortzusetzen. Diese «Verschwörung» wurde aufgedeckt. Die<br />
Teilnehmer wurden bestraft, aber des sauberen Zieles wegen, das sie verfolgt<br />
hatten, nur leicht.<br />
Anlass zu erregten, allerdings kaum öffentlich geführten Debatten gab die<br />
Frage <strong>der</strong> Pressefreiheit. Die Deut-<br />
S. 70: schen nahmen fre<strong>im</strong>ütige Äusserungen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Presse <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />
zum Vorwand, um oft, scheinbar wohlwollend, meistens aber unverhüllt<br />
drohend, darauf hinzuweisen, wie gefährlich es sei, mit einem zu offenen Wort<br />
«den Führer zu reizen». Da überdies manche Blätter allzu sicher auf die<br />
französische Stärke gesetzt und sich getäuscht hatten, so war es jetzt leicht zu<br />
versuchen, Presse und Volk gegeneinan<strong>der</strong> aufzubringen.
- 48 -<br />
Endlich drohte eine an<strong>der</strong>e, grosse Gefahr: Es wurden Truppen entlassen.<br />
Würden die he<strong>im</strong>kehrenden Soldaten auch alle Arbeit finden?<br />
So lebte in jenen Wochen des Sommers 1940 das Volk in einem Dunst des<br />
Unausgesprochenen, des Hoffens und Abwägens. Aber es blieb nicht lange<br />
darin. Am 25. Juni ergriff Bundespräsident Pilet am Radio das Wort. Manche<br />
Teile seiner Rede sind später als zweideutig und zu diplomatisch angefochten<br />
worden. Sie enthielt indessen einen wesentlichen Punkt. Bundespräsident Pilet<br />
erklärte, niemand werde arbeitslos sein. Der Bundesrat werde «für<br />
Arbeitsbeschaffung um jeden Preise» sorgen. Es blieb nicht be<strong>im</strong> Versprechen.<br />
Alles wurde vorgekehrt, um die Einfuhr <strong>der</strong> Rohstoffe zu sichern, die<br />
Verteilung gerecht zu gestalten. Um düsteren Elementen ihren Handel zu<br />
legen, wurden alle politischen Versammlungen polizeilich überwacht.<br />
Und die Armee? Sie erwies sich in jenen Tagen als <strong>der</strong> eigentliche nationale<br />
Rückhalt. Der General zögerte nicht lange, um ihre Aufgabe in <strong>der</strong> neuen Lage<br />
klar zu umreissen. Auf den 25. Juli bot er sämtliche Kommandanten <strong>der</strong><br />
Armeekorps, Divisionen, Reg<strong>im</strong>enter, Bataillone und Abteilungen zu einem<br />
Rapport auf das Rütli auf. Dort, <strong>im</strong> Herzen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, verpflichtete er sie auf<br />
den Wi<strong>der</strong>standsgedanken, entwickelte er den neuen Verteidigungs-<br />
S. 71: gedanken des Réduits. Der General beschreibt in seinem Bericht an den<br />
Bundesrat über seine Kommandoführung <strong>im</strong> Aktivdienst diesen eindrücklichen<br />
und unvergesslichen Akt: «Gegen Mittag des sehr schönen Tages hatte ich alle<br />
höheren Offiziere <strong>der</strong> Armee vor meinen Augen. Auf <strong>der</strong> Rütliwiese, wo die<br />
Fahne des Urnerbataillons 87 stand, hatten sie einen Halbkreis gebildet, mit<br />
dem Blick gegen den See, die Armeekorpskommandanten <strong>im</strong> ersten Glied, und<br />
hinter ihnen die Divisions-, Brigade-, Reg<strong>im</strong>ents-, Bataillons- und<br />
Abteilungskommandanten. Ich erläuterte kurz und in grossen Zügen die<br />
Massnahmen, die für den Wi<strong>der</strong>stand <strong>im</strong> Réduit getroffen worden waren und<br />
gab ihnen die folgende doppelte Parole: Wille zum Wi<strong>der</strong>stand gegen jeden<br />
Angriff von aussen und gegen die verschiedenen Gefahren <strong>im</strong> Innern, wie<br />
Erschlaffung und Defaitismus, Vertrauen in die Kraft dieses Wi<strong>der</strong>standes.»<br />
Der General fasste seine Worte in den Satz zusammen. «Es geht um die<br />
Existenz <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>.» Hierauf übergab er den hohen Offizieren den neuen<br />
Verteidigungsbefehl. Er beruhte auf dem Gedanken, das Zentralmassiv <strong>der</strong><br />
Alpen
- 49 -<br />
zu einer Festung auszubauen, die befähigt war, <strong>der</strong> motorisierten Wucht und<br />
technischen Überlegenheit <strong>der</strong> Deutschen wi<strong>der</strong>stehen zu können.<br />
Die Bundesratsverordnung vom 18. April 1940 über das Verhalten gegenüber<br />
Gerüchten, Spionen und Saboteuren, und <strong>der</strong> Réduitbefehl des Generals vom<br />
25. Juli des gleichen Jahres, sind die beiden grossen und unvergänglichen<br />
Zeugnisse des schweizerischen Wi<strong>der</strong>standswillens in jenem geschichtlichen<br />
Augenblick. Gewiss war das Réduit zunächst einfach eine militärische<br />
Verteidigungsidee. Darüber hinaus aber war es sichtbarer Ausdruck unserer<br />
Entschlossenheit. Das Réduit besagte: Es gibt keine Kapitu-<br />
S. 72: lation, wenn wir überfallen werden, son<strong>der</strong>n nur Kampf, unbekümmert um<br />
Erfolg o<strong>der</strong> Misserfolg. Es bedeutete, dass wir entschlossen waren, das flache<br />
Land dem Eindringling zerstört zu überlassen und ihn in den Bergen, wo<br />
Gelände und Witterung unsere Verbündeten waren, mit <strong>der</strong> Waffe zu erwarten.<br />
Während in Berlin «Unter den Linden» die Siegesparade furchtbar und<br />
aufgedonnert vor Hitler vorüber rollte, während Europa <strong>der</strong> Tyrannei verfallen<br />
schien, entschloss sich <strong>der</strong> General <strong>der</strong> schweizerischen Milizarmee, in <strong>der</strong><br />
Réduitstellung zu halten und vor aller Welt zu bekunden, die <strong>Schweiz</strong> denke<br />
nicht daran, sich den neuen Machthabern in Europa zu fügen. So wurde das<br />
Réduit zum Begriff des nationalen Wi<strong>der</strong>standes. Mit ihm aber auch die Gestalt<br />
des Generals! Auch er war zu einem nationalen Symbol geworden. Diese<br />
Tatsache hat nichts mehr zu zerstören vermocht. Die Person des Generals blieb<br />
gegenüber allen Angriffen gefeit.<br />
Die Nazi haben übrigens gewusst, was für eine entscheidende Bedeutung<br />
General und Réduit für den schweizerischen Wi<strong>der</strong>standsgeist hatten. Das<br />
Réduit versuchten sie durch intensive Spionage zu entwerten. Gegen den<br />
General aber spannen sie eine Intrige. Im Winter 1940 auf 1941 wurde von<br />
Berlin aus ein lebhaftes Treiben inszeniert, das dem Bundesrat empfahl, den<br />
General zu ersetzen, da er sich 1939 in militärischen Besprechungen mit den<br />
Franzosen, für den eventuellen Fall eines deutschen Angriffs, zu weit<br />
hervorgewagt habe. Die Deutschen fanden Kanäle in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, die ihre<br />
Anschuldigungen weitertrugen. Aber <strong>der</strong> Bundesrat blieb fest. Er wusste, was<br />
<strong>der</strong> General in den Augen des Volkes geworden war!
- 50 -<br />
In <strong>der</strong> Folge erwies es sich, dass <strong>der</strong> Rütlirapport des Generals zur rechten Zeit<br />
gekommen war. Der General<br />
S. 73: durfte in <strong>der</strong> schwierigen Lage als Soldat offener, weniger von diplomatischen<br />
Rücksichten belastet, reden als irgendein Bundesrat, dessen Worte mit dem<br />
Gewicht <strong>der</strong> Regierungsverantwortung belastet. waren. Die Summe <strong>der</strong><br />
vaterländischen Hoffnungen und des nationalen Willens aller <strong>Schweiz</strong>er<br />
vereinigte sich über dem Begriff <strong>der</strong> Armee. Die aber war in <strong>der</strong> monatelangen<br />
Aktivdienstzeit innerlich fest zusammengewachsen. Der Geist des<br />
Rütlirapports strömte in alle Einheiten des Heeres, er teilte sich von da aus dem<br />
Volke selbst mit. Das war um so notwendiger, als nun die Politik selbst in eine<br />
Krise zu geraten drohte.<br />
Der Bundesrat, <strong>der</strong> durch die Vollmachten vom 30. August 1939 zur eigentlich<br />
best<strong>im</strong>menden Behörde <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> geworden war, hatte sich seit<br />
Kriegsausbruch, was seine Zusammensetzung anbelangt, verän<strong>der</strong>t. Am 23.<br />
Januar 1939 war Bundesrat Motta gestorben, <strong>der</strong> zwischen dem ersten und dem<br />
zweiten <strong>Weltkrieg</strong> die Aussenpolitik <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> geleitet hatte und grosses<br />
internationales Ansehen genoss. Sein Nachfolger wurde <strong>der</strong> Waadtlän<strong>der</strong> Pilet-<br />
Golaz, <strong>der</strong> vom Post- und Eisenbahndepartement auf das Politische<br />
Departement hinüberwechselte. Am 21. Juni 1940 trat ferner Bundesrat<br />
Obrecht wegen schwerer Krankheit von seinem Amte zurück. An seine Stelle<br />
wählte die Bundesversammlung am 18. Juli den freisinnigen solothurnischen<br />
Wirtschaftsmann Walther Stampfli. Im November 1940 gaben endlich die<br />
Bundesräte Minger und Baumann ihren Rücktritt bekannt. Die<br />
Bundesversammlung ersetzte sie am 10. Dezember 1940 durch Dr. Karl Kobelt<br />
von St. Gallen, <strong>der</strong> das Militärdepartement übernahm, und den bernischen<br />
Regierungsrat Eduard von Steiger, <strong>der</strong> Chef des Justiz- und<br />
Polizeidepartements wurde. Innerhalb<br />
S. 74: Jahresfrist hatte also, in schwierigster Zeit, <strong>der</strong> Bundesrat als Körperschaft sich<br />
wesentlich verän<strong>der</strong>t.<br />
Nun aber zurück zur politischen Krise. Sie wurde ausgelöst durch die Affäre<br />
<strong>der</strong> Audienz von nationalsozialistisch eingestellten <strong>Schweiz</strong>ern bei<br />
Bundespräsident Pilet. Drei «Führer» <strong>der</strong> NBS (Nationale Bewegung <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>), von denen <strong>der</strong> eine, <strong>der</strong> Ingenieur Max Leo Keller, einige Jahre<br />
später wegen
- 51 -<br />
landesverräterischer Umtriebe <strong>im</strong> Zuchthaus landete, ferner <strong>der</strong> Schriftsteller<br />
Jakob Schaffner und <strong>der</strong> Führer einer Gruppe, die sich ESAP nannte<br />
(Eidgenössische Sozialistische Arbeiterpartei), wurden vom Bundespräsidenten<br />
empfangen, um ihm ihre Wünsche zu unterbreiten. Die drei veröffentlichten<br />
über den Empfang ein Communique, in dem es u.a. hiess: «Die Vertreter <strong>der</strong><br />
NBS unterrichteten den Bundespräsidenten über <strong>der</strong>en politische Zielgebung<br />
als <strong>der</strong> Trägerin des neuen politischen und sozialen Gedankens. Die<br />
Unterredung, welche 1½ Stunden dauerte, stellt den ersten Schritt zur<br />
Befriedung <strong>der</strong> politischen Verhältnisse <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> dar.»<br />
Was Wun<strong>der</strong>, dass dieses in anmassendem Tone gehaltene Communique,<br />
dessen Verfasser kaum bekannt waren, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> das<br />
grösste Aufsehen erregte? Es fiel in den Augenblick breiter propagandistischer<br />
Entfaltung des Nationalsozialismus, da die Luftschlacht um England auf dem<br />
Höhepunkt stand und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standswille <strong>im</strong> breiten Volk die schwersten<br />
Proben durchmachte. Zwar erklärte <strong>der</strong> Bundesrat einige Tage nach dem<br />
Empfang, am 12. September, die Pressemitteilung <strong>der</strong> NBS sei irreführend.<br />
Allein es blieb ein Missbehagen, Zweifeln und Unsicherheit. Schon die<br />
Tatsache, dass drei Vertreter von politischen Bewegungen, die das Volk als<br />
landesverräterisch einschätzte, vom Bundespräsi-<br />
S. 75: denten empfangen worden waren, erschien <strong>der</strong> durchschnittlichen<br />
Volksmeinung unbegreiflich. Die Angelegenheit warf hohe Wellen. Sie wurde<br />
in den parlamentarischen Kommissionen diskutiert und bot am 18. September<br />
Anlass zu einer gründlichen Debatte <strong>im</strong> Nationalrat. Die Fraktionen stellten<br />
dabei fest, dass die Affäre das Volk beunruhigt hatte. Im übrigen einigte man<br />
sich aber zwischen Bundesrat und Parlament über die Grundlinien <strong>der</strong><br />
schweizerischen Aussenpolitik. Es ist nie völlig abgeklärt worden, wie viel<br />
o<strong>der</strong> wie wenig in jener Aussprache (zu <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bundespräsident keine Zeugen<br />
bestellt hatte) geredet worden ist. Im Urteil des Volkes ist sie Bundesrat Pilet<br />
nie verziehen worden. Nicht das, was gesprochen worden war, war letzten<br />
Endes das Wesentliche. Viel gefährlicher war die Kluft, die sich jetzt mit<br />
einem Mal zwischen Volk und Bundesrat aufzureissen drohte. Noch stand man<br />
in <strong>der</strong> Periode wil<strong>der</strong> Gerüchtebildung drin. Unter solchen Umständen konnte<br />
ein verfehlter Schritt eines einzelnen Magistraten unerwartete Folgen haben.<br />
Die Verantwortlichen aller Gruppen und Parteien erkannten,
- 52 -<br />
dass es jetzt darum ging, nicht nur den militärischen, son<strong>der</strong>n auch den<br />
geistigen Wi<strong>der</strong>stand zielbewusst auszubauen.<br />
Der Kampf um den geistigen Wi<strong>der</strong>stand verband sich mit dem Kampf um die<br />
Pressefreiheit, er wurde zugleich zu einem Suchen nach neuen Methoden <strong>der</strong><br />
Aufklärung. Abermals müssen wir uns in die Atmosphäre <strong>der</strong> Zeit versetzen.<br />
Die Affäre des Empfanges be<strong>im</strong> Bundespräsidenten hatte bewiesen, dass <strong>der</strong><br />
Bundesrat <strong>der</strong> lebendigen Verbindung mit dem Volk bedurfte, wenn er seine<br />
Massnahmen verständlich machen wollte. Sie hatte überdies bewiesen, dass die<br />
öffentliche Diskussion heikler Fragen in einem Zustand, da überall «<strong>der</strong> Feind»<br />
mithorchte und<br />
S. 76: Misstrauen und Unsicherheit auszustreuen trachtete, nicht ungehemmt treiben<br />
gelassen werden durfte. Dringlicher als je musste das Volk unterrichtet werden,<br />
aber vorsichtiger als je musste die Auswahl dessen getroffen sein, was gesagt<br />
werden konnte. So gerieten Wahrheit und Klugheit einan<strong>der</strong> ins Gehege. Wenn<br />
die Zeitungstexte sich nur mehr aus amtlichen Mitteilungen und Ermahnungen<br />
zusammensetzten, war die Gefahr gross, dass sie vom Volk nicht mehr gelesen<br />
und mit Misstrauen verfolgt würden. In diesem heiklen Moment begann die<br />
Sektion «Heer und Haus» <strong>im</strong> Armeestab ihre bedeutsame Tätigkeit.<br />
«Heer und Haus» bestand bereits seit dem November 1939. Als <strong>im</strong> Winter des<br />
«drôle de guerre» <strong>der</strong> Aktivdienst sich auf unbegrenzte Dauer in den Winter<br />
hineinzog, entstand <strong>der</strong> Gedanke, eine Organisation zu schaffen, die <strong>der</strong> Truppe<br />
anregende und unterhaltende Stoffe vermitteln würde. Auch auf diesem Gebiet<br />
hatte man nämlich aus den unbefriedigenden Verhältnissen des ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong>es gelernt. Die Sektion «Heer und Haus» knüpfte an die Pionierarbeit<br />
<strong>der</strong> Landesausstellung in bezug auf die Darstellung des schweizerischen<br />
Wesens an, sie entwickelte die «Höhenstrasse» weiter. Jetzt, <strong>im</strong> Herbst 1940,<br />
setzte sie ihr Werk mit einer neuen Methode fort. «Heer und Haus»<br />
veranstaltete Referenten und Informationskurse, zu denen aufrechte Männer<br />
aus allen Parteien, aus allen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen des Volkes<br />
als Redner herangezogen wurden. In diesen Kursen und ihren, ebenfalls aus<br />
allen Volksschichten entnommenen Hörern, wurde den Teilnehmern die ganze<br />
Wahrheit über die militärische, wirtschaftliche und politische Lage gesagt. Sie<br />
konnten Fragen stellen und erhielten Antwort. Die Probleme wurden mit ihnen<br />
durchgesprochen, sie selbst
- 53 -<br />
S. 77: darin geschult, Zusammenhänge zu erkennen, und zu unterscheiden zwischen<br />
Schein und Wirklichkeit.<br />
Das Hauptverdienst am Aufbau dieser bedeutenden Aufklärungsarbeit kommt<br />
dem kurz vor Kriegsende verstorbenen ehemaligen Kommandanten des Basler<br />
Reg<strong>im</strong>entes Oberst Oskar Frey zu. Unter seiner Leitung wurde «Heer und<br />
Haus» zu einer geistigen Zellenorganisation, die unermüdlich und zielbewusst<br />
<strong>der</strong> nationalsozialistischen Infiltration entgegenarbeitete, Tausende von<br />
<strong>Schweiz</strong>ern aller Klassen in dem bestärkte, was das <strong>Schweiz</strong>ertum war und<br />
sein wollte, und die dabei, nach aussen kaum sichtbar, ihr grosses Werk<br />
vollbrachte. «Heer und Haus» war nicht abhängig von <strong>der</strong> Regierung, aber es<br />
unterstützte sie, ohne plumpe Propaganda zu betreiben, es war nicht «die<br />
Armee», aber von ihrem Geist <strong>der</strong> Kameradschaft und des Wi<strong>der</strong>standswillens<br />
erfüllt.<br />
Wenden wir uns jetzt wie<strong>der</strong> dem Gang <strong>der</strong> Dinge zu. Wir haben gesehen, dass<br />
<strong>der</strong> General die Frage des militärischen Wi<strong>der</strong>standes durch die Alpen-<br />
Zentralstellung, das Réduit, löste. Wir sahen weiter, dass es die Aufgabe <strong>der</strong><br />
politischen Behörden blieb, das Land trotz <strong>der</strong> neuen Lage in Europa<br />
unabhängig zu erhalten und <strong>im</strong> Innern für Ordnung, Arbeit und gerechten<br />
Ausgleich zu sorgen, und endlich sahen wir, wie es auf geistig-politischem<br />
Gebiet galt, dem Kleinmut entgegenzuwirken und das Volk bei kühlem Kopf<br />
zu halten, angesichts <strong>der</strong> deutschen «sch<strong>im</strong>mernden Wehr» und <strong>der</strong><br />
nationalsozialistischen Propaganda vom «neuen Europa».<br />
Überblicken wir die Massnahmen, die zwischen <strong>der</strong> französischen Kapitulation<br />
und dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges ergriffen worden sind, so<br />
spiegeln sie die Sorge um das Durchhalten wie<strong>der</strong>. Der neue Chef des<br />
S. 78: Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements, <strong>der</strong> energische, unabhängige<br />
Bundesrat Stampfli, sah sich vor einen förmlichen Berg dringlichster Probleme<br />
gestellt. Zweierlei wollte getan sein: Rohstoffe mussten hereingebracht werden,<br />
damit die Fabriken arbeiten konnten, und die Ernährung musste sichergestellt<br />
bleiben. In beiden Fällen, sowohl was die Versorgung mit Rohstoffen, wie was<br />
die Versorgung mit Lebensmitteln anbetraf, war die <strong>Schweiz</strong> vom Ausland<br />
abhängig. Es gab keine Möglichkeit, eine sich selbstgenügende schweizerische<br />
Wirtschaft aufzubauen. Diese Abhängigkeit vom Ausland schloss indessen die<br />
Gefahr in sich, dass sie von den Achsenmächten,
- 54 -<br />
die jetzt (bis auf eine winzige Lücke bei Genf) die <strong>Schweiz</strong> mit einem eisernen<br />
Gürtel umgaben, ausgenützt wurde, um ungebührliche Zugeständnisse von uns<br />
zu for<strong>der</strong>n. Von vornherein war eines klar: Wir konnten uns unmöglich darauf<br />
versteifen, jeden Handel mit <strong>der</strong> Achse abzulehnen. Wir mussten mit<br />
Deutschen und Italienern die wirtschaftlichen Beziehungen weiter pflegen. Wir<br />
mussten aber' auch und das war keineswegs einfach! - die Gegenseite von<br />
diesem unumgänglichen Zwang überzeugen. Die leitenden Stellen <strong>der</strong><br />
kriegswirtschaftlichen Organisation hatten demnach zu planen, was für<br />
Rohstoffe unsere Industrie in erster, zweiter und dritter Dringlichkeit brauchte,<br />
was für Fertigfabrikate, um die Rohstoffe zu bekommen, wir anbieten durften,<br />
ohne die militärischen Rüstungen <strong>der</strong> Achse zu begünstigen.<br />
Die ersten kriegswirtschaftlichen Massnahmen nach <strong>der</strong> Kapitulation<br />
Frankreichs verordneten die Bezugssperre für Güter <strong>der</strong> Ernährung und auf<br />
dem Gebiet wichtiger industrieller Rohstoffe. Der Verbrauch von Brennstoffen<br />
und Fetten wurde <strong>der</strong> Kontrolle durch den Bund unter<br />
S. 79: stellt. Dann aber wurde vor allem die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln<br />
und Rohstoffen neu überprüft und neu organisiert. Jedes kleinste Vorkommen<br />
von Kohle und Eisen wurde untersucht. Wissenschaft und Praktiker <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft entwarfen einen Anbauplan, <strong>der</strong> unter dem Namen seines<br />
Hauptschöpfers, Professor Wahlens, in die <strong>Geschichte</strong> eingegangen ist. Er sah<br />
systematisch sich folgende Anbauetappen vor, mit denen schliesslich eine<br />
halbe Million Hektar offenes Ackerland gewonnen und dem Mehranbau zur<br />
Verfügung gestellt werden konnten. Je<strong>der</strong> kleinste Fleck Land, jede öffentliche<br />
Anlage, verbesserungswürdige Moore usw. wurden in das Programm<br />
einbezogen. Alle Familien und die privaten und öffentlichen Betriebe wurden<br />
angehalten, anzupflanzen und zur Selbstversorgung mit beizutragen. Dabei<br />
machten es zugleich die vorgesehenen Meliorationen von bisher nicht<br />
genutztem Land möglich, Arbeit zu beschaffen. So ergab sich ein<br />
wohldurchdachtes System <strong>der</strong> Zusammenarbeit von Mehranbau, Verteilung <strong>der</strong><br />
Güter und Arbeitsbeschaffung. Es entstand eine Übersicht über das, was wir<br />
liefern konnten, was wir <strong>im</strong> äussersten Notfall bedurften, und was wir in jedem<br />
Fall von aussen her einzuführen hatten. Schiffe wurden <strong>im</strong> Ausland gechartert,<br />
um mit <strong>der</strong> eigenen <strong>Schweiz</strong>er Flotte die Schwierigkeiten des Seekriegs zu<br />
überwinden. Bauersame, Industrie und Gewerbe unterwarfen sich einer<br />
strengen Arbeitsdisziplin,
- 55 -<br />
bei <strong>der</strong> es Aufgabe <strong>der</strong> militärischen Stellen blieb, durch sinnvolle Gestaltung<br />
des Urlaubswesens in <strong>der</strong> Armee <strong>der</strong> Wirtschaft genügend Arbeitskräfte zur<br />
Verfügung zu halten.<br />
Die Idee des Wahlenplanes, zusammen mit <strong>der</strong> kriegswirtschaftlichen<br />
Milizpflicht, dürften entscheidend mitgeholfen haben, noch 1940 die innere<br />
Zuversicht <strong>im</strong> Volk<br />
S. 80: zu stärken. Der Mehranbau beson<strong>der</strong>s stellte dem Volk eine grosse, nur mit<br />
zähem Fleiss zu lösende Aufgabe. Er verband es spürbar mit dem harten Geist<br />
<strong>der</strong> Zeit und <strong>der</strong> Tatsache, dass es um die Existenz des Landes ging. Er<br />
verlangte Opfer und fand deshalb Begeisterung.<br />
Auf industriellem Gebiet waren die Kohle und die flüssigen Brennstoffe die<br />
grossen Mangelposten. Aufträge gab es jetzt genug, denn die Réduitstellung<br />
konnte nur durch enormes Bauprogramm verwirklicht werden, dieses nahm<br />
alle wirtschaftlichen Kräfte in Anspruch. Das Réduit brauchte Zement und<br />
Eisen, und beide erfor<strong>der</strong>ten Kohle. Eisen brauchte aber auch Adolf Hitler. Da<br />
die <strong>Schweiz</strong> mit den Fricktalerzen, die kurz vor Kriegsausbruch entdeckt<br />
worden waren, über bedeutende Eisenvorkommnisse verfügte, die sie nicht<br />
verhütten konnte, gelang es, diese den Deutschen gegen Kohle abzutauschen.<br />
Kohle brauchten wir für die Zementfabriken und Zement zum Bau neuer<br />
Festungen, die wie<strong>der</strong> gegen Hitlers Armeen errichtet werden mussten. Das<br />
war die harte Wirklichkeit. Sie ersparte dem Land die Arbeitslosigkeit, die <strong>im</strong><br />
Zeichen <strong>der</strong> siegesbewussten nationalsozialistischen Propaganda sich zur<br />
gefährlichen inneren Belastungsprobe ausgewachsen hätte. Sie gab uns auch<br />
Material, uns militärisch stark zu machen. Jetzt stieg das Selbstvertrauen des<br />
Volkes, es erkannte, dass dem schweizerischen freiheitlichen Volksstaat die<br />
Fähigkeit durchaus gegeben war, die Schwierigkeiten einer feindlichen Zeit zu<br />
meistern. Indessen: Die ununterbrochene und gesteigerte Wehrbereitschaft, <strong>der</strong><br />
Ausbau <strong>der</strong> Réduitstellung, <strong>der</strong> Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und <strong>der</strong><br />
Mehranbau verlangten Geld und nochmals Geld. Die grosse Frage erhob sich,<br />
ob ein Staat von schweizerischer Kleinheit und ein Land von<br />
S. 81: schweizerischer Armut je <strong>im</strong>stande wären, aus eigener Kraft die Finanzen<br />
aufzubringen, die ein Durchhalteplan <strong>im</strong> Krieg verschlingen würde.<br />
Tatsächlich gelang es, dieses Geld zu finden.
- 56 -<br />
Man hat das das eidgenössische Finanzwun<strong>der</strong> genannt. Noch <strong>im</strong> ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> hätte so etwas für unmöglich gegolten. Damals hatte die<br />
Eidgenossenschaft teures Geld in den Vereinigten Staaten aufgenommen.<br />
Diesmal hatte schon <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong> Wehranleihe vor dem Krieg bewiesen, dass<br />
<strong>der</strong> Bund <strong>im</strong> Inland reichlich Geld zur Verfügung erhielt. Damit stiegen<br />
indessen die Schulden. Sie stellten sich dar als Verpflichtung <strong>der</strong><br />
Eidgenossenschaft gegenüber dem eigenen Volk. Auf diese Weise wurde sich<br />
das Volk erst recht bewusst, wie eng es zusammengeschweisst worden war.<br />
Jedenfalls aber: Es mussten neue Mittel her. Im Juli 1940 beschloss <strong>der</strong><br />
Bundesrat, ein allgemeines Wehropfer vom Vermögen zu erheben. Im<br />
Dezember des gleichen Jahres wurden die Wehrsteuer als direkte Bundessteuer<br />
und <strong>im</strong> Juli 1941 die Warenumsatzsteuer als indirekte Abgabe eingeführt. Die<br />
ordentlichen Ausgaben <strong>der</strong> Eidgenossenschaft hatten auf Ende 1940 den Betrag<br />
von über einer halben Milliarde erreicht. 1942 betrug das Defizit <strong>der</strong><br />
ordentlichen Rechnung fast 64 Millionen Franken, während <strong>der</strong> Fehlbetrag <strong>der</strong><br />
ausserordentlichen Rechnung auf 700 Millionen Franken gestiegen war.<br />
Vom Herbst 1940 an mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die<br />
nationalsozialistische Propaganda ihre Anstrengungen verdoppelte, und die<br />
deutsche Heeresleitung die Spionage gegen die <strong>Schweiz</strong> eingehend betrieb. Am<br />
25. Oktober unternahm die Bundespolizei eine erste grössere Razzia gegen<br />
sogenannte «Erneuerer». Im November 1940 ermächtigte <strong>der</strong> Bundesrat das<br />
Eidgenössische Justiz- und<br />
S. 82: Polizeidepartement, Strafklage gegen zwei schweizerische Nationalsozialisten,<br />
Leonhard und Burri, samt 30 Komplizen zu erheben. Es begann die Abwehr<br />
gegen jene Landesverräter, die zuerst in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, nachher von Deutschland<br />
aus, die Unabhängigkeit des Landes bedrohten, und die sich schliesslich zu<br />
Handlungen hinreissen liessen, die mit <strong>der</strong> Todesstrafe geahndet werden<br />
mussten. Bald nachdem die Strafklage gegen Leonhard und Burri erhoben<br />
worden war, wurde die NBS verboten. Anschliessend daran verbot <strong>der</strong><br />
Bundesrat auch die kommunistische Bewegung, die <strong>im</strong> Zeichen <strong>der</strong> deutschrussischen<br />
Freundschaft als beson<strong>der</strong>s verdächtig gelten musste. Einen neuen<br />
Höhepunkt erreichten die nationalsozialistischen landesverräterischen<br />
Umtriebe <strong>im</strong> Frühsommer 1941. Am 10. Juni dieses Jahres wurden bei einer<br />
Aktion <strong>der</strong> Bundespolizei über 100 Personen verhaftet.
- 57 -<br />
Es handelte sich bei diesen Elementen um Entwurzelte und Gestrandete, auf<br />
keinen Fall um typische Repräsentanten des Volkes. Von aussen her betrachtet,<br />
handelte es sich darüber hinaus um den Versuch, nationalsozialistische Zellen<br />
<strong>im</strong> schweizerischen Volkskörper zu bilden und ideologische Vorkämpfer zu<br />
werben. Unabhängig von <strong>der</strong> Bundespolizei hatte <strong>der</strong> General schon <strong>im</strong><br />
Sommer 1940 eine Untersuchung gegen Offiziere durchführen lassen, die<br />
nationalsozialistischer Gesinnung verdächtigt worden waren. Von 124<br />
Offizieren, die von <strong>der</strong> Untersuchung betroffen wurden, mussten 7 Fälle weiter<br />
verfolgt werden. Auch da ergab sich das gleiche: Die Zahl jener, die ihren<br />
politischen Kompass verloren hatten, war klein, die landesverräterische und<br />
ideologisch verblendete Gesinnung einzelner war, neben <strong>der</strong> eindeutigen<br />
Haltung <strong>der</strong> Mehrheit des Volkes, keine wesentliche Erscheinung.<br />
Die Höhe des Truppenaufgebotes sank <strong>im</strong> Sommer 1940<br />
S. 83: auf rund 150'000 Mann herab, und sie blieb bis zum Sommer 1941 ungefähr<br />
auf dieser Zahl bestehen. Welches waren in <strong>der</strong> Zeit zwischen dem Ende des<br />
Krieges mit Frankreich und dem Ausbruch des deutsch-russischen Krieges die<br />
Aufgaben <strong>der</strong> Armee? Es zeichneten sich vier Hauptpflichten ab. Strategisch<br />
betrachtet war die <strong>Schweiz</strong> bald wie<strong>der</strong> bedeutsam geworden, weil sich zwei<br />
grosse Nord-Süd-Verbindungen, die Lötschberg-S<strong>im</strong>plon- und die <strong>der</strong><br />
Gotthardlinie innerhalb ihrer Grenzen befanden. Die Deutschen verfügten für<br />
ihre Verbindung mit dem italienischen Partner nur über den Brenner. Je nach<br />
den deutschen militärischen Plänen konnte die Gefahr entstehen, dass diese<br />
versuchen würden, sich durch Überfall die beiden Linien zu sichern. Auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>n Seite konnte bei den Alliierten die Versuchung aufkommen, mit<br />
Sabotageaktionen gegen S<strong>im</strong>plon und Gotthard den wirtschaftlichen<br />
Durchgangsverkehr von Deutschland nach Italien und umgekehrt - den<br />
zuzulassen <strong>der</strong> neutralen <strong>Schweiz</strong> völkerrechtlich erlaubt war - zu stören. So<br />
verlangte unsere militärische Bereitschaft jenen Grad, <strong>der</strong> es möglich machte,<br />
beidem zu begegnen.<br />
Hitlers Gegner gaben uns insofern aktiver zu schaffen, als vom Spätsommer<br />
1940 an die Englän<strong>der</strong> in wachsendem Umfang die <strong>Schweiz</strong> überflogen. Sie<br />
wählten diesen kürzesten Weg nach Italien und nach Nordafrika. Alle<br />
diplomatischen Demarchen des Bundesrates blieben erfolglos. Nun rückten die<br />
Deutschen und Italiener mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung heraus,
- 58 -<br />
die <strong>Schweiz</strong> müsse ihr Gebiet nachts verdunkeln, denn sie diene mit ihren<br />
Lichtern den Briten als Wegweiser, und dies sei unneutral. Am 6. November<br />
1940 verfügte <strong>der</strong> General hierauf die Verdunkelung. Aber die Englän<strong>der</strong><br />
fuhren fort, über die <strong>Schweiz</strong> hinwegzuflie-<br />
S. 84: gen. Im Vorwinter 1940 wurden gar Bomben auf Basel und Umgebung und <strong>im</strong><br />
Dezember auf Zürich abgeworfen. Da setzte <strong>der</strong> General die<br />
Fliegerabwehrkanonen ein.<br />
Die dritte, wichtige Aufgabe <strong>der</strong> Armee in jenem Herbst und Winter war die<br />
Bewachung <strong>der</strong> französischen und polnischen Internierten, sie brachte einen<br />
ganzen Verwaltungsapparat. Im Januar kehrten die französischen Internierten<br />
nach Frankreich zurück, während die Polen <strong>im</strong> Lande blieben. über allem<br />
endlich stand die wichtigste Aufgabe <strong>der</strong> Armee: sie übte sich <strong>im</strong> neuen<br />
Kampfverfahren, pflegte den Nahkampf, den Kampf mit Sprengmitteln und<br />
machte sich vertraut mit <strong>der</strong> Verteidigung des Alpenzentralraumes.<br />
Ende September 1940 stand fest, dass die Deutschen die Luftschlacht um<br />
England verloren hatten. Der Winter würde kaum mehr grössere Aktionen<br />
bringen, wohl aber fieberhaftes Rüsten. Plante Hitler einen Schlag zu Wasser<br />
und in <strong>der</strong> Luft gegen England? Hatte er an<strong>der</strong>e Eroberungspläne? War in<br />
diesem Fall seiner Sowjetfreundschaft zu trauen? Alle diese Möglichkeiten<br />
standen offen. Die Eidgenossen, die ihre innere Sicherheit wie<strong>der</strong> gewonnen<br />
hatten, wagten es bereits wie<strong>der</strong>, unzeitgemäss zu sein. Am 1. Dezember 1940<br />
verwarfen sie ein Bundesgesetz, das den militärischen Vorunterricht<br />
obligatorisch erklären wollte. Jawohl, sagte sich <strong>der</strong> Mann aus dem Volk, man<br />
war bereit, zu seinem Land zu stehen, man war wehrhaft, und es gab we<strong>der</strong><br />
Ant<strong>im</strong>ilitaristen noch Dienstverweigerer, aber trotzdem wollte dieser Mann aus<br />
dem Volk keinen überbetonten Militärgeist. Er wollte die <strong>Schweiz</strong> verteidigen,<br />
so wie sie war. Er hatte begreifen gelernt, dass am besten zu wi<strong>der</strong>stehen war,<br />
wenn die Freiheit gegenständlich, praktisch und spürbar blieb!
- 59 -<br />
S. 85:<br />
4. KAPITEL<br />
Durchhalten bis zum Frieden<br />
Der kriegserfüllte Frühling 1941 - Wie<strong>der</strong> Pressekrieg mit Deutschland -<br />
Deutscher Überfall auf Russland - Neue Lage für die <strong>Schweiz</strong> - Landesverräter<br />
werden erschossen - Die Flüchtlingsfrage - El Alamein und Stalingrad - Die<br />
schweizerische Nord-Süd-Verbindung und die «Aktion <strong>Schweiz</strong>» - Kein Asyl<br />
für Kriegsverbrecher - Schwere Versorgungsprobleme - Wirtschaftsabkommen<br />
mit den Alliierten - Bombardierungen - Die letzte Kriegsphase - Keine<br />
Generalmobilmachung - Wie<strong>der</strong> Kämpfe an <strong>der</strong> Westgrenze -<br />
Kriegsendprobleme - Die Sowjetunion lehnt Beziehungen ab - Die<br />
Curriemission - Übergang zum Frieden - Schlussbetrachtungen<br />
S. 87: Das Jahr 1941 brachte jenes Ereignis, aus dem schliesslich die Wende <strong>im</strong><br />
zweiten <strong>Weltkrieg</strong> hervorgegangen ist, den überfall <strong>der</strong> Deutschen auf die<br />
Sowjetunion. Dem überfall ging ein unruhiges, mit Kriegslärm erfülltes<br />
Frühjahr voraus, wobei die <strong>Schweiz</strong> <strong>der</strong> Gefahrenzone wie<strong>der</strong> näher kam. Im<br />
Februar 1941 begann die Offensive <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> gegen die Italiener in<br />
Abessinien, Somaliland und Eritrea. Sie hatte Erfolg. überdies kämpften die<br />
Italiener in Griechenland, das sie in ihrem Wahn, die Nachfahren <strong>der</strong> alten<br />
Römer sein zu wollen, <strong>im</strong> Oktober 1940 überfallen hatten, schlecht. Der<br />
britische Erfolg und die Misserfolge des italienischen Bundesgenossen<br />
zwangen die Deutschen, sich den Dingen in Südosteuropa und dem Balkan<br />
zuzuwenden. Dahinter stand natürlich bereits die Absicht, Russland zu<br />
überfallen, wozu Voraussetzung war, des Balkans sicher zu sein.<br />
So folgten sich die Ereignisse abermals Schlag auf Schlag. Im März 1941<br />
besetzten die Deutschen Bulgarien, ohne Wi<strong>der</strong>stand zu finden. Nun begann<br />
ihre politische Tätigkeit gegen Ungarn und Südslawien. In Ungarn nahm sich<br />
Ministerpräsident Teleki das Leben, als er sah, dass sein Land den Deutschen<br />
verfallen werde. In Jugoslawien unternahmen in letzter Stunde Offiziere einen<br />
Staatsstreich gegen den Prinzregenten Paul, <strong>der</strong> das Land <strong>der</strong> Achse<br />
ausgeliefert hatte. Hitler antwortete darauf mit dem Einmarsch seiner Armeen,<br />
diese warfen in wenigen Wochen das Land nie<strong>der</strong>. Darauf eilten die Deutschen<br />
den Italienern in Griechenland zu Hilfe und erzwangen Ende April
- 60 -<br />
S. 88: 1941 dessen Kapitulation. Gleichzeitig besiegte das Afrikakorps des Generals<br />
Rommel die Briten in Nordafrika und warf sie bis an die ägyptische Grenze<br />
zurück. Zum vierten Male seit dem Kriegsausbruch schienen die deutschen<br />
Waffen zu beweisen, sie seien unwi<strong>der</strong>stehlich.<br />
Noch ist nicht abgeklärt, ob <strong>der</strong> deutsche Balkanfeldzug vom Frühjahr 1941<br />
nicht eine grosse Improvisation gewesen ist, Hitler durch die Entwicklung<br />
aufgezwungen, während er gehofft hatte, sich in dieser Ecke Europas ohne<br />
Kampf durchsetzen zu können und so Zeit zu gewinnen für den gegen<br />
Russland beschlossenen Krieg. Jedenfalls zeichnete sich <strong>im</strong> Frühjahr 1941 eine<br />
vermehrte deutsche Reizbarkeit und Nervosität ab, die wir in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
deutlich zu spüren bekamen. Als ein paar schweizerische Zeitungen sich<br />
bewun<strong>der</strong>nd und zust<strong>im</strong>mend zum jugoslawischen Offiziersputsch und zum<br />
serbischen Wi<strong>der</strong>standswillen äusserten, reagierte das deutsche Auswärtige<br />
Amt ungewöhnlich scharf. Die <strong>Schweiz</strong>er Presse wurde an <strong>der</strong> Berliner<br />
Pressekonferenz gehörig abgekanzelt, und auf offiziellen wie inoffiziellen<br />
Wegen wurde dem Bundesrat von Berlin aus bedeutet, er könne sich eines<br />
Tages bei «seinen Zeitungen» bedanken, wenn Hitler aus Wut über <strong>der</strong>en<br />
Schreibweise den Krieg gegen die <strong>Schweiz</strong> befehlen sollte.<br />
Die deutschen Angriffe auf die <strong>Schweiz</strong>er Presse hatten zur Folge, dass die<br />
Frage bei uns aufs neue diskutiert wurde, wie sich die Presse angesichts <strong>der</strong><br />
deutschen Macht zu verhalten habe. Natürlich bestand eine gewisse Kontrolle:<br />
Die Zeitungsredaktionen mussten sich an best<strong>im</strong>mte Verhaltungsmassregeln<br />
halten. Kümmerte sich ein Blatt nicht um sie, so konnten Massnahmen gegen<br />
es ergriffen werden, die von <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holten Verwarnung bis zum<br />
S. 89: Verbot reichten. Es gab indessen eine Gruppe von <strong>Schweiz</strong>ern, denen diese<br />
Regelung viel zu wenig weit ging. Es gelang massgebenden deutschen Stellen,<br />
auf einige führende Köpfe dieser Gruppe Einfluss zu bekommen. Es entstand<br />
aus dieser vielfach verflochtenen Inspiration jene Eingabe an den Bundesrat,<br />
die später als «Eingabe <strong>der</strong> Zweihun<strong>der</strong>t» bekannt geworden ist und in <strong>der</strong><br />
unmittelbaren Nachkriegszeit eine Rolle gespielt hat. In dieser Eingabe war,<br />
zuerst <strong>im</strong> Winter 1940 auf 1941 und nochmals während den<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen be<strong>im</strong> deutschen Einmarsch in Jugoslawien u.a. verlangt<br />
worden, führende Zeitungsredaktoren grosser <strong>Schweiz</strong>er Blätter abzusetzen<br />
und das Pressereg<strong>im</strong>e wesentlich zu verschärfen.
- 61 -<br />
Der Bundesrat lehnte diese von rund 200 St<strong>im</strong>mberechtigten unterzeichnete<br />
Eingabe ab. Sie geriet erst nach dem deutschen Zusammenbruch in die<br />
allgemeine öffentliche Diskussion, als leidenschaftlich über die<br />
nationalsozialistischen Einflussversuche <strong>der</strong> Kriegszeit diskutiert wurde. Die<br />
Eingabe <strong>der</strong> Zweihun<strong>der</strong>t - von <strong>der</strong> später Alt-Chefredaktor Dr. Schürch<br />
schrieb, sie sei an und für sich nicht unrecht gewesen, habe aber Unrechtes<br />
verlangt - war bezeichnend für die innere Auseinan<strong>der</strong>setzung über das Mass<br />
dessen, was an Konzessionen möglich war, ohne dass die Würde des Landes<br />
verletzt wurde, und ohne dass wir mit solchen Konzessionen einem raffinierten<br />
System <strong>der</strong> Zersetzung von innen her einen kleinen Zipfel boten, den es<br />
ergreifen und mit dem es schliesslich das Ganze packen konnte.<br />
Der Krieg <strong>im</strong> Balkan verschlechterte die Versorgungslage <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> spürbar.<br />
Südosteuropa war für uns ein wichtiges Tauschgebiet gewesen. Wir bezogen<br />
von dorther Schlachtvieh, Futtermittel und Getreide. Jetzt hatten die Deutschen<br />
darauf gegriffen. Freilich bestand seit Ende<br />
S. 90: Februar ein umfangreiches Handelsabkommen zwischen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> und <strong>der</strong><br />
Sowjetunion. Es blieb aber wegen <strong>der</strong> Transportschwierigkeiten auf dem<br />
Papier. Daher mussten jetzt weitere Lebensmittel in die Rationierung<br />
einbezogen werden, <strong>im</strong> Mai 1941 wurden zwei fleischlose Tage in <strong>der</strong> Woche<br />
verfügt. Im November kam ein dritter dazu. Gleichlaufend mit <strong>der</strong> schärferen<br />
Rationierung wurden die Strafen gegen kriegswirtschaftliche Sün<strong>der</strong><br />
verschärft. Wirtschaftlich begann <strong>der</strong> Krieg jetzt für uns empfindlich zu<br />
werden. Indessen: <strong>der</strong> Krieg <strong>im</strong> Südosten und <strong>im</strong> Balkan war nur Vorspiel. Der<br />
Hauptschlag folgte erst noch: In <strong>der</strong> Nacht vom 21. auf den 22. Juni<br />
überschritten Hitlers Truppen die deutsch-russische Grenze. Der «Führer» hatte<br />
seinen fünften überfall befohlen. Er wollte Napoleon verbessern. Alles<br />
Entgegenkommen hatte Stalin nichts gefruchtet. Die furchtbare deutsche<br />
Kriegsmaschine wandte sich jetzt gegen das russische Volk. Hitler hatte sich<br />
aber einen Gegner ausgelesen, <strong>der</strong> das gesamte deutsche Kriegspotential in<br />
Anspruch nahm, er lief in einen Raum hinein, dessen unhe<strong>im</strong>liche und<br />
verhängnisvolle Weite sich ihm noch bald genug offenbarte. Die Wendung<br />
zum eigentlichen <strong>Weltkrieg</strong> war eingetreten. Sie brachte für die <strong>Schweiz</strong> neue<br />
politische und wirtschaftliche Probleme, aber zugleich entspannte sie die<br />
militärische Lage.
- 62 -<br />
Verfolgen wir den Gang <strong>der</strong> äussern Ereignisse bis Ende 1941. Der deutsche<br />
Feldzug gegen Russland wickelte sich zunächst mit jener Präzision ab, die man<br />
bereits gewohnt war: Die Russen wurden geschlagen und wichen in die<br />
Unendlichkeit ihres Raumes aus. Die deutschen Heere gelangten bis hart an<br />
Moskau heran. Dort kam ihr Angriff zum Stehen, <strong>der</strong> russische Winter breitete<br />
sich über die<br />
S. 91: Eindringlinge aus. Die gewaltigen deutschen Anfangserfolge hatten indessen<br />
vermocht, in Japan die Kriegspartei an die Macht zu bringen. Wenn die Welt<br />
neu verteilt werden sollte, so wollten die japanischen Nationalisten mit von <strong>der</strong><br />
Partie sein. Sie kopierten die deutschen Methoden bis ins letzte: Am 7.<br />
Dezember 1941 überfielen sie den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl<br />
Harbour auf den Hawaiinseln. Damit zwangen sie den Vereinigten Staaten den<br />
Krieg auf, den das amerikanische Volk zu vermeiden versucht hatte. Hitler<br />
musste den japanischen überfall mit <strong>der</strong> Kriegserklärung an Amerika<br />
quittieren. Je<strong>der</strong>mann, <strong>der</strong> die Ereignisse mit wachem Verstand verfolgte,<br />
wusste jetzt, dass es nur noch einen Frieden gab, wenn die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e<br />
Seite kapituliert hatte.<br />
Für die militärische Bereitschaft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, wie wir bereits sahen, bedeutete<br />
<strong>der</strong> Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Russland eine Entlastung. Die<br />
Deutschen hatten jetzt an<strong>der</strong>e militärische Sorgen, als den schweizerischen<br />
Alpenwall zu stürmen. Schon <strong>im</strong> Juli 1941 begann daher die Entlassung von<br />
Truppen. Bis Ende des Jahres standen nur noch rund 70'000 Mann unter den<br />
Fahnen. Es wurde ein Ablösungsturnus ausgearbeitet, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft höchst<br />
willkommen war, und bei dem die Auszugsund Landwehreinheiten<br />
durchschnittlich einmal <strong>im</strong> Vierteljahr für die Dauer von fünfwöchigen<br />
Diensten aufgeboten wurden. Dabei wurde unterschieden zwischen<br />
Ausbildungs- und Bewachungsdiensten. In den ersten übte sich die Truppe <strong>im</strong><br />
Kampfverfahren, das ununterbrochen gemäss den Erfahrungen auf den<br />
Kriegsschauplätzen verbessert wurde, während die Bewachungsdienste <strong>der</strong><br />
Sicherheit <strong>der</strong> Verbindungswege, <strong>der</strong> Flugplätze und an<strong>der</strong>er wichtiger<br />
Anlagen dienten. Der Wehrmann hatte wie<strong>der</strong><br />
S. 92: Zeit, Zivilist zu sein. Die Industrie fand die Arbeiter, die die Rüstung brauchte,<br />
und <strong>der</strong> Bauer verwirklichte in überaus strenger Arbeitszeit den Anbauplan.<br />
Die Versorgungslage verschlechterte sich rasch, seit Amerika in den Krieg<br />
eingetreten war und seit sich <strong>der</strong> russische Feldzug für die Deutschen zum
- 63 -<br />
gewaltigen, alles verschlingenden Moloch auszuwachsen begann. Im März<br />
1942 wurde das Fleisch rationiert, und <strong>im</strong> Juli des gleichen Jahres musste sogar<br />
während vierzehn Tagen <strong>der</strong> Verkauf von Fleisch in <strong>der</strong> ganzen<br />
Eidgenossenschaft gesperrt werden. Schärfer als zuvor wurde gegen<br />
Schwarzhändler durchgegriffen. Mit dem Mangel stiegen (obgleich es eine<br />
Preiskontrolle gab) die Preise, und damit gerieten die Löhne ins Hintertreffen.<br />
In <strong>der</strong> Septembersession 1941 fand <strong>im</strong> Nationalrat eine erste, grosse Lohn-<br />
Preis-Debatte statt. Härten waren nicht zu vermeiden, aber eigentliche<br />
Ungerechtigkeiten konnten verhin<strong>der</strong>t werden. Dennoch begriff man nicht<br />
überall den Ernst <strong>der</strong> Lage. Als <strong>im</strong> September 1942 Beamte <strong>der</strong><br />
eidgenössischen kriegswirtschaftlichen Stellen aus Bern in Steinen <strong>im</strong> Kanton<br />
Schwyz Schwarzschlächter festnehmen wollten, erhob sich die Bevölkerung<br />
gegen sie. Trotz allem wich mit dem militärischen Druck <strong>der</strong> Druck von den<br />
Gemütern. Das kam dem Festsommer 1941 zugute, als in Schwyz und auf dem<br />
Rütli <strong>der</strong> 650. Jahrestag <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Eidgenossenschaft gefeiert wurde.<br />
Das würdige Fest spielte sich in zwei Tagen ab. Es half in diesem Augenblick<br />
mit, einen wichtigen Zweck zu erreichen: Das Volk zur Besinnung auf sich<br />
selbst zu bringen. Man darf die Zeit zwischen dem Ausbruch des<br />
deutschrussischen Krieges und den Entscheidungsschlachten von EI Alarnein<br />
und Stalingrad als eine Einheit betrachten.<br />
S. 93: Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und <strong>der</strong> Belastung, die sie für die<br />
innere Front bedeuteten, gesellten sich vom Winter 1941 auf 1942 zwei neue<br />
Probleme: Die Umtriebe <strong>der</strong> verschiedensten nationalsozialistischen<br />
<strong>Schweiz</strong>erbünde, die ihren Standort nach Deutschland verlegt hatten, nahmen<br />
in hohem Umfange zu. Sie waren jetzt ungeschminkt begleitet von eigentlichen<br />
landesverräterischen Handlungen und offenem militärischem Verrat. Im Juni<br />
1942 verlangte ein Interpellant <strong>im</strong> Nationalrat, es seien Landesverräter den<br />
schärfsten Strafen zu unterstellen. Er for<strong>der</strong>te damit, dass für Landesverrat, wie<br />
es <strong>im</strong> Militärstrafrecht für den Aktivdienst vorgesehen war, künftig die<br />
Todesstrafe angewendet werden sollte. Der Bundesrat erliess darauf <strong>im</strong> August<br />
verschärfte Strafbest<strong>im</strong>mungen. Bereits am 26. September 1942 verurteilte das<br />
Divisionsgericht 8 zwei Fouriere wegen Landesverrats zum Tod durch<br />
Erschiessen. Das Urteil wurde vollstreckt. Bis zum Kriegsende sind <strong>im</strong> ganzen<br />
16 Landesverräter erschossen worden. Diese Zahl sagt ein Doppeltes aus: Sie<br />
gibt Auskunft darüber, was für Anstrengungen Hitler unternahm, um die<br />
<strong>Schweiz</strong> militärisch auszuspionieren,
- 64 -<br />
und sie beweist, bis zu welchem Grad die Entschlossenheit in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
gewachsen war, wenn die Todesstrafe wie<strong>der</strong> angewendet wurde, auf die das<br />
Strafgesetzbuch verzichtet hatte.<br />
Ein Problem an<strong>der</strong>er Art bildeten die Flüchtlinge. Bis zum Kriegsausbruch<br />
waren aus Deutschland zahlreiche, meist jüdische Flüchtlinge nach <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> entkommen. Der Krieg unterbrach zunächst diese Entwicklung. Dann<br />
setzte sie sich in neuer Form fort. Seit dem Winter 1941, <strong>der</strong> die ersten<br />
Rückschläge <strong>der</strong> Deutschen in Russland gebracht hatte, begann zuerst zaghaft,<br />
nachher <strong>im</strong>mer spür-<br />
S. 94: barer <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Bevölkerung in den besetzten Län<strong>der</strong>n gegen die<br />
Besetzungsmacht. Er nahm die verschiedensten Formen an und entwickelte<br />
sich zu einer Schraube ohne Ende. Auf jede Wi<strong>der</strong>standsaktion erwi<strong>der</strong>ten die<br />
Deutschen mit Gegenmassnahmen, und diese riefen neuem Wi<strong>der</strong>stand. Als<br />
vom Herbst 1942 an ganz Frankreich besetzt wurde und die Besetzungsmacht<br />
anfing, französische Arbeiter für die Arbeit in Deutschland zu suchen und mit<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger Zwang anzuwerben, beschlossen manche zu fliehen.<br />
An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um mussten fliehen, sei es als Menschen jüdischer Herkunft, sei<br />
es, dass sie sich des Wi<strong>der</strong>standes gegen die Besetzungsmacht schuldig<br />
gemacht hatten. - Aber auch aus an<strong>der</strong>n Gegenden Europas begann ein Fliehen<br />
nach dem neutralen schweizerischen Eiland: Alliierte Gefangene entkamen aus<br />
Deutschland. Deportierte o<strong>der</strong> zur Deportation Verurteilte schlugen sich zur<br />
<strong>Schweiz</strong>ergrenze durch.<br />
Der Bundesrat verschärfte <strong>im</strong> August die Massnahmen gegen die illegalen<br />
Grenzübertritte. Er tat es aus verschiedenen Erwägungen: Je<strong>der</strong> Flüchtling war<br />
ein neuer Esser, er brachte Schwierigkeiten für die Unterkunft und<br />
Schwierigkeiten diplomatischer Art mit den Herren Europas. Und wer würde<br />
einst für die Kosten aufkommen, die er verursachte? Die Zurückhaltung war<br />
vielleicht erklärbar, aber sie ging oft zu weit und liess gelegentlich einen<br />
befremdenden Polizeigeist durchblicken. Jedenfalls wi<strong>der</strong>setzte sich die<br />
öffentliche Meinung entschieden einer zu brüsken Ordnung gegenüber diesen<br />
Gehetzten. Der Bundesrat mil<strong>der</strong>te schon <strong>im</strong> September die ursprünglichen<br />
Massnahmen und gab <strong>im</strong> Nationalrat eine Erklärung zum Grundsätzlichen des<br />
Flüchtlingswesens ab. Bestraft wurden nun vor allem gewisse gewerbsmässig<br />
betriebene Ver-
- 65 -<br />
S. 95: suche, Flüchtlingen zum Grenzübertritt zu verhelfen. Die Zahl <strong>der</strong> Flüchtlinge<br />
betrug Ende September 1942 noch nicht ganz 12'000. Sie stieg später, wie wir<br />
sehen werden, <strong>im</strong> Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse noch beträchtlich.<br />
Der Winter 1942 auf 1943 brachte den Umschwung auf den<br />
Kriegsschauplätzen. Abermals än<strong>der</strong>te sich die Lage <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Vorbote<br />
dafür, dass die Dinge <strong>im</strong> Osten allmählich zu Ungunsten <strong>der</strong> Achse<br />
umschlugen, und damit <strong>der</strong> Westen wie<strong>der</strong> wichtiger zu werden begann, war<br />
die gesteigerte Spionagetätigkeit gegen unser Land und die neue Nervosität <strong>der</strong><br />
deutschen Stellen gegenüber <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Presse. Im Oktober 1942 liess sich<br />
<strong>der</strong> Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin zur Bemerkung hinreissen, nach<br />
dem Siege werde die deutsche Führung die schweizerischen Zeitungsschreiber<br />
in die Steppen Asiens verbannen!<br />
Vorläufig tobte allerdings in diesen «Steppen Asiens» noch ein Krieg auf Tod<br />
und Leben. Hitlers Heere waren bis Stalingrad vorgedrungen. Vor dieser Stadt<br />
wurde <strong>im</strong> Spätherbst 1942 <strong>der</strong> deutsche Angriff aufgehalten. Nun holten die<br />
Russen zum gewaltigen Gegenschlag aus. In <strong>der</strong> Winterschlacht um Stalingrad,<br />
die sich vom Dezember 1942 bis zum Februar 1943 hinzog, siegte die Rote<br />
Armee. Viele Tausende deutscher Soldaten samt ihrem Marschall und ihren<br />
Generälen wan<strong>der</strong>ten in russische Kriegsgefangenschaft. Ebenso viele waren<br />
umgekommen. Hitler hatte seine erste, vernichtende Nie<strong>der</strong>lage erlitten. Sie<br />
wirkte sich um so empfindlicher aus, als gleichzeitig <strong>der</strong> Rückschlag in<br />
Nordafrika nicht mehr aufzuhalten war. Noch <strong>im</strong> Herbst 1942 schien <strong>der</strong><br />
Zeitpunkt angetreten, da das deutsche Afrikakorps bis Ägypten vordringen<br />
würde. England machte die schwerste Krise seit Kriegsbeginn durch,<br />
S. 96: zumal es <strong>im</strong> Fernen Osten, durch den Fall von Singapore, eine<br />
aufsehenerregende Nie<strong>der</strong>lage erlitten hatte. Da begann Ende Oktober 1942<br />
Montgomerys Gegenoffensive in Nordafrika. In <strong>der</strong> Schlacht von El Alamein<br />
schlug er das deutsche Afrikakorps. Zugleich landeten die Amerikaner in<br />
Marokko, wo grössere Teile <strong>der</strong> nordafrikanischen, französischen Truppen zu<br />
den Alliierten übergingen. Italiener und Deutsche räumten Afrika. Der Sprung<br />
nach Italien war offen. Das Kriegsglück hatte sich gedreht.<br />
Damit verän<strong>der</strong>te sich abermals die strategische Lage <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Seit dem<br />
Herbst 1942 hatte sich das bereits angekündigt, denn die Verletzung des<br />
neutralen schweizerischen Luftraumes,
- 66 -<br />
vornehmlich durch englische Luftgeschwa<strong>der</strong>, die sich nach Italien und Afrika<br />
begaben, nahm ununterbrochen zu. Jetzt, <strong>im</strong> März 1943, als die Deutschen in<br />
Russland den Rückzug antraten, die nordafrikanische Front zu wanken begann,<br />
die Balkanpositionen mit einem Schlag unsicher schienen, die Kriegslust des<br />
italienischen Bundesgenossen rapid abnahm, wuchs die Gefahr eines deutschen<br />
Handstreiches gegen die <strong>Schweiz</strong>. Die Alpenverbindungen waren jetzt für<br />
Adolf Hitler doppelt wichtig. Alle seine Positionen wankten. Musste es da für<br />
die deutsche Kriegsführung nicht verlockend sein, sich des schweizerischen<br />
Zentralmassivs zu bemächtigen? In bezug auf die zum Unternehmen<br />
notwendigen Truppen konnten die Deutschen einen solchen überfall durchaus<br />
noch wagen, eben erst hatten sie neue Jahrgänge ausgehoben, ausgerüstet und<br />
gedrillt. Russland hatte sie unerhört geschwächt, aber <strong>im</strong>mer noch waren sie zu<br />
fürchten.<br />
Dem Bericht des Generals kann entnommen werden, dass damals in <strong>der</strong><br />
deutschen Heeresleitung tatsächlich eine «Aktion <strong>Schweiz</strong>» erwogen worden<br />
ist. Die beiden<br />
S. 97: wichtigen Linien des Nachrichtendienstes <strong>der</strong> Armee, von denen die eine in das<br />
Führerhauptquartier selbst hineinreichte, während die an<strong>der</strong>e mit einem an<strong>der</strong>n<br />
Zweig des komplizierten deutschen Nachrichtenapparates Verbindung hatte,<br />
meldeten in <strong>der</strong> zweiten Märzhälfte 1943 übereinst<strong>im</strong>mend, die «Aktion<br />
<strong>Schweiz</strong>» stehe unmittelbar bevor. Bereits um den 22. März herum war<br />
indessen <strong>der</strong> Gedanke von Hitler wie<strong>der</strong> fallen gelassen worden. Die Aktion<br />
war <strong>im</strong>merhin so weit gediehen gewesen, dass die deutschen Truppen für sie<br />
bereitgestellt, die Kommandoübertragungen geregelt worden waren.<br />
Die Spannung jener Tage und eine best<strong>im</strong>mte Massnahme des Generals haben<br />
nach dem Krieg Anlass zu grösseren polemischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
geboten. Der Chef des Nachrichtendienstes unserer Armee, Oberst Masson,<br />
nahm <strong>im</strong> Frühjahr 1943 mit dem deutschen SS-General Schellenberg mit<br />
Wissen des Generals direkte Verbindungen auf. Schellenberg erwähnte bei<br />
einer Besprechung, eine Aktion könnte von <strong>der</strong> deutschen Armeeleitung<br />
hauptsächlich dann gegen die <strong>Schweiz</strong> beschlossen werden, wenn die<br />
deutschen Stellen kein Zutrauen haben könnten, dass die <strong>Schweiz</strong>er<br />
entschlossen seien, sich nach allen Richtungen, also auch gegenüber einem<br />
allfälligen Angriff <strong>der</strong> Alliierten, zu verteidigen.
- 67 -<br />
Schellenberg regte an, ob nicht General Guisan ihm zuhanden Hitlers eine<br />
Erklärung abgeben könnte, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> unbedingte und nach allen Seiten hin<br />
wirksame Verteidigungswille <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ausgedrückt wäre. Damit würde es<br />
möglich sein, das deutsche Oberkommando vom vorbehaltlosen<br />
schweizerischen Neutralitäts- und Verteidigungswillen zu überzeugen. General<br />
Guisan beschloss darauf, Schellenberg zu empfangen. Auf einer<br />
Zusammenkunft <strong>im</strong> «Bären» zu<br />
S. 98: Biglen <strong>im</strong> Emmental gab er ihm die gewünschte Erklärung ab. Es ist nie<br />
abgeklärt worden, ob dieser Schritt tatsächlich die erhoffte Wirkung gehabt hat.<br />
Jedenfalls wurde die «Aktion <strong>Schweiz</strong>» <strong>im</strong> März 1943 abgeblasen. Die<br />
Meinungen darüber aber, ob <strong>der</strong> General recht getan hatte, sich mit<br />
Schellenberg einzulassen, blieben geteilt. Der Zwischenfall bewies, wie sehr<br />
die <strong>Schweiz</strong> ins Blickfeld <strong>der</strong> internationalen Politik und Strategie gerückt war.<br />
Der Zeitabschnitt, <strong>der</strong> mit dem März 1943 begann, erstreckte sich bis zur<br />
Landung alliierter Truppen in Nordfrankreich <strong>im</strong> Juli 1944. Es stellten sich<br />
dem Land keine neuen Probleme, wohl aber verschärften sich die alten. Der<br />
Zusammenbruch des faschistischen Reg<strong>im</strong>es in Italien <strong>im</strong> Juli 1943 liess den<br />
Flüchtlingsstrom nach <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> rasch ansteigen. Dabei ergab sich als neues<br />
Problem, dass nun darauf geachtet werden musste, keinen Personen Asyl zu<br />
gewähren, die von den Alliierten als Kriegsverbrecher verfolgt wurden. Die<br />
<strong>Schweiz</strong> hatte ein moralisches und ein politisches Interesse daran, klar zum<br />
Rechten zu sehen, um von vornherein ausländische Zumutungen zu vermeiden.<br />
Schon <strong>im</strong> Sommer 1943 hatten nämlich die Alliierten in einer Note darauf<br />
aufmerksam gemacht, sie würden es nicht hinnehmen, falls führende<br />
Persönlichkeiten des Faschismus o<strong>der</strong> des Nationalsozialismus in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
als Flüchtlinge aufgenommen würden. Der Bundesrat lehnte es in seiner<br />
Antwortnote entschieden ab, den freien und souveränen Entscheid <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
über diese Dinge zur Diskussion stellen zu lassen. Er war indessen<br />
entschlossen, keinem Unwürdigen Asyl zu gewähren. Trotzdem ging es nicht<br />
ganz ohne Schönheitsfehler ab. Es gelang nämlich, unter grösstem Befremden<br />
<strong>der</strong> breiten schweizerischen Öffentlichkeit, Mussolinis Tochter, <strong>der</strong> Gräfin<br />
S. 99: Edda Ciano, <strong>der</strong> politisierenden Gattin des italienischen Aussenministers, nach<br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu entkommen. Aus Courtoisie, die <strong>der</strong> Frau galt, liessen sie die<br />
Behörden in das Land. Es bedurfte <strong>der</strong> entschiedenen und geschlossenen<br />
Ablehnung dieser Asylgewährung durch die <strong>Schweiz</strong>er Presse,
- 68 -<br />
um zu erreichen, dass die Ciano das Land wie<strong>der</strong> verlassen musste. - Anfang<br />
Oktober 1943 betrug die Zahl <strong>der</strong> Flüchtlinge und Internierten rund 61'000. Sie<br />
stieg bis zum Mai 1944 auf 75'000 und hatte gegen das Kriegsende 100'000<br />
überschritten. Die Organisation, die die militärischen Internierten betreute, war<br />
in mancher Hinsicht <strong>im</strong>provisiert, und sie litt unter dem Mangel an geeignetem<br />
Personal. Das Ende <strong>der</strong> Internierung brachte einen Skandal. Es kam aus, dass<br />
beträchtliche Summen veruntreut worden waren. Die Verantwortlichkeiten<br />
waren unexakt geregelt. So gab es Untersuchungen, Prozesse und<br />
militärgerichtliche Urteile. Der Internierungsskandal warf einen Schatten auf<br />
das sonst makellose Bild des Aktivdienstes von 1939 bis 1945.<br />
Beson<strong>der</strong>s schwierig gestaltete sich mit <strong>der</strong> wachsenden Desorganisation<br />
Europas die schweizerische Versorgungslage. Noch vermochten zwar die<br />
Deutschen zu liefern, aber sie verlangten dafür Gegenleistungen. Gerade diesen<br />
gegenüber wie<strong>der</strong>um waren die Alliierten mit zunehmendem Misstrauen<br />
erfüllt. Der Krieg kostete sie ungeheure Opfer an Gut und Blut. Sie wurden hart<br />
und hatten Mühe, die schweizerische Lage verständnisvoll zu würdigen. Sie<br />
sahen auch, dass durch die schweizerische Lücke den Deutschen<br />
ununterbrochen Waren zugingen, die sie diesen sonst überall gesperrt hatten.<br />
Die Lage unserer Unterhändler gestaltete sich heikel. Diese konnten allerdings<br />
darauf hinweisen, dass <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> schweizerischen Lieferungen<br />
S. 100: an Deutschland höchstens ausreichte, um die deutsche Wirtschaft für 14 Tage<br />
zu versorgen, so dass er zur Stärkung des deutschen Wi<strong>der</strong>standes praktisch<br />
nicht ins Gewicht fiel. Auch betonten sie, dass die Selbsterhaltung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
<strong>im</strong> Interesse <strong>der</strong> Alliierten lag. Schliesslich brachten sie das Kunststück fertig,<br />
von den Deutschen die Zust<strong>im</strong>mung dafür zu bekommen, dass wir den<br />
Alliierten durch das deutschbesetzte Ausland hindurch gewisse<br />
Präzisionsinstrumente unserer Uhrenindustrie liefern durften, die jene für die<br />
Kriegsführung nötig hatten. Diese Lieferungen vergalten uns die Alliierten mit<br />
Brotgetreide.<br />
Eine Hauptwaffe <strong>der</strong> Alliierten gegen uns bildeten die «Schwarzen Listen».<br />
Auf diese setzten sie neutrale, also auch schweizerische Firmen, von denen sie<br />
wussten, dass sie nach Deutschland lieferten. Solche Firmen sollten auch nach<br />
dem Krieg von den Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Allianz als Lieferanten nicht mehr<br />
berücksichtigt werden.
- 69 -<br />
Es gelang dem Bundesrat, sich mit Erfolg für die betroffenen Firmen<br />
einzusetzen.<br />
Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> Ernährung und <strong>der</strong> Versorgung mit Rohstoffen und<br />
Energie nahmen indessen unaufhaltsam zu. Die Rationen wurden weiter<br />
gekürzt. Im Februar 1944 richtete Bundespräsident Stampfli einen Appell an<br />
die Arbeitgeber und ermahnte sie, sich ihrer Solidarität mit <strong>der</strong> Arbeiterschaft<br />
bewusst zu bleiben, sie sollten alles tun, damit Einschränkungen <strong>der</strong> Arbeit, die<br />
wegen des Mangels an Strom o<strong>der</strong> Material eintreten konnten, ohne soziale<br />
Härten vor sich gingen. In einer ähnlichen Kundgebung <strong>der</strong> Kommissionen <strong>der</strong><br />
eidgenössischen Räte wurde <strong>im</strong> Juni erklärt, das Kriegsende werde zugleich <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> die grössten Schwierigkeiten bringen, die sie <strong>im</strong> Krieg überhaupt zu<br />
bewältigen gehabt hatte.<br />
S. 101: Eine einigermassen befriedigende Lösung aller offenen Fragen <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
und <strong>der</strong> Versorgung wurde erst in einem umfassenden Abkommen mit England<br />
und Amerika Mitte August 1944 erzielt. In diesem Abkommen anerkannten die<br />
Alliierten die beson<strong>der</strong>e Lage <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> und billigten uns ein Mindestmass<br />
von Lieferungen, selbstverständlich <strong>im</strong> Tausch gegen <strong>Schweiz</strong>er Produkte, zu.<br />
Das Abkommen brachte <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> keine Fülle, aber eine gewisse<br />
Möglichkeit zum Disponieren.<br />
Die Feststellung <strong>der</strong> eidgenössischen Kommissionsherren, das Kriegsende<br />
werde erst noch die grössten Schwierigkeiten bringen, hatte am l. April 1944<br />
eine furchtbare Bestätigung auf Vorschuss erhalten, als amerikanische Bomber<br />
die Stadt Schaffhausen am heiterhellen Tag bombardierten. Schöne alte Häuser<br />
und wertvolle Kunstschätze wurden zerstört, und über hun<strong>der</strong>t Menschen<br />
kamen ums Leben. Die Bombardierung von Schaffhausen ist <strong>der</strong> grösste<br />
Kriegsschaden, den die <strong>Schweiz</strong> <strong>im</strong> zweiten <strong>Weltkrieg</strong> erlitten hat.<br />
Die Fliegertätigkeit hatte über <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, wie wir früher gesehen haben, seit<br />
1942 beständig zugenommen. Zu den Überfliegungen gesellten sich bald<br />
zahlreiche irrtümliche Bombenabwürfe. Im April 1943 wurde Zürich<br />
bombardiert, <strong>im</strong> Juli Gebiete des Berner Oberlandes, <strong>im</strong> September Gegenden<br />
in Graubünden. Die Zahl <strong>der</strong> Abschüsse durch unsere Fliegerabwehr, <strong>der</strong><br />
Notlandungen und irrtümlichen Landungen, später vornehmlich grosser<br />
amerikanischer Bomber, nahm zu. Damit wuchs auch die bunte Auswahl <strong>der</strong><br />
Nationalitäten in unseren Internierungslagern.
- 70 -<br />
Das wichtigste innenpolitische Ereignis des vorletzten Kriegsabschnittes waren<br />
die Nationalratswahlen vom Ok-<br />
S. 102: tober 1943. Es waren die zweiten Kriegswahlen. Sie brachten einen Ruck nach<br />
links. Die sozialdemokratische Gruppe des Nationalrates stieg um 9 Mandate<br />
auf 54 Sitze, womit diese Fraktion die stärkste des Nationalrates geworden war.<br />
Als darauf <strong>im</strong> November <strong>der</strong> Chef des Eidgenössischen Finanzdepartements,<br />
<strong>der</strong> Zürcher Dr. Ernst Wetter, aus dem Bundesrat zurücktrat, wählte die<br />
Bundesversammlung als seinen Nachfolger den Sozialdemokraten Ernst Nobs.<br />
Mit ihm zog <strong>der</strong> erste Sozialdemokrat in den Bundesrat ein. Seine Wahl darf<br />
man in die Reihe jener Zeugnisse einreihen, die Ausdruck des Gefühls dafür<br />
waren, dass die grössten Schwierigkeiten erst noch zu erwarten waren, die<br />
parteipolitische Verbreiterung <strong>der</strong> Zusammensetzung des Bundesrates schien<br />
geboten.<br />
Am 9. Juli 1943 waren die Alliierten in Italien gelandet. Ein Jahr später, am 6.<br />
Juni 1944, begannen ihre Landungsoperationen in Frankreich. Der zweite<br />
<strong>Weltkrieg</strong> war in seine letzte Phase eingetreten.<br />
Was für alle zivile Gebiete galt, dass zunächst das Kriegsende die<br />
Schwierigkeiten unserer Lage erst recht offenbaren werde, galt für das<br />
militärische Gebiet nicht weniger. Es lag durchaus <strong>im</strong> unberechenbaren und<br />
he<strong>im</strong>tückischen Charakter des deutschen Diktators, sich ob den bergsturzhaft<br />
hereinbrechenden Misserfolgen zu Kurzschlusstaten hinreisen zu lassen, die<br />
nicht mehr nach dem Sinn des Geschehens fragten, son<strong>der</strong>n bloss mehr von den<br />
Gefühlen <strong>der</strong> Rache und <strong>der</strong> Vernichtung ausgelöst waren. Trotz unerhörten<br />
Nie<strong>der</strong>lagen war die deutsche Kriegsmacht <strong>im</strong>mer noch ein fürchterliches<br />
Instrument. Das bekam <strong>im</strong> März 1944 Ungarn zu spüren, als es versuchte, den<br />
Anschluss an den Westen zu finden. Hitler überfiel den Verbündeten von<br />
gestern blitzartig. Reichsverweser Horty<br />
S. 103: wurde in ein deutsches Konzentrationslager entführt. Ungarn parierte.<br />
Wahrhaftig, zur Sorglosigkeit war kein Anlass!<br />
Als die Invasion des Kontinentes durch die alliierten Heere am 9. Juli 1944<br />
begann, wollte <strong>der</strong> General die Generalmobilmachung <strong>der</strong> Armee verfügen.<br />
Dies sollte, nach innen wie nach aussen, eine ernste Demonstration des<br />
schweizerischen Wehrwillens sein. Der Bundesrat lehnte aus finanziellen und<br />
wirtschaftlichen Erwägungen die Generalmobilmachung ab.
- 71 -<br />
Es kam ob <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Lage zu Differenzen zwischen Bundesrat und<br />
General, bei denen sich <strong>der</strong> Wille des Bundesrates durchsetzte, die<br />
Generalmobilmachung unterblieb.<br />
Die Invasion <strong>der</strong> Alliierten machte rasche Fortschritte, die offenbarten, dass<br />
nun auch die innere deutsche Front erschüttert war. Am 20. Juli 1944 kam es in<br />
Deutschland zu einem Aufstandsversuch. Er misslang. Hitler war entschlossen,<br />
das ganze Volk in seinen Sturz mitzureissen. In Russland, <strong>im</strong> europäischen<br />
Osten und in Frankreich waren die deutschen Heere auf dem Rückzug, zum<br />
Teil auf <strong>der</strong> Flucht. Abermals näherte sich <strong>der</strong> Krieg, wie <strong>im</strong> Jahr 1940, <strong>der</strong><br />
schweizerischen Westgrenze, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Nun waren<br />
die Deutschen auf dem Rückzug und die Alliierten in mächtigem Ansturm<br />
hinter ihnen her. General und Bundesrat vermehrten die Zahl <strong>der</strong> aufgebotenen<br />
Truppen. Im September 1944 ordnete <strong>der</strong> Bundesrat die<br />
Teilkriegsmobilmachung <strong>der</strong> Grenztruppen an. Dazu rückten Feldtruppen ein.<br />
Bis zum 5. September standen fünf Auszugsdivisionen unter den Fahnen,<br />
vornehmlich <strong>im</strong> Nordwestjura und in <strong>der</strong> Ajoie. Näher und näher rückte <strong>der</strong><br />
Krieg. Ende September stiessen bei Damvant in <strong>der</strong> Ajoie die Fronten<br />
zusammen: Von einem schweize-<br />
S. 104: rischen Beobachtungsturm unmittelbar hinter dem Grenzstacheldraht aus<br />
konnte man linker Hand die französischen, rechter Hand die deutschen<br />
Vorpostierungen beobachten, während sich diese beiden, getrennt durch ein<br />
Minenfeld, selbst nicht sehen konnten. Die schweizerischen Truppen hatten<br />
den Auftrag, jeden Versuch <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite, den Gegner durch<br />
schweizerisches Gebiet zu umgehen, zu verhin<strong>der</strong>n.<br />
Bereits bereiteten die Alliierten den nächsten Stoss, Richtung Mülhausen und<br />
den Rhein, vor. Tag und Nacht grollte <strong>der</strong> Kanonendonner, und die<br />
schweizerischen Bataillone standen in jenen Novembertagen während drei<br />
Wochen in dauern<strong>der</strong> Alarmbereitschaft. Mehr als einmal schlugen Granaten<br />
<strong>der</strong> alliierten Artillerie in die schweizerischen Stellungen ein. Mitte November<br />
wurde ein rekognoszieren<strong>der</strong> Hauptmann bei Damvant erschossen. Am 16.<br />
November begann die Offensive <strong>der</strong> Franzosen und Amerikaner gegen die<br />
Burgundische Pforte. Die schwachen deutschen Stellungen wurden überrannt.
- 72 -<br />
Nun waren es die Reste aufgeriebener deutscher Reg<strong>im</strong>enter, die <strong>im</strong> Pruntruter<br />
Zipfel auf <strong>Schweiz</strong>er Gebiet übertraten, entwaffnet und interniert wurden.<br />
Mitte Dezember erreichten die Alliierten den Raum von Mülhausen. Es dauerte<br />
noch bis zum März 1945, bis sie den Rhein überschritten. Der Krieg war<br />
entschieden.<br />
Die letzte Kriegsphase hat dem Land indessen auch schwierige politische<br />
Probleme gebracht. Sie waren aussenpolitischer Art. Mit einemmal schien es<br />
nämlich, als ob die schweizerische Neutralität draussen, auf dem Welttheater,<br />
nichts mehr gelten sollte. Deutlich liessen uns die Sieger spüren, neutral<br />
gewesen zu sein, habe ein verächtliches Geschmäcklein an sich. Es zeigte sich<br />
überdies, dass<br />
S. 105: das Ausland sich keine rechte Vorstellung von unserer wirklichen Lage zu<br />
machen vermochte. Die <strong>Schweiz</strong> erfuhr in zwei Fällen, mit was für schlechten<br />
Noten man sie bedachte: Zuerst, als sie den Versuch machte, mit <strong>der</strong> russischen<br />
Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen wie<strong>der</strong> aufzunehmen, und<br />
nachher bei den Verhandlungen mit <strong>der</strong> sogenannten Currie-Mission <strong>der</strong><br />
westlichen Alliierten vom Februar und März 1945.<br />
Die Frage, ob die <strong>Schweiz</strong> nicht versuchen sollte, mit Russland den<br />
diplomatischen Verkehr neu aufzunehmen, <strong>der</strong> 1918 abgerissen war, war<br />
bereits in <strong>der</strong> Vorkriegszeit diskutiert worden. Als indessen Russland 1939 als<br />
verbündete Macht an die Seite des nationalsozialistischen Deutschland trat,<br />
stellte man diese Frage, als zu heikel, wie<strong>der</strong> in den Hintergrund. Erst nach<br />
dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges wurde das Problem von neuem<br />
aktuell. Im März 1944 nahm <strong>der</strong> Bundesrat ein Postulat <strong>im</strong> Nationalrat<br />
entgegen, in dem die Wie<strong>der</strong>aufnahme des diplomatischen Verkehrs mit<br />
Russland verlangt worden war. Es begannen Sondierungen, die dem Bundesrat<br />
aussichtsreich schienen. Da teilte am 5. November 1944 die Sowjetunion <strong>der</strong><br />
Welt brüsk mit, sie denke nicht daran, mit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in diplomatische<br />
Beziehungen zu treten. Wenige Tage nach dieser sensationellen Wendung<br />
demissionierte <strong>der</strong> Chef des Eidgenössischen Politischen Departements,<br />
Bundesrat Pilet. Er sah den Fall für so ernst an, dass er sich entschloss, diese,<br />
für schweizerische Verhältnisse ungewöhnliche Konsequenz zu ziehen.
- 73 -<br />
Mit Bundesrat Pilet schied die am meisten angefochtene Gestalt <strong>der</strong><br />
schweizerischen Politik des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es aus dem Bundesrat aus. Es<br />
folgte auf ihn Ende 1944 <strong>der</strong> Neuenburger<br />
S. 106: Max Petitpierre, dem es später gelang, die Beziehungen mit <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen.<br />
Russlands Weigerung hatte <strong>im</strong> In- und Ausland sensationell gewirkt. Man<br />
deutete sie dahin, sie beweise, wie einsam die neutrale <strong>Schweiz</strong> geworden sei,<br />
und man prophezeite dem einsamen Land für die Friedenszeit wenig Gutes.<br />
Glücklicherweise haben sich diese Propheten getäuscht.<br />
Bedeutsam, und in ihren Auswirkungen bis in die Nachkriegszeit<br />
hineinreichend, waren die Wirtschaftsverhandlungen, die am 12. Februar 1945<br />
in Bern mit einer englisch-amerikanisch-französischen Delegation begannen,<br />
an <strong>der</strong>en Spitze <strong>der</strong> Amerikaner Currie und <strong>der</strong> Brite Dingle M. Foot standen.<br />
Den Hauptgegenstand <strong>der</strong> Verhandlungen bildeten die deutschen Guthaben in<br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, die die Alliierten für ihre Reparationsansprüche sicherstellen<br />
wollten. Ferner behaupteten die Verbündeten, es befinde sich Gold in <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>, das von den Deutschen <strong>im</strong> besetzten Ausland gestohlen worden und<br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> verkauft worden sei. Es sollte sich dabei vornehmlich um<br />
französisches und holländisches Staatsgold handeln. Endlich bezogen sich die<br />
Verhandlungen auf die weitere Versorgung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mit Rohstoffen und<br />
Lebensmitteln, denn wenn auch abzusehen war, dass <strong>der</strong> Krieg in Europa über<br />
kurzem zu Ende gehen musste, so dauerte doch <strong>der</strong> Krieg <strong>im</strong> Fernen Osten<br />
noch an.<br />
Was den ersten Teil <strong>der</strong> Verhandlungen mit <strong>der</strong> Currie-Mission anbelangt, <strong>der</strong><br />
sich auf die deutschen Guthaben und das Raubgold bezog, so wurden <strong>der</strong>en<br />
Gegenstände später wie<strong>der</strong> aufgegriffen und führten schliesslich zum heiss<br />
umstrittenen Abkommen von Washington. Dagegen gelang es den<br />
schweizerischen Unterhändlern, in bezug<br />
S. 107: auf die Landesversorgung günstige Ergebnisse zu erzielen. Das Wichtigste an<br />
jenen Berner Besprechungen war es, dass mit ihnen überhaupt zum erstenmal<br />
seit Kriegsausbruch <strong>der</strong> unmittelbare, menschliche Kontakt mit den westlichen<br />
Alliierten hergestellt werden konnte und diese sich ein Bild über unsere<br />
tatsächliche Lage zu machen vermochten. Die Delegationsteilnehmer<br />
besuchten das Réduit, sie liessen sich den Mehranbau darlegen - und sie
- 74 -<br />
erhielten durch neue Bombardierungen von Basel, Zürich und weitem Orten in<br />
<strong>der</strong> Ostschweiz, verschuldet von amerikanischen Luftgeschwa<strong>der</strong>n, ein<br />
anschauliches Bild davon, dass auch das schweizerische Eiland in <strong>der</strong><br />
Gefahrenzone des Krieges lag. Der Bann um die nichtverstandene neutrale<br />
<strong>Schweiz</strong> zerbrach. Der englische Delegationschef Dingle Foot äusserte sich<br />
sogar, er begreife nun, dass die Neutralität für die <strong>Schweiz</strong> die gleiche<br />
politische Bedeutung habe wie die Freiheit <strong>der</strong> Meere für Englandl<br />
Die Agonie des Nationalsozialismus zog sich noch bis zum 8. Mai 1945 hin.<br />
An diesem Tag unterzeichnete eine aus den Fetzen <strong>der</strong> hitlerischen Macht<br />
überhastet gebildete deutsche Regierung die bedingungslose Kapitulation<br />
Deutschlands. Manch einer mochte sich gedacht haben, die Zeit werde für<br />
einen Augenblick stillstehen, wenn einst <strong>der</strong> Moment <strong>der</strong> Kapitulation<br />
gekommen sein würde. Aber sie stand nicht still. Im Fernen Osten tobten die<br />
Kämpfe weiter. Die Schutt- und Trümmerhaufen - die geistigen und<br />
moralischen so gut wie die materiellen -, die <strong>der</strong> Krieg in Europa hinterlassen<br />
hatte, dämpften den lauten Jubel. Erschreckt waren die Völker <strong>im</strong> Spätsommer<br />
1939 in den zweiten <strong>Weltkrieg</strong> eingetreten, mit Sorgen erfüllt sahen sie dem<br />
Frieden entgegen.<br />
Auch bei uns in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> än<strong>der</strong>te sich zunächst<br />
S. 108: nichts, als dass <strong>der</strong> seelische Druck von den Menschen wich. Am 20. August<br />
1945 schlossen General und Bundesrat, an einer ergreifenden Kundgebung in<br />
Bern, bei <strong>der</strong> noch einmal sämtliche Bataillons- und Abteilungsfahnen des<br />
Heeres an General Guisan vorüberdefilierten, feierlich den Aktivdienst. Es war<br />
ein wirklicher aktiver Dienst gewesen. Nicht umsonst hörte man das<br />
gemütlichere Wort von <strong>der</strong> Grenzbesetzung, das <strong>im</strong> ersten <strong>Weltkrieg</strong> gang und<br />
gäbe gewesen war, <strong>im</strong> zweiten <strong>Weltkrieg</strong> selten. Die Eidgenossenschaft sah auf<br />
die grösste militärische Kraftanstrengung ihrer ganzen bisherigen <strong>Geschichte</strong><br />
zurück. Bis zum Schluss verfügte sie über mehr als 800'000 ausgebildete<br />
Soldaten, Ortswehrmänner und HilfsdienstpfIichtige, Männer und Frauen.<br />
Diese Zahl war nicht nur an sich hoch, son<strong>der</strong>n sie war auch, verhältnismässig<br />
betrachtet und beurteilt, höher als die Zahl <strong>der</strong> ausgebildeten Wehrpflichtigen<br />
in den kriegführenden Län<strong>der</strong>n. Es war eine Zahl, die eindrücklich die<br />
gewaltige Leistung eines freiheitlichen Volkes und eines kleinen<br />
fö<strong>der</strong>alistischen Volksstaates darstellte.
- 75 -<br />
Die schweizerische Armee hat die schwerste und letzte Probe nicht bestehen<br />
müssen. Die Toten des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es, die auch sie zählte, fielen für das<br />
Vaterland, aber sie fielen nicht <strong>im</strong> Kampf. Trotzdem ist die militärische<br />
Leistung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in jenen fünfeinhalb Jahren ein Zeugnis von historischer<br />
Grösse, eine Leistung, die vor dem Urteil <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> Bestand haben wird.<br />
Man wird <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> versuchen, sauber und verstandesklar die Gründe<br />
herauszuarbeiten, wie es denn eigentlich kam, dass das kleine Land in <strong>der</strong><br />
unerhört ausgesetzten Lage, in <strong>der</strong> es sich befand, durchhalten und wi<strong>der</strong>stehen<br />
konnte. Gewiss lassen sich viele einleuch-<br />
S. 109: tende Erklärungen finden: Die Interessenvertretungen, die Tätigkeit des<br />
Internationalen Roten Kreuzes, die Erkenntnis <strong>der</strong> deutschen Machthaber, dass<br />
die zerstörten Alpenverbindungen, die sie bei gewaltsamer Eroberung <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> vorgefunden hätten, für sie wertlos gewesen wären. Alle diese<br />
Erklärungen vergessen das Wesentliche: Dass in den <strong>Schweiz</strong>ern ein Wille<br />
lebte, vor <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Tatsachen nicht zu kapitulieren. Ausdruck dieses<br />
Willens war <strong>der</strong> wehrhafte Geist. Der Ursprung seiner Kraft aber war ein<br />
überaus lebendiges Verhältnis zur Freiheit. Diese Freiheit lebte nicht in den<br />
Köpfen und Theorien, son<strong>der</strong>n in den Herzen. Sie war die Luft, die das Volk<br />
atmen wollte.<br />
Daher besass dieses Volk die Fähigkeit, instinktiv das wahre Wesen des<br />
Nationalsozialismus frühzeitig zu erkennen. In dem Augenblick, da die<br />
Frontenbewegung in die Auslän<strong>der</strong>ei abglitt, war sie <strong>im</strong> Urteil <strong>der</strong> breiten<br />
Volksmassen gerichtet. Die Verbote, die später gegen sie ausgesprochen<br />
werden mussten, trafen gar keine politische Bewegung mehr, son<strong>der</strong>n eine<br />
verbrecherische Clique von Verrätern. Politisch hatte das Volk in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong><br />
dreissiger Jahre sein Urteil gesprochen. Dank dieser politischen<br />
Instinktsicherheit war es den Behörden möglich, von 1936 an das grosse<br />
militärische Rüstungsprogramm zu verwirklichen. Die Rüstung war vom Volk<br />
aller Schichten getragen. Die schweizerische Demokratie, die vielleicht<br />
vertrauensseliger als an<strong>der</strong>e Staaten an den Völkerbund geglaubt hatte und<br />
<strong>der</strong>en umständliches Tempo gegenüber Neuerungen oft kritisiert worden ist,<br />
bewies ein klareres Urteil über das Wesen des Nationalsozialismus als jene<br />
Grossmächte, die er nachher in einen Krieg auf Tod und Leben gezwungen hat.
- 76 -<br />
S. 110: Fünfeinhalb Jahre Krieg und die Wirrnisse fast eines Jahrzehnts, die ihm<br />
vorangegangen waren, hatten die <strong>Schweiz</strong> verän<strong>der</strong>t. Nicht brüsk wie die vom<br />
Krieg he<strong>im</strong>gesuchten Län<strong>der</strong>, aber nicht weniger tiefgehend. Die Menschen<br />
waren sich näher gekommen. Die entsetzliche Totalität, mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> Krieg<br />
gewütet hatte, liess die <strong>Schweiz</strong>er erkennen, dass <strong>der</strong> Bund zu einer<br />
Schicksalsgemeinschaft geworden war. Alle Fragen <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
und des sozialen Lebens standen unter diesem Eindruck <strong>der</strong><br />
Schicksalsverbundenheit. Deshalb fanden die Menschen den Weg über<br />
Ideologien und Vorurteile, über Interessengruppen und Parteien zueinan<strong>der</strong>.<br />
Das Solidaritätsgefühl wuchs. Es suchte sich nach dem Krieg in zwei<br />
For<strong>der</strong>ungen zu verwirklichen, von denen die eine, die Alters- und<br />
Hinterlassenenversicherung, auch eingeführt, während die an<strong>der</strong>e, das<br />
St<strong>im</strong>mrecht für die Frauen, als die natürliche Folge <strong>der</strong> gewaltigen Leistung,<br />
die <strong>im</strong> Frauenhilfsdienst wie in <strong>der</strong> gesteigerten privaten und öffentlichen<br />
Wirksamkeit von <strong>der</strong> Frau während des Krieges verlangt worden war, vom<br />
konservativen Charakter des <strong>Schweiz</strong>ervolkes abgelehnt wurde.<br />
Aber nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl hatte zugenommen. Auch <strong>der</strong><br />
Sinn für die Freiheit wuchs! Ungeduldig und oft ungerecht wünschte das Volk<br />
<strong>im</strong> Frieden den Zwang von sich zu tun. Seine Reserven an freiwilliger<br />
Einsatzbereitschaft waren erschöpft. Nun wünschte es Bewegungsfreiheit, um<br />
sie neu zu äufnen.<br />
Die <strong>Schweiz</strong>er haben in den schweren Jahren des zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es in <strong>der</strong><br />
überwiegenden Mehrheit, unter Liberalen, Konservativen und Sozialisten,<br />
unter Reichen und Armen, unter Reformierten und Katholiken, unter Deutsch-,<br />
Welsch-, Italienisch- und Romanisch-Redenden<br />
S. 111: nie an ihrem Recht gezweifelt, frei und unabhängig in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> stehen zu<br />
dürfen und stehen zu wollen. Das politische Dasein war ihnen mehr als eine<br />
Zweckorganisation, obschon sie das Zweckmässige in <strong>der</strong> Politik nie verachtet<br />
hatten. Daher blieben sie <strong>im</strong> Gleichgewicht, und daher empfingen sie den<br />
Glauben an ihr Recht. Wer aber den Glauben hat, ist befähigt für das Wun<strong>der</strong>.<br />
Die Eingangsworte <strong>der</strong> Bundesverfassung «Im Namen Gottes des<br />
Allmächtigen» hatten <strong>im</strong> schweren Geschehen ihren tiefen Sinn ein neues Mal<br />
offenbart.
- 77 -<br />
In den kommenden Jahren werden die Verän<strong>der</strong>ungen, die <strong>der</strong> Krieg von 1939<br />
bis 1945 mit uns <strong>Schweiz</strong>ern vorgenommen hat, erst noch spürbar werden. Die<br />
<strong>Schweiz</strong> von <strong>1949</strong> ist an<strong>der</strong>s als die <strong>Schweiz</strong> von 1939 o<strong>der</strong> von 1941. Sie wird<br />
aber die <strong>Schweiz</strong> bleiben, wenn das Volk jene Formen finden wird, die dem<br />
gleichen Stamm entsprossen sind wie alle Formen, unter denen die<br />
Eidgenossenschaft in den Jahrhun<strong>der</strong>ten bestanden hat. Es ist <strong>der</strong> Stamm <strong>der</strong><br />
<strong>im</strong> Glauben gebundenen, gegenständlichen und praktischen Freiheit <strong>im</strong> Innern<br />
und <strong>der</strong> Wille zur Unabhängigkeit nach aussen<br />
Internet-Bearbeitung: K. J. Version 06/2008<br />
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