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1947-Die Alpenpässe zur römischen Zeit - Burgenverein Untervaz

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<strong>Untervaz</strong>er <strong>Burgenverein</strong> <strong>Untervaz</strong><br />

Texte <strong>zur</strong> Dorfgeschichte<br />

von <strong>Untervaz</strong><br />

<strong>1947</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Alpenpässe</strong> <strong>zur</strong> <strong>römischen</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte <strong>zur</strong> Dorfgeschichte sind im Internet unter<br />

http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter<br />

http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.


- 2 -<br />

<strong>1947</strong> <strong>Die</strong> <strong>Alpenpässe</strong> <strong>zur</strong> <strong>römischen</strong> <strong>Zeit</strong> Gustav Meyer<br />

in: Der Rauracher. Quartalschrift der Gesellschaft Raurachischer<br />

Geschichtsfreunde. 19. Jahrgang. Nr. 2/3. 2./3. Quartal <strong>1947</strong><br />

S. 29: <strong>Die</strong> <strong>Alpenpässe</strong> <strong>zur</strong> <strong>römischen</strong> <strong>Zeit</strong> von Dr. Gustav Meyer, Basel<br />

Auf drei beschwerliche Alpenübergänge war der Verkehr vom <strong>römischen</strong><br />

Stammland in das Gebiet der heutigen Schweiz und der Rheingegend<br />

angewiesen: auf den Pass über den Grossen St. Bernhard, den Splügen und den<br />

Maloja-Julierpass, während für die östlichen Reichsprovinzen (Raetien,<br />

Donauländer etc.) die Übergänge über die Reschenscheideck, den Brenner usf.<br />

in Frage kamen.<br />

Wollte also ein Bewohner Italiens nach Norden reisen, sagen wir nach<br />

Aventicum, Augst oder Vindonissa, an den Bodensee oder weiter ins<br />

Rheinland hinunter, so blieb ihm keine andere Wahl, er musste einen der<br />

genannten Pässe übersteigen. Angehörige der in den nördlich der Alpen<br />

gelegenen Standlagern garnisonierten Truppen hatten die Alpen in dieser oder<br />

jener Richtung zu überqueren, der Kaufmann, der in einer dieser Provinzen<br />

Geschäfte machen wollte, musste von Italien aus über den Alpenwall steigen,


- 3 -<br />

der Zivilbeamte, der Kurier - kurz, jeder, der etwas da im Norden zu verrichten<br />

hatte, kam nicht darum herum, die Kette der Alpen, dieses Hindernis von Fels,<br />

Schnee und Eis, zu überwinden. Und wer aus dem Norden wieder nach Italien<br />

zog, dem stellte<br />

S. 30: sich wiederum die dräuende Alpenkette in den Weg, bevor er seine sonnige<br />

Heimat im Süden betreten konnte. Versuchen wir einmal, uns auszumalen, was<br />

diese Notwendigkeit der steten Alpenüberquerung für die an südliche Sonne<br />

und Landschaft gewohnten Menschen von damals bedeutete! Wer nämlich in<br />

jener <strong>Zeit</strong> über die Alpen stieg, der empfand nicht nur das Beschwerliche und<br />

Mühsame einer solchen Reise, wie sie eine Hochgebirgswanderung von<br />

vorneherein mit sich bringt: es trat vielmehr noch ein richtiges Grauen, eine<br />

Angst und ein förmlicher Schrecken vor den Gefahren dazu, die nach der<br />

allgemeinen Ansicht in jenen Alpen und hohen Bergen lauerten. Man erblickte<br />

in den Alpen kaum je etwas anderes, als das Furchtbare, Grauenvolle und<br />

Gefährliche, etwas, dem man lieber auswich, wenn man nicht unbedingt<br />

gezwungen, war, es zu versuchen. Man sah in solchen Gebirgen bloss die<br />

abfallenden Schroffen und Felsen, die schwer zu begehenden, schwierigen<br />

Pfade, die todbringenden Abstürze, die starren Eis- und Schneefelder die voller<br />

Gefahren steckten, man hatte nichts übrig für die Grossartigkeit der Alpenwelt<br />

und die erhabene Schönheit der Berge. Kaum einer wusste etwas vom Zauber<br />

dieser Gebirgswelt, kaum einer empfand Freude an ihr - im Gegenteil: für den<br />

antiken Menschen sind die Alpen in ihrer eisigen Starre so etwas wie der<br />

Inbegriff des Furchterregenden und Absehreckenden gewesen<br />

Es ist dieselbe Einstellung, die auch noch für das Mittelalter, ja, man darf ruhig<br />

sagen, von wenigren Ausnahmen abgesehen bis auf das berühmte Gedicht des<br />

Berners Albrecht von Haller, »<strong>Die</strong> Alpen« (1728/29), vorherrschte. Erst in<br />

dieser, Also in recht neuer <strong>Zeit</strong>, hat sich das Verständnis für den grossartigen<br />

Reiz der Bergwelt und die Liebe zu den Alpen langsam und allmählich Bahn<br />

gebrochen. So fühlte sich, um nur ein Beispiel aus dem Mittelalter anzuführen,<br />

der bekannte Verfasser der »Cosmographei« (1544), Sebastian Münster, »bis<br />

in die Knochen und das Herz erzittern», als er auf der Höhe des Gemmipasses<br />

stand, hohe Berge und Felsen sind für ihn »erschröcklich« und »grausam«,


- 4 -<br />

selbst das grandiose Schauspiel des Rheinfalles nennt er »ein grausam Ding<br />

anzusehen«. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn im Altertum diese<br />

Furcht vor den Alpen allgemein verbreitet war.<br />

Ein eindrucksvolles Bild von der eben geschilderten Abneigung <strong>zur</strong><br />

Gebirgswelt erhalten wir, wenn wir die bei bedeutenden antiken Schriftstellern<br />

vorkommenden Schilderungen von Alpenübergängen ansehen. Ich verweise<br />

auf folgende Darstellungen: dem denkwürdigsten und berühmtesten<br />

Alpenübergang im Altertum, dem Zuge Hannibals über die Alpen während des<br />

zweiten punischen Krieges (218 v. Chr.), hat der klassische römische<br />

Geschichtsschreiber Livius (59 vor bis 17. nach Chr.) besonders<br />

eindrucksvolle, Worte gewidmet, Worte die nicht so sehr den realen und<br />

wirklichen Verlauf der Alpentraversierung wiedergeben, als vielmehr in<br />

typischer Weise beim Leser eine plastische Vorstellung erwecken wollen, wie<br />

schauderhaft schwer und wie gefahrvoll.<br />

S. 31: ein derartiges Unternehmen gewesen sein muss. Da wird die empfindliche<br />

Kälte betont, die Steilheit und Abschüssigkeit des Weges, sowie die ständige<br />

Gefahr hervorgehoben, welche durch das Ausrutschen von Mensch und<br />

Zugtier immer wieder akut wurde. »Denn da über dem alten und<br />

unvermischten Schnee Neuschnee in mässiger Höhe lag«, heisst es u.a. »trat<br />

man zunächst in dem weichen, nicht eben tiefen Schnee mit Leichtigkeit auf,<br />

als aber der Neuschnee durch das Einherziehen von so viel Menschen und<br />

Tieren zergangen war, mussten sie versuchen, direkt auf dem nackten<br />

gefrorenen Schnee und im Wasser zergehenden Eises zu marschieren. Da gab<br />

es denn ein abscheuliches Ringen: das glitschige Eis liess nämlich den Fuss<br />

nicht fest und sicher auftreten, sondern es brachte die Leute auf dem<br />

abschüssigen Gelände eher zu Fall. Darum stürzten sie dann oftmals, wenn sie<br />

sich beim Aufstehen auf ihre Hände oder Knie stützen wollten, wieder hin,<br />

weil diese Stützen (d.h. die Hände und Knie) keinen Halt gefunden hatten.<br />

Man kann leicht nachfühlen, was für Empfindungen eine derartige Schilderung<br />

beim Leser hervorrufen mochte!<br />

Über die Schwierigkeit der raetischen <strong>Alpenpässe</strong> lesen wir beim Griechen<br />

Strabo, der um den Beginn unserer <strong>Zeit</strong>rechnung ein hervorragendes<br />

geographisches Werk verfasst hat: jeder, der auf dem schmalen Pfad einen<br />

Fehltritt tue, stürze unfehlbar in den Abgrund.


- 5 -<br />

»Der Weg ist dort stellenweise so schmal, dass er den Fussgängern und den<br />

nicht eingewöhnten Zugtieren Schwindel verursacht, die einheimischen Tiere<br />

dagegen tragen die Lasten sicher.« Es gäbe dort solche Eismassen die, wenn<br />

sie sich von oben heranwälzten (Lawinen), eine ganze Weggesellschaft<br />

hinwegrissen usw. Auch hier wird besonderer Nachdruck auf das Abstürzen in<br />

bodenlose Tiefe gelegt.<br />

Eine drastische Darstellung des Verkehrs über den Mont Genevre bietet uns<br />

dann der späte Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus (2. Hälfte des<br />

nachchristlichen Jahrhunderts). Spricht Ammian auch vom Mont Genèvre, so<br />

darf man seine Worte doch ruhig auf jeden Alpenpass übertragen. In der<br />

Frühlingszeit, heisst es da, sei der Abstieg an der Ostseite des Berges sehr<br />

gefährlich, Menschen und Vieh, die da herabstiegen, fielen um, weil ihre Füsse<br />

keinen Halt fänden, ebenso ginge es mit Wagen. Es gäbe nur ein Mittel <strong>zur</strong><br />

Abwehr der Gefahr: »<strong>Die</strong> meisten Wagen werden an grossen Seilen befestigt<br />

und von Männern oder Ochsen unter gewaltiger Anstrengung hinten gebremst,<br />

auf diese Weise würden sie etwas sicherer herabgelassen, indem man sehr<br />

langsam, im Schleichtempo, einher zog.« Im Winter sei das Abrutschen und<br />

Ausgleiten aber noch viel ärger: Wanderer versänken oft im Abgrund.<br />

»Deshalb stecken die Ortskundigen an sicheren Stellen Holzstangen ein, die<br />

aus dem Schnee herausragen, damit ihre Reihe den Wanderer ohne Schaden<br />

führe, sind diese Stangen aber von Schnee bedeckt und unsichtbar oder von<br />

herabstürzenden Bergbächen weggerissen, dann vermag man diese Wege nur<br />

unter Führung von Einheimischen mit grosser Schwierigkeit zu begehen.«<br />

S. 32: Und endlich beschreibt der letzte grosse römische Dichter, Claudius<br />

Claudianus (nach 400 n. Chr.) in ein paar schwungvollen Versen die<br />

Schrecklichkeit der Alpen. In dem zu Ehren des Feldherrn Stilicho, der kurz<br />

vorher Alarichs Heer bei Pollentia geschlagen hatte, im Jahre 402 verfassten<br />

Gedicht heisst es (ich habe versucht, Claudians Verse ebenfalls in solchen zu<br />

geben): »Doch wo Raetien stösst an hesperisch (d.h. italisch) Gefilde, die Seite<br />

reicht zu den Sternen mit steil abfallenden Bergen und öffnet Sommers kaum<br />

den fruchtbaren Pfad: wie vor der Meduse ist manch einer vor Kälte erstarrt<br />

(d.h. wie die Menschen beim Anblick des scheusslichen Gorgonenhauptes starr<br />

werden...), gar ,viele verschlangen riesige Massen des hohen Schnees, und<br />

berstende Wagen samt ihren Ochsen, versanken schon oft im Abgrund.


- 6 -<br />

Ja, bisweisen bei gleitendem Eis stürzt krachend der Berg ein, unterhöhlte bei<br />

feuchtwarmem Himmel auf hängendem Boden trügerischen Grund (d.h. bei<br />

Tauwetter, Föhn und dgl. lösen sich die Lawinen ab).«<br />

Man sieht, das Gruseln vor dem möglichen Absturz, dem Ausgleiten und<br />

Fallen in weglose Tiefe, sitzt jedem der genannten Autoren in den Knochen,<br />

und jeder bemüht sich, das ähnliche oder gleiche Gefühl auch beim Leser<br />

wach<strong>zur</strong>ufen. - Es denkt vielleicht mancher, angesichts dieser Abneigung<br />

gegen hohe Berge sei der Verkehr über diese genannten Pässe nach hüben und<br />

drüben entsprechend gering gewesen. Doch ist dem nicht so, der Verkehr war<br />

im Gegenteil recht intensiv. Schon allein die Tatsache, dass so und so viele<br />

Truppen seit Beginn unserer <strong>Zeit</strong>rechnung bis zum Zerfall des Römerreiches<br />

dauernd in verschiedenen Standlagern nördlich der Alpenkette lagen,<br />

verursachte eine rege Benützung der Pässe. <strong>Die</strong> Verbindung dieser Truppen<br />

mit Rom musste ja ständig aufrecht erhalten bleiben. Dazu kommt das Hin und<br />

Her, wie es die andern Zweige der Provinzverwaltung mit sich brachten,<br />

schliesslich ist der Handel nach diesen Gebieten nicht zu vergessen, so dass<br />

alles in allem der Verkehr auf diesen Alpenübergängen ziemlich lebendig<br />

gewesen sein muss.<br />

Von den drei eingangs erwähnten Pässen war in der Römerzeit der Grosse St.<br />

Bernhard sichtlich der wichtigste. Auf der Passhöhe (2473 m), die damals nach<br />

einer einheimischen lokalen Gottheit Poeninus den Namen Summus Poeninus<br />

(eig. »höchster P.« d.h. »zu oberst auf dem P.«) trug, befand sich lange vor der<br />

Besitznahme durch die Römer eine Kult- und Opferstätte. Schon früh setzten<br />

die Römer den Gott Poenius ihrem höchsten Gott Jupiter gleich, diese Gottheit<br />

genoss grosse Verehrung. Weshalb? Es ist jetzt leicht zu verstehen: Jeder, der<br />

diese schaurige Alpenwelt, sei es in dieser oder jener Richtung, heil und<br />

glücklich überstanden hatte, fühlte sich dem Gotte hier, auf dem höchsten<br />

Punkte des Überganges, dankbar verpflichtet. Oder derjenige, der die Reise<br />

noch erst zu bewerkstelligen hatte, mochte wohl hier oben<br />

S. 33: den Gott um gutes Gelingen anflehen und ein Gelübde ablegen für die<br />

Gewährung der Bitte. So kommt es, dass gar mancher, schon seit ältesten<br />

Tagen, hier oben eine kleine Weihegabe, eine Münze und dgl., später oft auch<br />

ein Weihetafelchen oder sonst eine Spende, aus dankbarer Gesinnung für den<br />

gütigen Gott, dargebracht hat.


- 7 -<br />

Wir erhalten einen Einblick in die Art solcher Weihungen und ein Gefühl für<br />

die Stimmung, die jene Wanderer beseelt haben mag, aus einer ganzen Anzahl<br />

sog. Votivtafeln, die auf dem Grossen St. Bernhard gefunden worden sind:<br />

meist sind diese Tafeln stereotyp abgefasst, indem gesagt wird, »N. N. hat dem<br />

Jupiter Poeninus (oder dem höchsten etc. Poeninus) das Gelübde erfüllt«. Da<br />

und dort treffen wir aber auch etwas persönlichere oder längere Wendungen<br />

an. Es lohnt. sich vielleicht, diese Weihetafelchen etwas näher anzusehen.<br />

Zunächst sind Heeresangehörige stark vertreten, was nach allem, was wir<br />

gehört haben, nicht verwunderlich ist. Wir lernen sowohl Offiziere wie<br />

Soldaten verschiedener Grade und Funktionen kennen. Da sind Centurionen<br />

(etwa Hauptleute) verewigt, vorab ist hierbei die schönste aller Tafeln zu<br />

erwähnen, auf der wir lesen: »Dem Jupiter Poenius (weihte dies) nach Gelübde<br />

Lucius Paccius Nonianus, Sohn des Lucius, aus der palatinischen Tribus,<br />

gebürtig von Fundi, Centurio der sechsten, siegreichen, loyalen getreuen<br />

Legion (Übersetzung nach F. Stähelin)«. Der Hauptmann stammt also aus<br />

Latium (heute Fondi), die 6, Legion war bis 70 n. Chr. in Spanien, kam dann<br />

an den Niederrhein und nach ca. 119 nach Britannien. Weiter ist etwa ein<br />

sogenannter »Primipilus«, d.h. der ranghöchste unter den Centurionen der<br />

Legion, erwähnt: »Gaius Vettius Sal …, Primipil der 15. Legion, löste sein<br />

Gelübde ein« (gemeint ist wahrscheinlich die 15. Legion mit Beinamen<br />

Primigenia, die im Jahr 39 oder 41/42 aufgestellt worden war und dann am<br />

Niederrhein stand, in den Kämpfen des Dreikaiserjahres 69 wurde sie<br />

aufgerieben).<br />

Wir lernen dann einen Marcus Apicius A (...) kennen., der Kommandant einer<br />

nicht näher bezeichneten Cohorte war, den gleichen Rang bekleidete Gaius<br />

Julius Antullus in der 5. Asturercohorte, die, ein ursprünglich wohl aus dem<br />

spanischen Stamm der Asturer formiertes Hilfskorps, damals am Niederrhein<br />

stationiert war.<br />

Auf einer stark zerstörten Tafel scheint sich ein hoher Offizier, ein<br />

Militärtribun (hoher Stabsoffizier in der Legion), verewigt. zu haben.<br />

Ausserdem begegnet uns- ein Drillmeister (doctor) der 8. Prätorianercohorte,<br />

d.h. der kaiserlichen Garde in Rom. Ein Mann namens Quintus Cassius<br />

Facundus ist höherer Gefreiter beim Provizialstatthalter (von Obergermanien),


- 8 -<br />

der mit der Protokollführung betraut ist, als Gefreiter im Stab des<br />

Armeekommandanten (von Ober- oder Untergermanien) fungiert ein Julius<br />

Fortunatus. Da stellt sich uns weiter ein Tiberius Claudius Severus vor, der als<br />

kaiserlicher Depeschenträger oder »Nachrichter« der<br />

S. 34: 3. italischen, unter Kaiser Marc Aurel aufgestellten und nach Raetien<br />

beorderten Legion <strong>Die</strong>nst tat. Wir vernehmen auch etwas von gemeinen<br />

Soldaten: ein Marcus Cassius Festus gehört der 10. ein Felicio, der mit seiner<br />

Frau Terentia Prisca das Gelübde erfüllte, der 14. Legion (Beiname: Gemina)<br />

an, Lucius Licinius Severus ist Reiter bei der 4. mazedonischen Legion.<br />

Ausserdem haben auch Veteranen ihre Votivtafel gestiftet.<br />

Nehmen wir noch dazu, dass von Truppenkörpern auf verstümmelten<br />

Weihetafeln noch die 22. (Primigenia) und die 30. Legion (Beiname: Ulpia<br />

Vietrix »die Siegreiche«) sowie die 30. Cohorte der Freiwilligen vorkommen,<br />

so können wir doch feststellen, ein wie buntes Bild wir allein für den<br />

militärischen Verkehr gewinnen. Alle diese Heeresangehörigen, Graduierte<br />

und Gemeine, weihen nach vollzogenem Gelübde ihre Votivtafel und<br />

bezeugen damit, dass auch ihnen der schwere Weg über die Alpen nicht<br />

geheuer war und dass sie froh waren, den Alpenwall wohlbehalten erstiegen zu<br />

haben.<br />

Selbstverständlich sprechen auch Zivilpersonen zu uns: von Interesse ist da in<br />

erster Linie ein engerer Landsmann, der allerdings ein für uns nicht gerade<br />

erfreuliches Geschäft betrieben hat: »Dem höchsten und besten Jupiter Poenius<br />

erfüllte Gaius Domitius Carassounus, helvetischer Sklavenhändler, das<br />

Gelübde. Carassounus ist echt keltischer Name. Für glückliche »Reise und<br />

Rückreise« danken in ihrer Tafel ein Julius Primus Gaius und ein Quintus<br />

Iulius Alpinus, ein Kurier der Kolonie der Sequaner mit Namen Quintus<br />

Silvius Perennis, hat ebenfalls auf der Passhöhe sein Gelübde vollzogen: man<br />

kann sich leicht denken, dass dieser Kurier aus der Gegend des heutigen<br />

Besançon des öftern durchgekommen sein wird. Auch ein Mann aus dem<br />

Gebiet des jetzigen Amiens, Sabineius, Censor der Ambiane (davon Amiens!)<br />

begegnet als Stifter einer Tafel.


- 9 -<br />

Von allen andern Inschriften, die meist lediglich die schon erwähnte stereotype<br />

Floskel enthalten, seien noch die folgenden genannt: »Für die Rettung des<br />

Helius und seiner Herrschaft gab Apriclus, des Helius Sklave, eine Gabe und<br />

löste das Gelübde ein, Apriclus ist Sklave des Helius und dieser wiederum<br />

Sklave einer nicht näher bezeichneten Herrschaft. <strong>Die</strong>se Wendung »für die<br />

Rettung« steht auch auf einer am Anfang zerstörten Tafel, auf welcher ein<br />

gewisser Primus, Freigelassener das (….) »für seine und seiner Angehörigen<br />

Rettung« dankt.<br />

Allein am ergreifendsten sind wohl jene schlichten. formal schlechten, aber<br />

umso inniger gehaltenen, redlich gemeinten Verse. welche ein Gaius Julius<br />

Rufus geweiht hat. Sie lauten in gebundenem Übersetzungsversuch etwa so:<br />

»Bei deinem Tempel erfüllte ich gern das getane Gelübde. Dass es genehm dir<br />

sei, fleh deine Gottheit ich an. Freilich - nicht gross ist's an Wert. Dich.<br />

Heiliger, bitten wir: höher als unsern Geldbeutel schätz unsre Gesinnung du<br />

ein!<br />

S. 35: Geradezu rührend wirkt die Gegenüberstellung von Geldbeutel und Gesinnung.<br />

Der Mann ist nicht in der Lage, ein kostbares Weihgeschenk zu stiften und so<br />

bittet er den Poeninus, nicht auf den Wert des Geschenks, sondern mehr auf die<br />

Gesinnung zu achten, mit der Rufus die Weihe vollzogen hat. Gewiss ein<br />

beredtes Denkmal einfacher Dankbarkeit! Natürlich kommen auch andere<br />

Weihgaben vor, die ohne Votivtafeln, also ohne dass sich deren Stifter genannt<br />

hatte, dargebracht worden sind: einmal war es ein häufig geübter Brauch,<br />

Opfermünzen zu spenden. Schon in vorrömischer <strong>Zeit</strong> ist dies geschehen, die<br />

<strong>römischen</strong> Münzen reichen Vom 1. Jahrhundert nach Chr. wo sie am<br />

zahlreichsten auftreten, bis hinunter zu den Kaisern Honorius und Arcadius<br />

(395-408 resp. 395-423). Auch Statuetten mögen im Tempel, der sich nunmehr<br />

oben auf der Passhöhe befand und zugleich der höchstgelegene Tempel<br />

Europas gewesen ist, aufgestellt. worden sein, u.a. ist eine hübsche<br />

Jupiterstatuette gefunden worden. Aus all diesen Funden ergibt sich für uns<br />

heute noch ein lebendiges Bild des Verkehrs über den Grossen St. Bernhard,<br />

ein Bild, das wegen der Mannigfaltigkeit der erhaltenen Namen, Ämter, Grade<br />

und Hantierungen recht bunt und vielfarbig wirkt. Und überall vermögen wir<br />

noch jene ablehnende Haltung der Alpenwelt gegenüber nachzuempfinden.


- 10 -<br />

Wir spüren da und dort bei diesen Reisenden das leise Grauen, das Unbehagen<br />

und oft sogar die Angst wovon sie bei der Überquerung des Passes erfüllt<br />

waren, wir erleben mit ihnen die Freude und das Aufatmen, wenn die Reise<br />

glücklich von statten gegangen war. Und so begreifen wir schliesslich auch,<br />

dass ein kaiserlicher Statthalter, Titus Pomponius Victor, der in den Graischen<br />

und Poeninischen Alpen (Gebiet nördlich vom Mont Cenis bis in die Berge um<br />

den Grossen St. Bernhard) amtierte, seiner Abneigung gegen diese rauhen<br />

Berge und seinem Heimweh nach Italien in schönen Versen den beredten<br />

Ausdruck gab. Das Gedicht (wohl Ende des 2. Jhd.) lautet (Übersetzung von<br />

A. Schneider)›:<br />

»O Gott Silvanus, halb in dem Gezweig<br />

der heil'gen Esche du versteckt, du Schirm<br />

des hohen grünen, üppigen Waldreviers,<br />

ich bringe diese Verse dir zum Dank<br />

dafür, dass du uns über weites Land<br />

und durch der Alpen unwegsam Gebirg<br />

wie deiner Büsche süssen Blumenduft<br />

geleitet hast, dieweil ich hier das Amt,<br />

das Kaisermacht mir gab, verwaltete.<br />

Mich und die meinen führe du nach Rom<br />

<strong>zur</strong>ück und lass uns unter deinem Schutz<br />

italische Gefilde pflegen: ich<br />

gelobe tausend hohe Bäume dir!«<br />

Ergreifend ist diese Bitte an den heimischen waldbeschützenden Gott Silvanus,<br />

innig das Gelübde, mit dem Pomponius<br />

S. 36: tausend Bäume gelobt! Dem Mann ist es offenbar gar nicht wohl in seinem<br />

gebirgigen Statthalterbezirk, er fühlt sich nicht behaglich.<br />

Hauptsächlich benützte Literatur:<br />

vor allem das grundlegende, mustergültige Werk von Felix Stähelin, <strong>Die</strong><br />

Schweiz in römischer <strong>Zeit</strong>, 2. Auflage, Basel 1931, S. 328 ff. und sonst: <strong>Die</strong><br />

römische Schweiz, Texte und Inschriften, herausgegeben von E. Howald und E.<br />

Meyer, Zürich 1941, S. 213 ff. und sonst: Inscriptiones Italiae (Ausgabe der<br />

vereinigten Akademien), Bd. XI, 1 Nr. 48 ff. (Roma 1932), L. Friedlaender,<br />

Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, 8. Aufl., Leipzig 1910,<br />

Bd. II, S. 212 ff.<br />

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 08/2013

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