Gegen den Trend März 2013 - Dekanat Würzburg
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Seniorenwohnen 19<br />
„Das Leben macht wieder Freude“<br />
oder „Fast zwei Jahre Seniorenwohnanlage Reichenberg –<br />
ein Experiment aus der Sicht eines Angehörigen“<br />
Man will es nicht wahrhaben – die Vereinsamung<br />
ist unaufhaltsam und auch der Alltag wird<br />
immer schwerer. Es war fast ein Wunder, was meine<br />
Mutter mit 88 Jahren noch alleine bewältigte. Aber<br />
dann war doch der Moment gekommen, der einem<br />
sagt, dass es so nicht weitergeht – im fast 200 km<br />
entfernten Karlsruhe. „Altersheim“ – ein Schreckenswort.<br />
In <strong>den</strong> eigenen Haushalt aufnehmen?<br />
Bei zwei Berufstätigen in einem Haus mit steilen<br />
Wendeltreppen keine echte Problemlösung. So<br />
waren die sorgenvollen Gedanken an einem Sonntagabend<br />
Ende Januar 2011.<br />
Die Diakonie hat im Markt Reichenberg eine engagierte<br />
Sozialstation und eine im Rohbau befindliche<br />
Seniorenwohnanlage Reichenberg. Schon<br />
zwölf Stun<strong>den</strong> später: Lokaltermin, der uns trotz<br />
Zementsäcken, Schubkarren und Baulärm positiv<br />
stimmte. Ob es <strong>den</strong>n noch Plätze gibt? „Sie wären<br />
die ersten …“, war die Antwort. Die Frage nach<br />
dem Finanziellen war über ein Rechenmodell und<br />
die Beantragung der längst fälligen Pflegestufe<br />
zu lösen. Dabei lebten meine Eltern – so lange ich<br />
<strong>den</strong>ken kann – in einer kleinen 60 Quadratmeter<br />
Mietswohnung, wo sie ihre drei Kinder großzogen.<br />
Meine Mutter, Brunhilde Martini, die meinen Vater<br />
überlebte, hatte es in diesem Mietshaus auf eine<br />
Gesamtwohnzeit von 73 Jahren gebracht! Keine Immobilien,<br />
keine Grundstücke oder sonstiger finanzieller<br />
Segen. Und trotzdem ging die Rechnung<br />
für ein potenziell neues Zuhause finanziell auf.<br />
Die daraufhin erfolgende Überzeugungsarbeit war<br />
leichter als gedacht: „Ende der Einsamkeit und<br />
täglich umsorgt zu sein“ stan<strong>den</strong> im Vordergrund.<br />
Am 7. Mai 2011 war es dann soweit. Einen Kleintransporter<br />
gemietet, die Familie zusammengetrommelt,<br />
<strong>den</strong> Großteil der Karlsruher Möbel eingela<strong>den</strong><br />
und der Exodus geschah. Am Abend war bis<br />
auf Kleinigkeiten alles eingerichtet in Reichenberg.<br />
Am Tag darauf war offizielle Einweihungsfeier –<br />
großer Bahnhof – mit Ideenträgern, Architekten,<br />
Honoratioren und Ansprachen. Bange wurde es<br />
mir, als Landtagspräsi<strong>den</strong>tin Barbara Stamm bei<br />
ihrer Eröffnungsrede vom „Alten Baum, <strong>den</strong> man<br />
nicht verpflanzt“ sprach … Es gab kein Zurück.<br />
Die folgen<strong>den</strong> Monate waren in jeder Hinsicht<br />
spannend. Wie wird es wohl wer<strong>den</strong>, wie mächtig<br />
wird der Faktor „Heimweh“ sein? Nach 73 Jahren? Ein<br />
Experiment, das uns manchmal nicht schlafen ließ.<br />
Eine Schar von liebenswürdigen und respektvollen<br />
Präsenzkräften unter der Leitung von Karola<br />
Scheer, sehen die Gestaltung eines abwechslungsreichen<br />
Alltags als ihre Aufgabe. Der zum Teil selbst<br />
aus Senioren zusammengesetzte und eigens gegründete<br />
„Freundeskreis Seniorenwohnen“ unter<br />
Leitung von Frau Valentini-Sasse „entführen“ die<br />
Bewohner zu abwechslungsreichen Unternehmungen.<br />
Nicht nur schöne Waldspaziergänge sind<br />
angesagt, sondern auch „Tanznachmittage“ in<br />
<strong>Würzburg</strong>, ja sogar ein rege genutzter Rundflugtag<br />
mit einem Sportflugzeug – Startpunkt: Airport<br />
Giebelstadt. Als Begleiter mit an Bord, wurde es<br />
mir 900 Meter über Unterfranken doch etwas flau,<br />
während meine Mutter dieses Abenteuer genoss.<br />
Aber auch der Alltag birgt seine Reize. Die kleineren<br />
selbstständigen oder begleiteten Einkäufe<br />
beim „Spiegel“ im Herzen Reichenbergs – wie<br />
lange konnte sie in ihrem alten Wohnort nicht mehr<br />
selbstständig einkaufen, da alle Einzelhandelslä<strong>den</strong><br />
verschwun<strong>den</strong> waren.<br />
Eine weitere schon fast zur Institution gewor<strong>den</strong>e<br />
Einrichtung ist Frohmut Dangel-Hofmanns<br />
fast meditative Musikveranstaltung „Zum guten<br />
Schluss“ am letzten Freitagabend jedes Monats,<br />
in die sie lokale Musiker/innen einbindet und nicht<br />
nur die Bewohner der Seniorenwohnanlage in der<br />
schönen, benachbarten Kirche begeistert. Solche<br />
Aktivitäten und vor allem der ständige Einsatz der<br />
Präsenzkräfte und das Engagement des Freundeskreises<br />
sind die „Guten Mächte“, ohne die das<br />
Modell Reichenberg nicht <strong>den</strong>kbar wäre.<br />
Wie es im Leben so ist, gibt es auch bei <strong>den</strong><br />
besten Konzepten Kritik, die nicht immer konstruktiv<br />
und auch nicht gut gemeint ist. „Totgeborenes<br />
Kind“, „Millionengrab“ und „nur für die Reichen“<br />
waren wenig schmeichelhafte Worte für all diejenigen,<br />
die dieses neue Konzept wagten und gemeinsam<br />
umsetzten. All diesen Unkenrufen stehen<br />
gottlob Beispiele gegenüber, die zeigen, dass die<br />
Wohngemeinschaft ein guter Weg ist.<br />
Heute muss ich sagen, dass zumindest dieser<br />
alte Baum – meine Mutter verzeiht diesen Vergleich<br />
– verpflanzt wer<strong>den</strong> konnte. Das Modell<br />
Reichenberg mit seinen Freiheiten und seiner Herzenswärme<br />
lieferte dabei <strong>den</strong> großen Wurzelballen,<br />
wie auch die vielen fleißigen Gärtner ihren<br />
Beitrag leisten. Eine enge Familienan- und -einbindung<br />
ist allerdings ebenso wichtig wie die Sonne,<br />
unter der alles gedeiht.<br />
Manchmal spricht meine Mutter von „zu Hause“,<br />
und dann wissen wir oft nicht, ob sie Karlsruhe<br />
oder Reichenberg meint …<br />
Rudolf Martini, im April 2012 n<br />
Fotos: Wohnen im Alter gGmbH