28.12.2013 Aufrufe

Gegen den Trend März 2013 - Dekanat Würzburg

Gegen den Trend März 2013 - Dekanat Würzburg

Gegen den Trend März 2013 - Dekanat Würzburg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Seniorenwohnen 19<br />

„Das Leben macht wieder Freude“<br />

oder „Fast zwei Jahre Seniorenwohnanlage Reichenberg –<br />

ein Experiment aus der Sicht eines Angehörigen“<br />

Man will es nicht wahrhaben – die Vereinsamung<br />

ist unaufhaltsam und auch der Alltag wird<br />

immer schwerer. Es war fast ein Wunder, was meine<br />

Mutter mit 88 Jahren noch alleine bewältigte. Aber<br />

dann war doch der Moment gekommen, der einem<br />

sagt, dass es so nicht weitergeht – im fast 200 km<br />

entfernten Karlsruhe. „Altersheim“ – ein Schreckenswort.<br />

In <strong>den</strong> eigenen Haushalt aufnehmen?<br />

Bei zwei Berufstätigen in einem Haus mit steilen<br />

Wendeltreppen keine echte Problemlösung. So<br />

waren die sorgenvollen Gedanken an einem Sonntagabend<br />

Ende Januar 2011.<br />

Die Diakonie hat im Markt Reichenberg eine engagierte<br />

Sozialstation und eine im Rohbau befindliche<br />

Seniorenwohnanlage Reichenberg. Schon<br />

zwölf Stun<strong>den</strong> später: Lokaltermin, der uns trotz<br />

Zementsäcken, Schubkarren und Baulärm positiv<br />

stimmte. Ob es <strong>den</strong>n noch Plätze gibt? „Sie wären<br />

die ersten …“, war die Antwort. Die Frage nach<br />

dem Finanziellen war über ein Rechenmodell und<br />

die Beantragung der längst fälligen Pflegestufe<br />

zu lösen. Dabei lebten meine Eltern – so lange ich<br />

<strong>den</strong>ken kann – in einer kleinen 60 Quadratmeter<br />

Mietswohnung, wo sie ihre drei Kinder großzogen.<br />

Meine Mutter, Brunhilde Martini, die meinen Vater<br />

überlebte, hatte es in diesem Mietshaus auf eine<br />

Gesamtwohnzeit von 73 Jahren gebracht! Keine Immobilien,<br />

keine Grundstücke oder sonstiger finanzieller<br />

Segen. Und trotzdem ging die Rechnung<br />

für ein potenziell neues Zuhause finanziell auf.<br />

Die daraufhin erfolgende Überzeugungsarbeit war<br />

leichter als gedacht: „Ende der Einsamkeit und<br />

täglich umsorgt zu sein“ stan<strong>den</strong> im Vordergrund.<br />

Am 7. Mai 2011 war es dann soweit. Einen Kleintransporter<br />

gemietet, die Familie zusammengetrommelt,<br />

<strong>den</strong> Großteil der Karlsruher Möbel eingela<strong>den</strong><br />

und der Exodus geschah. Am Abend war bis<br />

auf Kleinigkeiten alles eingerichtet in Reichenberg.<br />

Am Tag darauf war offizielle Einweihungsfeier –<br />

großer Bahnhof – mit Ideenträgern, Architekten,<br />

Honoratioren und Ansprachen. Bange wurde es<br />

mir, als Landtagspräsi<strong>den</strong>tin Barbara Stamm bei<br />

ihrer Eröffnungsrede vom „Alten Baum, <strong>den</strong> man<br />

nicht verpflanzt“ sprach … Es gab kein Zurück.<br />

Die folgen<strong>den</strong> Monate waren in jeder Hinsicht<br />

spannend. Wie wird es wohl wer<strong>den</strong>, wie mächtig<br />

wird der Faktor „Heimweh“ sein? Nach 73 Jahren? Ein<br />

Experiment, das uns manchmal nicht schlafen ließ.<br />

Eine Schar von liebenswürdigen und respektvollen<br />

Präsenzkräften unter der Leitung von Karola<br />

Scheer, sehen die Gestaltung eines abwechslungsreichen<br />

Alltags als ihre Aufgabe. Der zum Teil selbst<br />

aus Senioren zusammengesetzte und eigens gegründete<br />

„Freundeskreis Seniorenwohnen“ unter<br />

Leitung von Frau Valentini-Sasse „entführen“ die<br />

Bewohner zu abwechslungsreichen Unternehmungen.<br />

Nicht nur schöne Waldspaziergänge sind<br />

angesagt, sondern auch „Tanznachmittage“ in<br />

<strong>Würzburg</strong>, ja sogar ein rege genutzter Rundflugtag<br />

mit einem Sportflugzeug – Startpunkt: Airport<br />

Giebelstadt. Als Begleiter mit an Bord, wurde es<br />

mir 900 Meter über Unterfranken doch etwas flau,<br />

während meine Mutter dieses Abenteuer genoss.<br />

Aber auch der Alltag birgt seine Reize. Die kleineren<br />

selbstständigen oder begleiteten Einkäufe<br />

beim „Spiegel“ im Herzen Reichenbergs – wie<br />

lange konnte sie in ihrem alten Wohnort nicht mehr<br />

selbstständig einkaufen, da alle Einzelhandelslä<strong>den</strong><br />

verschwun<strong>den</strong> waren.<br />

Eine weitere schon fast zur Institution gewor<strong>den</strong>e<br />

Einrichtung ist Frohmut Dangel-Hofmanns<br />

fast meditative Musikveranstaltung „Zum guten<br />

Schluss“ am letzten Freitagabend jedes Monats,<br />

in die sie lokale Musiker/innen einbindet und nicht<br />

nur die Bewohner der Seniorenwohnanlage in der<br />

schönen, benachbarten Kirche begeistert. Solche<br />

Aktivitäten und vor allem der ständige Einsatz der<br />

Präsenzkräfte und das Engagement des Freundeskreises<br />

sind die „Guten Mächte“, ohne die das<br />

Modell Reichenberg nicht <strong>den</strong>kbar wäre.<br />

Wie es im Leben so ist, gibt es auch bei <strong>den</strong><br />

besten Konzepten Kritik, die nicht immer konstruktiv<br />

und auch nicht gut gemeint ist. „Totgeborenes<br />

Kind“, „Millionengrab“ und „nur für die Reichen“<br />

waren wenig schmeichelhafte Worte für all diejenigen,<br />

die dieses neue Konzept wagten und gemeinsam<br />

umsetzten. All diesen Unkenrufen stehen<br />

gottlob Beispiele gegenüber, die zeigen, dass die<br />

Wohngemeinschaft ein guter Weg ist.<br />

Heute muss ich sagen, dass zumindest dieser<br />

alte Baum – meine Mutter verzeiht diesen Vergleich<br />

– verpflanzt wer<strong>den</strong> konnte. Das Modell<br />

Reichenberg mit seinen Freiheiten und seiner Herzenswärme<br />

lieferte dabei <strong>den</strong> großen Wurzelballen,<br />

wie auch die vielen fleißigen Gärtner ihren<br />

Beitrag leisten. Eine enge Familienan- und -einbindung<br />

ist allerdings ebenso wichtig wie die Sonne,<br />

unter der alles gedeiht.<br />

Manchmal spricht meine Mutter von „zu Hause“,<br />

und dann wissen wir oft nicht, ob sie Karlsruhe<br />

oder Reichenberg meint …<br />

Rudolf Martini, im April 2012 n<br />

Fotos: Wohnen im Alter gGmbH

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!