Antiziganismus – Vergangenheit und Gegenwart - Amadeu Antonio ...
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August 2009, Kisléta: 45-jährige erschossen, als sechstes Roma-Mordopfer<br />
Editorial<br />
Die Aktualität des <strong>Antiziganismus</strong><br />
16<br />
Selten haben wir bei einem Themenschwerpunkt so intensiv<br />
über das Titelbild nachgedacht <strong>und</strong> debattiert wie bei<br />
dieser Ausgabe. Fast alle BetrachterInnen fühlten sich auf<br />
Anhieb bei dem Motiv zu sehr an ein Konzentrationslager<br />
erinnert, was aus verschiedenen Gründen großes Unbehagen<br />
auslöste. Die Assoziation ist in der Tat sehr stark <strong>und</strong><br />
vom Künstler auch intendiert. Das Gemälde zeigt indes bei<br />
näherem Hinsehen kein nationalsozialistisches Vernichtungslager,<br />
sondern eine heutige Elendssiedlung irgendwo<br />
in Europa.<br />
Gemalt hat es Gabi Jimenez, ein in Frankreich lebender<br />
Roma-Künstler. Seine ausdrucksstarken Bilder erzählen in<br />
Reihen wie »Discrimination« oder »Porraimos / Genocide«<br />
von einem tief sitzenden, existenziellen Trauma: Von der<br />
Ermordung einer halben Million Roma <strong>und</strong> Sinti in Vernichtungslagern.<br />
Sie handeln von der kaltschnäuzigen Ignoranz<br />
der Mehrheitsgesellschaft, dieses Trauma auch nur zur<br />
Kenntnis zu nehmen <strong>–</strong> geschweige denn ernsthaft Entschädigung<br />
zu leisten. Und sie handeln von der Kontinu ität<br />
der Diskriminierung bis in die heutige Zeit.<br />
Das Titelbild ist ergreifend, regelrecht erschütternd. Es<br />
ist todtraurig <strong>und</strong> doch würdevoll. Je länger man es betrachtet,<br />
desto mehr nimmt es mit. Als Angehörige/r der Mehrheitsgesellschaft<br />
versteht man dann vielleicht ein klein wenig<br />
besser, warum Zoni Weisz, ein niederländischer Sinto <strong>und</strong><br />
Überlebender des Holocaust, im Oktober bei der Einweihung<br />
des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten<br />
Sinti <strong>und</strong> Roma Europas sagte: »Nichts, fast nichts hat<br />
die Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde man jetzt auf<br />
andere Art <strong>und</strong> Weise mit uns umgehen«.<br />
Insofern ist das Bild nicht historisch, es führt vielmehr<br />
zum Kern dessen, was den <strong>Antiziganismus</strong> bis heute ausmacht:<br />
Die Verachtung einer als »Zigeuner« diffamierten<br />
Gruppe, die bis heute dafür sorgt, dass Roma <strong>und</strong> Sinti im<br />
Wortsinne ausgegrenzt werden.<br />
Die beklemmende Aktualität des <strong>Antiziganismus</strong> geht<br />
auch aus dem Ende Oktober veröffentlichten Bericht des<br />
UN-Menschenrechtsausschusses hervor. Der Ausschuss<br />
beklagte ausdrücklich die anhaltende Diskriminierung von<br />
Sinti <strong>und</strong> Roma in der B<strong>und</strong>esrepublik. Deutschland müsse<br />
Sinti <strong>und</strong> Roma den Zugang zu Bildung, Wohnraum,<br />
Arbeitsplätzen <strong>und</strong> zum Ges<strong>und</strong>heitswesen erleichtern.<br />
<strong>Antiziganismus</strong> äußert sich jedoch nicht nur in Marginalisierung,<br />
sondern europaweit wieder immer öfter in offener<br />
Gewalt. Die Tickermeldungen am oberen Seitenrand dieses<br />
Themenschwerpunktes dokumentieren exemplarisch die<br />
alltäglichen Übergriffe gegen Roma. Die Meldungen sind<br />
entnommen aus dem <strong>Antiziganismus</strong>-Watchblog http://<br />
antizig.blogsport.de<br />
Trotz seiner offenk<strong>und</strong>igen Virulenz wurde <strong>Antiziganismus</strong><br />
weder im gesellschaftlichen Mainstream noch in der<br />
Linken als relevantes gesellschaftliches Problem aufgefasst.<br />
Bestenfalls war er ein Nischenthema für einige wenige<br />
spezialisierte WissenschaftlerInnen. Roma-AktivistInnen<br />
standen jahrzehntelang weitgehend allein mit ihren Forderungen.<br />
Unterstützung gab es nur durch andere Opfergruppen,<br />
insbesondere der jüdischen. Das hat sich in den<br />
letzten Jahren etwas geändert: Die Aufmerksamkeit für<br />
Diskriminierungen ist gestiegen, in einigen Städten gibt es<br />
Initiativen zur Verhinderung von Abschiebungen. Nicht<br />
zuletzt ist auch dieser Themenschwerpunkt ein Ergebnis<br />
dieser Entwicklung: Nachdem die iz3w jahrzehntelang<br />
geschwiegen hat zum antiziganistischen Rassismus, müssen<br />
wir selbstkritisch zugestehen, dass die Befassung damit<br />
überfällig war.<br />
Dieser Themenschwerpunkt ist keiner über Roma,<br />
Sinti, Jenische oder Travellers. Es geht nicht darum, wie<br />
»sie« leben, wie sie »wirklich« sind. Ohnehin gibt es nicht<br />
»die« Roma <strong>und</strong> »die« Sinti, mit diesen Bezeichnungen<br />
werden sozial, politisch <strong>und</strong> kulturell heterogene Gruppen<br />
zusammengefasst. Der Zentralrat Deutscher Sinti <strong>und</strong> Roma<br />
wird nicht müde zu betonen, dass viele Roma <strong>und</strong> Sinti ein<br />
völlig »normales« Leben führen <strong>und</strong> sie nicht ständig auf<br />
ihre Zugehörigkeit zu einer ‚Problembevölkerung’ reduziert<br />
werden möchten. Über Fragen von Identität <strong>und</strong> zum<br />
Umgang mit Diskriminierung gibt es unter Roma <strong>und</strong><br />
Sinti durchaus Kontroversen. All das ist hier aber ausdrücklich<br />
nicht Thema.<br />
Der Themenschwerpunkt handelt vielmehr von der<br />
Mehrheitsgesellschaft, genauer gesagt: Vom Ressentiment<br />
der Mehrheit gegenüber einer Minderheit. (Ob die Minderheit<br />
erst durch Fremdzuschreibungen zur Minderheit<br />
gemacht wird, oder ob sie sich auch selbst eine Identität<br />
als Minderheit zuschreibt, ist dabei nicht entscheidend.)<br />
Anders gesagt: In diesem Themenschwerpunkt erfahren<br />
wir etwas über »uns«, nicht über »sie«. Es ist ein erschreckender<br />
Blick in den Spiegel. Und so gesehen ermöglicht<br />
auch das Titelmotiv einen abgr<strong>und</strong>tiefen Blick in die Verfasstheit<br />
der heutigen Mehrheitsgesellschaft.<br />
die redaktion<br />
P.S.: Wir bedanken uns herzlich bei Gabi Jimenez <strong>und</strong> allen<br />
anderen KünstlerInnen, die uns ihre Motive für die Bebilderung<br />
dieses Themenschwerpunktes zu Verfügung stellten.<br />
Mit fre<strong>und</strong>licher Unterstützung von<br />
iz3w • Januar / Februar 2013 q 334