Antiziganismus – Vergangenheit und Gegenwart - Amadeu Antonio ...
Antiziganismus – Vergangenheit und Gegenwart - Amadeu Antonio ...
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Ainet: Jugendliche greifen Roma an <strong>und</strong> skandieren ‚Zigeuner raus!‘ | Sep<br />
Überall waren <strong>und</strong> sind die Roma starken<br />
Anfeindungen ausgesetzt. Die Feindschaft<br />
gegenüber den Roma war <strong>und</strong> ist in allen<br />
europäischen Ländern weit verbreitet. Sie war<br />
so etwas wie der kulturelle Code europäischer<br />
Gesellschaften, der niemals hinterfragt, geschweige<br />
denn überw<strong>und</strong>en worden ist.<br />
Zu diesem Zweck <strong>und</strong> Ziel ist der Begriff<br />
des <strong>Antiziganismus</strong> erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> von der<br />
gänzlich neuen <strong>Antiziganismus</strong>-Forschung<br />
übernommen worden. Bei ihr handelt es sich<br />
genau genommen um eine anti-<strong>Antiziganismus</strong>-Forschung,<br />
zielt sie doch auf eine Überwindung<br />
der Roma-feindlichen Feindbilder,<br />
Ideologien <strong>und</strong> Vorurteile ab, die (wie beim<br />
Antisemitismus) mit religiösen, sozialen, politischen<br />
<strong>und</strong> rassistischen Ideologemen <strong>und</strong><br />
Motiven begründet wurden <strong>und</strong> werden.<br />
Formen des <strong>Antiziganismus</strong><br />
<strong>Antiziganismus</strong> ist in<br />
allen sozialen Schichten<br />
anzutreffen<br />
tt<br />
Religiös motiviert sind die folgenden Vorwürfe<br />
<strong>und</strong> Vorurteile: Bei den »Zigeunern«<br />
handele es sich um Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder<br />
des in der Bibel erwähnten Brudermörders<br />
Kain. »Zigeuner« hätten die Heilige Familie auf<br />
ihrer Flucht nach Ägypten nicht beherbergt.<br />
»Zigeuner« hätten die Nägel für das Kreuz<br />
Christi geschmiedet oder den vierten Nagel<br />
gestohlen. Am wichtigsten <strong>und</strong> folgenreichsten<br />
(<strong>und</strong> zwar bis heute) war der Verdacht, die<br />
»Zigeuner« stünden mit dem Teufel im B<strong>und</strong>e,<br />
von dem sie ihre angeblichen magischen Fähigkeiten<br />
gelernt <strong>und</strong> mit dem sie ihre angeblich<br />
schwarze Hautfarbe gemein hätten.<br />
Sozial motiviert sind die offensichtlich unausrottbaren<br />
Vorurteile, wonach Roma nicht<br />
gezwungen, sondern freiwillig ständig herumzögen,<br />
(weshalb sie auch »Zigeuner« hießen,<br />
was von »Zieh-Gauner« abgeleitet wurde), sich<br />
dabei statt von ehrlicher Arbeit vom Stehlen<br />
<strong>und</strong> anderen Gaunereien ernähren würden <strong>–</strong><br />
kurz eine »Zigeunerplage«<br />
oder zumindest<br />
eine »soziale Frage«<br />
darstellten.<br />
Wenn diese angeblichen<br />
»asozialen«<br />
Eigenschaften der »Zigeuner«<br />
als erblich <strong>und</strong> »rassisch« bedingt<br />
angesehen werden (was schon im ausgehenden<br />
18. Jahrh<strong>und</strong>ert geschah), kann von Rassenantiziganismus<br />
gesprochen werden. Er war<br />
radikaler noch als der Rassenantisemitismus,<br />
wurden doch die »Zigeunermischlinge« als<br />
noch »minderwertiger« <strong>und</strong> »gefährlicher«<br />
angesehen als die »reinrassigen Zigeuner«,<br />
weil sie neben ihrem »zigeunerischen Blut«<br />
auch noch das von »Asozialen« <strong>und</strong> »Kriminellen«<br />
hätten, mit denen sich ihre Vorfahren<br />
nach der Meinung der »Zigeunerforscher«<br />
vermischt hätten. Obwohl all dies blanker<br />
Unsinn ist, wurde es dennoch oder sogar deshalb<br />
geglaubt. Meinten doch Kriminalbiologen<br />
nachgewiesen zu haben, dass »asoziale« <strong>und</strong><br />
»kriminelle« Eigenschaften vererbbar seien.<br />
Der Rassenantiziganismus besteht aus zwei<br />
Teilen. Zum anthropologischen kommt der<br />
soziale Rassismus. Darin unterscheidet er sich<br />
vom Rassenantisemitismus. Dennoch kann<br />
man sowohl den rassistischen wie den sozialen<br />
<strong>und</strong> religiösen <strong>Antiziganismus</strong> mit dem<br />
ebenfalls rassistisch, religiös <strong>und</strong> sozial motivierten<br />
Antisemitismus vergleichen. Einen<br />
bedeutenden Unterschied gibt es jedoch: Es<br />
fehlt ein Pendant zum »sek<strong>und</strong>ären Antisemitismus.«<br />
Denn noch ist den Roma nicht vorgeworfen<br />
worden, den an ihnen begangenen<br />
Völkermord, der im Romanes als »Porrajmos«<br />
(das Verschlungene) bezeichnet wird, für finanzielle<br />
<strong>und</strong> politische Zwecke ausgenützt<br />
<strong>und</strong> instrumentalisiert zu haben. Da die Roma<br />
bisher im Unterschied zu den Jüdinnen <strong>und</strong><br />
Juden über keinen Staat <strong>und</strong> bisher nur über<br />
eine äußerst schwache Nationalbewegung<br />
verfügen, gibt es auch nichts, was man mit<br />
dem (Anti-)Zionismus vergleichen könnte.<br />
Was zu erforschen wäre<br />
tt<br />
All das herauszufinden, wäre die Aufgabe<br />
der vergleichenden <strong>Antiziganismus</strong>forschung.<br />
Sie ist aber nur in Ansätzen entwickelt worden.<br />
Die kritische <strong>Antiziganismus</strong>forschung wird<br />
bislang von HistorikerInnen <strong>und</strong> GesellschaftswissenschaftlerInnen<br />
betrieben. HistorikerInnen<br />
haben vor allem die Genese <strong>und</strong> Funk tion<br />
sowie die TrägerInnen <strong>und</strong> AdressatInnen der<br />
antiziganistischen Feindbilder, Ideologien <strong>und</strong><br />
Vorurteile analysiert. Dies geschah nicht ausschließlich,<br />
aber vornehmlich in Deutschland.<br />
GesellschaftswissenschaftlerInnen konzentrieren<br />
sich auf den gegenwärtigen <strong>Antiziganismus</strong><br />
als Ideologie <strong>und</strong> kulturellem Code in<br />
den gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaften<br />
<strong>–</strong> wiederum vornehmlich in der deutschen.<br />
Hier dient die Ideologie des <strong>Antiziganismus</strong> der<br />
Begründung der Diskriminierung <strong>und</strong> Verfolgung<br />
der Roma. Als kultureller<br />
Code dient <strong>Antiziganismus</strong> sowohl<br />
der Verständigung der<br />
Mehrheitsgesellschaft untereinander<br />
als auch ihrer Abgrenzung<br />
von den verachteten <strong>und</strong> bewusst<br />
falsch als »Zigeuner« bezeichneten<br />
Roma. Folglich war <strong>und</strong> ist der<br />
<strong>Antiziganismus</strong> in allen sozialen Schichten,<br />
allen Altersgruppen <strong>und</strong> bei beiden Geschlechtern<br />
in offensichtlich gleicher Weise anzutreffen.<br />
Nach den letzten Umfragen sind zwischen 64<br />
(Allensbach) <strong>und</strong> 68 Prozent (Emnid) der deutschen<br />
Mehrheitsgesellschaft antiziganistisch<br />
eingestellt.<br />
In inhaltlicher Sicht ist es zu leichten Veränderungen<br />
<strong>und</strong> Ergänzungen des <strong>Antiziganismus</strong><br />
gekommen. Der Rassenantiziganismus<br />
wird heute weniger vertreten, zumindest öffentlich.<br />
Eine erstaunliche Konsistenz <strong>und</strong> weite<br />
Verbreitung weisen hingegen die sozialen<br />
Vorurteile gegenüber den Sinti <strong>und</strong> Roma auf.<br />
Hier hat sich kaum etwas verändert. Man ‚weiß’<br />
eben, dass »Zigeuner« ständig herumziehende<br />
»Gauner« seien. Beispiele <strong>und</strong> Beweise für<br />
diese diskriminierende Sichtweise sind der<br />
täglichen Zeitungslektüre <strong>und</strong> den sonstigen<br />
Medien zu entnehmen. Keineswegs verschw<strong>und</strong>en,<br />
sondern ganz im Gegenteil immer noch<br />
weit verbreitet, ja geradezu radikalisiert ist der<br />
religiös motivierte <strong>Antiziganismus</strong>. Die »Zigeuner«<br />
gelten immer noch als irgendwie teuflisch<br />
<strong>und</strong> mit dem Teufel verbündet.<br />
Die religiöse <strong>–</strong> genauer gesagt diabolische<br />
<strong>–</strong> Prägung des heutigen <strong>Antiziganismus</strong> ist meines<br />
Erachtens auch der Hauptgr<strong>und</strong>, dass sich<br />
trotz aller Versuche, den <strong>Antiziganismus</strong> zu<br />
bekämpfen, hierzulande so wenig getan <strong>und</strong><br />
verändert hat. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft<br />
konstituiert sich nach wie vor durch die<br />
Abgrenzung von <strong>und</strong> die Feindschaft gegenüber<br />
den als »fremd«, »gefährlich«, »unheimlich«<br />
<strong>und</strong> »teuflisch« angesehenen Roma.<br />
Die Bekämpfung des <strong>Antiziganismus</strong> muss<br />
daher bei der Mehrheitsgesellschaft <strong>und</strong> keineswegs<br />
bei der Minderheit der Roma ansetzen.<br />
Dabei sind die unterschiedlichen Varianten<br />
des <strong>Antiziganismus</strong> zu berücksichtigen. Es<br />
ist zu fragen, ob <strong>und</strong> wie sie in den einzelnen<br />
Mehrheitsgesellschaften <strong>und</strong> bei den verschiedenen<br />
sozialen Schichten <strong>und</strong> Altersgruppen<br />
in welcher Form vertreten sind. All dies ist<br />
bisher nicht oder kaum geschehen. Über die<br />
heutige Verbreitung des <strong>Antiziganismus</strong> <strong>und</strong><br />
seine Ursachen wissen wir kaum etwas. Es fehlt<br />
an nahezu allem: An neueren wissenschaftlich<br />
vorbereiteten <strong>und</strong> ausgewerteten Umfragen,<br />
an Forschungsinstituten zur Geschichte <strong>und</strong><br />
<strong>Gegenwart</strong> des <strong>Antiziganismus</strong> <strong>und</strong> vor allem<br />
an der Verankerung des Themas in den Lehrplänen<br />
<strong>und</strong> der Lehrpraxis der Schulen <strong>und</strong><br />
anderen Bildungseinrichtungen.<br />
Zum Weiterlesen:<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: Das Leben in Frankfurt zur<br />
NS-Zeit II. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung.<br />
Darstellung <strong>–</strong> Dokumente <strong>–</strong> Didaktische Hinweise,<br />
Frankfurt/M. 1986<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: Geschichte der Sinti <strong>und</strong><br />
Roma in Deutschland. Darstellung <strong>und</strong> Dokumente,<br />
Berlin 1993<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: »Wie die Zigeuner«. Antisemitismus<br />
<strong>und</strong> <strong>Antiziganismus</strong> im Vergleich, Berlin<br />
1997<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: »Wie mit den Juden«? Der<br />
nationalsozialistische Völkermord an den Sinti <strong>und</strong><br />
Roma in Politik, Rechtsprechung <strong>und</strong> Wissenschaft,<br />
in: Bulletin für Faschismus- <strong>und</strong> Weltkriegsforschung<br />
H. 15, 2000, S. 3-29<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: »Auserwählte Opfer«? Shoah<br />
<strong>und</strong> Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse,<br />
Berlin 2005<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wippermann, Wolfgang: Verweigerte Wiedergutmachung.<br />
Die Deutschen <strong>und</strong> der Völkermord an den<br />
Sinti <strong>und</strong> Roma, in: Standpunkte 14/2012<br />
tt<br />
Wolfgang Wippermann ist Professor für<br />
Neuere Geschichte an der FU Berlin <strong>und</strong> Verfasser<br />
zahlreicher Aufsätze <strong>und</strong> Bücher über<br />
Bonapartismus, Faschismus, Totalitarismus<br />
sowie Antisemitismus <strong>und</strong> <strong>Antiziganismus</strong>.<br />
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iz3w • Januar / Februar 2013 q 334