Prügelknabe «Jugend» - AvenirSocial
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Jugendgewalt | S C H W E R P U N K T<br />
Herbert Marcuse hat vor vierzig Jahren darauf hingewiesen,<br />
dass Gewalt medial zusehends banalisiert und all täglich<br />
wird, indem Schreckensmeldungen direkt neben Werbesendungen<br />
positioniert werden (vgl. Marcuse 1970). Gewalt-<br />
und Herrschaftsverhältnisse werden permanent gelernt,<br />
Anpassung an dieselbigen wird als gesellschaftlich<br />
notwendig vermittelt. Wo für Jugendliche kein legitimer<br />
Weg zu gesellschaftlich zentralen Werten wie Einkommen<br />
vorhanden ist, kann Gewalt funktional werden (vgl. Studer/<br />
Vogel i. E.; Marcuse [1965] zur repressiven Toleranz). Insofern<br />
kann Gewalt nur als relative Grösse analysiert werden.<br />
Robert Castel hat dies für die Jugendrevolten in den Pariser<br />
Banlieues aufgezeigt: Im Sinne eines «Aufstands der Verzweiflung»<br />
kommen in den Ausschreitungen konkrete<br />
Lebensbedingungen zum Vorschein (vgl. Castel 2009).<br />
In diesem Artikel wird versucht, dem komplexen, wechselseitigen<br />
Verursachungszusammenhang von Jugend, Gewalt<br />
und Gesellschaft gerecht zu werden und einen theoretischen<br />
Analyserahmen zur Diskussion zu stellen. In<br />
einem ersten Schritt wird auf die unklare Begrifflichkeit<br />
von «Gewalt» hingewiesen. Zweitens wird anhand soziologischer<br />
und psychoanalytischer Theoriekonzepte ein<br />
Entwurf dargestellt, wie aktuelle Debatten um Jugendgewalt<br />
vor dem Hintergrund des Verständnisses von Jugend<br />
und Gesellschaft kritisch beleuchtet werden können. In einem<br />
dritten Teil wird auf die Bedeutung von Sprache im<br />
Kontext von Jugendgewalt eingegangen. Ziel des vorliegenden<br />
Artikels ist es, Gewalt nicht als physische Gewalt<br />
und rein individuelles Handeln zu verstehen, sondern vielmehr<br />
als Emergenz einer spezifischen Situation.<br />
<strong>«Jugend»</strong> darf nicht als Sammelkategorie<br />
verstanden werden<br />
«Gewalt» – ein unklarer Begriff<br />
Der Gewaltbegriff ist in den Sozialwissenschaften vielschichtig,<br />
uneinheitlich und umstritten. Die unterschiedlichen<br />
Bestimmungen des Begriffs führen zu einer Vielzahl<br />
konkurrierender Erklärungsansätze und erschweren<br />
oft eine Verständigung (vgl. Imbusch 2002). Der Begriff der<br />
Gewalt hat nicht erst durch die sozialwissenschaftliche<br />
Ausweitung seine Kontur eingebüsst, denn auch im alltagssprachlichen<br />
Gebrauch ist der Begriff unpräzis (vgl.<br />
Imbusch 2002, S. 26). In den Sozialwissenschaften wird<br />
häufig die Unterteilung in physische, psychische, strukturelle<br />
und symbolische bzw. kulturelle Gewalt vorgenommen.<br />
Prägend ist ausserdem die Unterscheidung zwischen<br />
staatlich monopolisierter und damit legitimer Gewalt und<br />
illegitimer Gewalt (vgl. Kümmel et al. 2002).<br />
Der Begriff der strukturellen Gewalt wurde von Johan Galtung<br />
Mitte der 70er-Jahre im Rahmen der kritischen Friedensforschung<br />
entwickelt und impliziert eine Auseinandersetzung<br />
um soziale Ungerechtigkeit. Für Galtung ist<br />
eine Definition von Frieden, die sich lediglich durch die Abwesenheit<br />
direkter physischer Gewalt begründet, defizitär,<br />
da sie die vielfältigen Formen des Massensterbens und<br />
der Massenverelendung nicht berücksichtigt, die aus<br />
menschlich zu verantwortenden Verhältnissen resultieren.<br />
«Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst<br />
werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige<br />
Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung»<br />
(Galtung 1975, S. 9).<br />
Zum Thema<br />
Jugend und Gewalt<br />
Andrea Früh<br />
ist Pädagogin, lic. phil. I, und arbeitet<br />
als Beraterin im Frauenhaus Winterthur.<br />
Sie ist Mitglied der Redaktionsgruppe<br />
von SozialAktuell.<br />
Frank Will<br />
ist BA Soziale Arbeit und arbeitet<br />
als Projektleiter Frühe Förderung in<br />
Schaffhausen. Er ist Mitglied der<br />
Redaktionsgruppe von SozialAktuell.<br />
Die Geschichte der Jugendgewalt ist noch nicht geschrieben. Vielleicht<br />
beginnt sie beim «bösen Friederich», dem argen Wüterich,<br />
der sogar vor Gewalt gegen seine Amme nicht zurückschreckte.<br />
«Und höre nur, wie bös er war: er peitschte ach sein Gretchen gar.»<br />
Diese Episode aus Heinrich Hoffmanns «Struwwelpeter» mag aus<br />
heutiger Sicht harmlos wirken angesichts der Bilder des brutalen<br />
Überfalls von Schweizer Jugendlichen auf einen Mann in München<br />
im Sommer 2009. Kaum ein Übergriff von Jugendlichen hat die<br />
Öffentlichkeit so nachhaltig schockiert und einmal mehr Stimmen<br />
laut werden lassen, die mehr Repression und härtere Strafen für<br />
jugendliche Gewalttäter fordern.<br />
Weshalb dieses Thema nun auch noch in SozialAktuell, mögen Sie<br />
sich fragen. Reicht es nicht, wenn bereits sämtliche Medien mit<br />
reisserischen Titeln und Bildern zu Übergriffen durch Jugendliche<br />
Quote machen wollen? Wir finden: Nein. Der genaue, hinterfragende<br />
Blick auf Jugendgewalt, fernab von populistischen Berichten<br />
und vorschnellen Schlussfolgerungen, ist für die Soziale Arbeit<br />
unerlässlich.<br />
Dass die Jugend nicht besser ist als die Gesellschaft, in der sie aufwächst,<br />
zeigen Tobias Studer und Margot Vogel im Eingangsbeitrag.<br />
Auf die Rolle von Elternhaus, Freizeitkult und elektronischen<br />
Medien kommt H.-W. Reinfried im Interview zu sprechen.<br />
Seine Überlegungen zur Prävention werden von Thomas Vollmer<br />
aufgegriffen, der zwei Programme gegen Jugendgewalt erläutert.<br />
Andrea Früh wirft einen Blick auf die von jungen Männern dominierte<br />
Szene der gewaltbereiten Fussballfans und die entsprechenden<br />
sozialarbeiterischen Interventionen. Rahel Heeg klärt auf<br />
über die geschlechterspezifischen Ausprägungen von Gewalt bei<br />
Mädchen, Jachen Nett präsentiert Resultate seiner Forschung zum<br />
Thema Migration und Gewalt, und Franziska Greber weist zum<br />
Schluss auf Gewaltausübung durch Jugendliche in der Familie und<br />
in partnerschaftlichen Beziehungen hin.<br />
Wir wünschen eine anregende Lektüre.<br />
Um eine sinnvolle Analyse von Jugendgewalt zu leisten,<br />
müssen gesellschaftliche Bedingungen und individuelle<br />
Verwirklichungschancen berücksichtigt werden. So weisen<br />
bspw. Findeisen und Kersten (1999) in ihrer Analyse<br />
jugendlicher Gewalt darauf hin, dass viele Gewaltereignisse<br />
einen spezifischen sozialen und kulturellen Kontext<br />
reflektieren: «Das, was an bestimmten Jugendgruppen<br />
und -szenen, unabhängig von ihrer Zahl und Grösse, provoziert,<br />
spiegelt Werte wider, die zum jeweiligen historischen<br />
Zeitpunkt die Gesellschaft in ihrem Wesen definieren»<br />
(Findeisen/Kersten 1999, S. 68). Oder anders ausgedrückt:<br />
«Die sichtbargemachte böse Identität der Jugend<br />
Nr.9 _ September 2010 | SozialAktuell<br />
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