Referat von Stéphane Beuchat - AvenirSocial
Referat von Stéphane Beuchat - AvenirSocial
Referat von Stéphane Beuchat - AvenirSocial
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
<strong>AvenirSocial</strong><br />
Schwarztorstrasse 22, PF/CP 8163<br />
CH-3001 Bern<br />
T. +41 (0)31 380 83 00<br />
F. +41 (0)31 380 83 01<br />
info@avenirsocial.ch, www.avenirsocial.ch<br />
<strong>Referat</strong> <strong>von</strong> <strong>Stéphane</strong> <strong>Beuchat</strong>, Stellv. Geschäftsleiter <strong>von</strong> <strong>AvenirSocial</strong> -<br />
Soziale Arbeit Schweiz - anlässlich der 15. Fachtagung der Stiftung<br />
Tannenhof vom 3. Mai 2013.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen<br />
Als erstes möchte ich mich herzlich bei Herrn Märk-Meyer für die Einladung<br />
bedanken. Ich freue mich sehr, mit Ihnen ein paar Gedanken zur Sozialen Arbeit<br />
und deren Herausforderungen im Kontext der Moralphilosophie <strong>von</strong> Kant zu teilen.<br />
Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg, heutiges Kaliningrad, geboren. Er<br />
wurde beachtliche 80 Jahre alt und verfasste über 1000 Monographien und<br />
Aufsatzsammlungen. Kant formulierte vier Grundfragen der Philosophie 1 :<br />
Was kann ich wissen?<br />
Was darf ich hoffen?<br />
Was ist der Mensch?<br />
Und wollen wir dem Thema der heutigen Fachtagung – „Handle so, dass dein Tun<br />
als allgemeine Regel für unsere Gesellschaft gelten könnte“ - ein wenig auf den<br />
Grund gehen, so müssen wir uns mit der letzten Fragestellung „Was soll ich tun?“<br />
beschäftigen. Diese Frage betrifft die Moral und seine Schrift Kritik der praktischen<br />
Vernunft; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2<br />
Die Ethik <strong>von</strong> Kant oder <strong>von</strong> der Frage: „Was soll ich tun?“<br />
Wenn es eine ethische Verpflichtung geben soll, dann darf keine Unklarheit<br />
darüber herrschen, worin die ethische Verpflichtung begründet ist, sagt Kant. Es<br />
1<br />
2<br />
Vgl. Irrlitz, Gerd (2002): Kant-Handbuch. Leben und Werk. Stuttgart, S.67 und 263. <br />
Andersen, Svend; Grønkjær, Niels (2005): Einführung in die Ethik. 2., erw. Aufl. Berlin: de Gruyter (De-<br />
Gruyter-Studienbuch), S.153-155. <br />
1
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
darf ebenso keine Zweifel darüber geben, was moralisch gut und worin unsere<br />
Pflicht besteht. Zweifel gibt es hingegen darüber, wie die Pflicht zu begründen ist.<br />
Damit wir der ethischen Verpflichtung nach Kant und somit dem kategorischen<br />
Imperativ näher kommen, müssen wir den Begriff des Willens, der in zweifacher<br />
Art beschrieben werden kann, näher betrachten:<br />
Ausgeübt wird der Wille entweder um eines Zweckes willen, d.h. um etwas zu<br />
erreichen oder weil ich es mir zur Regel gemacht habe, d.h. dass ich immer<br />
Menschen helfe, wenn sie Hilfe benötigen.<br />
Entscheidend nun, ob etwas zum Guten oder zum Bösen führt, ist der dahinter<br />
stehende Wille. Der gute Wille ist das intuitive Wissen um das Richtige und der<br />
besteht aus nichts anderem als dem Handeln aus Pflicht, im Gegensatz zum<br />
Handeln aus Neigung. Wenn man jemand anderen hilft, weil man <strong>von</strong> der Not<br />
anderer betroffen ist, handelt man nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung. Aus<br />
Pflicht handelt jemand, der überhaupt nicht durch die Leiden anderer betroffen ist,<br />
der aber trotzdem hilft, weil er sich dazu verpflichtet fühlt. 3<br />
Wenn der gute Wille also dasselbe ist wie ein Handeln aus Pflicht, dann ist die<br />
Pflicht durch den Charakter des Imperativen gekennzeichnet. Da wir aber in<br />
verschiedener Weise auf Grund <strong>von</strong> Imperativen handeln können, unterscheidet<br />
man zwischen dem hypothetischen Imperativ, d.h. die Forderung „wenn-dann“ und<br />
dem kategorischen Imperativ. Der kategorische Imperativ ist unbedingt gültig, d.h.<br />
ohne „wenn“ und seine Gültigkeit muss unabhängig <strong>von</strong> allen Zwecken, nach<br />
denen wir handeln, feststehen. Somit hat der kategorische Imperativ mit der Art zu<br />
tun, wie wir nach Regeln handeln und nicht mit dem, was der Wille will.<br />
Normalerweise folgen wir beim Handeln sogenannten Maximen, d.h. allgemeinen<br />
Handlungsregeln, die jeder Einzelne für sich zu Normen macht. Ein kategorischer<br />
Imperativ kann sich nun nicht darauf beziehen, was unsere Handlungsregeln<br />
beinhalten, sondern nur darauf, welche Form sie haben müssen. Der Imperativ<br />
kann also nicht einer unserer Maximen sein, sondern er muss eine Forderung an<br />
die Form unserer Maximen sein, d.h. es ist das Kriterium, mit dessen Hilfe wir <strong>von</strong><br />
einer Vielzahl möglicher Tugenden das auswählen, der dasselbe fordert, wie die<br />
3<br />
Kant wird nach der Akademieausgabe Kants gesammelte Schriften, Berlin 1902ff. zitiert: Band IV, S.412.<br />
2
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
Maxime selbst. So muss der kategorische Imperativ oder auch<br />
Universalisierungsformel lauten:<br />
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,<br />
dass sie ein allgemeines Gesetz werde. 4<br />
Der kategorische Imperativ schreibt nicht einfach vor, dass ich anderen helfen soll.<br />
Vielmehr sagt er, dass ich anderen helfen soll, weil ich will, dass die Maxime „Ich<br />
will immer anderen Hilfe leisten“ eine für alle Menschen verbindliche Vorschrift sei.<br />
Er ist ein Kriterium höherer Ordnung und zwingt mich folgende Frage zu stellen:<br />
Kann ich wirklich wollen, dass jeder in einer entsprechenden Situation dasselbe<br />
macht wie ich?<br />
Wir haben gesehen, dass eine im strengen Sinne ethische Handlung, nicht <strong>von</strong><br />
einem Zweck bestimmt sein darf. Nun kann es aber denkbar sein, dass es etwas<br />
gibt, das die Beschaffenheit eines Zweckes an sich hat. Nach Kant gibt es<br />
tatsächlich ein solches „etwas“, nämlich den Menschen als Vernunftwesen. Ein<br />
Mensch kann nicht zu einem Mittel reduziert werden, sondern er ist immer ein<br />
Zweck an sich.<br />
Sobald wir es – wie beispielsweise in der Sozialen Arbeit mit konkreten<br />
Handlungen zu tun haben, müssen wir immer den Zweck berücksichtigen, der mit<br />
der Handlung verfolgt wird. Die Ethik <strong>von</strong> Kant handelt nun <strong>von</strong> denjenigen<br />
Zwecken, die zu verfolgen wir verpflichtet sind. Der kategorische Imperativ muss<br />
deshalb nochmals neu formuliert werden und lautet:<br />
Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein<br />
allgemeines Gesetz sein kann. 5<br />
Demnach ist der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck und Kant<br />
unterscheidet nun zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegenüber<br />
anderen.<br />
Pflichten gegen sich selbst bedeuten, dass man sich wechselseitig als<br />
Vernunftwesen respektiert und sich nicht zu einer Sache degradieren lässt.<br />
Pflichten gegen andere ist als „tätiges Wohlwollen“ zu verstehen und ist immer mit<br />
Achtung vor dem anderen Menschen verbunden. Die Beschreibung der Achtung<br />
4<br />
5<br />
Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band IV, S.421. <br />
Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band VI, S.395. <br />
3
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
steht bei Kant immer eng in Verbindung mit der ethischen Selbstbestimmung oder<br />
Autonomie und der Würde des Menschen.<br />
Und um die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere zu<br />
erkennen, ist ein Gewissen nötig. Das Gewissen ist sozusagen die oberste<br />
moralische Instanz, weil es kein Gewissen des Gewissens gibt. Der kategorische<br />
Imperativ ist sozusagen die ausformulierte Arbeitsweise unseres Gewissens. 6<br />
Was sagt uns nun konkret die Ethik <strong>von</strong> Kant im Kontext der Sozialen<br />
Arbeit? Dies möchte ich exemplarisch anhand der Autonomie, der Pflicht zu<br />
unterstützen und den Nützlichkeitserwägungen erläutern:<br />
Die Autonomie und der Schutz der menschlichen Würde<br />
Die Autonomie steht bei Kant für Eigenständigkeit, Selbstgesetzgebung und<br />
Unabhängigkeit. Es ist einer der Schlüsselbegriffe für die professionelle Soziale<br />
Arbeit, die Menschen unterstützt, befähigt, ermächtigt und befreit, und zwar<br />
letztlich damit, dass das Recht auf den Schutz der Würde respektiert wird.<br />
Diese Ansicht teilt Kant, der die Autonomie als den Inbegriff menschlicher Freiheit<br />
versteht und somit als Grund der unantastbaren menschlichen Würde sieht. Die<br />
Moraltheorie <strong>von</strong> Kant konkretisiert die Ethik der Sozialen Arbeit, indem das<br />
Verständnis einer autonomen Lebensführung aufgezeigt wird. Autonomie im Sinne<br />
einer bindungsstarken, eigenverantwortlichen und verantwortungsvollen<br />
Lebensführung. 7<br />
Im Zentrum der moralphilosophischen Wissensbestände der Sozialen Arbeit steht<br />
die Menschenwürde. Im Berufskodex der Sozialen Arbeit 8 wird der Begriff der<br />
Menschenwürde, der den Ausgangspunkt des Kodexes sowie der<br />
Menschenrechte darstellt, folgendermassen beschrieben:<br />
Die Professionellen der Sozialen Arbeit gründen ihr Handeln auf der Achtung<br />
der jedem Menschen innewohnenden Würde sowie den Rechten, welche<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Hofmeister, Heimo (1997): Philosophisch denken. 2., durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht<br />
(UTB für WissenschaftUni-Taschenbücher, 1652), S.349. <br />
Vgl. Lob-Hüdepohl, Andreas; Bohmeyer, Axel (2007): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch. Paderborn:<br />
Schöningh [u.a.] (UTB Soziale Arbeit, 8366), S.126ff. <br />
<strong>AvenirSocial</strong> (2010): Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Praxis der<br />
Professionellen.<br />
Für weiterführende Informationen zum Werthintergrund des Kodexes siehe: <strong>AvenirSocial</strong> (2012): Soziale<br />
Arbeit und ihre Ethik in der Praxis, Eine Einführung mit Glossar zum Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz.<br />
4
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
daraus folgen.<br />
Denn das Mensch-Sein ist grundsätzlich auf Mitmenschlichkeit angewiesen. Und<br />
diese gegenseitige Angewiesenheit ist – wir wissen das – fragil und verletzlich. Die<br />
Menschenwürde ist aber keine Eigenschaft eines Individuums, weder eine<br />
angeborene noch eine erwerbbare. Sie kann folglich auch weder einem konkreten<br />
Menschen ‚zugesprochen‘ noch ‚aberkannt‘ werden. Und die Menschenwürde<br />
bedarf des Schutzes, und zwar dadurch, dass wir die Menschenwürde gegenseitig<br />
als zentralen Wert anerkennen. Niemand und nichts kann die Menschenwürde<br />
schützen, ausser die Menschen selbst einander und wechselseitig. Es kann<br />
deshalb auch kein Recht auf Menschenwürde geben.<br />
Die Menschenwürde wird so zum qualitativen Merkmal für die Art und Weise, wie<br />
Menschen mit anderen Menschen umgehen. Sie ist der Grund dafür, dass wir<br />
allseitig einander versprechen, die Menschenwürde zu schützen und uns für die<br />
Realisierung der Menschenrechte einzusetzen. Dafür steht auch die Soziale<br />
Arbeit!<br />
Die Pflicht zu unterstützen<br />
Die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere, d.h. die<br />
wechselseitige Selbst- und Fremdachtung, verhilft nach Kant dem Menschen ein<br />
erfüllendes Leben als eigenständiger Mensch zu führen. Das geforderte<br />
Achtungsgebot der Menschenwürde besteht nicht nur als einseitiger Respekt vor<br />
einer anderen Person, sondern schliesst die wechselseitige Pflicht mit ein, ebenso<br />
andere zu einer autonomen Lebensführung zu unterstützen.<br />
Denn die Soziale Arbeit ist nicht nur dem Doppelmandat – der Hilfe und Kontrolle<br />
seitens der Gesellschaft und der Anstellungsträger sowie den Begehren seitens<br />
des Klientels – verpflichtet, sondern auch gegenüber dem dritten Mandat,<br />
bestehend aus: dem eigenen Professionswissen, der Berufsethik und den<br />
Prinzipien der Menschenrechte sowie der sozialen Gerechtigkeit. Dieses dritte<br />
Mandat steuert die Professionellen durch mögliche Konflikte und Spannungsfelder<br />
zwischen dem ersten und dem zweiten Mandat.<br />
Wie kommt es nun, dass wir uns in Spannungsfeldern für oder gegen eine<br />
Handlungsalternative entscheiden? Aufgrund welcher Kriterien entscheiden wir?<br />
In solchen Situationen brauchen wir ausserhalb jeder Routine Kompetenzen und<br />
5
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
Instrumentarien, die unsere Entscheidungsprozesse anleiten – nicht abnehmen,<br />
denn wertende Entscheidungen für Handlungen können nicht delegiert werden;<br />
die Verantwortung dafür liegt letztlich immer beim uns.<br />
Im professionellen Kontext braucht es dazu eine spezifische Kompetenz, nämlich<br />
die Kompetenz zur rationalen Begründung <strong>von</strong> Werte-Entscheidungen in<br />
Handlungssituationen. Es braucht z.B. berufsmoralisches Wissen, aber auch<br />
emotionale Empfindlichkeit und Achtsamkeit, innere Bereitschaft und nicht zuletzt<br />
reflektierte Praxiserfahrung. Doch auch wenn wir Werte-Fragen letztlich persönlich<br />
entscheiden müssen, heisst dies nicht, dass es beliebig oder gleich-gültig ist, wie<br />
wir entscheiden. Jede dieser Entscheidungen bedarf der Kriterien geleiteten<br />
Rechtfertigung. Sofern wir als Profession und als einzelnen<br />
Sozialarbeiter/Sozialarbeiterin ernst genommen werden wollen, basiert diese<br />
Rechtfertigung auf sog. Basis-Prinzipien.<br />
Grundlage dazu kann der Kodex für die Soziale Arbeit Schweiz sein – in seiner<br />
Form als ‚Argumentarium‘ –, denn diese Form stellt ein kognitiver Such-Raum für<br />
die kollegiale berufsethische Beratung dar. Der Berufskodex dient uns als<br />
Orientierungshilfe und Argumentarium für die Entwicklung eines<br />
professionsethisch begründeten Berufsalltags und hilft Stellung zu nehmen.<br />
Nützlichkeitserwägungen sind legitim, sofern sie sich nach dem<br />
kategorischen Imperativ richten<br />
Betrachtet man die ökonomische Seite der Sozialen Arbeit, so geht es letztlich<br />
darum, materielle wie immaterielle Ressourcen effizient und effektiv einzusetzen.<br />
Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit wie der Solidarität. D.h. ökonomische<br />
Interessen stehen im Dienst ethischer Interessen, weil alle Ressourcen knapp sind<br />
und <strong>von</strong> anderen aufgebracht und auf viele verteilt werden. Die ethischen<br />
Interessen dürfen aber niemals im Dienst der Ökonomie stehen. Sonst besteht die<br />
Gefahr, dass die Soziale Arbeit und mit ihr die Menschenrechte unter das Diktat<br />
der ökonomischen Zwänge geraten. Kant macht auf diesen Unterschied<br />
aufmerksam, indem er sagt, in der menschlichen Welt<br />
6
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
... hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an<br />
dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was<br />
dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde. 9<br />
Somit sind nach Kant Nützlichkeitserwägungen moralisch legitim, müssen aber<br />
immer auch mit dem obersten moralischen Prinzip, das im kategorischen<br />
Imperativ zusammengefasst ist, vereinbar sein. 10<br />
Ich möchte dazu gerne noch ein letztes Beispiel erläutern. Im Rahmen der<br />
Diskussionen über Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe haben verschiedene<br />
Kantone ihre Sozialhilfegesetze revidiert und die Informations- und<br />
Auskunftspflichten der Betroffenen verstärkt. Dies gilt auch für den Kanton Bern,<br />
dessen neues Gesetz über die Sozialhilfe am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist.<br />
Während die neuen Regelungen einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der<br />
gegenseitigen Rechte und Pflichten leisten, enthalten sie auch einige umstrittene<br />
gesetzliche Neuerungen. Dies gilt insbesondere für die erst im Rahmen der<br />
Beratungen eingefügte Generalvollmacht. Danach holen die mit dem Vollzug des<br />
Gesetzes betrauten Personen für Informationen, die sie nicht anderweitig<br />
beschaffen können, „<strong>von</strong> den betroffenen Personen zum Zeitpunkt der<br />
Einreichung des Gesuchs um Gewährung <strong>von</strong> Sozialhilfe eine Vollmacht ein“.<br />
Hauptstreitpunkt unserer Beschwerde beim Bundesgericht bildete daher die<br />
Frage, ob die Generalvollmacht, welche die Behörden zu Beginn eines Verfahrens<br />
einholen müssen, im Widerspruch zur Verfassung und zur Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention steht, insbesondere zum Grundrecht auf persönliche<br />
Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und zum Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) sowie<br />
Art. 8 EMRK. Wir haben geltend gemacht, dass die Einwilligung zum Einholen <strong>von</strong><br />
Informationen nicht freiwillig erfolge und dass eine vorauseilende Blankovollmacht<br />
eine unverhältnismässige Einschränkung der Grundrechte bedeute. Wir<br />
verlangten deshalb die teilweise Aufhebung des neuen Gesetzes.<br />
Wie wir wissen, wies das Bundesgericht unsere Beschwerde ab. Das knappe<br />
Abstimmungsergebnis <strong>von</strong> 3 zu 2 bei der Urteilsfällung zeigt, dass auch das<br />
9<br />
10<br />
Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band IV, S.434. <br />
Vgl. Lob-Hüdepohl (wie Anm. 7 ), S.343ff. <br />
7
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
gegenteilige Ergebnis mit guten Gründen hätte vertreten werden können. Der<br />
Grund zur Ablehnung sehen die RichterInnen darin, dass das Gesetz <strong>von</strong> den<br />
Sozialhilfebehörden verfassungskonform ausgelegt werden könne, indem man es<br />
nicht streng nach dem Wortlaut anwende.<br />
Die RichterInnen waren sich aber auch einig, dass das revidierte Sozialhilfegesetz<br />
des Kantons Bern „keine Sternstunde der Gesetzgebung“ ist. Aus dem Urteil des<br />
Bundesgerichts ergibt sich, dass die Sozialhilfebehörden des Kantons Bern bei<br />
der Anmeldung zum Sozialhilfebezug eine Vollmacht zur Informationsbeschaffung<br />
unterzeichnen lassen dürfen. Diese darf jedoch nicht soweit gehen, wie es der<br />
Gesetzeswortlaut nahelegt, sondern darf nur zweckgebunden und<br />
verhältnismässig eingesetzt werden und muss die im Gesetz vorgesehene<br />
Stufenfolge der Informationsbeschaffung berücksichtigen.<br />
Wenn nun SozialarbeiterInnen Generalvollmachten unterzeichnen lassen müssen,<br />
wird somit eine der Voraussetzungen für die angestrebte Veränderung<br />
geschwächt. Wenn danach ohne Einwilligung der KlientInnen ihre Daten eingeholt<br />
werden, also ein Akt ausgeführt wird, der die potentielle totale Offenlegung aller<br />
Lebensbereiche umfasst, so stellt dies eine denkbar ungünstige Voraussetzung<br />
zum Aufbau einer Zusammenarbeitsbeziehung dar. Abgesehen da<strong>von</strong> entspricht<br />
der „gläserne Klient“ keineswegs dem Menschenbild der Sozialen Arbeit. Vor<br />
allem aber ist die Einforderung einer Generalvollmacht bei der Klientel weder<br />
notwendig noch stellt es methodisch sinnvolles Handeln dar. Es braucht sie nicht<br />
zum Einholen aller Informationen, die nötig sind, um die Anspruchsberechtigung<br />
für Sozialhilfe zu klären.<br />
Nach gängigem professionellem Verständnis soll vielmehr bei jedem erarbeiteten<br />
Teilziel, und da auch nur im Sinne einer stellvertretenden Krisenbewältigung, eine<br />
genau auf die jeweilig erforderlichen Informationen und Handlungen hin<br />
abgestimmte Vollmacht verlangt werden, vorausgesetzt, dass sie den<br />
Handlungsspielraum zur Wahrung der legitimen Interessen der Klientel auch<br />
wirklich vergrössert.<br />
Die Argumente des Bundesgerichts überzeugen uns nicht in allen Punkten. Dies<br />
zeigt sich daran, dass bei der öffentlichen Urteilsberatung <strong>von</strong> weiteren<br />
8
Soziale Arbeit Schweiz<br />
Travail social Suisse<br />
Lavoro sociale Svizzera<br />
Lavur sociala Svizra<br />
Einschränkungen der Vollmacht die Rede war, die einen Hinweis auf die<br />
Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs der Vollmacht sowie eine Information vor<br />
Gebrauch der Vollmacht verlangten. In der nun vorliegenden schriftlichen<br />
Urteilsbegründung jedoch fehlen diese beiden Auflagen.<br />
Wir haben deshalb im April dieses Jahres eine Individualbeschwerde beim<br />
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Urteil des<br />
Bundesgerichts eingereicht. 11<br />
Dass die Würde des Menschen vor drohender Missachtung unbedingt zu schützen<br />
ist und dass die Menschenrechte über den politisch ausgehandelten<br />
Rechtsansprüchen stehen, ist im Berufskodex mehrfach dokumentiert. Das<br />
bedeutet auch: sogar wenn Verordnungen und Weisungen legal sind, sind sie vor<br />
dem Hintergrund der Menschenwürde und der Sozialen Arbeit noch lange nicht<br />
legitim. Auch die politische Ordnung und ihre Gesetzgebung kann<br />
menschenrechtswidrig sein; und zuallererst stehen die dafür Verantwortlichen in<br />
der Pflicht, Gesetze so zu verändern, dass sie menschenrechtskonform sind. Wo<br />
das Datenschutzgesetz klar ist und den Kriterien der Sozialen Arbeit entspricht, ist<br />
es konsequent anzuwenden. Dort, wo es den Kriterien nicht entspricht, dürfen sich<br />
Professionelle der Sozialen Arbeit nicht dahinter verstecken; sie dürfen sich nicht<br />
auf solche Weisungen berufen, sondern müssen sie auf der politischen und<br />
juristischen Ebene anprangern.<br />
Dem Thema der Fachtagung folgend denke ich, dass <strong>AvenirSocial</strong> so handelt,<br />
dass unser Tun als allgemeine Regel für unsere Gesellschaft gelten könnte, ja<br />
sogar gelten müsste ...<br />
Herzlichen Dank.<br />
11<br />
Vollständige Dokumentation zur Beschwerde ans Bundesgericht und den Europäischen Gerichtshof für<br />
Menschenrechte sind zu finden unter: www.avenirsocial.ch/de/beschwerde<br />
9