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Referat von Stéphane Beuchat - AvenirSocial

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Soziale Arbeit Schweiz<br />

Travail social Suisse<br />

Lavoro sociale Svizzera<br />

Lavur sociala Svizra<br />

<strong>AvenirSocial</strong><br />

Schwarztorstrasse 22, PF/CP 8163<br />

CH-3001 Bern<br />

T. +41 (0)31 380 83 00<br />

F. +41 (0)31 380 83 01<br />

info@avenirsocial.ch, www.avenirsocial.ch<br />

<strong>Referat</strong> <strong>von</strong> <strong>Stéphane</strong> <strong>Beuchat</strong>, Stellv. Geschäftsleiter <strong>von</strong> <strong>AvenirSocial</strong> -<br />

Soziale Arbeit Schweiz - anlässlich der 15. Fachtagung der Stiftung<br />

Tannenhof vom 3. Mai 2013.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen<br />

Als erstes möchte ich mich herzlich bei Herrn Märk-Meyer für die Einladung<br />

bedanken. Ich freue mich sehr, mit Ihnen ein paar Gedanken zur Sozialen Arbeit<br />

und deren Herausforderungen im Kontext der Moralphilosophie <strong>von</strong> Kant zu teilen.<br />

Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg, heutiges Kaliningrad, geboren. Er<br />

wurde beachtliche 80 Jahre alt und verfasste über 1000 Monographien und<br />

Aufsatzsammlungen. Kant formulierte vier Grundfragen der Philosophie 1 :<br />

Was kann ich wissen?<br />

Was darf ich hoffen?<br />

Was ist der Mensch?<br />

Und wollen wir dem Thema der heutigen Fachtagung – „Handle so, dass dein Tun<br />

als allgemeine Regel für unsere Gesellschaft gelten könnte“ - ein wenig auf den<br />

Grund gehen, so müssen wir uns mit der letzten Fragestellung „Was soll ich tun?“<br />

beschäftigen. Diese Frage betrifft die Moral und seine Schrift Kritik der praktischen<br />

Vernunft; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2<br />

Die Ethik <strong>von</strong> Kant oder <strong>von</strong> der Frage: „Was soll ich tun?“<br />

Wenn es eine ethische Verpflichtung geben soll, dann darf keine Unklarheit<br />

darüber herrschen, worin die ethische Verpflichtung begründet ist, sagt Kant. Es<br />

1<br />

2<br />

Vgl. Irrlitz, Gerd (2002): Kant-Handbuch. Leben und Werk. Stuttgart, S.67 und 263. <br />

Andersen, Svend; Grønkjær, Niels (2005): Einführung in die Ethik. 2., erw. Aufl. Berlin: de Gruyter (De-<br />

Gruyter-Studienbuch), S.153-155. <br />

1


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darf ebenso keine Zweifel darüber geben, was moralisch gut und worin unsere<br />

Pflicht besteht. Zweifel gibt es hingegen darüber, wie die Pflicht zu begründen ist.<br />

Damit wir der ethischen Verpflichtung nach Kant und somit dem kategorischen<br />

Imperativ näher kommen, müssen wir den Begriff des Willens, der in zweifacher<br />

Art beschrieben werden kann, näher betrachten:<br />

Ausgeübt wird der Wille entweder um eines Zweckes willen, d.h. um etwas zu<br />

erreichen oder weil ich es mir zur Regel gemacht habe, d.h. dass ich immer<br />

Menschen helfe, wenn sie Hilfe benötigen.<br />

Entscheidend nun, ob etwas zum Guten oder zum Bösen führt, ist der dahinter<br />

stehende Wille. Der gute Wille ist das intuitive Wissen um das Richtige und der<br />

besteht aus nichts anderem als dem Handeln aus Pflicht, im Gegensatz zum<br />

Handeln aus Neigung. Wenn man jemand anderen hilft, weil man <strong>von</strong> der Not<br />

anderer betroffen ist, handelt man nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung. Aus<br />

Pflicht handelt jemand, der überhaupt nicht durch die Leiden anderer betroffen ist,<br />

der aber trotzdem hilft, weil er sich dazu verpflichtet fühlt. 3<br />

Wenn der gute Wille also dasselbe ist wie ein Handeln aus Pflicht, dann ist die<br />

Pflicht durch den Charakter des Imperativen gekennzeichnet. Da wir aber in<br />

verschiedener Weise auf Grund <strong>von</strong> Imperativen handeln können, unterscheidet<br />

man zwischen dem hypothetischen Imperativ, d.h. die Forderung „wenn-dann“ und<br />

dem kategorischen Imperativ. Der kategorische Imperativ ist unbedingt gültig, d.h.<br />

ohne „wenn“ und seine Gültigkeit muss unabhängig <strong>von</strong> allen Zwecken, nach<br />

denen wir handeln, feststehen. Somit hat der kategorische Imperativ mit der Art zu<br />

tun, wie wir nach Regeln handeln und nicht mit dem, was der Wille will.<br />

Normalerweise folgen wir beim Handeln sogenannten Maximen, d.h. allgemeinen<br />

Handlungsregeln, die jeder Einzelne für sich zu Normen macht. Ein kategorischer<br />

Imperativ kann sich nun nicht darauf beziehen, was unsere Handlungsregeln<br />

beinhalten, sondern nur darauf, welche Form sie haben müssen. Der Imperativ<br />

kann also nicht einer unserer Maximen sein, sondern er muss eine Forderung an<br />

die Form unserer Maximen sein, d.h. es ist das Kriterium, mit dessen Hilfe wir <strong>von</strong><br />

einer Vielzahl möglicher Tugenden das auswählen, der dasselbe fordert, wie die<br />

3<br />

Kant wird nach der Akademieausgabe Kants gesammelte Schriften, Berlin 1902ff. zitiert: Band IV, S.412.<br />

2


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Maxime selbst. So muss der kategorische Imperativ oder auch<br />

Universalisierungsformel lauten:<br />

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,<br />

dass sie ein allgemeines Gesetz werde. 4<br />

Der kategorische Imperativ schreibt nicht einfach vor, dass ich anderen helfen soll.<br />

Vielmehr sagt er, dass ich anderen helfen soll, weil ich will, dass die Maxime „Ich<br />

will immer anderen Hilfe leisten“ eine für alle Menschen verbindliche Vorschrift sei.<br />

Er ist ein Kriterium höherer Ordnung und zwingt mich folgende Frage zu stellen:<br />

Kann ich wirklich wollen, dass jeder in einer entsprechenden Situation dasselbe<br />

macht wie ich?<br />

Wir haben gesehen, dass eine im strengen Sinne ethische Handlung, nicht <strong>von</strong><br />

einem Zweck bestimmt sein darf. Nun kann es aber denkbar sein, dass es etwas<br />

gibt, das die Beschaffenheit eines Zweckes an sich hat. Nach Kant gibt es<br />

tatsächlich ein solches „etwas“, nämlich den Menschen als Vernunftwesen. Ein<br />

Mensch kann nicht zu einem Mittel reduziert werden, sondern er ist immer ein<br />

Zweck an sich.<br />

Sobald wir es – wie beispielsweise in der Sozialen Arbeit mit konkreten<br />

Handlungen zu tun haben, müssen wir immer den Zweck berücksichtigen, der mit<br />

der Handlung verfolgt wird. Die Ethik <strong>von</strong> Kant handelt nun <strong>von</strong> denjenigen<br />

Zwecken, die zu verfolgen wir verpflichtet sind. Der kategorische Imperativ muss<br />

deshalb nochmals neu formuliert werden und lautet:<br />

Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein<br />

allgemeines Gesetz sein kann. 5<br />

Demnach ist der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck und Kant<br />

unterscheidet nun zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegenüber<br />

anderen.<br />

Pflichten gegen sich selbst bedeuten, dass man sich wechselseitig als<br />

Vernunftwesen respektiert und sich nicht zu einer Sache degradieren lässt.<br />

Pflichten gegen andere ist als „tätiges Wohlwollen“ zu verstehen und ist immer mit<br />

Achtung vor dem anderen Menschen verbunden. Die Beschreibung der Achtung<br />

4<br />

5<br />

Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band IV, S.421. <br />

Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band VI, S.395. <br />

3


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steht bei Kant immer eng in Verbindung mit der ethischen Selbstbestimmung oder<br />

Autonomie und der Würde des Menschen.<br />

Und um die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere zu<br />

erkennen, ist ein Gewissen nötig. Das Gewissen ist sozusagen die oberste<br />

moralische Instanz, weil es kein Gewissen des Gewissens gibt. Der kategorische<br />

Imperativ ist sozusagen die ausformulierte Arbeitsweise unseres Gewissens. 6<br />

Was sagt uns nun konkret die Ethik <strong>von</strong> Kant im Kontext der Sozialen<br />

Arbeit? Dies möchte ich exemplarisch anhand der Autonomie, der Pflicht zu<br />

unterstützen und den Nützlichkeitserwägungen erläutern:<br />

Die Autonomie und der Schutz der menschlichen Würde<br />

Die Autonomie steht bei Kant für Eigenständigkeit, Selbstgesetzgebung und<br />

Unabhängigkeit. Es ist einer der Schlüsselbegriffe für die professionelle Soziale<br />

Arbeit, die Menschen unterstützt, befähigt, ermächtigt und befreit, und zwar<br />

letztlich damit, dass das Recht auf den Schutz der Würde respektiert wird.<br />

Diese Ansicht teilt Kant, der die Autonomie als den Inbegriff menschlicher Freiheit<br />

versteht und somit als Grund der unantastbaren menschlichen Würde sieht. Die<br />

Moraltheorie <strong>von</strong> Kant konkretisiert die Ethik der Sozialen Arbeit, indem das<br />

Verständnis einer autonomen Lebensführung aufgezeigt wird. Autonomie im Sinne<br />

einer bindungsstarken, eigenverantwortlichen und verantwortungsvollen<br />

Lebensführung. 7<br />

Im Zentrum der moralphilosophischen Wissensbestände der Sozialen Arbeit steht<br />

die Menschenwürde. Im Berufskodex der Sozialen Arbeit 8 wird der Begriff der<br />

Menschenwürde, der den Ausgangspunkt des Kodexes sowie der<br />

Menschenrechte darstellt, folgendermassen beschrieben:<br />

Die Professionellen der Sozialen Arbeit gründen ihr Handeln auf der Achtung<br />

der jedem Menschen innewohnenden Würde sowie den Rechten, welche<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Hofmeister, Heimo (1997): Philosophisch denken. 2., durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht<br />

(UTB für WissenschaftUni-Taschenbücher, 1652), S.349. <br />

Vgl. Lob-Hüdepohl, Andreas; Bohmeyer, Axel (2007): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch. Paderborn:<br />

Schöningh [u.a.] (UTB Soziale Arbeit, 8366), S.126ff. <br />

<strong>AvenirSocial</strong> (2010): Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Praxis der<br />

Professionellen.<br />

Für weiterführende Informationen zum Werthintergrund des Kodexes siehe: <strong>AvenirSocial</strong> (2012): Soziale<br />

Arbeit und ihre Ethik in der Praxis, Eine Einführung mit Glossar zum Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz.<br />

4


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daraus folgen.<br />

Denn das Mensch-Sein ist grundsätzlich auf Mitmenschlichkeit angewiesen. Und<br />

diese gegenseitige Angewiesenheit ist – wir wissen das – fragil und verletzlich. Die<br />

Menschenwürde ist aber keine Eigenschaft eines Individuums, weder eine<br />

angeborene noch eine erwerbbare. Sie kann folglich auch weder einem konkreten<br />

Menschen ‚zugesprochen‘ noch ‚aberkannt‘ werden. Und die Menschenwürde<br />

bedarf des Schutzes, und zwar dadurch, dass wir die Menschenwürde gegenseitig<br />

als zentralen Wert anerkennen. Niemand und nichts kann die Menschenwürde<br />

schützen, ausser die Menschen selbst einander und wechselseitig. Es kann<br />

deshalb auch kein Recht auf Menschenwürde geben.<br />

Die Menschenwürde wird so zum qualitativen Merkmal für die Art und Weise, wie<br />

Menschen mit anderen Menschen umgehen. Sie ist der Grund dafür, dass wir<br />

allseitig einander versprechen, die Menschenwürde zu schützen und uns für die<br />

Realisierung der Menschenrechte einzusetzen. Dafür steht auch die Soziale<br />

Arbeit!<br />

Die Pflicht zu unterstützen<br />

Die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere, d.h. die<br />

wechselseitige Selbst- und Fremdachtung, verhilft nach Kant dem Menschen ein<br />

erfüllendes Leben als eigenständiger Mensch zu führen. Das geforderte<br />

Achtungsgebot der Menschenwürde besteht nicht nur als einseitiger Respekt vor<br />

einer anderen Person, sondern schliesst die wechselseitige Pflicht mit ein, ebenso<br />

andere zu einer autonomen Lebensführung zu unterstützen.<br />

Denn die Soziale Arbeit ist nicht nur dem Doppelmandat – der Hilfe und Kontrolle<br />

seitens der Gesellschaft und der Anstellungsträger sowie den Begehren seitens<br />

des Klientels – verpflichtet, sondern auch gegenüber dem dritten Mandat,<br />

bestehend aus: dem eigenen Professionswissen, der Berufsethik und den<br />

Prinzipien der Menschenrechte sowie der sozialen Gerechtigkeit. Dieses dritte<br />

Mandat steuert die Professionellen durch mögliche Konflikte und Spannungsfelder<br />

zwischen dem ersten und dem zweiten Mandat.<br />

Wie kommt es nun, dass wir uns in Spannungsfeldern für oder gegen eine<br />

Handlungsalternative entscheiden? Aufgrund welcher Kriterien entscheiden wir?<br />

In solchen Situationen brauchen wir ausserhalb jeder Routine Kompetenzen und<br />

5


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Instrumentarien, die unsere Entscheidungsprozesse anleiten – nicht abnehmen,<br />

denn wertende Entscheidungen für Handlungen können nicht delegiert werden;<br />

die Verantwortung dafür liegt letztlich immer beim uns.<br />

Im professionellen Kontext braucht es dazu eine spezifische Kompetenz, nämlich<br />

die Kompetenz zur rationalen Begründung <strong>von</strong> Werte-Entscheidungen in<br />

Handlungssituationen. Es braucht z.B. berufsmoralisches Wissen, aber auch<br />

emotionale Empfindlichkeit und Achtsamkeit, innere Bereitschaft und nicht zuletzt<br />

reflektierte Praxiserfahrung. Doch auch wenn wir Werte-Fragen letztlich persönlich<br />

entscheiden müssen, heisst dies nicht, dass es beliebig oder gleich-gültig ist, wie<br />

wir entscheiden. Jede dieser Entscheidungen bedarf der Kriterien geleiteten<br />

Rechtfertigung. Sofern wir als Profession und als einzelnen<br />

Sozialarbeiter/Sozialarbeiterin ernst genommen werden wollen, basiert diese<br />

Rechtfertigung auf sog. Basis-Prinzipien.<br />

Grundlage dazu kann der Kodex für die Soziale Arbeit Schweiz sein – in seiner<br />

Form als ‚Argumentarium‘ –, denn diese Form stellt ein kognitiver Such-Raum für<br />

die kollegiale berufsethische Beratung dar. Der Berufskodex dient uns als<br />

Orientierungshilfe und Argumentarium für die Entwicklung eines<br />

professionsethisch begründeten Berufsalltags und hilft Stellung zu nehmen.<br />

Nützlichkeitserwägungen sind legitim, sofern sie sich nach dem<br />

kategorischen Imperativ richten<br />

Betrachtet man die ökonomische Seite der Sozialen Arbeit, so geht es letztlich<br />

darum, materielle wie immaterielle Ressourcen effizient und effektiv einzusetzen.<br />

Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit wie der Solidarität. D.h. ökonomische<br />

Interessen stehen im Dienst ethischer Interessen, weil alle Ressourcen knapp sind<br />

und <strong>von</strong> anderen aufgebracht und auf viele verteilt werden. Die ethischen<br />

Interessen dürfen aber niemals im Dienst der Ökonomie stehen. Sonst besteht die<br />

Gefahr, dass die Soziale Arbeit und mit ihr die Menschenrechte unter das Diktat<br />

der ökonomischen Zwänge geraten. Kant macht auf diesen Unterschied<br />

aufmerksam, indem er sagt, in der menschlichen Welt<br />

6


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... hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an<br />

dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was<br />

dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde. 9<br />

Somit sind nach Kant Nützlichkeitserwägungen moralisch legitim, müssen aber<br />

immer auch mit dem obersten moralischen Prinzip, das im kategorischen<br />

Imperativ zusammengefasst ist, vereinbar sein. 10<br />

Ich möchte dazu gerne noch ein letztes Beispiel erläutern. Im Rahmen der<br />

Diskussionen über Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe haben verschiedene<br />

Kantone ihre Sozialhilfegesetze revidiert und die Informations- und<br />

Auskunftspflichten der Betroffenen verstärkt. Dies gilt auch für den Kanton Bern,<br />

dessen neues Gesetz über die Sozialhilfe am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist.<br />

Während die neuen Regelungen einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der<br />

gegenseitigen Rechte und Pflichten leisten, enthalten sie auch einige umstrittene<br />

gesetzliche Neuerungen. Dies gilt insbesondere für die erst im Rahmen der<br />

Beratungen eingefügte Generalvollmacht. Danach holen die mit dem Vollzug des<br />

Gesetzes betrauten Personen für Informationen, die sie nicht anderweitig<br />

beschaffen können, „<strong>von</strong> den betroffenen Personen zum Zeitpunkt der<br />

Einreichung des Gesuchs um Gewährung <strong>von</strong> Sozialhilfe eine Vollmacht ein“.<br />

Hauptstreitpunkt unserer Beschwerde beim Bundesgericht bildete daher die<br />

Frage, ob die Generalvollmacht, welche die Behörden zu Beginn eines Verfahrens<br />

einholen müssen, im Widerspruch zur Verfassung und zur Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention steht, insbesondere zum Grundrecht auf persönliche<br />

Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und zum Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) sowie<br />

Art. 8 EMRK. Wir haben geltend gemacht, dass die Einwilligung zum Einholen <strong>von</strong><br />

Informationen nicht freiwillig erfolge und dass eine vorauseilende Blankovollmacht<br />

eine unverhältnismässige Einschränkung der Grundrechte bedeute. Wir<br />

verlangten deshalb die teilweise Aufhebung des neuen Gesetzes.<br />

Wie wir wissen, wies das Bundesgericht unsere Beschwerde ab. Das knappe<br />

Abstimmungsergebnis <strong>von</strong> 3 zu 2 bei der Urteilsfällung zeigt, dass auch das<br />

9<br />

10<br />

Vgl. Kant (wie Anm. 3 ), Band IV, S.434. <br />

Vgl. Lob-Hüdepohl (wie Anm. 7 ), S.343ff. <br />

7


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gegenteilige Ergebnis mit guten Gründen hätte vertreten werden können. Der<br />

Grund zur Ablehnung sehen die RichterInnen darin, dass das Gesetz <strong>von</strong> den<br />

Sozialhilfebehörden verfassungskonform ausgelegt werden könne, indem man es<br />

nicht streng nach dem Wortlaut anwende.<br />

Die RichterInnen waren sich aber auch einig, dass das revidierte Sozialhilfegesetz<br />

des Kantons Bern „keine Sternstunde der Gesetzgebung“ ist. Aus dem Urteil des<br />

Bundesgerichts ergibt sich, dass die Sozialhilfebehörden des Kantons Bern bei<br />

der Anmeldung zum Sozialhilfebezug eine Vollmacht zur Informationsbeschaffung<br />

unterzeichnen lassen dürfen. Diese darf jedoch nicht soweit gehen, wie es der<br />

Gesetzeswortlaut nahelegt, sondern darf nur zweckgebunden und<br />

verhältnismässig eingesetzt werden und muss die im Gesetz vorgesehene<br />

Stufenfolge der Informationsbeschaffung berücksichtigen.<br />

Wenn nun SozialarbeiterInnen Generalvollmachten unterzeichnen lassen müssen,<br />

wird somit eine der Voraussetzungen für die angestrebte Veränderung<br />

geschwächt. Wenn danach ohne Einwilligung der KlientInnen ihre Daten eingeholt<br />

werden, also ein Akt ausgeführt wird, der die potentielle totale Offenlegung aller<br />

Lebensbereiche umfasst, so stellt dies eine denkbar ungünstige Voraussetzung<br />

zum Aufbau einer Zusammenarbeitsbeziehung dar. Abgesehen da<strong>von</strong> entspricht<br />

der „gläserne Klient“ keineswegs dem Menschenbild der Sozialen Arbeit. Vor<br />

allem aber ist die Einforderung einer Generalvollmacht bei der Klientel weder<br />

notwendig noch stellt es methodisch sinnvolles Handeln dar. Es braucht sie nicht<br />

zum Einholen aller Informationen, die nötig sind, um die Anspruchsberechtigung<br />

für Sozialhilfe zu klären.<br />

Nach gängigem professionellem Verständnis soll vielmehr bei jedem erarbeiteten<br />

Teilziel, und da auch nur im Sinne einer stellvertretenden Krisenbewältigung, eine<br />

genau auf die jeweilig erforderlichen Informationen und Handlungen hin<br />

abgestimmte Vollmacht verlangt werden, vorausgesetzt, dass sie den<br />

Handlungsspielraum zur Wahrung der legitimen Interessen der Klientel auch<br />

wirklich vergrössert.<br />

Die Argumente des Bundesgerichts überzeugen uns nicht in allen Punkten. Dies<br />

zeigt sich daran, dass bei der öffentlichen Urteilsberatung <strong>von</strong> weiteren<br />

8


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Einschränkungen der Vollmacht die Rede war, die einen Hinweis auf die<br />

Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs der Vollmacht sowie eine Information vor<br />

Gebrauch der Vollmacht verlangten. In der nun vorliegenden schriftlichen<br />

Urteilsbegründung jedoch fehlen diese beiden Auflagen.<br />

Wir haben deshalb im April dieses Jahres eine Individualbeschwerde beim<br />

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Urteil des<br />

Bundesgerichts eingereicht. 11<br />

Dass die Würde des Menschen vor drohender Missachtung unbedingt zu schützen<br />

ist und dass die Menschenrechte über den politisch ausgehandelten<br />

Rechtsansprüchen stehen, ist im Berufskodex mehrfach dokumentiert. Das<br />

bedeutet auch: sogar wenn Verordnungen und Weisungen legal sind, sind sie vor<br />

dem Hintergrund der Menschenwürde und der Sozialen Arbeit noch lange nicht<br />

legitim. Auch die politische Ordnung und ihre Gesetzgebung kann<br />

menschenrechtswidrig sein; und zuallererst stehen die dafür Verantwortlichen in<br />

der Pflicht, Gesetze so zu verändern, dass sie menschenrechtskonform sind. Wo<br />

das Datenschutzgesetz klar ist und den Kriterien der Sozialen Arbeit entspricht, ist<br />

es konsequent anzuwenden. Dort, wo es den Kriterien nicht entspricht, dürfen sich<br />

Professionelle der Sozialen Arbeit nicht dahinter verstecken; sie dürfen sich nicht<br />

auf solche Weisungen berufen, sondern müssen sie auf der politischen und<br />

juristischen Ebene anprangern.<br />

Dem Thema der Fachtagung folgend denke ich, dass <strong>AvenirSocial</strong> so handelt,<br />

dass unser Tun als allgemeine Regel für unsere Gesellschaft gelten könnte, ja<br />

sogar gelten müsste ...<br />

Herzlichen Dank.<br />

11<br />

Vollständige Dokumentation zur Beschwerde ans Bundesgericht und den Europäischen Gerichtshof für<br />

Menschenrechte sind zu finden unter: www.avenirsocial.ch/de/beschwerde<br />

9

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