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Krisenintervention aus systemischer Sicht Handeln ... - AvenirSocial

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<strong>Krisenintervention</strong> <strong>aus</strong> <strong>systemischer</strong> <strong>Sicht</strong><br />

<strong>Handeln</strong>, bevor es zur Katastrophe kommt<br />

Text: Dr. med. Jürg Liechti, freischaffender Psychiater und Systemtherapeut mit Praxis in Bern. Er<br />

ist auch Mitbegründer des Zentrums für Systemische Therapie und Beratung ZSB in Bern.<br />

In diesem Beitrag werden die Definitionen von Krise und <strong>Krisenintervention</strong>, die<br />

psychologischen und systemischen Bedingungen und Möglichkeiten der Krisenbegleitung<br />

sowie ein pl<strong>aus</strong>ibles Interventionskonzept erörtert. Dabei werden die theoretischen<br />

Ausführungen dargestellt an einem beispielhaften psychischen Notfall eines Kindes im<br />

Kontext einer Familienkrise, wie sie in der Praxis eines Psychiaters und Systemtherapeuten<br />

häufig angetroffen wird.<br />

Als ich in den 80er Jahren einmal jährlich am Jugendamt in Kassel Supervisionen durchführte, blieb<br />

mir eine Geschichte hängen. Eine Sozialarbeiterin schilderte den Fall einer 40−jährigen, an<br />

Schizophrenie erkrankten Frau, die wöchentlich die Therapiesitzungen bei ihrem Psychiater<br />

besuchte. Jedes Mal wenn die Patientin einem erneuten Schub verfiel und infolgedessen der<br />

Sitzung fern blieb, meldete das der Psychiater der Sozialarbeiterin, die darauf die Patientin Zuh<strong>aus</strong>e<br />

aufsuchte und in ihrer akuten Krise versorgte. Meine Frage, weshalb der Psychiater den<br />

H<strong>aus</strong>besuch nicht selbst unternahm, löste damals in der Supervisionsgruppe der Sozial<br />

Arbeitenden eine lange Diskussion über die unterschiedlichen Kompetenzen, Pflichten und Rechte<br />

der beiden Berufsgruppen <strong>aus</strong>, deren Ergebnis auch ein Konfliktfeld und Grabenkämpfe freilegte.<br />

Das Delegationsprinzip des Psychiaters, der im vorgegebenen Fall die ‚schmutzige’ Arbeit an die<br />

Sozialarbeiterin übertrug, wurde als beispielhaft für die unterschiedlichen und nicht wertfreien<br />

Zuständigkeitsauffassungen der beiden Berufsgruppen empfunden.<br />

SystemikerInnen gestalten ein „therapeutisches System“<br />

Als ich den vorliegenden Beitrag zum Thema der <strong>Krisenintervention</strong> in Angriff nahm, stellte ich fest,<br />

dass in den seither vergangenen 20 Jahren auch für mich als freiberuflicher Psychiater und<br />

Systemtherapeut H<strong>aus</strong>besuche in Krisensituationen eine Seltenheit waren. Nichtsdestotrotz aber<br />

gehörten akute Krisen von Personen und Familien – bzw. die fachliche Konsequenz davon:<br />

<strong>Krisenintervention</strong>en – zum Normalfall. In den meisten Fällen waren die Hilfesuchenden und ihre<br />

Angehörigen in der Lage und bereit, im Krisenfall innert nützlicher Frist meine Praxis aufzusuchen.<br />

Ein Grund dafür liegt vielleicht darin, dass ich es mir als Systemiker gewohnt bin, bei allen<br />

Therapien konsequent das Umfeld in die Problem− und Lösungsbeschreibungen einzubeziehen,<br />

und zwar nicht nur theoretisch vor dem geistigen Auge, sondern ganz praktisch: Ich lerne dabei die<br />

Ehepartner und bei Kindern und Jugendlichen die Eltern, allenfalls Geschwister oder − in Fällen<br />

chronisch Kranker − die einzelnen Mitglieder eines Helfersystems persönlich kennen (persönlich<br />

heisst auch: deren Handy−Nummern!). Anders als die Psychiaterin im einzelkämpferischen Setting<br />

Arzt−Patient, investieren SystemikerInnen viel Zeit und Kraft, um ein so genanntes ‚therapeutisches<br />

System’ zu gestalten, sodass auch im Krisenfall praktisch immer die Möglichkeit besteht,<br />

Bezugspersonen zu mobilisieren.<br />

Ungeachtet dessen wurden in den vergangenen Jahren in jeder grösseren Stadt interdisziplinäre,<br />

<strong>aus</strong> sozialen, psychologischen, medizinischen und allenfalls seelsorgerischen Berufsleuten<br />

zusammengesetzte Krisenzentren eingerichtet, die in neudeutscher Terminologie als ‚Mental Health<br />

Professionals’ gelten. Nicht zu unterschlagen ist die Tatsache, dass es in jeder Gesellschaft<br />

Menschen gibt, die weder in der Krise noch überhaupt einen Psychiater aufsuchen würden und für<br />

1


deren Notversorgung aufsuchende Krisendienste unerlässlich sind. Am Rande sei auch vermerkt,<br />

dass es neben den hier fokussierten psychischen Krisen auch politische, wirtschaftliche oder<br />

ökologische Krisen gibt, die je nach eigenen Gesetzmässigkeiten angegangen werden müssen, um<br />

zu verhindern, dass sie in einer Katastrophe enden.<br />

In diesem Text gehe ich den Fragen nach, was unter einer psychischen Krise und<br />

<strong>Krisenintervention</strong> überhaupt verstanden wird, und was eine systemische <strong>Sicht</strong> zum Verständnis<br />

beitragen kann.<br />

Was ist eine Krise?<br />

Der fachliche Krisenbegriff basiert auf den Vorstellungen des amerikanischen Sozialpsychiaters<br />

Gerald Caplan, der darunter einen „Verlust des seelischen Gleichgewichtes infolge akuter<br />

Überforderung eines gewohnten Verhaltens−/Bewältigungssystems durch belastende äussere oder<br />

innere Ereignisse“ verstand (Caplan, 1964, in: Kunz et al., 2007).<br />

Eine Krise verweist auf eine sich zuspitzende, eskalierende, zunehmend <strong>aus</strong> den Fugen geratende<br />

Situation, die auf einen (unter Umständen lebens−) gefährlichen Wendepunkt hin steuert (krisis,<br />

griech. = Entscheidung, entscheidende Wende). Ausgelöst durch innere (Krankheit, Reifeprozesse<br />

etc.) und äussere Veränderungen (Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung, Krieg) werden Individuen,<br />

Familien und <strong>aus</strong>serfamiliäre Sozialsysteme in ihrem Selbstverständnis (und Selbstwertgefühl)<br />

erschüttert. Typische Veränderungen auf psychischer Ebene sind Kontrollverluste, Verunsicherung,<br />

Hilflosigkeit, Trauer−, Wut− und Angstgefühle, erhöhte Suggestibilität, Verzweiflung, wahnhafte<br />

Verkennungen bis zur Depersonalisation und Derealisation (Ciompi, 1993, in: Kunz et al., 2007). Je<br />

nach Schweregrad eines Schicksalsschlages, etwa nach einem Verlust eines Partners oder Kindes<br />

durch Tod, können auch psychisch Stabile rasch in eine Krise geraten, sodass das bisherige<br />

Fliessgleichgewicht radikal destabilisiert wird. Wird eine Krisenentwicklung nicht unterbrochen, die<br />

Krise nicht abgewendet oder bewältigt, endet sie schliesslich in einer Katastrophe mit allenfalls<br />

dauerhaftem Schaden. Dramatische Beispiele hierfür sind Selbsttötungen, erweiterte Suizide, aber<br />

auch jede andere Anwendung von Gewalt, sexueller Missbrauch, Suchtexzesse oder Weglaufen<br />

von Zuh<strong>aus</strong>e.<br />

Die Verhinderung des Suizids gehört zu den wichtigsten Zielen der <strong>Krisenintervention</strong>.<br />

Psychische Krisen sind in der psychiatrischen Praxis eine häufige Erscheinung, wobei nicht mit<br />

jedem psychischen Leid bereits eine Krise gegeben ist. Menschen, die eine schwere psychische<br />

Krankheit zu bewältigen haben, können mit Unterstützung seitens ihrer Angehörigen über lange<br />

Zeitabschnitte eine bewundernswerte Balance zwischen Stabilität und Wandel finden und<br />

aufrechterhalten. Sie leben indessen in einem verletzlichen Gleichgewicht, sodass bereits ein<br />

geringer Anstoss genügt, um sie <strong>aus</strong> ihrer Bahn zu werfen.<br />

Ein Notruf<br />

Am 27. März rief mich um 21 Uhr die 13−jährige Sara L. an. Sie stand vor dem H<strong>aus</strong>eingang ihres<br />

Blocks im Regen, schluchzte und wusste nicht, was sie mit ihrer Mutter anfangen sollte. Diese lag in<br />

der Wohnung des 11. Stocks betrunken auf dem Sofa, hatte kurz zuvor Sara geohrfeigt und<br />

angeschrien, als diese ihr ins Bett helfen wollte. Der Scheidungstermin stand am nächsten Tag in<br />

der Agenda, und die Mutter schien zu verkennen, dass sie mit ihrer Flucht in den Alkohol nicht nur<br />

den bedrohlichen Anlass <strong>aus</strong>blendete, sondern auch die Bedürfnisse ihrer pubertierenden Tochter,<br />

die am nächsten Tag einen schwierigen Schultest zu bestehen hatte. Am Telefon wurde mir rasch<br />

deutlich, dass Sara völlig überfordert war. Sie konnte sich vor Weinen kaum fassen, und die<br />

durchschimmernde Wut dem Vater, aber auch andern Erwachsenen gegenüber, die ihr<br />

weismachen wollten, dass ein Scheidungsleid vorübergehend sei, machte ihren Krisenzustand<br />

deutlich. Sie heulte ununterbrochen und verriet eine tiefe Hoffnungslosigkeit, möglicherweise auch<br />

2


stellvertretend für ihre alkoholisch abgemeldete Mutter.<br />

Unweigerlich gingen mir dabei die Scheidungsmythen durch den Kopf, wie sie von der<br />

US−Forscherin Judith S. Wallerstein beschrieben werden (Wallerstein, 2002). Während 25 Jahren<br />

hat sie ursprünglich 131 Scheidungskinder (= Kinder geschiedener Eltern) und deren Familien nach<br />

den Folgen der elterlichen Scheidung befragt. Ein auch hierzulande verbreiteter Mythos geht dahin,<br />

dass Kinder nach der Scheidung ihrer Eltern glücklicher sind, sobald sie erfahren würden, dass nun<br />

die Eltern je allein oder mit neuen Partnern zufriedener seien als vor der Scheidung, und dass das<br />

Unglück für die Kinder nur vorübergehender Natur sei. Dies hat die Autorin als einen Irrglauben der<br />

Erwachsenen entlarvt, die auf diese Weise – unabhängig von den wahren Verhältnissen – ihre<br />

Schuldgefühle auf Kosten der Kinder regulierten. In diesen Untersuchungen entpuppte sich die<br />

Scheidung der Eltern für die Mehrzahl der Scheidungskinder als eine ihr Leben verändernde,<br />

‚langwährende Krise’ (a.a.O. S. 30).<br />

<strong>Krisenintervention</strong> − eine systemische Perspektive<br />

<strong>Krisenintervention</strong> ist die professionelle Antwort auf eine Krise und umfasst alle fachlichen<br />

Massnahmen von <strong>aus</strong>sen, deren Zweck es ist, die Krise zu unterbrechen, zu verhindern,<br />

abzuwenden oder zu bewältigen, ehe sie in eine Katastrophe mündet. Ziel der <strong>Krisenintervention</strong> ist<br />

es, einerseits dauerhaften Schaden zu verhindern und anderseits eine möglichst nachhaltige<br />

präventive Wirkung zu erzielen.<br />

SystemikerInnen sprechen eher von ‚Krisenbegleitung’ denn von ‚−intervention’, da letzteres zu<br />

sehr die Fachperson als ExpertIn hervor streicht, die immer am besten – auf jeden Fall besser als<br />

die Hilfesuchenden selbst – weiss, was zu tun ist (Egidi u. Boxbücher, 1996). Das heisst indessen<br />

nicht, dass die SystemikerIn im Anblick der Not die Hände in den Schoss legt und, statt<br />

anzupacken, intellektuell raffinierte Fragen stellt. Vielmehr orientiert sie sich primär am Kontext der<br />

Krise, und das sind meist andere, für die hilfesuchende Person bedeutungsvolle Menschen, die<br />

wechselwirkend an der Krise teilhaben, sei es durch aktives Mittun, sei es durch Unterlassungen<br />

oder Abwesenheiten. Daher behält die SystemikerIn stets beides im Auge, einerseits den<br />

lebensbedrohlichen Notfall, der die lebensrettende Sozialkontrolle verlangt und keinen<br />

Interventionsaufschub erlaubt, und anderseits die in der Krise nicht genutzten Kompetenzen und<br />

Ressourcen der Menschen, die durch einen fachlichen Aktivismus nur noch hilfloser gemacht<br />

würden.<br />

Einen weiterführenden Kontext herstellen<br />

Ich kannte das Einzelkind Sara L. im Zusammenhang mit der Paartherapie der Eltern, die mich<br />

aufsuchten, nachdem der Vater die Mutter wegen einer andern Frau verlassen hatte. Während es<br />

der Mutter um nichts weniger als die Rettung der Ehe und Familie ging, erschien der Vater einzig<br />

zum Zweck, unter ‚objektiven Bedingungen’ eine optimale Besuchsregelung bezüglich Sara<br />

<strong>aus</strong>zuhandeln. Er blieb denn auch bald den gemeinsamen Sitzungen fern. Insofern schwebte eine<br />

zusätzliche Tragik über den ohnehin schon zerrütteten Verhältnissen, als die Freundin des Vaters<br />

seit kurzem die Diagnose einer Krebserkrankung zu erdulden hatte. Als ich am Telefon Saras<br />

verzweifelte Stimme hörte, schien es mir, als fände darin all das Leid der Familie seinen<br />

unerträglichen Ausdruck.<br />

Therapeut (während Sara schluchzt): Es tut mir so leid, Sara … es tut mir so leid … und ich danke<br />

dir, dass du dich gemeldet hast ... Das ist nicht selbstverständlich. Es ist gut, dass du weinen<br />

kannst … Wo bist du jetzt?<br />

Sara: Vor dem H<strong>aus</strong> ... Ich kann doch meine Mutter nicht da sitzen lassen ... Im Sozialdienst war<br />

der Anrufbeantworter drin. Die sind erst morgen wieder da.<br />

Therapeut: Hast du noch genügend Batterie in deinem Handy?<br />

3


Sara: Ja, ich hab’s eben erst aufgeladen.<br />

Therapeut: Wenn ein Wunder geschähe, wer wäre gerade jetzt an deiner Seite?<br />

Sara: Mein Vater … der kann doch uns nicht einfach so …<br />

Therapeut: Hast du ihn angerufen?<br />

Sara: Nein, weil er glaubt mir nicht, dass Mami betrunken ist, er glaubt, das sei nur Theater, und<br />

dann regt er sich auf…<br />

Therapeut: Wäre es eine Hilfe, wenn ich ihm anrufe?<br />

Sara: Ja.<br />

Therapeut: Was müsste ich ihm sagen, damit er gleich auflegen würde?<br />

Sara: Er müsse jetzt sofort zu Mami schauen.<br />

Therapeut: Kannst du mit deiner Mutter noch sprechen, oder ist sie zeitweise bewusstlos?<br />

Sara: Sie hat schon eine Flasche Wodka getrunken, und sie trinkt immer weiter. Ich glaube, ich<br />

mache mir Sorgen wegen ihr.<br />

Therapeut: O.K., Sara, du bist jetzt für mich die wichtigste Verbindungsperson zur Mutter. Weder dir<br />

noch ihr darf irgendwas geschehen. Deshalb werde ich jetzt den Notfallarzt anvisieren, damit deine<br />

Mutter rasch in Sicherheit, ins Spital kommt. Auch werde ich deinen Vater kontaktieren, allerdings<br />

muss er dann selbst entscheiden, wie er mit der Situation umgehen will. Geh’ jetzt zurück in die<br />

Wohnung und warte auf meinen Rückruf in genau 15 Minuten!<br />

Fünf Minuten später war der Notfallarzt organisiert und mittels SMS teilte ich dem Vater mit, so<br />

rasch wie möglich mit mir Kontakt aufzunehmen, was kaum eine Minute später geschah. Ich<br />

orientierte ihn über die Vorkommnisse und den Sachverhalt, dass die Sanitätspolizei samt Notarzt<br />

unterwegs zur Mutter sei, und nachdem er sich erst über die ‚ewigen’ Manipulationen seiner<br />

Noch−Ehefrau beschwert hatte, wurde er zuletzt eher kleinlaut.<br />

Vater: Vielen Dank Herr Doktor, dass Sie sich für uns eingesetzt haben. Ich hole jetzt Sara ab, sie<br />

kann vorerst bei mir bleiben, und ich werde auch ihren Klassenlehrer benachrichtigen.<br />

Therapeut: O.K., danke Herr L., ich informiere Sara, dass sie von ihrem Vater abgeholt wird.<br />

Bereits am folgenden Tag fand in den Abendstunden eine Krisensitzung statt, an der die<br />

<strong>aus</strong>genüchterte Mutter, der Vater und Sara teilnahmen. Dabei blieben mir folgende Fragen in<br />

Erinnerung.<br />

An die Mutter: Gesetzt den Fall, Sie werden einen neu festgelegten Scheidungstermin<br />

wahrnehmen, was denken Sie, was könnten sich dar<strong>aus</strong> für positive Entwicklungen ergeben, die<br />

sich vorerst nur erahnen lassen?<br />

An den Vater: Falls Sie nun der Mutter Ihrer gemeinsamen Tochter genügend Zeit geben, um die<br />

Scheidungskrise zu bewältigen und sich auf die neuen Gegebenheiten hin zu orientieren, was<br />

denken Sie, was kann das für positive Auswirkungen auf Sara haben?<br />

An Sara: Was würde Dir helfen, um das Vertrauen zu finden, dass keine Scheidung der Welt Dir<br />

Deine Eltern wegnimmt?<br />

In einem andern Fall meinte auf diese Frage ein bereits 23−jähriger ETH−Student: „Wenn ich<br />

einmal pro Monat zusammen mit meinen Eltern eine Glace essen gehen könnte.“<br />

Aspekte einer Krisenbegleitung<br />

Vor dem Hintergrund verschiedener Handlungsmodelle für die <strong>Krisenintervention</strong> (Schnyder, 1993,<br />

Egidi u. Boxmücher, 1996, Sonneck, 2000, Kunz et al., 2007), können folgende wichtige Aspekte<br />

hervorgehoben werden:<br />

1. Kontakt herstellen und die Beziehung stärken: Ein Kontakt zur Person in Krise muss nicht nur<br />

hergestellt, sondern insbesondere aufrechterhalten und gestärkt werden (Metapher: In einer Kurve<br />

den Kontakt zum Steuerrad zu verlieren, ist verhängnisvoll). Hierzu ist höchste Konzentration auf<br />

die hilfesuchende Person und deren Bedürfnisse gefordert. Ein Kontakt kann auch an technischen<br />

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Pannen scheitern, z.B. dass kein Handy−Empfang möglich oder die Batterie abgelaufen ist.<br />

2. Emotionale Entlastung fördern: Eine Person in Krise ist oft verzweifelt, erregt, in Aufruhr,<br />

unkonzentriert, verängstigt oder gar psychotisch, und daher sind zur Stabilisierung des Kontaktes<br />

emotional entlastende Massnahmen unverzichtbar. Ein behutsames Eingehen auf den<br />

Gemütszustand kann helfen.<br />

3. Erfassen und Ordnen der Krisensituation: Die Krisenmanagerin sollte sich so rasch wie möglich<br />

ein Bild von den inneren und äusseren Stressoren bzw. Krisen<strong>aus</strong>lösern, aber auch vom<br />

Bewältigungspotential der Person in Krise, deren Einbettung in einen situativen, zeitlichen,<br />

familiären und sozialen Zusammenhang sowie den zugänglichen oder allenfalls zur Zeit blockierten<br />

persönlichen und sozialen Ressourcen machen.<br />

4. Beschreibungen der Krise: Sich in Krise befindende Personen zeigen oft eine ‚röhrenförmige’<br />

Wahrnehmung und ihr Bewältigungspotential wird zusätzlich überfordert, wenn etwa von der ‚Krise<br />

als Chance’ geredet wird. Um dem Bedürfnis nach Wahrnehmungsbestätigung gerecht zu werden,<br />

ohne gleichzeitig die pessimistische Wertung zu unterstützen, soll die Krise in verständliche Worte<br />

gefasst werden, indessen so, dass die Subjektivität der zugrundeliegenden Wahrnehmung deutlich<br />

wird (‚So wie Sie die Situation erleben, kann ich Ihre Verzweiflung gut verstehen’).<br />

5. Vermittlung einer Zukunfts−, Hoffnungs− und Kompetenzperspektive durch Undeutung der Krise:<br />

So wie das chinesische Schriftzeichen für ’Krise’ <strong>aus</strong> zwei Teilen zusammengesetzt ist, je <strong>aus</strong><br />

einem für Gefahr und Chance, zeigte auch die Krise im Fall von Sara L. neben der Leidens– eine<br />

unerwartete Chancenseite, indem die Eltern zwecks Klärung von Missverständnissen, Ängsten und<br />

Abwertungen weitere Familiensitzungen beschlossen.<br />

6. Beendigung der Krisenbegleitung und Standortbestimmung: Das Potential <strong>systemischer</strong><br />

Fragetechniken liegt darin, dass sie mir als einem in der Krise Hilfe Suchenden das Angebot<br />

machen, ExpertIn meiner Leidenssituation zu sein und mir zugleich ‚With a Little Help from My<br />

Friends’ (Lennon u. McCartney, 1967) die Chance geben, die Krisenbewältigung selbstwirksam zu<br />

erleben. Denn am Ende will ich selbst entscheiden, ob sozialarbeiterische, juristische,<br />

psychotherapeutische und – last but not least – seelsorgerische Hilfen nötig und weiterführend sind.<br />

www.zsb−bern.ch<br />

Literatur<br />

• Egidi, K., Boxmücher, M. ( 1996): Systemische <strong>Krisenintervention</strong>, Forum 31, dgvt<br />

• Kunz, St., Scheuermann, U., Schürmann, I. (2007): <strong>Krisenintervention</strong>, Juventa<br />

• Schnyder, U., Sauvant, J.−D. (1993): <strong>Krisenintervention</strong> in der Psychiatrie, Hans Huber<br />

• Sonneck, G. (2000): <strong>Krisenintervention</strong> und Suizidverhütung, Facultas, Wien<br />

• Wallerstein, J., S., Lewis, J., M., Blakeslee, S. (2002): Scheidungsfolgen − Die Kinder tragen<br />

die Last, Votum<br />

www.avenirsocial.ch<br />

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