i Sozialhilfe zwischen Bedürfnissen und Bedarf - AvenirSocial
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Social Work Action Day 2013<br />
Was braucht der Mensch? i<br />
<strong>Sozialhilfe</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Bedürfnissen</strong> <strong>und</strong> <strong>Bedarf</strong><br />
Was ist aus der Sicht der Sozialen Arbeit der Argumentations‐Standpunkt zur geplanten<br />
Totalrevision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes im Kanton Zürich? ii<br />
Was ist richtig, was ist falsch, wenn es um die Befreiung der Menschen aus sozialen<br />
Notlagen geht? Eine Totalrevision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetztes steht vor der Tür. Gesellschaftliche<br />
Akteure werden darüber debattieren müssen, was der Mensch braucht,<br />
um sich aus einer sozialen Notlage befreien zu können. Falls sich die Soziale Arbeit<br />
nicht an dieser Debatte beteiligen sollte, wird diese spezifische Sichtweise fehlen <strong>und</strong><br />
die Revision wird einseitig aufgegleist werden. Es wird ein <strong>Sozialhilfe</strong>gesetz daraus<br />
hervorgehen, das die Bedingungen für die Menschen, die an sozialen Notlagen leiden,<br />
entsprechend bestimmen wird.<br />
Die Professionellen der Sozialen Arbeit setzen sich <strong>und</strong> ihre Netzwerke ein, wenn es<br />
um strukturelle, gesellschaftliche <strong>und</strong> sozialpolitische Veränderungen geht. So steht<br />
es im Kodex der Sozialen Arbeit Schweiz (Ziffer 14.1). So soll die Verlässlichkeit der<br />
Sozialen Arbeit gegenüber der Gesellschaft begründet werden. Der Kodex schlägt<br />
folglich vor, eine demokratische Gesellschaft einzufordern, die für Solidarität, die<br />
Wahrung der Menschenrechte, für Gleichberechtigung <strong>und</strong> Gleichbehandlung aller<br />
Menschen bzw. gegen Diskriminierung von irgendwelchen Menschen einsteht (Ziffer<br />
14.3).<br />
Ob die Soziale Arbeit diesen Werten bei der zürcherischen Totalrevision zum Durchbruch<br />
verhelfen kann, wird sich zeigen. Das liegt auch nicht in ihrer alleinigen Verantwortung.<br />
Das, was sie jedoch zu verantworten hat ist das, was die Professionellen<br />
der Sozialen Arbeit <strong>und</strong> deren Netzwerke getan oder unterlassen haben. Sie werden<br />
sich – mindestens kollegial innerhalb der Community der Sozialen Arbeit – rechtfertigen<br />
müssen, ob <strong>und</strong> inwiefern, mit welchem Inhalt <strong>und</strong> von welchem Standpunkt aus<br />
sie sich argumentativ in den Prozess der Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes eingebracht<br />
haben (Ziffer 15.3).<br />
Der Standpunkt der Sozialen Arbeit<br />
Was aber ist der Ausgangspunkt jeder Argumentation in der Sozialen Arbeit? Zu dieser<br />
Frage geben internationale <strong>und</strong> nationale Dokumente Auskunft, wie die Definition<br />
zur Sozialen Arbeit, die Prinzipien der Ethik der Sozialen Arbeit <strong>und</strong> die globalen Standards<br />
für die Aus‐ <strong>und</strong> Weiterbildung der Professionellen der Sozialen Arbeit, <strong>und</strong><br />
nicht zu vergessen: das während über 130 Jahren gewachsene Wissen der Sozialen<br />
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Arbeit. Auch der Kodex für die Soziale Arbeit Schweiz bringt es auf den Punkt: Die Basis<br />
des professionellen Standpunktes ist demnach (Ziffer 5.10) dreiteilig:<br />
(1) Das erste Element ist eine (für alle Professionellen Sozialer Arbeit z.B. über ihre<br />
Ausbildung zugängliche) – auf ihren Gegenstand bezogene – inter‐ <strong>und</strong> transdisziplinäre,<br />
wissenschaftliche Beschreibungs‐ <strong>und</strong> Erklärungsbasis. Die Reflexion der<br />
darauf aufbauenden, wissenschaftsbegründeten Arbeitsweisen <strong>und</strong> Methoden,<br />
erweitert <strong>und</strong> differenziert diese wissenschaftliche Beschreibungs‐ <strong>und</strong> Erklärungsbasis<br />
laufend.<br />
Dieses erste Element verweist auf die berufspolitische Verantwortung der Professionellen<br />
durch kollegiale Selbstkontrolle.<br />
(2) Das zweite Element ist eine (berufs‐) ethische Basis, eine ‚Bereichsethik Sozialer<br />
Arbeit‘, mit entsprechenden moralischen Ansprüchen (‚Berufskodex’). Auf diese<br />
berufen sich die Professionellen in ihren Handlungs‐Entscheidungen – unabhängig<br />
vom gerade herrschenden Zeitgeist <strong>und</strong> unabhängig vom Druck der Trägerschaften<br />
oder der Adressat/innen. Es ist auch diese berufsethische Basis, welche<br />
die zentralen Fragen der Handlungssituation regelt.<br />
Dieses zweite Element verweist auf die berufspolitische Verantwortung der Professionellen<br />
mittels kollegialer Beratung.<br />
(3) Das dritte Element ist die Berufung auf die ‚Menschenwürde’ <strong>und</strong> die ‚Menschen<strong>und</strong><br />
Sozialrechte’ als Legitimationsbasis. Diese universell gültigen Regelwerke<br />
weisen über legale Gesetze <strong>und</strong> bindende Verträge, Aufträge <strong>und</strong> Arbeitsbündnisse<br />
hinaus. Wenn nötig ermöglichen sie der Sozialen Arbeit also eigenbestimmte<br />
Aufträge.<br />
Die Bezogenheit auf die Menschen‐ <strong>und</strong> Sozialrechte ermöglicht berufspolitisch<br />
die Kriterien geleitete Überprüfung <strong>und</strong> Rechtfertigung Sozialer Arbeit als Profession.<br />
Der ‚Standpunkt der Sozialer Arbeit‘ gründet also auf einer (1) wissenschaftlichen,<br />
einer (2) berufsethischen <strong>und</strong> einer (3) normativ‐rechtlichen Basis. Damit hat die Soziale<br />
Arbeit einen eindeutigen <strong>und</strong> klar umrissenen Ausgangspunkt für ihre Expertise<br />
<strong>und</strong> für nachvollziehbare Argumentationen zur Verfügung. Dieser verpflichtet sie allerdings<br />
auch, sich mit begründeter Fachpolitik in öffentliche Diskurse <strong>und</strong> Politiken<br />
einzumischen <strong>und</strong> diese mit zu gestalten.<br />
Und dieser Standpunkt geht immer von der Frage aus: „Was ist der Mensch?“ <strong>und</strong><br />
davon abhängig: „Was braucht der Mensch?“<br />
Das Menschenbild der Sozialen Arbeit<br />
Ausgangspunkt jeglicher Argumentation der Sozialen Arbeit – also auch z.B. zwecks<br />
Planung <strong>und</strong> Durchführung der Einmischung in die Debatte um eine Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes<br />
– ist also ihr Menschen‐ <strong>und</strong> Gesellschaftsbild. Ohne dieses hier jetzt<br />
2
weiter begründen zu können, fokussiert das Menschenbild der Sozialen Arbeit das<br />
Faktum, dass Menschen<br />
(1) biologische Organismen, also verletzlich, letztlich sterblich sind, dass Menschen<br />
(2) psychische Kompetenzen eigen, sie also wissens‐, lern‐, leidens‐ <strong>und</strong> handlungsfähig<br />
sind, <strong>und</strong> dass Menschen<br />
(3) soziale, also gesellige bio‐psychische Wesen sind, die auf andere Menschen bezogen<br />
<strong>und</strong> auf sie angewiesen sind.<br />
Daraus ergibt sich die spezifische Funktion von Gesellschaft. Der Gr<strong>und</strong> dafür liegt<br />
darin, dass Menschen Bedürfnisse haben, also natürliche innere (Soll‐)Werte, die sie<br />
erreichen müssen, um sich vor ihrer Verletzlichkeit zu schützen <strong>und</strong> ihren sozialen,<br />
psychischen <strong>und</strong> biologischen Tod möglichst lange hinauszuschieben. Menschen sind<br />
somit abhängig von menschengerechten Chancen <strong>und</strong> Möglichkeiten im soziokulturellen,<br />
gesellschaftlichen Kontext. Ohne <strong>zwischen</strong>menschliche Interaktionen <strong>und</strong><br />
Kooperationen können sie ihre Bedürfnisse, diese dem Organismus innewohnenden<br />
Werte, nicht ausgleichen. Sie sind deshalb prinzipiell angewiesen auf sozial gerechte<br />
soziale Systeme; insofern brauchen Menschen zwingend (Menschen‐ <strong>und</strong> Sozial‐)<br />
Rechte <strong>und</strong> die Ermächtigung, diese auch zu realisieren.<br />
Die Argumentationsrichtung der Sozialen Arbeit<br />
Die Argumentationsanlage in der Debatte um die Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes<br />
vom Standpunkt der Sozialen Arbeit aus<br />
- beginnt also beim Individuum, seinen konkreten <strong>Bedürfnissen</strong>, seinem selbst‐ <strong>und</strong><br />
fremdschädigenden Verhalten <strong>und</strong> seiner Lernfähigkeit,<br />
- um dann die Frage zu stellen: Wie sind Gesellschaft, die Sozialpolitik, die institutionalisierten<br />
Systeme des Sozialstaates <strong>und</strong> die Organisationen des Sozialwesens<br />
beschaffen, welche die Gr<strong>und</strong>lage für den not‐wendenden Abbau der Bedürfnisspannungen<br />
sind? Ermöglichen, beeinträchtigen oder verhindern sie gar den<br />
Abbau von Bedürfnisspannungen?<br />
- um dann festzustellen, inwiefern die konkreten Menschen, die von diesen so gestalteten<br />
Rahmenbedingungen der Bedürfnisbefriedigungschancen abhängig sind,<br />
damit zurechtkommen, oder eben nicht zurechtkommen,<br />
- um dann zu definieren, wie die Organisationen des Sozialwesens beschaffen sein,<br />
bzw. in welche Richtung sie sich gegebenenfalls verändern müssten,<br />
- um dann <strong>und</strong> erst dann – als Mittel der Umsetzung – entsprechende Aspekte des<br />
zu revidierenden <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes zu formulieren.<br />
Die Argumentationsstruktur in der Sozialen Arbeit ist also eine Art ‚Zick‐Zack‘‐ oder<br />
up and down‐ Denkbewegung. Sie nutzt human‐ <strong>und</strong> sozialwissenschaftliches Wissen<br />
über den Menschen <strong>und</strong> des Mensch‐Seins, um dann zuerst die sozialen Bedingungen<br />
zu analysieren <strong>und</strong> die darin enthaltenen Möglichkeiten zu beleuchten, um vor diesem<br />
konkretisierten gesellschaftlichen Hintergr<strong>und</strong> dann die konkreten Menschen<br />
wieder ins Blickfeld zu nehmen, die darin ihr Leben realisieren müssen. Dabei werden<br />
3
die Menschen zwar als gr<strong>und</strong>sätzlich bedürftige <strong>und</strong> verletzbare Organismen, aber<br />
zugleich als wissens‐ <strong>und</strong> lernfähige Individuen verstanden, die gr<strong>und</strong>sätzlich die Voraussetzungen<br />
mitbringen, die vorliegenden sozialen Bedingungen so zu verändern,<br />
dass diese die Bedürfnisbefriedigung ermöglichen können. Darüber hinaus haben diese<br />
Menschen nicht nur Pflichten, sondern in erster Linie Rechte.<br />
Vor diesem angereicherten Hintergr<strong>und</strong> aus, der vor allem Wechselwirkungen <strong>und</strong><br />
Prozesse in den sozialen Strukturen ins Blickfeld rückt, lässt sich dann bestimmen, in<br />
welche Richtung sich die sozialen Solidarsysteme <strong>und</strong> normativen Regelwerke (z.B.<br />
ein <strong>Sozialhilfe</strong>gesetz) verändert werden müssten, <strong>und</strong> wer in diesem Veränderungsprozess<br />
welche Aufgaben zu übernehmen hätte.<br />
Inhaltliche Dimensionen der Argumentation<br />
Die vom Standpunkt der Sozialen Arbeit her geführte Argumentation beginnt genau<br />
genommen natürlich nicht bei der Frage: ‚Was ist der Mensch‘? sondern bei der fachlichen<br />
Antwort: eine für die Soziale Arbeit typische Argumentation geht von den zentralen<br />
Merkmalen des Menschen als biopsychosozialer Organismen <strong>und</strong> als Mitglied<br />
sozialer Systeme aus. Sie beachtet deren gr<strong>und</strong>sätzliche Bedürftigkeit <strong>und</strong> Vulnerabilität,<br />
<strong>und</strong> betont, dass sie sich – allerdings nur – im Kontext sozialer Interaktions‐, Kooperations‐<br />
<strong>und</strong> Positionsstrukturen schützen können. Das schliesst mit ein, dass sie<br />
sich am menschengerechten Aufbau sozialer Systeme mit‐beteiligen <strong>und</strong> sie mitgestalten,<br />
sich in ihnen integrieren <strong>und</strong> sie nutzen können müssen. Das ist es, was<br />
Menschen brauchen!<br />
Die Tatsache menschlicher Bedürfnisse als universelle Eigenschaften aller Menschen<br />
<strong>und</strong> die Notwendigkeit der strukturellen Herstellung von Befriedigungsmöglichkeiten<br />
<strong>und</strong> ‐chancen, bilden demnach die Gr<strong>und</strong>lage der allgemeinen Forderung der Sozialen<br />
Arbeit. Sie ist eine konkretisierte Forderung nach sozialer Gerechtigkeit! Folglich steht<br />
für die Soziale Arbeit fest, dass in jedem <strong>Sozialhilfe</strong>gesetz der Dienst gegenüber den<br />
Menschen <strong>und</strong> ihrer Bedürfnisbefriedigung stärker zu schützen ist, als das, was Organisationen<br />
des Sozialwesens als ihren <strong>Bedarf</strong> anmelden <strong>und</strong> definieren. Die Forderung<br />
der Sozialen Arbeit an die sozialpolitische Gesetzgebung lautet demnach: Macht ein<br />
Gesetz, welches garantiert, dass aus den Organisationen des Sozialwesen funktionstüchtige,<br />
menschen‐ <strong>und</strong> sozialgerechte Solidarsysteme hervorgehen können, mittels<br />
derer – auch in Kooperation mit der Sozialen Arbeit – auch diejenigen Menschen ihre<br />
Bedürfnisse realisieren können, denen das in ihrer eigenen sozialen Umgebung nicht,<br />
nicht mehr oder noch nicht gelingt. Das ist es, was Menschen brauchen!<br />
Bedürfnisse <strong>und</strong> <strong>Bedarf</strong>e<br />
Aus analytischen Gründen müssen wir spätestens jetzt die Begriffe schärfen <strong>und</strong> klären.<br />
So ist zunächst <strong>zwischen</strong> dem Term ‚Bedürfnis‘ auf der einen <strong>und</strong> dem Term ‚<strong>Bedarf</strong>‘<br />
auf der anderen Seite zu unterscheiden <strong>und</strong> klar zu stellen, dass der Plural von<br />
‚<strong>Bedarf</strong>‘ nicht etwa ‚Bedürfnisse‘ ist, sondern ‚<strong>Bedarf</strong>e‘.<br />
4
Der Unterschied liegt auf einen kurzen Nenner gebracht darin, dass ein Bedürfnis<br />
bzw. Bedürfnisse (organismische) Werte (also: angestrebte Zustände) <strong>und</strong> ein <strong>Bedarf</strong><br />
bzw. <strong>Bedarf</strong>e (gesellschaftliche) Normen (also: von sozialen Akteuren akzeptierte Vorstellungen<br />
über Regelungen innerhalb einer Gesellschaft) sind:<br />
Ein ‚<strong>Bedarf</strong>‘ definiert die wünschbaren oder benötigten Mittel (extern Ressourcen),<br />
um durch deren Gebrauch etwas zu realisieren. Der <strong>Bedarf</strong> beispielswiese in der <strong>Sozialhilfe</strong><br />
wird einerseits durch das Gesetz, die SKOS‐Richtlinien <strong>und</strong> durch den Ermessensspielraum<br />
der zuständigen Behörde festgelegt; Sozialarbeiter/innen nehmen<br />
durch ihre Darlegung der Gesamtsituation auf die entsprechenden Beschlüsse Einfluss.<br />
Die in Behörden mitwirkenden Akteure entscheiden mit Blick auf die normativen<br />
Vorgaben <strong>und</strong> die durch die Soziale Arbeit berichteten Daten rational. Auf diese<br />
Weise können die zugesprochenen <strong>Bedarf</strong>e von den SKOS‐Richtlinien (eine übergeordnete<br />
Definition von <strong>Bedarf</strong>en) einmal nach oben <strong>und</strong> dann wieder nach unten abweichen.<br />
Mit der Definition von <strong>Bedarf</strong>en wird in erster Linie also eine Frage der Organisation<br />
gelöst, hauptsächlich das der Verteilung von begehrenswerten Gütern.<br />
Wenn wir in der Sozialen Arbeit mit ‚<strong>Bedürfnissen</strong>‘ argumentieren, beziehen wir uns<br />
nicht auf explizite Normen, sondern auf organismische (Soll‐) Werte: Unser Organismus<br />
will im Gleichgewicht sein <strong>und</strong> bleiben <strong>und</strong> – er will sich ges<strong>und</strong> fühlen <strong>und</strong> wohl<br />
befinden – er will überleben <strong>und</strong> leben. Deshalb ist er zwingend auf denjenigen <strong>Bedarf</strong><br />
angewiesen, der ihm die Bedürfnisbefriedigung erlaubt. Weichen die (Soll‐) Werte<br />
des menschlichen Organismus dauerhaft ab, entstehen Bedürfnisspannungen. Der<br />
Organismus reagiert dann in Form von einfachen unbewussten Regulationen bis hin<br />
zu bewusst gesteuertem Handeln. Durch Handlungen kann der Organismus die (Soll‐)<br />
Werte wieder erreichen <strong>und</strong> damit den Zustand des Wohlbefindens, oder nochmals<br />
anders formuliert: den Zustand der Abwesenheit von Bedürfnisspannungen.<br />
Bedürfnisspannungen haben also zwingend Aktivitäten unseres Organismus zur Folge.<br />
Werden Bedürfnisspannungen nicht abgebaut oder können sie nicht abgebaut<br />
werden, reagiert der menschliche Organismus immer heftiger, systemisch betrachtet<br />
sucht er nach dem Gleichgewicht, bis er es gef<strong>und</strong>en hat. Tritt dieses über kürzere<br />
oder längere Zeit nicht ein, erleidet er sozialen, psychischen <strong>und</strong> zuletzt physischen<br />
Schaden, unter Umständen mit finalen Folgen, falls die Bedürfnisse dauerhaft nicht<br />
befriedigt werden.<br />
Das Verhältnis <strong>zwischen</strong> <strong>Bedürfnissen</strong> <strong>und</strong> <strong>Bedarf</strong> lässt sich nun klarer fassen:<br />
Bedürfnisse sind ausschliesslich Eigenschaften von biopsychischen Organismen, –<br />
nur Individuen haben Bedürfnisse. Uns interessieren hier die Bedürfnisse von<br />
menschlichen Individuen.<br />
Zugestandene <strong>Bedarf</strong>e hingegen sind Artefakte von (Akteuren von) Organisationen,<br />
die – im besten Fall – biopsychosoziale Bedürfnisse zu befriedigen im Stande<br />
sind. Uns interessieren hier vor allem die von Organisationen des Sozialwesens<br />
definierten <strong>Bedarf</strong>e.<br />
5
Ein häufiges Vorurteil sei in diesem Zusammenhang noch kurz angesprochen: Ein <strong>Bedarf</strong>,<br />
also ein von Akteuren definiertes Gut, kann keine Bedürfnisse wecken, denn Bedürfnisse<br />
sind immer schon da – oder es sind keine.<br />
Ein definierter oder proklamierter <strong>Bedarf</strong> kann hingegen Wünsche wecken. Solche<br />
entstehen, ändern sich <strong>und</strong> vergehen wieder – je nach strukturellen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Bedingungen in einer Gesellschaft. Deshalb können Wünsche vom Standpunkt der<br />
Sozialen Arbeit aus gesehen auch legitim oder nicht legitim sein. Menschliche Bedürfnisse<br />
hingegen sind immer legitim.<br />
Die Erfüllung von Wünschen – <strong>und</strong> das ist oft auch ein Trugschluss der Klient/innen<br />
der Sozialen Arbeit – ersetzt jedoch nie die Befriedigung von <strong>Bedürfnissen</strong> im Sinne<br />
organismischer (Soll‐)Werte.<br />
Menschen sind durch biologische, (bio)psychische <strong>und</strong> (biopsycho)soziale Bedürfnisse<br />
motiviert, zu versuchen, diese mittels Entscheidungen <strong>und</strong> Handlungen zu befriedigen.<br />
Um welche Bedürfnisse geht es?<br />
- Zu den biologischen <strong>Bedürfnissen</strong> gehören physische Integrität, Selbstreproduktion,<br />
Regenerierung, sexuelle Aktivität <strong>und</strong> Fortpflanzung.<br />
- Zu den psychischen <strong>Bedürfnissen</strong> gehören sensorische Stimulation, Ästhetik bzw.<br />
ästhetisches Erleben, Abwechslung, Informationen zur Orientierung, Sinn, Gewissheit,<br />
Ziele <strong>und</strong> Hoffnung auf Erfüllung, Regeln <strong>und</strong> Normen.<br />
- Zu den sozialen <strong>Bedürfnissen</strong> gehören bindende Beziehungen, emotionale Zuwendung,<br />
spontanes Helfen, soziale Zugehörigkeit, Teilnahme, Unverwechselbarkeit,<br />
relative Autonomie, soziale Anerkennung, Austauschgerechtigkeit, Fairness,<br />
Kooperation<br />
(Obrecht, 2006:440, Fussnoten 7‐9).<br />
Aufzeigen sollten wir auch das Folgende: Bedürfnisse sind bezüglich der Notwendigkeit<br />
ihrer Befriedigung unterschiedlich elastisch. Das heisst, der Zeitraum bis zur Bedürfnisbefriedigung<br />
kann je nach Bedürfnis unterschiedlich lange hinausgezögert<br />
werden. So kann die Befriedigung des Bedürfnisses, das wir ‚Hunger‘ nennen, nicht<br />
beliebig lange aufgeschoben werden, ohne das biologische Leben zu gefährden, während<br />
die Befriedigung z.B. des sozialen Bedürfnisses nach ‚Austauschgerechtigkeit‘<br />
unter Umständen jahrzehntelang aufgeschoben werden kann. Denken wir etwa an<br />
den über Generationen verlaufenden Austausch <strong>zwischen</strong> Müttern/Vätern einerseits<br />
<strong>und</strong> ihren Kindern andererseits, ohne den das soziale, das psychische <strong>und</strong> letztlich<br />
biologische Leben gefährdet wäre. Gr<strong>und</strong>sätzlich aber drängt der Organismus zur Befriedigung<br />
aller Bedürfnisklassen, denn auch Spannungen aufgr<strong>und</strong> eher elastischer<br />
Bedürfnisse wirken sich nach längerer Zeit ihrer Nichtbefriedigung negativ aus.<br />
Die Bedürfnisbefriedigung <strong>und</strong> die Funktion sozialer Systeme<br />
Damit die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können, sind sie auf ihre soziale<br />
Umwelt angewiesen. Diese soziale Umwelt besteht aus anderen Menschen <strong>und</strong> den<br />
mit <strong>und</strong> <strong>zwischen</strong> ihnen hergestellten Interaktions‐, Kommunikations‐ <strong>und</strong> Kooperati‐<br />
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onsstrukturen, also sozialen Systemen. Wir Menschen sind letztlich auf Mitgliedschaften<br />
in solchen sozialen Systemen angewiesen. Oder anders gesagt: die Funktion sozialer<br />
Systeme (z.B. Organisationen des Sozialwesens) ist es, Menschen das soziale<br />
Umfeld zu bieten, das sie brauchen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.<br />
Wegen dieser prinzipiellen <strong>und</strong> existentiellen, auch gegen‐ <strong>und</strong> wechselseitigen Angewiesenheit<br />
stehen alle Menschen permanent vor konkreten, praktischen Aufgaben,<br />
die mit dem Sich‐Integrieren, mit der Mitgestaltung <strong>und</strong> Nutzung sozialer Strukturen<br />
– mit ‚dem‘ Sozialen – zu tun haben. In der Sozialen Arbeit nennen wir diese praktischen<br />
Aufgaben, die Menschen im Zusammenhang mit ihrer Not‐wendenden Zugehörigkeit<br />
in sozialen Systemen haben, ‚soziale Probleme‘, weil es eben zu lösende Aufgaben<br />
im Bereich des Sozialen sind. Alle Menschen lösen solche sozialen Probleme,<br />
solche praktischen Aufgaben unzählige Male; ständig sind wir Menschen am Lösen<br />
sozialer Probleme – z.B. auch gerade jetzt: wir kommunizieren, wir interagieren, wir<br />
kooperieren, wir delegieren <strong>und</strong> teilen die Arbeit, usw.<br />
Nur manchmal klappt das nicht, gelingt uns das nicht auf Anhieb. Unsere Handlungsfähigkeit<br />
beim Lösen sozialer Probleme, die sich in der Regel durch grosse Routine<br />
auszeichnet, ist vorübergehend oder andauernd, nicht oder nicht mehr gegeben, sei<br />
dies aufgr<strong>und</strong> individueller Umstände <strong>und</strong> individuellen Unvermögens, oder – weit<br />
häufiger – aufgr<strong>und</strong> struktureller Behinderungen, z.B. nicht existenzsichernder Löhne<br />
für eine alleinerziehende Mutter. Manchmal fallen individuelle <strong>und</strong> strukturelle Ursachen<br />
auch zusammen.<br />
In all diesen Fällen, aber nur in diesen Fällen, ist die Soziale Arbeit gefragt, dann nämlich,<br />
wenn die ungelösten sozialen Probleme kumulieren <strong>und</strong> womöglich psychische<br />
<strong>und</strong>/oder körperliche Folgeprobleme entstehen; <strong>und</strong> vor allem dann, wenn soziale<br />
Systeme oder Organisationen des Sozialwesens nicht, noch nicht oder nicht mehr<br />
menschen‐ <strong>und</strong> bedürfnisgerecht ausgestaltet sind, wenn Machtstrukturen vorherrschen,<br />
welche die Belange der Organisationen besser schützen, als die Rechte der<br />
Menschen, die auf diese Organisationen angewiesen wären. Dann ist Soziale Arbeit<br />
gefragt: ihre Funktion ist die Vermittlung dort, wo die Menschen <strong>und</strong> ihre sozialen<br />
Strukturen interagieren, <strong>und</strong> die Förderung von solchen Strukturveränderungen, Lösungen<br />
in <strong>zwischen</strong>menschlichen Beziehungen <strong>und</strong> individuellen Ermächtigungen <strong>und</strong><br />
Befreiung, welche das Wohlbefinden, die Abwesenheit von Bedürfnisspannungen<br />
ermöglichen.<br />
(Vgl. IFSW‐Definition Sozialer Arbeit [IFSW/IASSW 2007:5]: Die Profession Soziale Arbeit<br />
fördert denjenigen sozialen Wandel, diejenigen Problemlösungen in <strong>zwischen</strong>menschlichen<br />
Beziehungen sowie diejenige Ermächtigung <strong>und</strong> Befreiung von Menschen,<br />
welche das Wohlbefinden der Menschen [‚Wohlbefinden‘ wird definiert als<br />
den Zustand einer Person, in dem sie alle ihre elementaren (biologischen, psychischen<br />
<strong>und</strong> sozialen) Bedürfnisse befriedigt hat. (Bunge/Mahner, 2004:178)] zu heben<br />
vermögen. Soziale Arbeit vermittelt <strong>zwischen</strong> Menschen <strong>und</strong> den Sozialstrukturen am<br />
Ort, wo diese aufeinander einwirken.)<br />
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Die Forderung der Sozialen Arbeit an die sozialpolitische Gesetzgebung lautet demnach<br />
des Weiteren: Nehmt die zentralen Merkmale des Mensch‐Seins, insbesondere<br />
die Bedürfnisse <strong>und</strong> die sozialstrukturellen Bedingungen ihrer Befriedigungsmöglichkeiten<br />
ernst; lasst zu, dass die – in der Regel spezialisierten – Organisationen des Sozialwesens<br />
die Soziale Arbeit auch innerhalb ihrer Strukturen kumulative Problemlagen<br />
bearbeiten darf!<br />
Die Argumentation im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess<br />
Auch wenn es klar ist, dass all diese gegenstandstheoretischen Zusammenhänge, der<br />
Standpunkt der Sozialen Arbeit <strong>und</strong> die eben skizzierten Dimensionen der Argumentation<br />
seitens der Profession unbedingt in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse<br />
eingebracht werden müssen, bedeutet das nicht, dass wir davon ausgehen, dies sei<br />
der einzige, gar einzig wahre Standpunkt. Im Gegenteil: wir können – indem wir unseren<br />
eigenen Standpunkt klar einnehmen <strong>und</strong> ‚verteidigen‘ – klar die anderen Standpunkte<br />
<strong>und</strong> deren Argumentationsfiguren erkennen.<br />
Die Sozialpolitik beispielsweise sieht die Dinge ‚naturgemäss‘ anders als die Soziale<br />
Arbeit. Für sie steht im Gegensatz zur Sozialen Arbeit eher die Frage im Vordergr<strong>und</strong>:<br />
„Welchen Beitrag, welche Pflichten haben Menschen gegenüber der Gesellschaft im<br />
Allgemeinen <strong>und</strong> die Adressat/innen der Sozialen Arbeit gegenüber den Organisationen<br />
des Sozialwesens im Besonderen zu leisten, bzw. zu erfüllen?“, denn sie hat das<br />
Funktionieren der Organisationen des Sozialwesens zu garantieren. Dieser Standpunkt<br />
<strong>und</strong> das ‚Menschenbild‘ der Sozialpolitik haben selbstverständlich Folgen für<br />
die Soziale Arbeit, z.B. führen diese zum gegenwärtig dominierenden funktionalen<br />
Auftrag seitens der Sozialpolitik an die Soziale Arbeit, nämlich eine Kontrollfunktion<br />
zu übernehmen. Diese soll sicherstellen, dass die Klient/innen normative Vorgaben<br />
erfüllen, ihre Funktionstüchtigkeit unter Beweis stellen <strong>und</strong> ihre Berechtigung zur<br />
Unterstützung belegen.<br />
Mit anderen Worten: Der Standpunkt der Sozialpolitik <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> dessen die Argumentation<br />
derjenigen Behörden des Sozialwesens, die im Sinne der <strong>Sozialhilfe</strong>gesetze<br />
zu beschliessen haben, formulieren aufgr<strong>und</strong> ihrer legalen Ressourcenmacht<br />
die Pro‐ oder Contra‐Argumente, die ihnen geeignet scheinen, den <strong>Bedarf</strong> an <strong>Sozialhilfe</strong><br />
zu bestimmen <strong>und</strong> zu legitimieren. Dabei haben sie das ‚politisch Machbare‘ <strong>und</strong><br />
die Ressourcen der Organisationen im Auge.<br />
Doch auch diese Argumentationsfigur ist nur eine von verschiedenen möglichen. Mir<br />
ist wichtig zu betonen, dass hier zwei gesellschaftliche Akteure – allerdings unterschiedlicher<br />
Mächtigkeit – ihre je unterschiedlichen Standpunkte einnehmen <strong>und</strong> argumentativ<br />
verteidigen, <strong>und</strong> dass ich daran nichts Falsches erkennen kann. Falsch<br />
wäre nur, wenn die eine Seite versuchen würde, einen absoluten Dominanzanspruch<br />
durchzusetzen <strong>und</strong> die andere Seite – in vorauseilendem Gehorsam – gar nicht erst<br />
versuchen würde, sich in diese Aushandlungsprozesse einzubringen.<br />
8
Die Professionellen der Sozialen Arbeit müssen am gesellschaftlichen Aushandlungsprozess<br />
des neuen <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes mitwirken, <strong>und</strong> zwar von Anfang an, nicht erst<br />
in der Vernehmlassung‐Phase. Sie haben die berufspolitische Pflicht, in diesen Aushandlungsprozess<br />
den Standpunkt der Sozialen Arbeit zu vertreten <strong>und</strong> ihre Argumente<br />
einzubringen, die zur Hauptsache von den <strong>Bedürfnissen</strong> der Menschen ausgehen.<br />
Ihre Forderung an die Sozialpolitik <strong>und</strong> die Gesetzgebung ist klar, deutlich <strong>und</strong><br />
unüberhörbar zu formulieren, hauptsächlich dass der von der staatlichen <strong>Sozialhilfe</strong><br />
gewährleistete <strong>Bedarf</strong> dauerhaft die Bedürfnisse der Klientinnen <strong>und</strong> Klienten befriedigen<br />
können muss. Ihre Antwort auf die Frage „Was braucht der Mensch?“ im gesellschaftlichen<br />
Aushandlungsprozess zum neuen <strong>Sozialhilfe</strong>gesetz ist also: „Der<br />
Mensch braucht die Gewährleistung einer bestimmten Art <strong>und</strong> Menge an <strong>Bedarf</strong>en,<br />
die es ihm erlauben, seine Bedürfnisse zu befriedigen.“<br />
Damit die Professionellen der Sozialen Arbeit dies auch können, bedarf es der genauen<br />
Analyse, der fachlichen ‚Beschreibung‘ <strong>und</strong> ‚Erklärung‘ der ungelösten sozialen<br />
Probleme <strong>und</strong> ihrer Folgen. Die Analyse hilft uns dann aber nicht nur, unsere eigene<br />
Argumentationslinie zu präzisieren, sondern mag auch der Sozialpolitik helfen, die<br />
Dinge in grösseren Zusammenhängen zu sehen.<br />
In die Debatte um die Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes gehört (auf der ‚Makro‐<br />
Ebene‘) beispielsweise auch die Darstellung der Nachteile, die sich die Behörden<br />
bzw. die Organisationen des Sozialwesens einhandeln würden, wenn sie faktisch<br />
die Deprofessionalisierung der Sozialen Arbeit erzwingen würden, bzw. der Vorteile,<br />
die von einer gut positionierten Profession Soziale Arbeit zu erwarten sind<br />
(selbstverständlich ginge auch diese Argumentationslinie vom Menschenbild der<br />
Sozialen Arbeit aus).<br />
In die Debatte um die Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes gehört (auf der‘ Meso‐<br />
Ebene‘) beispielsweise auch die Begründung, weshalb es vernünftig ist, die Klientel<br />
– auch der <strong>Sozialhilfe</strong> – weit differenzierter als Menschen zu begreifen, als es<br />
die Sozialpolitik tut. Auch diese Menschen sind nicht nur als vorübergehend oder<br />
für längere Zeit unter ökonomischen Mangel Leidende zu sehen; sie sollten aus<br />
guten Gründen nicht auf ihre materielle Existenz reduziert werden, im Gegenteil:<br />
da Menschen genau genommen gar kein Bedürfnis nach Geld kennen, sondern<br />
Geld unter anderem unentbehrlich ist, um Bedürfnisse zu befriedigen, müssten<br />
die vielfältigen Bedürfnisse des Menschen im Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />
In die Debatte um die Revision des <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes gehören (auf der ‚Miko‐<br />
Ebene‘) beispielsweise konkrete Daten <strong>und</strong> Fakten der vielen Menschen, für die<br />
Sozialämter zuständig sind, die nicht nur die Probleme des ökonomischen Mangels<br />
kaum bewältigen können, sondern oft gleichzeitig unter biologischen, biopsychischen,<br />
sozialen <strong>und</strong> evtl. auch kulturellen Problemen leiden, <strong>und</strong> denen ein<br />
menschenwürdiges Leben verwehrt bleibt. Und oft ist ja nicht nur das Leben der<br />
vorsprechenden Klient/in betroffen, sondern das ganzer Beziehungsnetze.<br />
9
Eine der Stärken der Sozialen Arbeit ist die Artikulation solcher Daten, Fakten <strong>und</strong><br />
Zusammenhänge. Die Professionellen der Sozialen Arbeit sind ja hautnah <strong>und</strong> alltäglich<br />
dabei. Sie kennen die Situationen der Menschen <strong>und</strong> ihrer Möglichkeiten des<br />
menschenwürdigen Lebens. Und sie können antizipieren, welche Folgen das Nichteingehen<br />
auf diese Situationen <strong>und</strong> Bedürfnisse haben könnte. Sie wissen ganz genau,<br />
was es heisst, dass die Arbeit mit der Klientel der Sozialen Arbeit ‚komplex‘ ist,<br />
dass die Behebung der ökonomischen Notlagen oft unter Zeitdruck erfolgen muss,<br />
dass verschiedene Akteure involviert sind – Vermieter, Nachbarn, Lehrer, Arbeitgeber,<br />
Amtsstellen u.a.m. –, dass oft gleichzeitig ges<strong>und</strong>heitliche Probleme, psychische<br />
Belastungen <strong>und</strong> Beziehungskonflikte innerhalb der Familien oder am Arbeitsplatz<br />
eine grosse Belastung darstellen, usw.<br />
Die Professionellen der Sozialen Arbeit könnten vor diesem Hintergr<strong>und</strong> auch einige<br />
Sachverhalte anders erklären, als es im alltäglichen Diskurs üblich ist. So könnten sie<br />
darauf hin weisen, dass z.B. ‚Renitenz‘, statt als Charakterschwäche auch als Strategie<br />
zur Bewältigung von Ohnmacht gelesen werden könnte. Wer auf seine (verunmöglichte)<br />
Existenzsicherung reduziert wird, sich noch Sanktionen auf das Budget schlagen<br />
<strong>und</strong> dann vielleicht auch noch Kinder darunter leiden müssen, dann gibt es für<br />
die Klientel aus ihrer Ohnmachtssituation heraus oft nur noch wenige Handlungsformen,<br />
die zudem wenig effizient, gar kontraproduktiv sind, um sich gegen solche entmenschlichenden<br />
Reduzierungen <strong>und</strong> damit gegen die drohende Ausgrenzung <strong>und</strong><br />
Minderung der Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen, ihre Bedürfnisse befriedigen zu können,<br />
zu wehren. Eine davon ist, sich gegen die Logik <strong>und</strong> die Abläufe der Organisation<br />
‚quer‘ zu stellen.<br />
Sozialarbeiter/innen können aufgr<strong>und</strong> ihrer täglichen Arbeit aber nicht nur plausibel<br />
aufzeigen, dass arrogantes, freches, unzuverlässiges Verhalten eines Klienten <strong>und</strong> das<br />
Lügen zum noch übrigbleibenden Repertoire relativ ohnmächtiger Menschen gehört,<br />
sie können auch aufzeigen, dass diese resignativen ‚Gegenstrategien‘ der Klientel<br />
weiter zunehmen werden <strong>und</strong> sich zu einem für die Organisationen des Sozialwesen<br />
verschärfenden Problem auswachsen können.<br />
Bei der Ausgestaltung des neuen <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzes mag das von sozialpolitischer<br />
Seite her sogar befürchtet werden <strong>und</strong> mag dazu verleiten, das Gesetzt noch ‚schärfer‘<br />
machen zu wollen. Seitens der Sozialen Arbeit muss vor diesem Trugschluss fachlich<br />
argumentierend gewarnt werden: Wenn die <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzgebung derart ausgestaltet<br />
werden sollte, dass durch ihre Anwendung die strukturelle Ohnmacht der<br />
Klientel verstärkt würde, dann ist mit hilflosen ‚Gegenmassnahmen‘ seitens der Klientel,<br />
<strong>und</strong> in der Folge mit organisationalen Problemen zu rechnen.<br />
Das Angebot der Sozialen Arbeit<br />
Eine der Stärken der Sozialen Arbeit liegt des Weiteren darin, Realutopien zu denken,<br />
also darzustellen, wie die ‚Welt‘ auch noch sein könnte. Aufgr<strong>und</strong> ihrer Analyse <strong>und</strong><br />
Expertise zu sozialen Problemen kann sie aufzeigen, wie die menschlichen Bedürfnis‐<br />
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se ohne grössere Schwierigkeiten <strong>und</strong> Behinderungen realisiert werden könnten (im<br />
Sinne des so Mitgestaltens des sozialen Umfeldes von Menschen, dass dieses menschengerecht<br />
<strong>und</strong> sozialgerecht konstruiert wird). So verstandene <strong>Sozialhilfe</strong> könnte<br />
als Teil der Sozialen Arbeit gesehen werden, die die Förderung <strong>und</strong> Ermächtigung von<br />
Klienten anstrebt, immer mit Blick auf Lösungen in <strong>zwischen</strong>menschlichen Konflikten<br />
– privaten, beruflichen, öffentlichen. Weil sie sich dann für das ganzheitliche Wohlbefinden<br />
der Menschen einsetzen würde, hätte die <strong>Sozialhilfe</strong> auch kein Imageproblem<br />
mehr <strong>und</strong> könnte sich weitgehend entlasten:<br />
- Wo wirklich nur finanzielle Unterstützung notwendig ist, z.B. weil Löhne strukturell<br />
bedingt zu niedrig sind, würde schematische Hilfe reichen, abgewickelt von<br />
administrativem Personal – was im Übrigen bereits vor mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
auch Alice Salomon vorgeschlagen hat.<br />
- Wenn aber kumulative Problemlagen vorliegen – <strong>und</strong> das ist eben sehr schnell<br />
möglich (eigentlich der ‚Normalfall‘!) – dann würden Professionelle der Sozialen<br />
Arbeit, die mit ihren Mitteln <strong>und</strong> Sichtweisen, mit ihrem Fachwissen <strong>und</strong> ihrer Erfahrung<br />
analysieren <strong>und</strong> Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, gute Chancen haben,<br />
insbesondere wenn sie als Fachleute mit eigenständigem Wissen <strong>und</strong> Können anerkannt<br />
sind. Sie würden sich in erster Linie <strong>und</strong> konsequent an der Logik der<br />
menschlichen Bedürfnisse orientieren <strong>und</strong> erst in zweiter Linie die Behörden‐ bzw.<br />
Verwaltungslogik berücksichtigen. Und auch das hat eine Pionierin der Sozialen<br />
Arbeit, Ilse Alt, bereits zu Beginn des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts vorgeschlagen.<br />
Dass eine bedürfnisorientierte Ausrichtung der <strong>Sozialhilfe</strong>gesetzgebung letztlich auch<br />
für die Behörden bzw. für die Organisationen des Sozialwesens, selbst für die gesetzgeberische<br />
Sozialpolitik lohnend sein könnte, hat im Übrigen – wenn wir schon bei<br />
den Pionierinnen der Sozialen Arbeit sind – eine andere Pionierin der Sozialen Arbeit<br />
bereits in den frühen 60‐er Jahren hingewiesen: Paula Lotmar – aus Zürich! Sie<br />
schreibt: „Die Soziale Arbeit leistet als notwendige soziale Institution einen Beitrag an<br />
die Milderung von Spannungen, die <strong>zwischen</strong> dem beschleunigten Wandel <strong>und</strong> den<br />
Kräften der Beharrung in Einzelnen oder Gruppen entstehen können. Sie hilft dadurch<br />
mit, Gr<strong>und</strong>werte <strong>und</strong> Menschenrechte einer demokratischen Gesellschaft zu verwirklichen.“<br />
(Lotmar, 1963:89)<br />
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Lit.:<br />
<strong>AvenirSocial</strong> (2010). Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Praxis der Professionellen.<br />
Bunge, Mario / Mahner, Martin (2004). Über die Natur der Dinge. Stuttgart: Hirzel.<br />
IFSW/IASSW (2007). Definition of social work. In: Supplement of ISW, volume 50/2007; Los Angeles,<br />
London: SAGE‐Publicationsa, Inc. p. 5‐6<br />
Lotmar, Paula (1963). Gedanken zur Definition <strong>und</strong> Funktion der sozialen Arbeit. In: Schweizerische<br />
Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, Organ der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, Zürich<br />
102. Jahrgang, Heft 4/5, April/Mai 1963, S. 75‐90.<br />
Obrecht, Werner (2006). Interprofessionelle Kooperation als professionelle Methode. In: Beat<br />
Schmocker (Hrsg.). Liebe, Macht <strong>und</strong> Erkenntnis. Luzern / Freiburg Br.: Interact / Lambertus, S. 408‐<br />
445.<br />
Staub‐Bernasconi, Silvia (2010 2 ). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Bern: Haupt UTB; insbesondere:<br />
Theoretische Bedürfnis‐ versus Funktionsorientierung, S. 113‐132.<br />
Luzern, 18.03.2013/28.03.2013/01.04.2013/bs<br />
Beat Schmocker<br />
i Gekürzte Fassung eines Vortrages, gehalten am 20. März 2013 in Zürich, an einer Veranstaltung, organisiert<br />
von <strong>AvenirSocial</strong>, Sektion Zürich<br />
ii Ich danke Kasper Geiser ganz herzlich für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung dieser Fassung des<br />
Vortrages.<br />
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