Printversion vergriffen: Freier Download BA 68 als PDF - Bad Alchemy
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DIATRIBES & ABDUL MOIMEME Complaintes<br />
de marée basse (Insubordinations,<br />
insubcd02): Obwohl Vieles der Phantasie<br />
überlassen bleibt, ist die Begegnung des<br />
Genfer Improduos Diatribes mit dem portugiesischen<br />
Gitarristen Moimême programmatisch<br />
ein ‚Seestück‘. Alle Drei arbeiten mit<br />
perkussiven Mitteln, mit Krimskrams, Cymb<strong>als</strong>,<br />
Snare Drums, Stahlfedern, allen voran<br />
Drummer Cyril Bondi. D‘Incise operiert dazu<br />
mit Laptop, der vom Variable Geometry Orchestra<br />
her bekannte Portugiese spielt<br />
gleich zwei Gitarren, präpariert. So stellen<br />
sie maritime Bilder vor das innere Auge,<br />
Schiffsrümpfe, die sich knarrend aneinander<br />
reiben, den Lebensraum von Krustentieren,<br />
das Spiel von Tiefenströmungen mit Wrackteilen,<br />
das Schleifen und Kratzen an Untiefen,<br />
das Lotsen durch Nebelschleier und diesige<br />
Sicht, zuletzt dennoch Schiffbruch. Der<br />
Grund der See ist ein Park mit schwarzen<br />
Pavillons. Weniger bildhaft gehört, rumoren<br />
hier überwiegend metallische Geräusche in<br />
einem ständigen Fluss aus dongender, knurschender,<br />
sirrender Unruhe. Meist klickern,<br />
pluckern und knarzen sechs Hände wie kleine<br />
Brandungswellen nur mit Kieseln und Metallstückchen.<br />
Mal pflügt ein Geisterschiff<br />
durch den Dunst und Fetzen von einem alten<br />
Grammophon wehen vorüber. ‚Pavillon Noir‘<br />
wird geprägt durch erst wuseliges, dann repetitives<br />
Drumming, sirrende und knistrige<br />
Elektronik und gitarristisches Drahtharfen,<br />
wie Moimême es so deutlich und intensiv nur<br />
hier offeriert, mit Crescendo- und Decrescendowellen.<br />
‚Naufrage‘ klangmalt zuletzt<br />
statt einen großen Crash die ominösen<br />
Liebkosungen, mit denen der Meeresgrund<br />
einen Neuankömmling erkundet.<br />
TOMAS KORBER / GERT-JAN PRINS RI<br />
1.5442 (Cavety 03): 74 Minuten feines Sirren,<br />
Spotzen, Zischeln und Prickeln, vor allem Prickeln.<br />
Wie ein Glas Sprudel am Ohr und fast<br />
so spannend. Nein, eher nähmaschinenhaft<br />
grillig, prozesshaft, automatisch, eifrig, unermüdlich,<br />
gründlich. In der 18. Min. glaube ich<br />
Korbers Gitarre ahnen zu könnnen in diesem<br />
Elektronikgepixel, <strong>als</strong> zunehmend sirenenhaftes,<br />
hochtouriges Gedröhn. Aber nur<br />
kurz. Obwohl ich nahe daran bin, entnervt<br />
aufzugeben, muss ich doch zugeben: Das<br />
hat was, jedenfalls mehr Pixel pro Sekunde<br />
und Quadratmillimeter, <strong>als</strong> die Sinne fassen<br />
können.<br />
WADE MATHEWS Early Summer (Con-V,<br />
CNVCD 002): Dr. Mathews versteht seine<br />
‚10 improvised sound collages‘ auch <strong>als</strong><br />
akustische Aphorismen und würde sich<br />
freuen, wenn sie <strong>als</strong> Koans aus Klang aufgefasst<br />
würden. Er kreiert sie mit Hilfe<br />
zweier Laptops. Der eine liefert Material,<br />
Fieldrecordings, die er in der San Francisco<br />
Bay Area, der La Mancha und in Madrid<br />
eingesammelt hat, sowie im Studio generierte<br />
Geräusche, der andere dient der<br />
Spontansynthese. Dass im Verhältnis von<br />
Planung und Geschehenlassen Letzteres<br />
akzentuiert ist, verrät er mit Titeln wie ‚In<br />
My Dream, It Almost Fit‘, ‚Un Chien Castillan‘<br />
- da bellt Buñuels Andalusischer Hund<br />
- und ‚Delvaux‘, womit er die surrealen<br />
Nacht- und Nacktszenen von Paul Delvaux<br />
(1897-1994) vor das innere Auge stellt.<br />
Träumerische ‚Montagen‘ reizen ihn mehr,<br />
<strong>als</strong> bewusstes Komponieren. Das planende<br />
Gedächtnis soll etwas ausgehebelt<br />
werden, damit das Material seiner eigenen<br />
‚Logik‘ folgen kann. Bewusst ist dabei der<br />
Aspekt der Schizophonie, <strong>als</strong>o dass Klänge<br />
‚entführt‘ und in einen anderen Kontext<br />
übertragen werden. Soweit, dass Klangräume<br />
ineinander geschachtelt werden,<br />
dass ein Frosch Eisenbahn fährt, dass der<br />
Fliegende Holländer mit knarrender Takelage<br />
der Eissphinx begegnet, wie überhaupt<br />
Kleines und Großes auf Augenhöhe<br />
aufeinander stoßen. Außen ist Innen ist<br />
Außen. Kleinkram und Kleinlebewesen<br />
blähen sich knurschend, knispelnd, knarzend,<br />
raschelnd ins Gigantische. Sirene<br />
und Pressluftgehämmer machen Alarm,<br />
Röhrenglocken tongen, Schritte knirschen,<br />
ein Hund wufft. Etwas Helles<br />
schnalzt und prickelt vor einer dunkel rumorenden<br />
Werkstättenlandschaft. Zahnräder<br />
tackern, Metall flirrt und gongt, Zeug<br />
klackt und bricht, man erkennt nicht, was<br />
es ist. ‚Delvaux‘ stellt einen wieder in eine<br />
Werkhalle, das Finale klackt und klirrt vor<br />
einem hintergründigen Dröhnen, <strong>als</strong> rollte<br />
scheppernd eine Art Spieluhr vorbei.<br />
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