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Der Herbst ist Erntezeit<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Es ist kurz nach dem Mittag, ich sitze<br />
gemütlich auf der Veranda und geniesse<br />
die Sonne auf meinem Gesicht<br />
– diesen Sommer hat sie mich oft gewärmt.<br />
Neben mir liegen ein paar frische<br />
Himbeeren und ich denke an die<br />
Frau, die mir letzthin gesagt hat, dass<br />
sie jeweils bei den ersten Früchten, die<br />
sie aus dem eigenen Garten erntet,<br />
einen kurzen Moment innehält, sich<br />
bedankt und – manchmal – sich etwas<br />
wünscht. Ein schöner Brauch.<br />
Ich mag mich noch gut erinnern, als<br />
bei uns zu Hause jeweils das letzte<br />
Heufuder „am Schärme“ war, da gab<br />
es immer auf der Laube einen besonders<br />
feinen Zvieri. Auch in früheren<br />
Zeiten wurde der letzten Garbe oder<br />
der letzten Wagenladung spezielle<br />
Aufmerksamkeit geschenkt. So<br />
kehrten die Bauernfamilien am Ende<br />
der Ernte mit Blumen und Bändern<br />
geschmückten Wagen vom Feld nach<br />
Hause zurück oder das letzte Bündel<br />
Weizen blieb sozusagen als Ernteopfer<br />
für die Vögel auf dem Feld liegen.<br />
Vieles muss getan sein, bevor überhaupt<br />
geerntet werden kann. Ohne<br />
dass Samen gestreut werden und auf<br />
gute Erde fallen, wird auch kein Weizen<br />
wachsen und manchmal müssen<br />
die Bauern sehr flexibel sein, Zeit und<br />
Wetter nutzen, wenn die Ernte gut<br />
eingebracht werden soll. Diesen Sommer<br />
haben heftige Gewitter wieder<br />
einmal gezeigt, die Ernte ist auch in<br />
unserer Zeit, wo so vieles machbar ist,<br />
nicht selbstverständlich. Bis zum letzten<br />
Tag weiss zum Beispiel ein Weinbauer<br />
nicht, ob er seine Trauben saftig<br />
und kräftig einbringen wird. Wachsen<br />
und Gedeihen, beides liegt grundsätzlich<br />
nicht in der Hand der Menschen<br />
und bleibt ein Geschenk. Wir pflügen<br />
und wir streuen den Samen auf das<br />
Land. Doch Wachstum und Gedeihen<br />
steht in des Himmels Hand. Der tut mit<br />
leisem Wehen sich mild und heimlich<br />
auf und träuft, wenn heim wir gehen,<br />
Wuchs und Gedeihen drauf. Alle gute<br />
Gabe kommt her von Gott dem Herrn,<br />
drum dankt ihm, dankt und hofft auf<br />
ihn. (Lied 540 im Kirchengesangbuch)<br />
ERNTE-DANK: Sie kennen wahrscheinlich<br />
traditionelle Anlässe wie die Sichlete<br />
oder den Gottesdienst zum Erntedank,<br />
in unserer Kirchgemeinde<br />
dieses Jahr am 15. Oktober. Im Herbst<br />
ist Erntezeit. Doch gleichzeitig ERN<br />
TEN und DANKEN wir auch im Alltag,<br />
das ganze Jahr.<br />
Was sind die Früchte unseres Lebens?<br />
<strong>Zum</strong> einen ist es das, was in uns angelegt<br />
ist, und was für uns anschaubar<br />
oder greifbar wird. Zuerst denke ich<br />
an die Dinge, die wir tun. An der Arbeit<br />
oder in der Freizeit, im Alltag und<br />
an Feiertagen. Das keimt, wächst und<br />
wird für uns erlebbar. Unsere Tätigkeiten,<br />
Tag für Tag, das ist nur ein Teil<br />
unserer Früchte, die „zum Vorschein“<br />
kommen. Was wir reden, gehört auch<br />
dazu, unser ganzes Auftreten, unsere<br />
Gestik und unser Gesichtsausdruck,<br />
mit dem wir die Welt um uns anschauen<br />
und wie wir andere Menschen betrachten<br />
und beurteilen – das alles<br />
gehört zu unseren Früchten, die wir<br />
tragen. Früchte, die<br />
wir nach aussen hin<br />
mehr oder weniger<br />
präsentieren.<br />
Früchte sind zum<br />
andern auch das,<br />
was andere von uns<br />
haben. Wieder kommen<br />
mir ganz konkrete<br />
Sachen in den<br />
Sinn. Situationen,<br />
wo im alltäglichen<br />
Leben Hilfe angeboten<br />
und beansprucht<br />
wird. Und wieder<br />
ist viel mehr damit<br />
gemeint als nur das<br />
Handfeste: nämlich<br />
ob andere Menschen<br />
an uns Halt und Ermutigung<br />
finden, ob<br />
jemand sich geborgen<br />
fühlen kann, ob<br />
jemand statt Gleichgültigkeit,<br />
Wärme<br />
spürt, ob Liebe wachsen<br />
und reifen kann.<br />
Die Frage nach den Früchten betrifft<br />
nicht nur gesunde und leistungsfähige<br />
Menschen, sondern alle. Kaum<br />
einer, kaum eine ist zu alt, zu schwach<br />
oder zu krank, als dass nicht eine andere<br />
Person etwas an ihm, an ihr haben<br />
könnte, oder – um im Bild von den<br />
Früchten zu bleiben – von ihm oder ihr<br />
„genährt“ werden könnte.<br />
Leben – heisst Früchte tragen, die mir<br />
und andern zum Leben dienen.<br />
Eine gute Zeit wünsche ich Ihnen. Geniessen<br />
Sie den Herbst!<br />
Pfrn. Marianne Schmid<br />
2 Heimatglogge 9/2006