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100 KULTUR · MEDIEN · TUNESIEN<br />

TUNESIEN · MEDIEN · KULTUR<br />

101<br />

»Man will die Masse manipulieren«<br />

Aktivist Hamadi Kaloutcha über<br />

den Niedergang der Bloggerszene<br />

Tunesiens und Einflussnahmen der<br />

Islamisten<br />

INTERVIEW: JOHANNE KÜBLER<br />

zenith: Wie hat sich der Internetaktivismus in Tunesien<br />

seit dem Sturz Ben Alis entwickelt? Hamadi Kaloutcha: Unter<br />

Ben Ali waren Internetaktivisten praktisch die Einzigen, die<br />

Themen ansprachen, die ansonsten totgeschwiegen wurden. Zunächst<br />

war das schwierig: Obwohl Videos über Unruhen in Tunesiens<br />

Süden online kursierten, trauten sich die meisten nicht, sie<br />

weiterzuverbreiten. Im Kopf eines jeden Tunesiers lauerte ein<br />

Polizist – an dieser Haltung musste sich etwas ändern. Es gab einen<br />

harten Kern von Netzaktivisten, die die roten Linien weit<br />

überschritten. Allmählich wurden diese so gedehnt, dass es ab<br />

2010 immer normaler wurde, bestimmte Dinge online zu teilen.<br />

Der tunesische Internetaktivist<br />

Hamadi Kaloutcha<br />

sieht nach dem Erfolg der<br />

Revolution neue Gefahren<br />

aufziehen. Tunesiens Web<br />

2.0 schwebt zwischen Chaos,<br />

Organisierungsversuchen und<br />

islamistischer Diffamierung.<br />

Am 6. Januar 2011, zur<br />

Hochzeit der tunesischen<br />

Revolution, wurde Hamadi<br />

Kaloutcha verhaftet und drei<br />

Tage festgehalten.<br />

Foto: Johanne Kübler<br />

»Lokal können<br />

Aktivisten eine<br />

große Wirkung<br />

entfalten«<br />

Die Menschen fingen an, sich Freiheiten zu nehmen, die es an sich<br />

gar nicht gab. Für das Regime, das der Presse erfolgreich einen<br />

Maulkorb verpasst hatte, war das bisschen Krach, das wir Aktivisten<br />

machten, ein Heidenlärm. Aber nach dem 14. Januar 2011 ...<br />

... als Präsident Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Land flüchtete<br />

... nach diesem Tag war die Angst der Menschen wie weggeblasen.<br />

Alle fingen an, online über Politik zu diskutieren. Das Ergebnis<br />

ist ein großes Stimmengewirr, alle reden wild durcheinander.<br />

Für den Einzelnen ist es heute schwer, sich Gehör zu<br />

verschaffen. Noch dazu hatten die Aktivisten der ersten Stunde<br />

gelernt, online verfügbaren Informationen zu misstrauen, weil<br />

regimetreue Nutzer sich einschleusen wollten – mir wurde zum<br />

Beispiel einmal eine falsche Information zugesteckt, damit ich<br />

durch die Veröffentlichung meine Glaubwürdigkeit verliere. Deshalb<br />

haben wir gelernt, Informationen vor der Veröffentlichung<br />

zu überprüfen. Die neuen User sind leider nicht so versiert.<br />

Wie kann man dieser Entwicklung entgegentreten? Wir<br />

brauchen eine Massenkampagne, um den Leuten Reflexe beizubringen<br />

– und sei es, dass sie ein Foto durch eine einfache Webrecherche<br />

überprüfen, bevor sie es weiterverbreiten. Es ist schon<br />

vorgekommen, dass ein Bild einer Frau mit entstelltem Gesicht<br />

online auftauchte, mit der Aussage, dass sie angeblich von Salafisten<br />

zusammengeschlagen worden sei. Aber dann fand man dasselbe<br />

Foto im Internet wieder, und es stellte sich heraus, dass es<br />

sich um eine Spanierin handelte, die 2005 von ihrem Ehemann<br />

geschlagen worden war. Solche Falschinformationen verderben<br />

die Informationsströme.<br />

Kommt Bloggern wie Ihnen dabei nicht eine besondere Verantwortung<br />

zu? Ein paar Organisationen versuchen, eine Arbeitsethik<br />

für Blogger zu etablieren, und es gibt auch die Idee,<br />

Blogs nach der Vertrauenswürdigkeit ihrer Inhalte zu zertifizieren.<br />

Die »Vereinigung tunesischer Blogger« etwa will ein Gütesiegel<br />

für Blogs schaffen, die gewisse Standards befolgen. Aber noch<br />

streitet der Verein über die Details. Wenn man aus einer eher anarchischen<br />

Ecke kommt wie wir, ist es gar nicht so einfach, sich in<br />

die Strukturen eines eingetragenen Vereins einzufügen. Es gibt<br />

noch viel zu tun.<br />

Abgesehen davon, sind Netzaktivisten heute genauso umtriebig<br />

wie vor der Revolution? Leider beobachten wir zurzeit,<br />

dass Machenschaften ähnlich denen von Ben Ali zurückkehren.<br />

Einige Parteien, allen voran die islamistische Ennahda, haben<br />

eine Art Cybermiliz geschaffen, die sich mit allen Mitteln auf Oppositionelle<br />

stürzt und vehement auf Kritik an ihrer Partei reagiert.<br />

Sie überschwemmt die sozialen Netzwerke wie zum Beispiel<br />

Facebook mit falschen Profilen. Auf speziellen Seiten listet<br />

diese Cybermiliz dann alle Blogbeiträge, Tweets und so weiter<br />

namentlich auf, die sie mit einer Suche nach Stichworten wie<br />

»Ennahda« findet. Wenn man dann einen Eintrag schreibt, in<br />

dem das Stichwort vorkommt, bekommt man plötzlich 20 Kommentare,<br />

die das gerade Geschriebene verurteilen und den Autor<br />

verunglimpfen. Der Durchschnittsnutzer sieht das auf meinem<br />

Profil und denkt sich: »Ah, Hamadi Kaloutcha kritisiert Ennah-<br />

da, aber er ist in der Minderheit.« Diese Strategie verfehlt ihre<br />

Wirkung nicht. Man will die Masse manipulieren – ähnlich wie in<br />

China. Kritik wird aufgespürt und unter einem Meer von Kommentaren<br />

begraben.<br />

Gelingt es den Aktivisten, sich außerhalb des Internets, auf<br />

der politischen Bühne, Gehör zu verschaffen? Ja, einige haben<br />

sich sogar bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung<br />

aufstellen lassen. In die Politik zu gehen, gestaltet sich<br />

aber eher schwierig. Astrubal, ein Gründer des Bloggerkollektivs<br />

Nawaat.org, hat sich in seiner Heimatstadt nominieren lassen.<br />

Aber während er in unserer Bewegung sehr wichtig ist, ist er dem<br />

Mann auf der Straße unbekannt. Er ist nicht gewählt worden. Ein<br />

weiteres Problem ist, dass die Presse revolutionäre Mythen<br />

schafft. Da wird der Einfluss Einzelner aufgeblasen, oder es werden<br />

vollkommen fiktive Aktivistenkarrieren erfunden. Da erklären<br />

manche sich plötzlich zu Internetaktivisten und werden zu<br />

Fernsehsendungen in Frankreich eingeladen, wo sie dann über<br />

ein Thema reden, das sie gar nicht kennen! Neulich brachte Le<br />

Monde ein seitenlanges Porträt über eine junge Aktivistin, die<br />

kein Mensch kennt. Andererseits hat sich letztens ein junger Tunesier,<br />

der sehr aktiv im Netz war, anscheinend aus Frustration<br />

über die Entwicklungen seit der Revolution erhängt. Und schließlich<br />

halten sich die Gerüchte, wir wären alle CIA-Agenten.<br />

»Alle reden durcheinander, es ist schwer,<br />

sich Gehör zu verschaffen«<br />

Solche Schmutzkampagnen beschränken sich ja nicht auf<br />

Internetaktivisten ... Das ist richtig. Die Toten der Revolution<br />

werden als Plünderer dargestellt, die auf frischer Tat ertappt worden<br />

sind; ihre Familien als Leute, die den Tod eines Angehörigen<br />

zu Geld machen wollen. Niemand will mehr etwas mit der Revolution<br />

zu tun gehabt haben. Manchmal bekommt man den Eindruck,<br />

sie wäre ganz von allein passiert.<br />

Die Internetaktivisten spielen also nicht mehr die gleiche<br />

Rolle wie zuvor? Die Verhältnisse haben sich geändert. Heutzutage<br />

spielen sie vor allem in der Provinz eine wichtige Rolle. Ein<br />

Beispiel hierfür sind die Bürgerjournalismus- Clubs, die Nawaat.<br />

org gegründet hat – etwa in Makthar, einer Kleinstadt im Westen,<br />

wo der Club rund 30 junge Menschen versammelt. Beim letzten<br />

Regen wurde in der Stadt der Marktplatz überschwemmt, so wie<br />

schon die Jahre zuvor. Die Bürgerjournalisten haben darüber eine<br />

kleine Reportage gemacht, die sie im Netz veröffentlicht haben.<br />

Über den Wirbel, den dieses Video verursachte, war der Bürgermeister<br />

alles andere als glücklich. Auch weil er meinte, die jungen<br />

Leute hätten eher ihn fragen sollen, als das Video gleich online zu<br />

stellen. Daraufhin organisierten die Bürgerjournalisten ein Treffen<br />

zwischen den Marktleuten und dem Bürgermeister, das live<br />

im Internet übertragen wurde. Anscheinend war das Treffen, in<br />

dem der Bürgermeister ein Budget für die Sanierung des Marktplatzes<br />

zusagte, ein echter Straßenfeger. Seither haben die Institutionen<br />

der Stadt großen Respekt vor der Gruppe. Lokal können

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