Untitled - Instytut KsiÄ Å¼ki
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39<br />
11. August<br />
Derweil werden die Nächte wieder dunkel und immer länger. Morgens steigt<br />
dichter Dampf (Peter zufolge ist es die Schlacke unter Pudosch) über dem<br />
aufgeheizten Zaoneschje auf. Am Himmel grollt es ein wenig und jeden Tag<br />
toben Gewitter mit unvorstellbarer Macht. Vielleicht hat die Erde es satt und<br />
versucht, uns abzuwerfen? Wie Rentiere, die hochgiftige Parasiten und Fliegen<br />
abschütteln.<br />
Der ängstliche Zustand der Natur ließ mich Die Straße von Cormac Mc-<br />
Carthy zur Hand nehmen, auch wenn ich keinen Geschmack an Katastrophenromanen<br />
finde. Die Straße handelt von einer postapokalyptischen Welt,<br />
durch die ein Vater mit seinem kleinen Sohn wandert. Man weiß nicht, was<br />
die Katastrophe ausgelöst hat, vielleicht ein Atomkrieg, vielleicht die Kollision<br />
unseres Planeten mit einem Asteroiden – aber das ist auch unwichtig … Die<br />
Welt liegt in Schutt und Asche, die Sonne scheint nicht, es gibt weder Vögel<br />
noch Pflanzen noch irgendwelche Nahrung, deshalb machen die wenigen<br />
Menschen, die überlebt haben, des Fleisches wegen Jagd aufeinander. Ich hätte<br />
Die Straße rasch beiseitegelegt, wenn ich nicht auf den Gedanken des Autors<br />
aufmerksam geworden wäre, dass, wenn du ein guter Vater bist, zwischen dir<br />
und deinem Tod einzig dein Kind steht. Etwas wurde mir klar.<br />
Seit unsere Marta auf die Welt gekommen ist, mache ich mir sehr oft Gedanken<br />
über den eigenen Weg. Die Geburt meiner Tochter hat mir das baldige<br />
Ende vor Augen geführt. Sie war ein eigenartiges Erwachen, der Stock des<br />
Zen-Meisters, der zuschlägt, um den Schüler aus der Lethargie einer wohligen<br />
Meditation zu reißen. Vielleicht mag sich jemand darüber entrüsten, dass ich<br />
vom baldigen Ende schreibe, obwohl ich gerade einmal fünfundfünfzig Jahre<br />
alt bin. Nun ja, aber vor ihr liegt der Weg eines ganzen Lebens, auf dem ich sie<br />
nur ein kurzes Stück begleiten kann, soweit die Beine mich tragen. Deshalb<br />
hat mich dieser Gedanke von McCathy so berührt.<br />
12. August<br />
Der Wind zerzaust die Pappeln vor dem Fenster, er wirft ein bewegliches Netz<br />
von Blättern auf die Wand – wie auf einen Bildschirm –, die Sonne flimmert<br />
und streut ihre Lichttupfen über den Boden. Der Schimmer auf der Holzdecke<br />
wiederholt das Spiel der Ohrenquallen im See, und selbst die Wiege, die<br />
an einem Deckenbalken aufgehängt ist, schaukelt im Rhythmus des Onega.<br />
Das ganze Haus ist in ein sanftes, zitterndes Netz aus Licht gehüllt.<br />
Marta ist ein Jahr alt. Obwohl sie, streng genommen, schon älter ist, denn<br />
für mich – genau wie für die Saami – beginnt das Leben des Menschen im<br />
Moment der Empfängnis und nicht beim Verlassen des Mutterleibes. Ich erinnere<br />
mich, wie wir sie beim Ultraschall betrachtet haben. Sie schwamm im<br />
Fruchtwasser wie im kosmischen Ozean aus Tarkowskis Solaris.<br />
Noch bis zu ihrer Geburt standen wir vor dem Dilemma, wo wir mit dem<br />
winzigen Kind leben sollten: in der Stadt oder hier, auf dem halb ausgestorbenen<br />
Dorf. Bekannte rieten uns zur Stadt, weil es sowohl einen Arzt in der<br />
Nähe als auch warmes Wasser aus der Wand gibt und hier bekanntlich die<br />
Wege im Winter nicht geräumt werden, und falls dann, Gott bewahre, etwas<br />
passiert, dann kommt kein Notarztwagen rechtzeitig. Genau, und außerdem<br />
– fragten sie –, wie kommt ihr denn ohne fließendes Wasser zurecht, in alten<br />
Zimmern, die man nie und nimmer bis zur durchschnittlichen Raumtemperatur<br />
aufheizen kann? Wo wascht ihr, wo badet ihr die Kleine?<br />
An Ärzte hatte ich nicht gedacht, denn wenn ich das Leben mit der kleinen<br />
Marta von einem Krankenhaus abhängig gemacht hätte, dann hätte ich<br />
mich sicherlich nie dafür entschieden, ihr so etwas anzutun. Und was den<br />
sogenannten Komfort betrifft, also fließendes Wasser und eine warme Toilette<br />
– das sind Bequemlichkeiten für die Eltern, folglich muss man sich nicht hinter<br />
dem Säugling verstecken. Dagegen hat das Leben in Konda unvergleichlich<br />
viel mehr Vorteile als in Petrosawodsk. Erstens Ruhe und Frieden, keine<br />
Autosirenen, die mit ihrem durchdringenden Geheul die Nacht in der Stadt<br />
zerreißen, keine Nachbarn hinter der Wand. Zweitens ist hier ringsum Natur,<br />
man muss weder Park noch Ufermauer suchen, um ein wenig frische Luft zu<br />
schnappen, es genügt, die Kleine im Kinderwagen vor das Fenster zu stellen,<br />
um sie im Auge zu haben, und das Rauschen des Sees und das Rascheln der<br />
Pappeln wiegen sie von selbst in den Schlaf. Drittens beginnt Marta ihr Leben<br />
hier umgeben von Schönem, schließlich ist die Umgebung das Erste, was<br />
den Verstand prägt (erst danach kommen Sprache, Schule …), zudem ist es<br />
von Beginn an von Bedeutung, was sie sieht, riecht, was sie berührt und in<br />
den Mund nimmt, ob das Holz, Lehm und Gras ist oder Duraluminium,<br />
Polyethylen und Beton. Hier wird ihr Bewusstsein geformt vom Raum eines<br />
großen Hauses, den bernsteinfarbenen Lichttupfen auf dem Fußboden, dem<br />
richtigen Feuer im Ofen, dem Rhythmus der Natur, dem Gesang der Vögel<br />
und den Gerüchen von draußen; dort würde sie pausenlos attackiert werden<br />
vom Gestammel der Reklame (das überall erschallt), von Neonlichtern und<br />
abwechselnd dem Geruch von Deodorants und Abgasen. Viertens wird hier<br />
der erste Geschmack geprägt von frischen Nahrungsmitteln – frisch aus dem<br />
Garten, See und Wald –, es ist also nicht verwunderlich, dass Marta das von<br />
ihrer Mutter gebackene Vollkornbrot und den Schnittlauch sehr gern hat, den<br />
sie selbst aus den Beeten reißt; in der Stadt würde sie bestimmt von irgendwelchen<br />
Bebivita-Gläschen kosten … Noch lange könnte ich so die Vorteile<br />
aufzählen, die das Leben mit dem Kind in Konda bietet, jedoch meine ich,<br />
dass ich den denkenden Leser überzeugt habe.<br />
Ich werde nicht so tun, als ob es einfach gewesen wäre. Vor allem der Winter<br />
hat uns zugesetzt, obwohl wir uns frühzeitig auf ihn vorbereitet hatten, indem<br />
wir die Böden erneuert haben, damit es nicht von unten zieht, und indem wir<br />
die Zimmer über uns abgedichtet haben, damit die Wärme nicht durch die<br />
Holzdecke entweicht. Wer hätte vorhersehen können, dass es wieder einen<br />
Jahrhundertwinter geben würde (der zweite in diesem Jahrhundert!), wir so<br />
einfrieren und eingeschneit werden, dass ich die meiste Zeit jeden Tages mit<br />
Schneeschippen verbringe?<br />
Trotz der Beschwerlichkeiten war es der zauberhafteste Winter in meinem<br />
Leben, denn alles war zum ersten Mal, obwohl es das zweite Mal war – der<br />
erste Schnee und die ersten Lichtlein am Weihnachtsbaum, der erste Heiligabend,<br />
das erste Silvester und das erste Neujahr. Auch wenn ich das selbst<br />
irgendwann schon einmal zum ersten Mal erlebt habe, ohne es zu verstehen, so<br />
konnte ich dank der Kontemplation von Marta dieses erste Mal wiederholen<br />
– mit ihr. Denn in Wirklichkeit habe ich mich, dank meiner Tochter, auf die<br />
weiteste Reise meines Lebens begeben – eine Expedition zum Ursprung begonnen.<br />
Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zum eigenen Ursprung durch<br />
die Blutsgemeinschaft, das kommt später, wenn wir gemeinsam Märchen lesen<br />
werden, jetzt geht es ganz allgemein um die Anfänge des Menschen.<br />
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel<br />
NOIR SUR BLANC, WARSZAWA 2012<br />
145 × 235, 210 PAGES<br />
ISBN: 978-83-7392-372-0<br />
TRANSLATION RIGHTS: NOIR SUR BLANC