Untitled - Instytut KsiÄ Å¼ki
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Kleiner subjektiver Polenführer<br />
für Deutsche zum Anlass des EU-Beitritts<br />
41<br />
Lage<br />
Ungünstig. Großes Flachlandgebiet zwischen Osten und Westen, zwei raubgierigen<br />
Großmächten, zwei zivilisatorischen Urgewalten, erinnert an eine<br />
Ping-Pong-Platte. Von Napoleon bis zum Zweiten Weltkrieg Bühne aller großen<br />
Schlachten. Das Gute an einer solchen Lage: Überallhin ist es nah.<br />
Grenzen<br />
Recht flexibel. In einigen geschichtlichen Epochen weit, manchmal gar von<br />
der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In anderen ganz verschwunden. Zuletzt<br />
in Jalta von drei Großmächten – USA, Großbritannien, Sowjetunion – nach<br />
eigenem Ermessen festgelegt, wodurch Polen Lwów und Wilno verlor und<br />
Wrocław und Szczecin gewann. Ob das gut oder schlecht ist, wird noch immer<br />
diskutiert.<br />
Sprache<br />
Slawisch, angeblich sehr schwierig wegen der vielen Zischlaute (wer das nicht<br />
glaubt, der lese laut „Chrząszcz brzmi w trzcinie“). Etablierte sich nach der<br />
Abschaffung des Lateinischen im multikulturellen polnischen Staat als gemeinsame<br />
Sprache und war, als es den polnischen Staat nicht gab, einziger<br />
Träger der gemeinsamen Identität. Wird deswegen von den Polen hoch geschätzt,<br />
die sogar den Ausdruck „ojczyzna-polszczyzna“ schufen, der so viel<br />
bedeutet wie: „Unsere Heimat ist die polnische Sprache“. Heute sprechen auf<br />
der Welt über 50 Millionen Menschen Polnisch.<br />
Bevölkerung<br />
Fast 40 Millionen im In- und um die 10 Millionen im Ausland (siehe „Emigration”).<br />
Das Ergebnis einer jahrhundertelangen ethnischen Durchmischung<br />
(Ukrainer, Juden, Weißrussen, Litauer, Deutsche, Schlesier und sogar Tataren).<br />
Dass jeder Pole einen Schnauzbart trägt, ist nicht wahr.<br />
Frauen<br />
Hier gibt es das noch nicht ganz aufgeklärte soziologische Phänomen, dass<br />
ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Polinnen auswandert und im Ausland<br />
heiratet, wodurch inoffizielle diplomatische Minivertretungen entstehen.<br />
Dank diesen trifft man, wenn man als Pole durch die Welt reist, überall auf<br />
die Seinen. Möglicherweise befassen sich mit diesem Phänomen aber schon<br />
die Geheimdienste der anderen Länder.<br />
Religion<br />
Der polnische Katholizismus. Eine besondere Art des Katholizismus: Es kennzeichnen<br />
ihn eine starke Verbundenheit mit der nationalen Identität und dem<br />
Gefühl einer Mission (siehe „Große Mythen“) und ein besonders ausgeprägter<br />
Marienkult. Der Kirche zufolge ist die Muttergottes die unstürzbare und<br />
einzige Königin Polens. Von diesem Gesichtspunkt her kann die polnische<br />
Staatsform zu den Monarchien gezählt werden. Die Zugehörigkeit zur katholischen<br />
Kirche erklären in Polen 95,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung<br />
(in Spanien sind es 94,1 und in Italien 97,1 Prozent; die statistischen Jahrbücher<br />
geben nicht an, welcher Prozentsatz seinen religiösen Glauben auch<br />
praktiziert). Dieser Zustand besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges,<br />
als Polen infolge dieses Krieges und der geopolitischen Verschiebungen (siehe<br />
„Grenzen“) aufhörte, ein multikultureller und multiethnischer Staat zu sein.<br />
Kunst und Kultur<br />
Der höchste Pro-Kopf-Poetisierungsfaktor. In Polen schreiben ungefähr hunderttausend<br />
Menschen Gedichte, darunter zwei Nobelpreisträger, die noch<br />
dazu in ein und derselben Stadt lebten – Krakau.<br />
Wissenschaft<br />
Polen ist eine der bedeutenderen Eliteschmieden der Wissenschaft. Die überwiegende<br />
Mehrheit der in Polen ausgebildeten Wissenschaftler arbeitet jedoch<br />
außerhalb Polens und trägt so zum Wohle der Menschheit bei (siehe „Emigration“).<br />
Achtung: In Polen hat niemand Zweifel daran, dass Kopernikus Pole war.<br />
Stabilisierter Krisenzustand<br />
Der natürliche gesellschaftspolitische Zustand, an den die Polen seit Generationen<br />
gewöhnt sind und mit dem sie wunderbar zurechtkommen. Es steht zu<br />
befürchten, dass jedwede Normalisierung der Verhältnisse zu gesellschaftlichen<br />
Unruhen führt.<br />
Nationaler Charakter<br />
Die Polen machen auf den ersten Blick einen recht mürrischen Eindruck, wirken<br />
manchmal gar arrogant. Individualisten kommen vor, Exzentriker eher<br />
nicht. Häufig verhalten sie sich um des lieben Friedens willen konformistisch,<br />
auch wenn paradoxerweise jede Art der Herrschaft ihr Misstrauen weckt und<br />
sie somit geborene Anarchisten sind. Achtung: Polenwitze mögen sie nicht.<br />
Ihre Laune pendelt zwischen Bewunderung für sich selbst und einem melancholischen<br />
Minderwertigkeitsgefühl.<br />
Große Mythen<br />
Erstens: Polen ist das Antemurale Christianitatis, das Bollwerk der Christenheit.<br />
Damit verbindet sich die Pflicht zur Verteidigung der westlichen Zivilisation<br />
gegen die Barbaren (hier findet sich eine entfernte Ähnlichkeit zum Selbstbild<br />
der Ungarn und Spanier). Zweitens: Vor zweihundert Jahren bildete sich aus<br />
einem sehr engen Zusammenleben mit der jüdischen Kultur bei den Polen der<br />
Begriff des nationalen Messianismus heraus. Das ist die Überzeugung von der<br />
eigenen Außergewöhnlichkeit und der Mission, den Rest der Welt zu erlösen,<br />
wobei die Leiden der Nation Teil dieser Mission sind. Die Polen sind bekannt<br />
dafür, überall auf der Welt sofort zur Hilfe zu eilen, wo Freiheit und Unabhängigkeit<br />
in Gefahr sind. Die Realisierung dieser Mythen ist sehr kostspielig und<br />
wird von den Verteidigten und Geretteten normalerweise nicht verstanden.<br />
Küche<br />
Wenig spektakulär, der deutschen recht ähnlich. Als typisch polnische Gerichte<br />
gelten ukrainischer Borschtsch, russische Piroggen und Karpfen nach jüdischer<br />
Art. Empfehlenswert sind hingegen die Pilzgerichte und der polnische<br />
Bergkäse. Polen gehört zu den unglückseligen Orten Europas, an denen keine<br />
Weinreben wachsen und die Bewohner somit lernten, Wodka zu produzieren.<br />
In letzter Zeit nimmt jedoch im Zusammenhang mit der Erderwärmung der<br />
Genuss importierter Weine zu. Es ist nicht wahr, dass der Pole in Europa den<br />
meisten Alkohol zu sich nimmt. Statistiken zeigen, dass der Alkoholgenuss<br />
sich nur leicht über dem Durchschnitt ansiedelt.<br />
Städte<br />
Warszawa – das Hongkong Mitteleuropas. Hauptstadt des Landes und Sitz<br />
der Politiker. Eine eilige Stadt mit einer Besessenheit für Neues, Erfolg und<br />
Geld. Polenweit die stärkste Invasion von Anglizismen. Bewohner der Provinzen<br />
verstehen hier nicht viel. Eine schöne neue Altstadt.<br />
Kraków – hält seit Jahren traditionell an der Einteilung der Bevölkerung<br />
fest: die Hälfte sind Künstler, die Hälfte Philister. Dank dieser dialektischen<br />
Spannung blühen hier Kunst und Kultur.<br />
Wrocław – eine deutsche Stadt, vollkommen zerstört von den Deutschen,<br />
wiederaufgebaut und bewohnt von den Polen, hauptsächlich aus Lwów und<br />
Umgebung.<br />
Land<br />
In westlichen Dokumentarfilmen über die polnische Landwirtschaft werden<br />
mit großer Vorliebe und in langen Sequenzen Pferdewagen gezeigt. Es besteht<br />
der Verdacht, dass irgendein Logistikunternehmen ihren Verleih organisiert.<br />
Verdienste für die Welt<br />
Erstens: die fachmännische und diskrete Demontage des Kommunismus.<br />
Zweitens: die Einführung des Kaffeetrinkens in Europa und Eröffnung der<br />
ersten Kaffeehäuser in Wien. Drittens: die Erfindung des Baseballs für die<br />
Amerikaner (was diese bis heute viel Aufmerksamkeit kostet); laut Norman<br />
Davies soll er vom Schlagballspiel der polnischen Emigranten abgeleitet sein.<br />
Viertens: die polnische Wurst.<br />
Was Polen in die EU einbringen kann<br />
Die Fähigkeit, in schwierigen Situationen zurechtzukommen (siehe „Stabilisierter<br />
Krisenzustand“).<br />
Das Talent, Löcher im Steuerrecht ausfindig zu machen. Den Bialowiezer<br />
Urwald. Etwas Chaos.<br />
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes<br />
WYDAWNICTWO KRYTYKI POLITYCZNEJ, WARSZAWA 2012<br />
125 × 195, 192 PAGES<br />
ISBN: 978-83-62467-36-5<br />
TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM