Sinn durch Sinnlichkeit? - Institut für Sexualpädagogik
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Vortrag<br />
Ina-Maria Philipps & Frank Herrath<br />
<strong>Sinn</strong> <strong>durch</strong> <strong>Sinn</strong>lichkeit?<br />
Zur Gegenwart und Zukunft moderner <strong>Sexualpädagogik</strong><br />
Die alten<br />
Zwänge<br />
sexueller<br />
Unterdrückung<br />
gibt es nicht<br />
mehr<br />
8<br />
„Nichts ist manchmal so wichtig,<br />
wie in Ruhe aufnehmen zu können,<br />
ohne dabei geben zu müssen.“<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
liebe Freundinnen und Freunde!<br />
Kurt Tucholsky<br />
Was können wir sagen? Was ist noch gewiß?<br />
– Solche Fragen zu stellen, heißt, sich in<br />
einer Krise zu befinden, irritiert zu sein, an<br />
Grenzen zu stoßen, vielleicht gar Ohnmacht zu<br />
erfahren – sei es in der Deutung der Welt, sei<br />
es in der Findung von Lösungsstrategien <strong>für</strong> die<br />
Bewältigung von Problemen. Nach dem <strong>Sinn</strong> fragen<br />
wir Menschen immer dann, wenn Selbstverständlichkeiten<br />
in Auflösung begriffen sind,<br />
wenn alte Konzepte nicht mehr passen oder<br />
vermeintlich bewährte Formulierungen zu Worthülsen<br />
zu verkommen drohen. Wir haben uns<br />
im ISP da<strong>für</strong> entschieden, diese Verunsicherung<br />
als Chance zu begreifen, die gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen möglichst genau, offen<br />
und neugierig zu betrachten statt zu lamentieren,<br />
wie schwierig alles geworden ist.<br />
I.<br />
Bei der Betrachtung der Gegenwart und deren<br />
Analyse sind es vor allem drei Fragen, die mich<br />
als sexualpädagogische Ausbilderin derzeit<br />
stark beschäftigen und in meiner Spurensuche<br />
leiten. Sie lauten, zunächst sehr knapp formuliert:<br />
1. Wovon müssen sich Kinder und Jugendliche<br />
heute noch befreien?<br />
2. Was konkret bedeutet heute sexuelle<br />
Gleichberechtigung? und<br />
3. Inwieweit ist unter den gegenwärtigen Bedingungen<br />
eine sexualpädagogische Begleitung<br />
von Kindern und Jugendlichen noch<br />
möglich?<br />
Zur ersten Frage:<br />
Wovon müssen sich Kinder und Jugendliche,<br />
die wir mit unserer emanzipatorischen <strong>Sexualpädagogik</strong><br />
ansprechen, heutzutage noch befreien?<br />
Das ISP und wohl die meisten von Ihnen<br />
fühlen sich der emanzipatorischen <strong>Sexualpädagogik</strong><br />
verpflichtet, und Emanzipation trägt den<br />
Anspruch, von etwas befreien zu wollen, in<br />
sich. Doch die alten Zwänge sexueller Unterdrückung<br />
– die wohlbekannte repressive Erziehung<br />
– gibt es nicht mehr und von einer Tabuisierung<br />
von Sexualität kann nicht mehr gesprochen<br />
werden. So ist mittlerweile Nacktheit<br />
in der Familie weitgehend ebenso selbstverständlich<br />
wie die Akzeptanz von kindlicher sexueller<br />
Neugier und Freude an Selbststimulierung<br />
– zumindest bei den Jungen. Vorehelicher Geschlechtsverkehr<br />
wird seitens der Eltern eher<br />
erwartet denn verboten, und der jugendliche<br />
Konsum von Pornos mag noch als Provokation<br />
gemeint sein – er bedeutet aber längst keinen<br />
Tabubruch mehr.<br />
Was ist denn heute hinsichtlich des Umgangs<br />
der Geschlechter miteinander und mit<br />
ihren sexuellen Orientierungen, ihren sexuellen<br />
Vorlieben und Abneigungen, Sehnsüchten und<br />
Unsicherheiten grundlegend anders?<br />
Kennzeichen der Post- oder Spät- oder reflexiven<br />
Moderne, wie die verschiedenen Namen<br />
<strong>für</strong> das gleiche Phänomen je nach Autor oder<br />
Schule heißen, sind nach Aussagen mancher<br />
Soziologen Demokratisierung, multikulturelles,<br />
postkoloniales und feministisches Denken 1 .<br />
Unter den beiden zuletzt genannten Begriffen<br />
ist, sehr vereinfacht gesprochen, die Selbstverständlichkeit<br />
gemeint, mit der <strong>für</strong> große Teile<br />
der Bevölkerung die Vorherrschaft des Mannes<br />
gegenüber der Frau bzw. des deutschen Bürgertums<br />
gegenüber Minoritäten und anderen Kulturen<br />
keine normative Geltung mehr besitzt.<br />
Vielmehr ist beispielsweise das Bewußtsein<br />
auch unter Nicht-Fachleuten gewachsen, daß<br />
1 vgl. Lützeler, P. M.: Ein deutsches Mißverständnis. Die ‘Postmoderne’ ist<br />
keine modische Formel, sondern beschreibt präzise unsere Gegenwart - Eine<br />
Replik. In: Die ZEIT Nr. 41, 1.10.1998, S. 68